Rainer Hoffschildt: § 175-Opfer im Strafgefangenenlager Rodgau in

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§ 175-Opfer im Strafgefangenenlager Rodgau in der Zeit des
Nationalsozialismus
Von Rainer Hoffschildt, Hannover
NS-Ideologie und § 175 Strafgesetzbuch. Totalverbot homosexueller Handlungen unter
Männern
Homosexuelle Männer wurden schon lange vor der NS-Zeit verfolgt: § 175 trat am
1. Januar 1871 im Norddeutschen Bund in Kraft. Er war fast wortgleich mit § 143 des zuvor
geltenden Preußischen Strafrechts.
"§ 175. Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen
Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu
bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden."
Das Reichsgericht gewährte aber einen Freiraum: Gemeinsame und wechselseitige Onanie
fielen nicht unter die Strafvorschrift, sondern ausschließlich bestimmte beischlafähnliche
Sexualpraktiken.
Der nationalsozialistische Rassenwahn war Auslöser für eine nie da gewesene Verfolgung
homosexueller Männer. Ziel war die „Aufrassung“ und „Arterhaltung“ der „arischen Herrenrasse“. Schwule verminderten aber deren Fruchtbarkeit, sie seien „bevölkerungspolitische
Blindgänger“ und damit „Staatsfeinde“. Diese Gefahr werde noch verstärkt durch Verführung:
Sie könnten sich „seuchenartig“ ausbreiten. Nur wenige „echte“ Schwule könnten sehr viele
verführen und somit von der Vermehrung abhalten. Um sie zu bekämpfen, wurde 1936 die
„Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung“ errichtet. Die Kombination mag verwundern, wird aber verständlich durch die Rassenideologie.
Innerhalb des eigenen „Volkskörpers“ galt es, die „Minderwertigen“ zu bekämpfen. Die Verfolgung ging im Extrem bis zu deren „Ausmerzung“. Zu den „Minderwertigen“ gehörten
Kranke, Asoziale, Kriminelle und auch homosexueller Männer. Ihnen drohten nun verstärkt
Gefängnis-, Zuchthaus-, Strafgefangenenlager- und KZ-Haft, Menschenversuche und
Kastration.
Am 1. September 1935 traten die radikal verschärften NS-Fassungen der § 1§ 175 und §
175a StGB in Kraft.
"§ 175. Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich von ihm zur
Unzucht mißbrauchen läßt, wird mit Gefängnis bestraft.
Bei einem Beteiligten, der zur Zeit der Tat noch nicht einundzwanzig Jahre alt war,
kann das Gericht in besonders leichten Fällen von Strafe absehen.
§ 175a. Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren, bei mildernden Umständen mit Gefängnis
nicht unter drei Monaten, wird bestraft:
1. ein Mann, der einen anderen Mann mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben nötigt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm
zur Unzucht mißbrauchen zu lassen;
2. ein Mann, der einen anderen Mann unter Mißbrauch einer durch ein Dienst-, Arbeitsoder Unterordnungsverhältnis begründeten Abhängigkeit bestimmt, mit ihm Unzucht zu
treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen;
2
3. ein Mann über einundzwanzig Jahre, der eine männliche Person unter einundzwanzig Jahren verführt, mit ihm Unzucht zu treiben oder sich von ihm zur Unzucht mißbrauchen zu lassen;
4. ein Mann, der gewerbsmäßig mit Männern Unzucht treibt oder von Männern sich zur
Unzucht mißbrauchen läßt oder sich dazu anbietet."
Betrug die Höchststrafe zuvor fünf Jahre Gefängnis, lag sie nun bei 10 Jahren Zuchthaus.
Waren zuvor nur penetrierende Handlungen wie Anal- oder Oralverkehr strafbar, kam es nun
zu einem Totalverbot sexueller Handlungen unter Männern. Selbst ein Mann, der aus einem
Versteck heraus einen heterosexuellen Beischlaf beobachtete und zugab, durch den Mann
erregt worden zu sein, wurde verurteilt. Es musste keine sexuelle Handlung mehr vorliegen.
Auch der bloße Versuch, also z.B. eine Einladung ins Kino und ein Gespräch über sexuelle
Themen, konnte in bestimmten Fällen strafbar sein.
Der NS-Staat bestimmte auch, dass sexuelle Handlungen unter Frauen weiterhin straffrei
blieben.
Die Verurteilungen homosexueller Männer schnellten im Deutschen Reich von unter 800 im
Jahr 1934 auf über 8.000 im Jahr 1938 hoch. Insgesamt kam es in der NS-Zeit zu etwa
53.000 Verurteilungen, und die Mindestzahl ihrer KZ-Einweisungen liegt vermutlich bei
6.000. Die meisten starben dort.
In der Sowjetisch besetzten Zone und der DDR entschied man sich später, § 175 in der
Fassung von vor der NS-Zeit anzuwenden und § 175a in der NS-Fassung beizubehalten. In
den Westzonen und der BRD wurde das NS-Unrecht komplett bis 1969 weiter angewandt.
Die Quellen der Untersuchung
Hauptquelle ist die Kartei der Häftlinge im Strafgefangenenlager Rodgau
Hauptquelle sind die etwa 9.000 Karteikarten der Gefangenen im Bestand des Hessischen
Staatsarchivs in Darmstadt.1 Die Schätzungen der Anzahl der Karten gehen leider weit
auseinander.2 Gefördert wurde die Untersuchung durch eine Kollekte der Gruppe
Ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche e.V., das Hessische Sozialministerium und den Verein zur Erforschung der Geschichte der Homosexuellen in Niedersachsen
e.V.
Die Karten wurden von dem Historiker Christian-Alexander Wäldner, Weetzen, und dem
Autor im September 2013 durchgesehen. Für 633 Personen fanden sich Karteikaten von §
175-Opfern. Daraus folgt, dass der Anteil der § 175-Opfer etwa 6 bis 9% beträgt und damit
exorbitant hoch liegt.3 Ich hatte vor Jahren schon die 23.836 Karteikarten der Emslandlager
(und der Haftanstalt Lingen) durchgesehen und nur 2,6% von § 175-Opfern gefunden.4
Wilhelm Grimm, Christian-Alexander Wäldner und ich haben die Zugangsbücher und
überlieferten Akten des Gefängnisses Wolfenbüttel ausgewertet und 4,2% Zugänge von §
175-Opfern gefunden.5 Der hohe Anteil der § 175-Opfer in Rodgau erscheint trotzdem
realistisch, denn dieses Lagersystem entstand 1938 gerade zur Hochzeit der Verfolgung
1
Bestand G 30 Rodgau Nr. 1 – 10.
Wir haben die Karten nicht ausgezählt. Heidi Fogel schätzt die Anzahl der Personen, für die Karteikarten
vorhanden sind, auf ca. 10.000 für Deutsche und Österreicher und auf ca. 500 für Franzosen. Fogel 2004, S. 143.
Christian-Alexander Wäldner schätzte die Zahl der Karteikarten auf etwa 7.000. Ich habe einen mittleren Wert
angegeben.
3
Heidi Fogel hat etwa 10% aller Karteikarten nach Straftatbeständen der deutschen und österreichischen Häftlinge ausgewertet und zu 10,7% die Straftatbestände § 175, unzüchtige Handlungen und Unzucht gefunden und
zu 9,4% politische und religiös motivierte Delikte. Vogel, S. 145.
4
Hoffschildt 1999, S. 32.
5
Statistik von Rainer Hoffschildt in: Wäldner 2013, S. 112.
2
3
homosexueller Männer im Deutschen Reich. So gingen dem Zuchthaus Hameln 1938 sogar
11,1% § 175-Opfer der Einlieferungen in diesem Jahr zu und 1939 noch 10,3%.6 In das
Gefängnis Wolfenbüttel wurden 1938 8,0% § 175-Opfer an den Gesamtzugängen in diesem
Jahr eingeliefert und 1939 sogar 8,7%.7
Die Rodgau-Kartei ist ein wichtiges Dokument der reichsweiten Verfolgung homosexueller
Männer. Die Kartei verdichtet zudem die Informationen anderer wichtiger Forschungsbereiche, z.B. die der Erforschung der Emslandlager- und der KZ-Häftlinge.
Auf den Karteikarten wurden in der Regel die für den Justizvollzug wesentlichen und
notwendigen Daten verzeichnet: 1. Personendaten wie Name, Geburtstag und -ort, Beruf,
Religion, Familienstand, Wohnort und Straße, nächste Angehörige; 2. Zugangsdaten: wo,
wann, von wo zugegangen; 3. Fahndungsdaten: Größe, Bart, Augen, Gestalt, Haar, Stirn,
besondere Kennzeichen usw.; 4. Strafe und Vorstrafen, Vollstreckungsbehörde, Tag des
Urteils, Straftatbestand, Strafdauer, Beginn und Ende der rechnerischen Haftzeit,
Entlassungen und Abtransporte mit Datum und Ort usw.
Weitere Quellen lassen Schicksale erkennen
Ab 1987 begann ich, die Namen der durch den NS-Staat verfolgten homosexuellen Männer
zusammenzutragen, und habe bis Anfang 2014 insgesamt 18.000 ermittelt. Darunter sind
2.100 Namen von Toten, die durch die Verfolgung starben, 3.600 Namen von KZ-Häftlingen,
rund 1.400 von Emslandlager-Häftlingen; aber auch z.B. über 600 von Häftlingen des
Gefängnisses Wolfenbüttel, 250 Häftlinge des Zuchthauses Hameln usw.
In mein Archiv flossen Daten ein aus über 30 staatlichen Archiven und Gedenkstätten, z.B.
auch aus Yad Vashem, Bad Arolsen, Prag, Wien, Osnabrück, Wolfenbüttel, Hannover und
vielen KZ-Gedenkstätten. Außerdem kam es zur Kooperation mit über 20 Regionalforschern,
die mir die von ihnen ermittelten Namen zusandten, z.B. aus Bielefeld, Berlin, Hamburg oder
Freiburg, weil sie das Schicksal ihrer Opfer im KZ ermitteln wollten. Die Breite des Forschungsansatzes ermöglichte es nicht nur, das Schicksal am Ort, sondern auch das darauf
folgende im KZ zu klären. Rund 31% der Emslandlager-Häftlinge beispielsweise kamen in
ein KZ. Mittlerweile können aus den Daten umfangreiche Listen für einzelne Städte,
Haftanstalten und Grablagen erstellt werden. In den letzten Jahren kamen vermehrt
Anfragen für die Setzung von „Stolpersteinen“. An 20 Orten konnte dies unterstützt werden.
In diesen weiteren Quellen fanden sich 49 § 175-Opfer, deren Rodgau-Karteikarte wir nicht
fanden. Diese Personen wurden meist von anderen Haftanstalten nach Rodgau transportiert
oder kamen von Rodgau in andere Haftanstalten und sind dort dokumentiert. Ob wir die
Karten in der Rodgau-Kartei übersahen, ob die Karten nicht mehr existieren oder ob die
Personen in Rodgau z.B. unter der Rubrik „Sittlichkeitsverbrechen“ liefen, die wir nicht
berücksichtigt haben, ist nicht bekannt. Über die Vollständigkeit der Rodgau-Kartei kann nur
spekuliert werden. Es scheinen die Karten derjenigen zu fehlen, die in einige Außenlager,
z.B. in Schlitz, transportiert wurden. Diese Karten könnten in anderen Staatsarchiven
überliefert sein.
Insgesamt sind also Daten zu 682 § 175-Opfern in Rodgau vorhanden. Da nicht bekannt ist,
wie vollständig die Rodgau-Kartei überliefert ist, und auch unbekannt ist, wie viele Häftlinge
insgesamt in Rodgau waren, kann der Anteil der § 175-Opfer nur grob geschätzt werden.
Sollte meine obige vage Angabe von 9.000 Karteikarten auch etwa die Zahl der Häftlinge
darstellen und der Realität nahe kommen, hätten die bekannten § 175-Opfer einen Anteil von
7,6%.
6
7
Hoffschildt 1999, S. 145.
Statistik von Rainer Hoffschildt in: Wäldner 2013, S. 112.
4
Die 633 in Darmstadt aufgefundenen Karteikarten von § 175-Opfern haben an den
geschätzten 9.000 Karteikarten einen Anteil von 7%.
Zu den Begriffen „§ 175-Opfer“ und „Homosexuelle“
Ausgewählt wurden nur die Karteikarten, bei denen als Beschuldigung oder „Straftat“ „widernatürliche Unzucht“, „Unzucht mit Männern“, §§ 175 und § 175a StGB verzeichnet war.
Häufig war beides angegeben. Vernachlässigt wurden „Straftaten“ aufgrund § 175b StGB,
Sodomie. Nicht berücksichtigt wurden auch Karten, auf denen lediglich „Unzucht“,
„unzüchtige Handlungen“, „tätliche Beleidigung“, „öffentliches Ärgernis“ und „§ 176“
(Pädophilie) verzeichnet waren. Unter diesen Personen dürften auch noch Homosexuelle zu
finden sein, ein Beleg dafür ist aber nicht vorhanden. Folglich konnte nur eine Mindestzahl
der verfolgten Homosexuellen ermittelt werden.
Von „Strichjungen“ ist bekannt, dass sie ihrem Gewerbe häufig nur aus sozialer Not nachgingen, nicht aber aus Neigung. Viele waren Heterosexuelle, trotzdem wurden auch sie aufgrund §§ 175 und 175a, Ziffer 4, bestraft. § 175 StGB bestrafte sexuelles Verhalten unter
Männern, auch wenn sie heterosexuell oder bisexuell waren.
Es ist also durchaus problematisch, „§ 175-Opfer“ pauschal als „Homosexuelle“ zu bezeichnen. Dies geschieht aber aus sprachlichen Gründen auch hier, und gemeint sind immer
Männer, die sich homosexuell verhielten.
Das Strafgefangenenlager Rodgau
Das von mir kurz als
Strafgefangenenlager
Rodgau
bezeichnete
Lager II, Oberroden
Lager war in Wirklich494
keit ein Lagersystem
Lager I und II
35
aus mehreren StammLager I, Dieburg
127
lagern und über 30
Ausßenlagern, das ab
Polenlager Eich
3
1938 errichtet wurde,
um ähnlich wie in den
Emslandlagern zunächst Ödland für die landwirtschaftliche Verwertung fruchtbar zu machen,
später auch für den Krieg wichtige Produktionen zu liefern.
Es unterstand der Generalstaatsanwaltschaft Darmstadt. In ihrem Buch „Das Lager Rollwald,
Strafvollzug und Zwangsarbeit 1938 bis 1945“ hat Heidi Fogel die Geschichte des Lagers
2004 ausführlich aufgearbeitet.
§175-Opfer im Strafgefangenenlager Rodgau
Für die Homosexuellen relevant sind vor allem das Stammlager I in Dieburg, in das 127
Homosexuelle, und das Stammlager II in Oberroden, in das 494 Homosexuelle eingeliefert
wurden. Weitere 35 waren in beiden Lagern. Bei 3 Polen ist lediglich vermerkt, dass sie ins
„Polenlager“ kamen. In das Außenlager Schlitz im Vogelsbergkreis wurden dann mindestens
50 § 175-Opfer transportiert.
Im März 1945 erreichten US-Truppen die Lager.8 Ein Teil der Häftlinge, meist politische
Häftlinge und „Kriegstäter“, die bereits länger als ihre Strafe eingesessen hatten, wurde
entlassen, ein anderer Teil nach Dieburg verlegt. Noch 1945 wurden die Lager von der USVerwaltung als Kriegsgefangenenlager verwendet.
8
Zur Auflösung der Lager: Fogel, S. 335-345.
5
Menschen wurden zu Opfern
Wo wurden die Opfer geboren und wo lebten sie vor ihrer Verhaftung?
Die Opfer kamen aus ganz Deutschland; einige aber auch aus dem Ausland. 675
Geburtsorte sind bekannt. Die meisten, 57, wurden in Berlin geboren, 45 in Frankfurt/M., je
18 in Dresden und Hamburg und 16 in Leipzig.
667 letzte Wohnorte vor der Verurteilung sind bekannt. Die meisten, 105, wohnten in Berlin.
Aus Frankfurt kamen 65 Personen, aus Hamburg 34 Personen, aus Dresden 23 Personen
und schließlich aus Köln 21 Personen. In diesen fünf Großstädten wohnten 248 Personen,
das sind 37% der Verurteilten, sofern ein Wohnort bekannt ist.
In diesen fünf Orten waren aber nur 150 Personen geboren – diese Orte hatten also einen
rechnerischen Zuwachs von 40% der Wohnsitze. Dies mag ein Hinweis darauf sein, wie sehr
es homosexuelle Männer in die Anonymität von Großstädten zog, die einen gewissen Schutz
bieten konnte. Außerdem erhöhen sich rein statistisch für kleine Minderheiten die Chancen,
überhaupt einen Partner zu finden, wenn die Zahl der potentiellen Partner in der Nähe lebt.
Einen Partner über Kontaktanzeigen zu finden, wie in der Weimarer Republik noch möglich,
war ja in der NS-Zeit unmöglich. Diese „Land-, bzw. Kleinstadtflucht“ zeigt sich auch bei den
nächstgrößten fünf Orten (Magdeburg, Mannheim, Stuttgart, Leipzig und Kiel). In den 10 am
stärksten vertretenen Orten wurden 201 Homosexuelle geboren, wohnten schließlich aber
318. Diese Orte hatten immer noch einen Zuwachs von 37%.9
Ein weiterer Hinweis auf die Konzentration homosexueller Männer in Großstädten mag sein,
dass in diesen fünf Städten zwar 37% der Homosexuellen wohnten, aber nur 9% der
Bevölkerung des Deutschen Reiches im Jahre 1939.10
Betrachtet man die Herkunft der Häftlinge bezogen auf heutige Bundesländer, so kamen die
meisten aus Berlin, nämlich 105. 104 kamen aus Hessen, 85 aus Baden-Württemberg, 74
aus Sachsen und 55 aus Nordrhein-Westfalen, 11181 Personen aus allen restlichen elf
Bundesländern. 76 Personen kamen aus anderen Regionen - darunter 30 aus Ostgebieten,
die heute nicht mehr zu Deutschland gehören -, 29 aus Österreich, 17 aus dem restlichen
Ausland; bei einer Person fehlen Ortsangaben. Die Häftlinge kamen aus allen Ländern
Deutschlands, die meisten wohl aus dem damaligen Preußen. Offenbar spielten damalige
Ländergrenzen kaum eine Rolle; vielmehr geschah die Häftlingszuweisung vermutlich
vorwiegend nach ökonomischer Zweckmäßigkeit.
Von den Ausländern kamen 5 aus Polen, 4 aus Frankreich, 3 aus der Tschechoslowakei und
je 1 aus Italien und Luxemburg. Die 31 Österreicher zählten seinerzeit zu den Reichsdeutschen.
Berufe – meist wurden Arbeiter und Handwerker Opfer
Zu 666 Personen liegen Berufsangaben vor: 432 waren Arbeiter und Handwerker (65%);
vom Ackerkutscher bis zum Zuckerbäcker waren zahllose Berufe vertreten. Bei 97 Personen
war nur Arbeiter angegeben, ansonsten wurden z.B. viele Metallberufe, Lebensmittelberufe,
Gärtner, Landarbeiter und Friseure angegeben.
9
Ein Teil der Zunahme mag allerdings auch an der allgemeinen Verstädterung liegen (Eingemeindungen).
Bevölkerung dieser Städte entnommen: Großer Volksatlas, Velhagen & Klasing, Bielefeld, Leipzig 1941, S. 14.
Wohnbevölkerung im Deutschen Reich ohne Protektorat Böhmen und Mähren am 17. Mai 1939 nach dem
Gebietsstand vom 1. August 1941 entnommen: Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1941/42, S. 10.
11
Bei 13 Personen, bei denen der letzte Wohnort fehlte, wurde ersatzweise der bekannte Geburtsort für die
Länderzuordnung genommen.
10
6
Berufe, N=666
8%
Arbeit./Handw.
27%
Angest./Kaufl.
65%
Zu den 180 Angestellten und Kaufleuten (27%) gehörten vom Ausbildungsleiter bis zum Weinhändler überwiegend Kaufmännische Angestellte und
50 Personen, bei denen unspezifisch
nur Kaufmann angegeben war, aber
auch 16 Kellner und 6 Krankenpfleger.
Andere
Die 54 anderen Berufe (8%) teilen sich
auf in 19 Bedienstete im öffentlichen
Dienst (darunter auch ein Hauptwachtmeister und ein Oberleutnant a.D.), 11 Selbständige (meist Land- und Gastwirte, aber auch
je ein Sippenforscher und Zeitungshändler), 10 Künstler (darunter 8 Theaterberufe und ein
Schriftsteller). 7 Personen hatten akademische Berufe (darunter Lehrer, Ingenieure und ein
Universitätslektor). 4 Personen arbeiteten im kirchlichen Bereich (je ein Geistlicher, Küster,
Ordensbruder und Pfarrmessner). Zu den 3 sonstigen Berufen zählen 2 Studenten und der
weltbekannte Tennisspieler Gottfried von Cramm. Ob letzterer aber tatsächlich in Rodgau
war, ist umstritten.12
Der persönliche Einkommensverlust, der durch die Haft entstand, dürfte allein für die
Rodgauer Homosexuellen, die aus ihrem Beruf herausgerissen wurden, zusammen mehrere
Millionen Reichsmark betragen haben.13 Dies wirkte sich lebenslang für die Betroffenen aus,
denn entsprechend weniger Geld konnte in die Rentenversicherung eingezahlt werden. Mit
einer Verurteilung war ja zudem nicht selten ein beruflicher Abstieg verbunden. Auch volkswirtschaftlich dürfte sich dies stark ausgewirkt haben, denn die Arbeit im Lager dürfte nicht
so viel Wertschöpfung erbracht haben wie die Arbeit im erlernten Beruf.
Familienstand – einige waren nicht ledig
Wie oben dargestellt, konnten auch
Heterosexuelle, die sich homosexuell
verhielten, ein Opfer des § 175 wer4% 1%
den. Einige Homosexuelle erkennen
ihre Homosexualität auch erst, nachLedig
13%
dem sie sich verheiratet haben. Einige
Verheiratet
heiraten bewusst trotz ihrer Homosexualität, um z.B. vor der Umwelt als
Geschieden
heterosexuell zu erscheinen, wegen
82%
Verwitwet
des heterosexuellen Anpassungsdrucks oder aus Gründen der Versorgung.
Wie zu erwarten, war die Masse der §
175-Opfer, 82%, ledig, aber 13% waren verheiratet, 4% geschieden und 1% bereits
verwitwet. Die Ledigen waren beim Erstnachweis in Rodgau im Durchschnitt 32 Jahre alt, die
jemals Verheirateten 38 Jahre.
Zum Vergleich: Reichsweit lag der Anteil der Ledigen an den Verurteilten aufgrund §§ 175,
175a und 175b im Jahr 1936 bei 81%.14
Familienstand, N=654
12
Vgl. Fogel, S. 250 f. Fogel schließt es nahezu aus.
661 § 175-Opfer in Rodgau wurden zu 1.275 Jahren Haft verurteilt. Bei einem Jahresgehalt von 2.400,- RM
entgingen ihnen 3.060.000,- RM Einkommen. Die Kosten der Haft dürften auch nicht gering gewesen sein. Der
davon abzuziehende Wert der Gefangenenarbeit ist nicht bekannt.
14
Vgl. Kriminalstatistik 1936, S. 264-267.
13
7
Religion – Glaube ist in Deutschland regionale Tradition
Religion, N=650
Evangelisch
Katholisch
Gottgläubig
Ohne
7% 0,3%
31%
62%
Religiöse Bekenntnisse waren in Deutschland sehr stark
durch regionale Traditionen geprägt. Die § 175-Opfer in
Rodgau gehörten weit überwiegend, zu 62%, der evangelischen Religion an. Nur 31% waren katholischen Glaubens. Trotz der Homosexuellenfeindlichkeit der Kirchen
hatten sich also nur sehr wenige von den Kirchen
emanzipiert. 7% bezeichneten sich als gottgläubig bzw.
Dissidenten und waren nicht in den etablierten Kirchen.
2 Personen gaben an, ohne Religion zu sein (0,3%).
Zum Vergleich: Unter den reichsweit 1936 aufgrund §§
175, 175a und 175b Verurteilten waren 65% evangelischer, 32% katholischer und 0,9% jüdischer Religion.15 Rein statistisch hätten auch ein paar Juden unter
den Personen der Rodgau-Kartei sein müssen; dies war
aber nicht der Fall.
Reichsweit waren 1939 54% der Bevölkerung evangelischer und 40% katholischer Religion.16
Kriminalisierung
Weswegen wurden sie verurteilt?
War lediglich „widernatürliche Unzucht“ oder „Unzucht mit
Männern“ angegeben und kam es zu einer Gefängnisstrafe, wurde dies als Verstoß gegen § 175 gewertet; kam
auch §175
auch §175a
es hingegen zu einer Zuchthausstrafe, wurde dies als
Verstoß gegen § 175a gewertet, denn dieser ist i.d.R.
auch §176
Voraussetzung für eine Zuchthausstrafe. Gelegentlich
6%
kamen noch weitere Straftaten hinzu wie z.B. öffentliches
Ärgernis, Diebstahl, Erpressung, Zuhälterei.
Es entstand der Eindruck, dass beim Eintrag der korrekten
24%
Beschuldigung nicht sehr sorgfältig vorgegangen wurde.
Vielleicht war sie nicht von hoher Bedeutung. Die
70%
Auswertung der Verstöße erwies sich als schwierig und
kann im Ergebnis nur als ungefähre Einschätzung angesehen werden: Zu 670 Rodgau-Häftlingen liegen Angaben
vor. Demnach wurden 70% vorwiegend aufgrund § 175,
24% vorwiegend aufgrund § 175a und 6% vorwiegend aufgrund § 176 beschuldigt oder
verurteilt. „Vorwiegend“ sind die Angaben, weil ja weitere §§ hinzukommen konnten. Soweit
Verurteilungen auch aufgrund §§ 175a oder 176 erfolgten, wurden diese vorrangig gewertet.
Vermutlich fehlen viele Täter, die aufgrund § 176 verurteilt wurden, weil sie in der Kartei nicht
als Homosexuelle erkennbar sind. Auch mag der Anteil der aufgrund § 175a Verurteilten
tatsächlich höher sein, denn bei mildernden Umständen konnte auch hier eine
Gefängnisstrafe verhängt werden.
§§ Urteil, N=670
15
16
Vgl. Kriminalstatistik 1936, S. 267.
Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1941/42, S. 26. Reichsgebiet zur Zeit der Volkszählung 1939.
8
300
250
200
285
"§175"-Opfer Verurteilungen
und Erstnachweise,
Strafgefangenenlager
Rodgau
231
Verurteilungen, N=671
222
Erstnachweise, N=673
167
150
120
100
89
50
43
56
35
23
20
0
9
14
12
10
5
2
1
1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945
Wann und wo wurden sie verurteilt?
Die erste Verurteilung erfolgte bereits 1934. Der 24-jährige Schneider Hermann B. wurde
1934 in Berlin nach § 175 zu Arbeitshaus verurteilt und kam im März 1939 nach Rodgau. Im
Mai 1939 wurde der „Termin zur Vorlage der Akten zwecks Prüfung der Entlassung“
anberaumt und er 29-jährig entlassen. 1935 erfolgten 2 Verurteilungen, darunter die des
Bäckers Felix P., ebenfalls zu Arbeitshaus. Er kam 1939 aus dem Arbeitshaus Breitenau
nach Rodgau und wurde Anfang 1942 der Polizei Oppeln zugeführt. Die Zahl der Verurteilungen stieg nun stetig bis zum Maximum im Jahr 1939 von 285 Verurteilungen. Im
Deutschen Reich war bereits 1938 das Maximum der Verurteilungen erreicht worden.17
Danach sanken die Verurteilungen so rapide ab wie
sie gestiegen waren. 1944 gab es noch 5 VerurteiGerichtsorte, ab 10
Berlin
103
lungen, 1945 keine mehr.
Von 669 Häftlingen ist bekannt, an welchem Ort sie
verurteilt wurden. Es waren ja meist größere
Landgerichte, die sie aburteilte. 103 wurden in
Berlin verurteilt, 80 in Frankfurt/M., 36 in Hamburg
und je 29 in Dresden und Magdeburg. Wiederum
zeigt sich, wie schon bei den Wohnsitzen, dass in
allen Ländern Verurteilungen stattfanden. Für
Hessen sei noch Darmstadt mit 13 Urteilen erwähnt
und für das frühere Hessen Mainz mit 5
Verurteilungen.
Es zeigt sich z.B. für Frankfurt/M. folgende Steigerung: 46 Rodgau-Ofer wurden dort geboren,
65 hatten dort ihren Wohnsitz vor der Verurteilung,
17
Hoffschildt 2002, S. 149.
Frankfurt/M
Hamburg
Dresden
Magdeburg
Köln
Mannheim
Karlsruhe
Leipzig
Stuttgart
Chemnitz
Darmstadt
Saarbrücken
Kiel
80
36
29
29
23
21
17
17
17
13
13
12
10
9
80 wurden dort verurteilt und schließlich 94 Personen von Haftanstalten in Frankfurt/M. nach
Rodgau transportiert.
Die Strafen – Art und Dauer der Strafen
Gefängnisstrafen
Strafart, N=651
Gefängnis
Zuchthaus
Straflager
0,5
18%
81%
528 Personen (81% der Verurteilten) wurden zu
Gefängnisstrafen verurteilt. Von 527 dieser
Verurteilten ist das Strafmaß bekannt: 96 Personen wurden zu Strafen unter einem Jahr verurteilt,
253 zu 12 – 23 Monaten, 109 zu 24 – 35 Monaten
und 69 zu drastischen drei Jahren und mehr. Die
durchschnittliche Dauer der Gefängnisstrafen lag
bei 20,3 Monaten. Fast alle Häftlinge, die bis Juli
1940 dem Lager Rodgau zugingen, waren zu
Gefängnisstrafen verurteilt worden. Erst bei
späteren Zugängen sind auch Zuchthausgefangene beteiligt.
§175-Opfer, Haftstrafen in Jahren
253
109
96
unter 1
31
32
unter 2
unter 3
Gefängnis
Zuchthaus
69 55
3 u. mehr
Zuchthausstrafen
120 Personen (18% der Verurteilten)
wurden zu Zuchthausstrafen verurteilt.
Die Mindest-Zuchthausstrafe betrug
ein Jahr. Von 118 Personen ist auch
das Strafmaß bekannt: 31 Personen
wurden zu 12 – 23, 32 zu 24 – 35
Monaten Zuchthaus verurteilt und 55
zu drei Jahren und mehr. Die durchschnittliche Dauer der Zuchthausstrafen lag bei 36,7 Monaten.
Straflager
Drei junge Polen, zwei von ihnen waren noch Jugendliche, alle waren Landarbeiter und in
Deutschland sehr wahrscheinlich Zwangsarbeiter, wurden am 4. Mai 1943 in Mannheim zu
Straflager verurteilt (0,5% der Verurteilten), zwei zu je 6 Monaten, einer zu 4 Monaten
Straflager. Sie wurden 1944 in das „Gefangenenlager Rodgau Eich/ Rheinhessen,
Polenlager“ transportiert.
10
§ 175-Opfer im Lager Rodgau
Aus welchen Haftorten kamen die Häftlinge nach Rodgau?
Frankfurt/M
94
Emslandlager
74
Berlin
50
Bautzen
44
Zweibrücken
40
Mannheim
36
Zwickau
34
Magdeburg
28
Diez
26
Von 667 Häftlingen sind die Haftorte vor dem
Zugang in Rodgau bekannt. Die größte Zahl
von Häftlingen, 94, transportierte man aus
Haftanstalten in Frankfurt/M., meist aus
Frankfurt-Preungesheim, nach Rodgau. Z.B.,
um nur größere Transporte zu nennen,
kamen am 27. Oktober 1938 aus FrankfurtPreungesheim 14 Häftlinge in Rodgau an,
die zuvor in Berlin, Breslau, Cottbus und
Potsdam zu Gefängnisstrafen verurteilt worden waren, am 6. Juni 1939 kamen von dort
8 Häftlinge, die in Frankfurt/M. zu Gefängnisstrafen verurteilt worden waren. Weitere, je
5, kamen am 13. Juli 1939, 17., 18. und 24.
August 1939 und je 8 am 27. Oktober und 3.
November 1939 in Rodgau an.
74 Häftlinge kamen direkt aus den weit
entfernten Strafgefangenenlagern im EmsHamburg
land. So kamen Ende Juli 1940 mindestens
20
41 zu Gefängnisstrafen verurteilte HomoWittlich
13
sexuelle in großen Transporten aus dem
Vor- Haftorte, ab 10 Emslandlager Neusustrum und am 2. DeBruchsal
12
zember 1940 weitere 24 zu Zuchthausstrafen
Verurteilte aus dem Emslandlager AschenFreiburg i.B.
12
dorfer Moor nach Rodgau.
50 Häftlinge kamen direkt aus Berlin nach
Rodgau, allein 6 am 6. April 1939 und sogar 19 am 16. August 1939.
Weiter 44 Häftlinge kamen aus Bautzen in Sachsen, allein jeweils 7 am 15. und 29. Februar
und am 12. Juni 1940.
40 Häftlinge kamen aus Zweibrücken, allein 35 am 29. September 1938.
Was Hessen angeht, so kamen 21 Häftlinge aus der Haftanstalt Darmstadt und 1940 9 aus
Butzbach.
Alle Häftlinge kamen vermutlich in größeren Sammeltransporten zusammen mit anderen
Häftlingen nach Rodgau.
Darmstadt
21
Alter beim Zugang in Rodgau
Im Durchschnitt waren sie beim Zugang zum in Rodgau 33,2 Jahre alt. 16 Personen,
2%, waren noch Jugendliche unter 21 Jahren. Der Jüngste war der 16-jährige Elektriker
Wilhelm K., der bereits im April 1938 von Darmstadt nach Rodgau transportiert wurde. Der
Älteste war der Kaufmann Heinrich B. aus Bonn, der 66-jährig im September 1944 nach
Rodgau kam. Bei beiden ist das Ende der Haft nicht vermerkt. Bei 672 Häftlingen ist das
Zugangsalter bekannt. Sehr junge und alte Häftlinge waren selten; 79% waren zwischen
21 und 40 Jahre alt.
11
Personenbeschreibungen
Wegen der meist vorhandenen Personenbeschreibung ließe sich feststellen, wie groß die
Homosexuellen im Durchschnitt waren, ob man Bart trug oder sich rasierte, welche Haarund Augenfarben vertreten waren, ob sie schlank, untersetzt oder kräftig waren, welche
Nasen- und Ohrenformen sie hatten, wie gut ihre Zähne waren usw. Dies wurde aber unterlassen. Da nur zu acht Personen Fotografien überliefert sind, ist aber die Personenbeschreibung eine wertvolle Möglichkeit, sich heute noch ein ungefähres Bild von den
Menschen zu machen.
Die Unterbringung von homosexuellen Männern in Rodgau
Mit der Unterbringung der homosexuellen Häftlinge im Strafgefangenenlager Rodgau
befasste sich auf Anweisung des Reichsministeriums der Justiz die zuständige Generalstaatsanwaltschaft in Darmstadt.
Mit Schreiben vom 15. Dezember 1939 des Reichsministers der Justiz an den Herrn Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, Heinrich Himmler, erläuterte man das Thema
„Homosexuelle in Vollzugsanstalten und Strafgefangenenlagern der Justizverwaltung.“18 Dies
Schreiben war die Reaktion auf zwei Schreiben der SS an die Justiz. Offenbar machte man
sich in der SS Gedanken über die Unterbringung der zunehmenden Zahl Homosexueller in
den Konzentrationslagern. Das Justizministerium erläuterte: In „§45 Absatz 1 der Grundsätze
für den Vollzug von Freiheitsstrafen“ hieße es:
„‘Gefangene, von denen ein schädlicher Einfluß auf Mitgefangene zu befürchten ist,
sind nach Möglichkeit in Einzelhaft oder in Zellenhaft zu halten‘.
Es entspricht alter Strafvollzugspraxis, daß hiernach vor allem Verurteilte, die wegen
homosexueller Betätigung einsitzen und Gefangene, die sonst noch als Homosexuelle
erkannt sind, von anderen Gefangenen mindestens bei allen denjenigen Gelegenheiten getrennt gehalten werden, bei denen die Gefahr einer Annäherung besteht.
Üblicherweise werden also Homosexuelle auch von ihresgleichen getrennt gehalten,
damit auch dort, wo es einer Verführung nicht bedarf, die Gelegenheit zur Fortsetzung
homosexueller Betätigung unterbunden wird.
Dies galt und gilt uneingeschränkt im Anstaltsvollzug. So weit es … zur Außenarbeit …
außerhalb des Anstaltsbereichs kommt, ist neuerdings im Interesse der heilsamen
Heranziehung der Homosexuellen zu schwerer Arbeit im Freien eine unschädliche
Lockerung zugelassen worden. …
Als der Lagervollzug aufkam … erwies es sich als nicht angängig, auf die Heranziehung homosexueller Gefangener ganz zu verzichten. … Auch in Rodgau ist ein Teil der
homosexuellen Gefangenen in einer großen Einzelbaracke (daneben auch im Zellenbau eines ehemaligen Arbeitshauses) über Nacht untergebracht. In den Emslandlagern, und soweit in Rodgau die nächtliche Trennung nicht durchführbar ist, gibt die
Praxis dem sogenannten ‚Verdünnungsprinzip‘ den Vorzug. Dieses Prinzip geht dahin,
die Homosexuellen so zu verteilen, daß sie sich überall einer großen Mehrheit sexuell
nicht Pervertierter gegenübersehen, die einmal sie, dann aber auch einander aus der
auch unter den Strafgefangenen sehr verbreiteten gesunden Abscheu gegen die
Homosexualität heraus unter Kontrolle halten. … Homosexuelle unter Absonderung
von anderen unter sich zusammenzubringen, scheint abgesehen von der Gelegenheit,
die homosexuelle Betätigung heimlich fortzusetzen, die Gefahr in sich zu bergen, daß
sich eine ‚homosexuelle Atmosphäre‘ bildet, die den einzelnen noch tiefer in die
Homosexualität hineinzieht.“
18
Bundesarchiv R 22/1395; gr. Dok. Bd. 2. Dok. Nr. C IIa/1.21. Nach: Erich Kosthorst, Bernd Walter,
Konzentrations- und Strafgefangenenlager im Emsland 1933-1945, Düsseldorf 1985, Dokument 6, S. 281 f.
12
Mit Schreiben vom 15. Juli 1940 wies das Justizministerium mit dem Vermerk „eilt sehr“ die
Staatsanwaltschaft Darmstadt an, „beschleunigt“ und „unverzüglich“ eine „Baracke mit
Kojen“ zur Einzelhaftunterbringung homosexueller Häftlinge aus Straubing zu besorgen, die
dort als Lagerraum genutzt wurde.19 Der Vorstand der Gefangenenlager Rodgau Dieburg bat
daraufhin mit Bericht vom 26. Juli 1940 den Generalstaatsanwalt Darmstadt, die Baracke
nicht anzufordern, weil man bessere Möglichkeiten habe und auch Platzprobleme. Zugleich
beschrieb der Vorstand, wie die Homosexuellen zurzeit untergebracht waren:
Die Homosexuellen waren „zusammen mit normal veranlagten Gefangenen, auf die
Hafträume bzw. Baracken verteilt, untergebracht.
Um unzüchtigen Handlungen nach Möglichkeit vorzubeugen, habe ich folgende Maßnahmen getroffen:
1.) Die wegen Unzuchtshandlungen mit Männern Verurteilten sind derart in den Schlafräumen gelagert, daß nur ältere als ordentlich und normal veranlagt bekannte Gefangene in ihrer Nähe liegen.
2.) Die Namen an den Fußenden der Betten der wegen Unzuchtshandlungen mit
Männern Verurteilten sind zum Zwecke der Kennzeichnung rot unterstrichen. Diese
Gefangenen sind daher den Lagerleitern, Blockführern bzw. Abteilungsbeamten sowie
den Lehrern u.s.w. bekannt, die gehalten sind, in erzieherischer Weise auf sie einzuwirken.
3.) In den Schlafräumen hängt ein Befehl aus, in dem zum Ausdruck gebracht ist, daß
jede, auch die geringste unzüchtige Annäherung sofort, besonders vom Barackenältesten, zur Meldung zu bringen ist und daß jeder Gefangene, bei dem auch nur der
Verdacht besteht, daß er sich einem anderen in unzüchtiger Absicht genähert hat,
rücksichtslos mit der höchstzulässigen Hausstrafe belegt wird.
Dieser Befehl wird von Zeit zu Zeit bei den Appellen von den Lagerleitern noch
besonders bekanntgegeben.
4.) …“
Mit diesen Maßnahmen habe man „beßte Erfahrungen gemacht“ und man habe der Frage
„ständige Aufmerksamkeit angedeihen lassen und konnte feststellen, daß in den 2 1/2
Jahren des Bestehens der Gefangenenlager Rodgau nur in ganz verschwindend wenigen
Fällen Anlaß zum Einschreiten wegen Unzuchtshandlungen gegeben war. Bei diesen Fällen
handelte es sich durchweg um ausgesprochen homosexuell veranlagte und wohl auch
absolut unverbesserliche Elemente, die sehr in der Minderzahl sind und dann auch grundsätzlich in einer Isolierzelle zur Nacht abgesondert werden.“
Es half nichts. Das Reichsjustizministerium befahl die Aufstellung der Baracke mit Schreiben
vom 5. August 1940 erneut und die Generalstaatsanwaltschaft Darmstadt ordnete ihre
Aufstellung „zu Versuchszwecken“ an. Im Oktober 1940 wurde die Baracke im Lager
errichtet.20
Fast ein Jahr später, am 18. Juni 1941, berichtete der Vorstand des Gefangenenlagers
Rodgau der Staatsanwaltschaft Darmstadt zum Thema „Aufstellung einer Baracke für
homosexuelle Gefangene.“
„Seit der Belegung der Gefangenenlager Rodgau mit Kriegstätern hat die Zahl der
homosexuellen Gefangenen dermaßen abgenommen, dass sie heute nur noch knapp
2% der Gesamtbelegung beträgt. Auch von diesen 2% kann der größte Teil als nicht
gleichgeschlechtlich veranlagt und besserungswillig angesehen werden, und bilden
diese keine Gefahrenquelle für die anderen Gefangenen.
19
Die folgenden Zitate zu Rodgau stammen aus der Akte: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt G 24, Nr. 2306,
Bauliche Unterhaltung des Gefangenenlagers Rodgau. Ich danke Peter Friedl für Auszüge aus den Akten.
Vgl. Fogel, S. 147 f.
20
Fogel, S. 147.
13
Die Baracke … ist zur Zeit nur mit 6 Gefangenen belegt. Bei dieser geringen Zahl
konnten besondere Erfahrungen bisher nicht gesammelt werden.“
Offenbar war dieser Bericht taktisch unklug, denn das Ministerium wollte die Baracke nun
abziehen, in Rodgau hingegen wollte man sie für andere Zwecke nutzen.
Anderthalb Monate später war die „Gefahr durch die Homosexuellen“ anscheinen rapide
gestiegen, denn der Rodgau-Vorstand schrieb am 31. Juli 1941 nach Darmstadt:
„Ich bitte, die … Kojenbaracke bei den Gefangenenlagern Rodgau zu belassen.
Sie ist … mit einer Anzahl von homosexuellen Gefangenen belegt, die auf diese Weise
des nachts von den übrigen Gefangenen gesondert gehalten werden. Es handelt sich
dabei um solche Elemente, die sich in schwerster Weise vergangen haben und von
denen angenommen werden muss, dass bei ihnen eine eingewurzelte widernatürliche
Veranlagung vorhanden ist. Diese Gefangenen wurden bisher in der Arrestbaracke
isoliert gehalten … Das Bedürfnis an dem Vorhandensein einer Kojenbaracke ist daher
in letzter Zeit erheblich gewachsen; es ist zu erwarten, dass dies in Zukunft in steigendem Maße der Fall sein wird.“
Auch dies durchschaubare Manöver half nicht. Die Baracke wurde im September 1941
abgebaut und in das Zuchthaus Brandenburg-Görden transportiert.21 Das Experiment mit der
Kojenbaracke war zumindest im Lager-Strafvollzug offenbar gescheitert.
Nächste Ereignisse und Haftorte
Als nächstes bekanntes Ereignis nach dem Zugang in Rodgau erfolgte meist die Haftentlassung. 317 § 175-Opfer wurden entlassen, 2 flüchteten. 12 von ihnen wurden zwar angeblich „entlassen“, befanden sich aber ein bis zwei Monate danach in einem KZ, wurden also,
wie von anderen Haftorten her bekannt, tatsächlich wahrscheinlich nicht in die Freiheit
entlassen, sondern der Polizei übergeben. Es ist zu befürchten, dass auch weitere angebliche Entlassungen in ein KZ führten, denn die Namen vieler „Rosa-Winkel-Häftlinge“ sind
noch nicht bekannt.
236 Häftlinge wurden an andere Haftorte transportiert, sowohl im eigenen Lagersystem,
z.B. 47 in das Außenlager Schlitz, als auch an andere Haftorte, z.B. 24 in die Haftanstalt
Koblenz, 11 in das Strafgefangenenlager Oberems und einige nach Frankfurt/M., Hamburg
und Wien, vielleicht zu einem erneuten Prozess oder als Zeuge. 3 wurden in ein
Krankenhaus transportiert, bei einigen wurde vermerkt: „nicht mehr moorfähig“ oder
„lagerunfähig“.
47 wurden zur Polizei transportiert; 27 von ihnen befanden sich kurz darauf in einem KZ. Bei
17 Personen ist dies die letzte Information über sie. Zu den restlichen 3 ist bekannt: Einer
wurde der Polizei überstellt; zwei sind in einem größeren Zeitabstand im KZ nachweisbar.
38 der transportierten Häftlinge kamen wieder zurück; teilweise waren sie auch nur innerhalb
des Lagersystems Rodgau verschoben worden. 21 von ihnen wurden später in Rodgau
entlassen. Nur bei zwei Häftlingen ist ein direkter Transport in ein KZ, nach Mauthausen, aus
der Kartei ersichtlich.
Von 69 § 175-Opfern ist ein nächstes Ereignis nicht bekannt.
Von 33 Häftlingen ist als nächstes Ereignis ein Zugang an einem anderen Haftort bzw. ein
erneuter Zugang in Rodgau ersichtlich, darunter auch 3 Zugänge bei der Polizei. 14 waren
wieder in Rodgau und von 4 Personen ist bekannt, dass sie dort entlassen wurden.
21
Ebda.
14
Von 13 weiteren Personen ist keine Entlassung bekannt, aber das rechnerische Haftende,
das auf den Karten vermerkt war. 5 von ihnen befanden sich kurz nach dem rechnerischen
Haftende im KZ und 3 sind später in einem KZ nachweisbar.
Bei 9 Häftlingen ist lediglich eine spätere Anwesenheit an einem Haftort erkennbar, darunter
3 im Außenlager Schlitz und 2 in Rodgau. 1 von ihnen wurde in Rodgau entlassen.
Schließlich ist bei 2 Häftlingen bekannt, dass sie die NS-Verfolgung überlebten. Nur auf einer
Karteikarte war das Überleben ersichtlich, denn er wurde am 13. Juli 1945 entlassen,
anscheinend begnadigt. Der andere Überlebende ist Heinz Müller, der aus der Literatur
bekannt ist.22
Für den 1905 in Paris geborenen französischen Mechaniker Raymond Thil, der 1943 in
Ravensburg wegen „fortgesetzter erschwerter Unzucht nach § 175“ verurteilt wurde und im
August 1943 nach Rodgau gekommen war, wurde als nächstes Ereignis vermerkt: Im.
Januar 1944 „verstorben“
Endereignisse in der Rodgau-Kartei – nur beschränkte Aussagekraft
Stünde mir ausschließlich die Rodgau-Kartei zur Verfügung, wären mir nur 347
Endereignisse bekannt: 345 Entlassungen (99,4% von allen Endereignissen), 1 Überleben
(0,3%) und 1 Tod (0,3%). Es entstünde ein für Rodgau belegbares Bild, das aber für das
Schicksal der § 175-Opfer kaum Aussagekraft hätte, denn, soweit bislang bekannt und wie
sich unten zeigen wird, wurden letztendlich nur 76% entlassen, überlebten 8% und starben
16%. Dies belegt zugleich, wie problematisch es ist, wenn man nur eine einzige Quelle
auswertet.
Haft in Konzentrations- und anderen Strafgefangenenlagern
Außer in Rodgau waren mindestens 170 § 175-Opfer auch in anderen Lagern:







80 Häftlinge in einem KZ,
34 Häftlinge in einem KZ und in Emslandlagern,
5 Häftlinge in einem KZ und im Lager Oberems,
2 Häftlinge in einem KZ, in den Emslandlagern und im Lager Oberems,
46 Häftlinge in den Emslandlagern,
2 Häftlinge in den Emslandlagern und im Lager Oberems,
1 Häftling in den Emslandlagern und im Lager Griebo.
Dies sind Mindestangaben, denn keines dieser Lager-Systeme ist bisher komplett erforscht.
Eine vollständige Erforschung wird wahrscheinlich auch nicht mehr möglich sein. Von den
Häftlingen, die auch in anderen Lagern außer Rodgau waren, starben, soweit bekannt,
51%.23 Von den Häftlingen, die auch in einem KZ waren, starben soweit bekannt, 61%.24
22
Fogel, S. 249 f.
Von diesen 170 Häftlingen sind 132 Endereignisse bekannt.
24
Von diesen 121 Häftlingen sind 105 Endereignisse bekannt.
23
15
Schicksale – letzte bekannte Ereignisse
Endereignis bekannt,
N=682
ja
nein
34%
66%
Bekannte Endereignisse,
N=448
Tod
Entlassung/Flucht
Überleben
8%
76%
16%
Bekanntheit
letzter
Haftschlüsse
Kenntnisse sind begrenzt
–
die
In den Karteikarten waren lediglich die oben
beschriebenen für lagerinterne Zwecke notwendigen Grunddaten angegeben. Wollte man Genaueres über einen Häftling wissen, musste die Strafvollzugsakte eingesehen werden. Keineswegs war
es die Aufgabe der Kartei, das auf die Haft Rodgau
folgende Schicksal der Häftlinge zu dokumentieren.
Ein vermutlich letzter Haftschluss ist bei 2/3 der
Häftlinge (66%) bekannt. Bei 34% bleibt das weitere
Schicksal derzeit noch unbekannt.
Bekannte letzte Haftschlüsse
Von 448 Häftlingen ist ein letzter Haftschluss
bekannt. 340 Personen (76% der bekannten Haftschlüsse) wurden aus der Haft entlassen. Zur Zeit
der Entlassung hatten sie ein Durchschnittsalter von
33,6 Jahren. Es ist aber nicht auszuschließen, dass
einige später doch noch wieder, vielleicht an anderen Orten oder bei der Wehrmacht, in Haft kamen
und dies nur nicht bekannt ist. 70 Personen starben
(16% der bekannten Haftschlüsse). Das TodesDurchschnittsalter von 67 Personen lag bei 38,0
Jahren. 38 Personen wurden aus verschiedenen KZ
befreit oder überlebten an anderen Orten. Das
Durchschnittsalter von 28 Überlebenden lag bei
38,3 Jahren.
Unbekannte letzte Haftschlüsse
Zu den 234 unbekannten letzten Haftschlüssen gehören im Wesentlichen 151 Personen
(65% der unbekannten Haftschlüsse), von denen als letzte Information lediglich ein Abtransport bekannt ist. Zum Abtransport hatten 140 Personen ein durchschnittliches Alter von
34,1 Jahren. Unter den vielen Abtransportierten könnten durchaus noch weitere schwere
Schicksale sein, die aber nicht bekannt sind. Von weiteren 21 Personen ist nur bekannt,
dass sie sich an einem Haftort aufhielten, nicht aber ihr Schicksal. Und zu weiteren
62 Personen ist bekannt, dass sie einem Haftort zugeführt wurden.
16
Bekannte Endereignisse nach der Art der Strafe
Gefängnisstrafen
Von 366 Personen, die zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurden ist ein Endereignis
bekannt: 300 Personen (82% der zu Gefängnis Verurteilten) wurden entlassen, 48 starben
(13%) und 18 wurden aus einem KZ befreit (5%).
Zuchthausstrafen
Lediglich von 66 Personen, die zu einer Zuchthausstrafe verurteilt wurden, ist ein Endereignis bekannt. 31 Personen wurden aus der Haft entlassen, also fast die Hälfte, 19 starben und
16 überlebten.
Der Tod – mindestens 70 Menschen starben
Todesorte
64 Personen starben in KZ, davon 13 im KZ Sachsenhausen, je 10 in den KZ Buchenwald
und Neuengamme, je 5 in den KZ Dachau, Flossenbürg und Mauthausen, je 3 in den
KZ Auschwitz, Natzweiler und Ravensbrück, je 2 in den KZ Bergen-Belsen, Großrosen und
in unbekannten KZ; 1 starb im KZ Majdanek.
6 Personen starben nicht im KZ:






Der Hilfsarbeiter Josef Förster wurde 1943 in Köln hingerichtet.
Der Bäcker Josef Lohmann starb 1943 in der Haftanstalt Bruchsal.
Der Arbeiter Hugo Ludwig starb 1942 im Emslandlager Neusustrum.
Der Mechaniker Fritz Pohnert starb 1944 im Zuchthaus Hameln.
Der Hilfsdreher Josef Soldat starb 1945 in einer Haftanstalt in Hamburg.
Der Mechaniker Raymond Thil starb 1944 in Rodgau.
Todesursachen
Bei 26 Personen ist eine bestimmte Todesursache nicht bekannt. 23 Personen starben, bis
auf 2, alle im KZ angeblich an Krankheiten, meist aber doch wohl durch die Strapazen von
Haft und Zwangsarbeit und durch die Unterversorgung während der Haft.
12 Personen wurden Mordopfer:




Der Koch Georg Berthold wurde 1942 aus dem KZ Ravensbrück kommend Opfer
einer Euthanasieaktion.
Der Buchbinder Alfred Böddicker, der Bauarbeiter Hans Dreckmann, Tiefbauarbeiter
Andreas Löhausen, der Friseur Rudolf Ritter, der Maschinenschlosser Hugo Franz
Schuck und der Schlosser Albert Setzinger wurden 1942 im Klinkerwerk des KZ
Sachsenhauen ermordet.
Der Hilfsarbeiter Josef Förster wurde 1943 in Köln hingerichtet.
Der Kaufmannslehrling Hans-Joachim Groll kam 1942 vom KZ Dachau aus auf einen
„Invalidentransport“ in eine Tötungsanstalt.
17



Der Hausdiener Leo Hoffmann wurde 1942 aus dem KZ Neuengamme kommend in
der Euthanasie-Tötungsanstalt in Bernburg vergast.
Der Koch Martin Lösche wurde 1941 aus dem KZ Sachsenhausen kommend in der
Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein vergast.
Der Tischler Walter Makowski wurde 1941 im KZ Neuengamme ermordet.
Drei weitere Todesfälle können lediglich als sehr wahrscheinlich gelten. Alle befanden sich in
verschiedenen KZ; der Tod war bis 2009 nicht in ihren Geburts-Standesämtern gemeldet,
obwohl sie 1900, 1910 und 1911 geboren wurden.25 Bei einem wurde ein Nachlass im KZ
Neuengamme aufgefunden. Vermutlich sind sie in den Wirren der Lagerauflösung und
Evakuierung umgekommen.
Zwei Häftlinge starben 1945 bei der Evakuierung des KZ Neuengamme auf den Schiffen
Cap Arcona und Thielbek, die auf der Ostsee bombardiert wurden:


der Elektriker Richard Götte.
der Betonierer und Artist Hans Stührenberg.
Schließlich sollen noch zwei weitere Todesursachen erwähnt werden:


Der Arbeiter Johann Fey und der Schuhmacher Johannes Neubert starben 1944 im
KZ Buchenwald den für Sicherungsverwahrte von der Justiz gewünschten Tod.
Der Hausdiener Karl Dohmen setzte seinem Leben 1941 im KZ Buchenwald durch
Freitod ein Ende.
Todesjahr
Von 67 Personen ist das Todesjahr bekannt:
1941: 11 Tote,
1942: 34 Tote,
1943: 6 Tote,
1944: 9 Tote,
1945: 7 Tote.
Von weiteren 2 Personen, die sich im Herbst 1944 noch im KZ Neuengamme aufhielten,
kann nur vermutet werden, dass sie 1945 umkamen. Eine Person starb nach dem 1. Oktober
1942, als sie dem KZ Stutthof zuging.
Stolpersteine für § 175-Opfer
Stolpersteine, kleine Betonsteine mit einer Messingplatte, auf der der Name und das TodesSchicksal von NS-Opfern eingeschlagen ist, sollen vor dem letzten Wohnhaus der Opfer an
den NS-Terror erinnern und vor der Ausgrenzung von Minderheiten warnen.
Soweit bisher bekannt, wurden für § 175-Opfer, die auch in Rodgau waren, folgende Stolpersteine gesetzt:
 Alfred Böddicker, Stolperstein in Hamburg,
 Josef Förster, Stolperstein in Köln,
 Charles Hennings, Stolperstein in Hamburg,
25
Ich danke Christian-Alexander Wäldner, Weetzen, für die Angaben der Standesämter.
18









Leo Hoffmann, Stolperstein in Hamburg,
Emanuel Kaletta, Stolperstein in Hamburg,
Karl-Heinz Keil, Stolperstein in Hamburg,
Hugo Ludwig, Stolperstein in Hamburg,
Walter Makowski, Stolperstein in Hamburg,
Friedrich Meyer, Stolperstein in Tostedt,
Walter Steinbeck, Stolperstein in Hamburg,
Hans Stührenberg, Stolperstein in Hamburg,
Wilhelm Stutenbäcker, Stolperstein in Hamburg.
Diese Liste ist möglicherweise unvollständig, da mir Setzungen von Stolpersteinen nicht
gemeldet werden.
Tote mit letztem Wohnsitz in Hessen
Acht § 175-Opfer, die zu Tode kamen, hatten ihren letzten Wohnsitz in Hessen:
 der Kaufmann Fritz Graf aus Frankfurt/M., Tod 1945 im KZ Mauthausen,
 der Ingenieur Ludwig Herrmann aus Frankfurt/M., Tod 1942 im KZ Großrosen,
 der Kaufmännische Angestellte Wilhelm Heusel aus Frankfurt/M., Tod 1944 im
KZ Flossenbürg,
 der Bäcker Karl Lochner aus Frankfurt/M., Tod 1942 im KZ Flossenbürg,
 der SA-Sturmhauptführer und spätere Kellner Rudolf Nicolai aus Darmstadt, Tod
1942 im KZ Neuengamme,
 der Schreiner Fritz Petermann aus Frankfurt/M., Tod 1941 im KZ Flossenbürg,
 der Schlosser Albert Setzinger aus Frankfurt/M., Tod 1942 im KZ Sachsenhausen,
 der Kaufmännische Angestellte Gerd Wohlfahrt aus Frankfurt/M., Tod 1942 im
KZ Dachau.
Überleben, Befreiung
Von 38 Häftlingen ist bekannt, dass sie den NS-Terror überlebten, aus dem KZ befreit bzw.
in der Nachkriegszeit aus der Haft entlassen wurden.
Von 12 Personen ist bekannt, dass sie die KZ-Haft überlebten, nicht aber in welchem KZ.
9 Personen wurden im KZ Dachau befreit, 4 im KZ Sachsenhausen, je 2 in den KZ Mittelbau
und Sachsenhausen, je 1 in den KZ Bergen-Belsen, Buchenwald und Natzweiler.
Bei 3 Personen ist der Überlebensort unbekannt. Dazu gehören ein Kriegstäter, der 1944
nach Hamburg transportiert wurde und im Dezember 1945 vermutlich dort bedingt begnadigt
wurde, und zwei Polen, die 1944 in das Polenlager in Eich kamen und möglicherweise dort
überlebten. 2 Personen überlebten in Rodgau, davon wurde 1 am 13. Juli 1945 entlassen.
1°Person wurde am 7. Oktober 1945 aus dem Lager Oberems entlassen.
Vergleich mit den Emslandlagern
Die § 175-Opfer in den Emslandlagern habe ich bereits 1999 beschrieben.26 Seitdem bin ich
in der Forschung zu den Emslandlagern erheblich weitergekommen. Die folgende Tabelle
soll einen Vergleich ermöglichen:
26
Hoffschildt 1999, S. 29-74.
19
Existenz der Lagersysteme
Bekannte § 175-Opfer
Arbeiter und Handwerker
Ledige
Urteil, auch § 175
Urteil, auch § 175a
Urteil, auch § 176 (Pädophilie)
Gefängnisstrafe
Zuchthausstrafe
Strafdauer in Monaten
Alter beim Urteil in Jahren
Jahr der meisten Urteile
Bekanntheit des Schicksals
Endereignis: Tod
Endereignis: Entlassung/Flucht
Endereignis: Überleben/Befreiung
Rodgau
1938-1945
682
65%
82%
70%
24%
6%
81%
18%
23,2
32,6
1939
66%
16%
76%
8%
Emsland
1933-1945
1423
59%
78%
28%
60%
12%
34%
66%
31,2
32,6
1938
61%
36%
47%
17%
Die Datenbasis für die %-Angaben sind meist mehrere hundert Angaben. Der wesentliche
Unterschied zwischen den Lagern besteht darin, dass in den Emslandlagern der Anteil der
Zuchthaushäftlinge ganz erheblich höher ist, dass die dortigen Häftlinge zu längeren Strafen
verurteilt und dass sie zum erheblich höheren Anteil auch nach den Paragraphen 175a und
176 StGB verurteilt worden sind. Die Todesrate der Emslandhäftlinge ist mehr als doppelt so
hoch wie in Rodgau. Während in Rodgau mehr als 3/4 der Häftlinge entlassen wurden, war
der Anteil im Emsland nicht mal die Hälfte.
Rodgau war offenbar ein Lager für die „leichteren“ Fälle, das Emsland eins für die
„schwereren“.
Besondere Gruppen
Auch Jugendliche wurden Opfer
Unter 672 Häftlingen in Rodgau, von denen das Alter beim Zugang bekannt ist, befanden
sich 16 Jugendliche unter 21 Jahren (2,4% von allen). Endereignisse sind nur bei 11 Jugendlichen bekannt: 1 wurde hingerichtet, 6 entlassen und 4 überlebten.
Der Jüngste war der Elektriker Wilhelm K., der als 15-Jähriger verurteilt wurde und als 16Jähriger nach Rodgau kam.
Der Mechaniker Gerhard S. kam als 20-Jähriger 1941 nach Rodgau, im September 1943
wurde er der Polizei übergeben und im März 1944 befand er sich im KZ Buchenwald, wo er
ein Opfer der Menschenversuche des dänischen SS-Arztes Vaernet wurde, der Homosexuellen zur „Heterosexualisierung“ künstliche Hormondrüsen einpflanzte. Er überlebte.
Josef Förster wurde bereits erwähnt. Er kam als 20-Jähriger 1940 nach Rodgau und wurde
noch im selben Jahr wieder entlassen. 1943 wurde er in Köln im Alter von 23 Jahren hingerichtet.
Auch die zwei polnischen Landarbeiter, Kasimir K. und Wladislaw S., waren 1944, als sie
nach Rodgau kamen, noch 20-Jährige. Ersterer wurde am 25. Mai 1945 in Bernau entlassen,
letzterer überlebte an unbekanntem Ort.
20
Kriegstäter – unabsehbare Haftdauer
Unter den § 175-Opfern in Rodgau befanden sich 56 Personen, die von Gerichten als
„Kriegstäter“ eingestuft wurden. Diese waren wehrtaugliche Männer, die ihre Vergehen in der
Kriegszeit verübt hatten. Zur Abschreckung wurden sie zwar in Haft genommen, sollten ihre
Strafe aber erst nach dem Krieg verbüßen können, hatten also eine unabsehbar lange Haft
vor sich. Fast alle waren zu Zuchthausstrafen verurteilt worden. Z.B. wurde der Arbeiter
Rudolf G. 1940 in Köln zu 18 Monaten Zuchthaus verurteilt. 1941 kam er nach Rodgau und
wurde dort im März 1945 nach fast 5 Jahren Haft entlassen. Der Arbeiter August L.,
ebenfalls 1941 in Köln zu 18 Monaten Zuchthaus verurteilt, wurde 1942 von Rodgau nach
Siegburg transportiert und dort im Mai 1945 von den Alliierten entlassen.
Trotz ihrer „Kriegstätereigenschaft“ wurden aber doch 19 Häftlinge tatsächlich oder angeblich
in der NS-Zeit entlassen, darunter aber auch 2, die sich kurz darauf in einem KZ befanden;
bei einem weiteren Entlassenen war sogar „Vorbeugung“ vermerkt.
Insgesamt kamen 10 Kriegstäter in ein KZ.
Folgende Endereignisse sind bekannt: 4 starben, 17 wurden entlassen bzw. flüchteten und
6°überlebten.
Sicherungsverwahrte – unbegrenzte Haft
Bei vier Personen ordnete das Gericht auch die Sicherungsverwahrung nach der Strafhaft
an, also unbegrenzte Haft. Zwei fielen vermutlich unter die Vereinbarung zwischen
Justizminister Thierack und SS-Chef Himmler, die bestimmte, dass Sicherungsverwahrte
und zu langen Haftstrafen Verurteilte „durch einen Einsatz dort, wo sie zugrunde gingen,
vernichtet werden.“27 Sie wurden bereits oben beschrieben. Ein weiterer, Hugo Ludwig, starb
1942 im Emslandlager Neusustrum. Vom Vierten ist nur bekannt, dass er Mitte Juli 1942
Rodgau zuging und noch im gleichen Monat an einen nicht genannten Ort weitertransportiert
wurde.
Soldaten – mindestens vier fallen als Soldaten
8 Personen wurden als Soldat bzw. früherer Soldat verurteilt. 2 von ihnen kamen in KZ, aus
dem einer entlassen wurde und in dem der andere überlebte.
Mindestens 20 Personen wurden nach ihrer Haft in Rodgau Soldat, darunter 5, die durch
einen Gnadenerlass des Führers Anfang 1940 zur Wehrmacht entlassen wurden. Von
4 Personen ist bekannt, dass sie dann als Soldaten fielen.
Kastrierte – staatlicher Zwang zur Verstümmelung durch das „gesunde Volksempfinden“
Wurde auch § 176 StGB verletzt bei „Unzucht“ mit unter 14-Jährigen, konnten die Gerichte
ab 1934 eine Kastration anordnen. Mit Sicherheit wurden 4 § 175-Opfer aus Rodgau
kastriert, vielleicht sogar 6. Zwei ließen sich „freiwillig“ kastrieren, vermutlich um einer KZHaft zu entgehen oder die zu erwartenden Strafe zu verringern. Der eine wurde 1945 aus der
27
Weinkauff, Hermann, Die Deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, in: Die Deutsche Justiz und der Nationalsozialismus, Teil 1, Stuttgart 1968, S. 154, zitiert nach Karl-Leo Terhorst, Polizeiliche planmäßige Überwachung und polizeiliche Vorbeugungshaft im Dritten Reich, Heidelberg 1985, S. 168.
21
Haft entlassen, der andere, der Verkäufer Walter Steinbeck, starb dann aber doch 1942 im
KZ Neuengamme.
Bei zwei weiteren ist lediglich bekannt, dass sie 1939 und 1940 kastriert wurden.
Bei zwei Personen ist die Kastration unsicher: Bei Karl D. war auf der Karte vermerkt
„Entmannung angeordnet“; ob diese aber durchgeführt wurde, ist nicht bekannt. Auch auf der
Karte von Willi N. stand „Entmannung“, ohne dass bekannt ist, ob sie durchgeführt wurde.
Ausländer
Zu den 45 ausländischen § 175-Opfer zählen vor allem die 31 Österreicher, die allerdings
vermutlich auch teilweise nach den entsprechenden Paragraphen in Österreich verurteilt
worden sind. Sie zählten seinerzeit als reichsdeutsche Inländer. 4 Österreicher starben im
KZ und 2 überlebten es. 13 wurden entlassen.
In Rodgau waren aber auch 5 Polen, 4 Franzosen, 3 Tschechoslowaken und je 1 Italiener
und 1 Luxemburger. Sie waren i.d.R. Fremd- oder Zwangsarbeiter in Deutschland.
Einzelne Schicksale von KZ-Häftlingen
Hans-Joachim Groll – ermordet mit 24 Jahren
Hans-Joachim Groll wurde am 18. Januar 1918 in Berlin-Schöneberg geboren.28 Zuletzt
wohnte er zusammen mit seiner Mutter in Berlin-Schöneberg in der Hauptstraße 18. Er blieb
ledig und war evangelischer Religion. Er war noch ein 20-jähriger Kaufmannslehrling, als er
verhaftet wurde, vermutlich am 15. Dezember 1938. Am 14. April 1939 wurde er in Berlin
aufgrund der §§ 175 und 176 StGB zu drastischen 3 Jahren Haft verurteilt. Offenbar hatte er
auch sexuellen Kontakt zu einem unter 14-jährigen Jungen gehabt. Das Gericht fand
Milderungsgründe und verhängte nicht die mögliche Zuchthausstrafe sondern eine Gefängnisstrafe.
Nun begann eine Odyssee durch viele Haftorte. Noch im selben Monat transportierte man
ihn vom Gefängnis Berlin-Moabit in das Jugendgefängnis Naugart in Pommern. Anfang Mai
transportierte man ihn weiter über das Gefängnis Berlin-Plötzensee in das Gefangenenlager
Rodgau, Lager II, in Hessen, wo er am 29. Juni 1939 eintraf. Von dort ist eine Personenbeschreibung Überliefert: Er war schlank, 1,77 m groß und hatte dunkelblondes Haar und
blaugraue Augen. In dem Lager blieb er über 16 Monate, wurde dann aber im September
1940 in das Gefängnis in Koblenz transportiert. Am 12. Januar 1941 wurde er weiter in das
Gefangenenlager Ulmen transportiert, einem Außenlager des Gefängnisses Koblenz, wo er
bis zu seinem rechnerischen Strafende am 15. Dezember 1941 blieb. Zum Strafende wurde
er aber nicht in die Freiheit entlassen, sondern für die Polizei Berlin in polizeiliche Vorbeugungshaft genommen und in das Polizeigefängnis Berlin transportiert.
28
Archiv der Gedenkstätte Buchenwald. Ich danke Wolfgang Röll für die Informationen. Archiv der KZ-Gedenkstätte Dachau. Ich danke Albert Knoll, Gedenkstätte Dachau, für Informationen. Archiv der Gedenkstätte Ravensbrück. Ich danke Bernhard Strebel für zusätzliche Informationen. Ich danke Prof. Rüdiger Lautmann, Berlin, für
zusätzliche Informationen. Es ist auch die Karteikarte aus Rodgau erhalten: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt
Best. G 30 Rodgau Nr. 3, 1938-1945, Kartei deutscher Häftlinge der Gefangenenlager Rodgau (Dieburg, Rollwald, Nieder-Roden, Oberroden) Fo-Ham. Außerdem danke ich Andreas Pretzel, Berlin, für zusätzliche
Informationen.
22
Von dort wurde er am 5. Januar 1942, mittlerweile 24 Jahre alt, als Rosa-Winkel-Häftling in
das KZ Buchenwald eingeliefert und erhielt die Nummer 1030. Bereits einen guten Monat
später transportierte man ihn in das Männerlager des KZ Ravensbrück, wo er die
Nummer 1265 erhielt. Von dort wurde er vier Monate später in das KZ Dachau transportiert,
wo er am 22. Juli 1942 zuging und die Nummer 31.898 erhielt. Offenbar hatten die Strapazen der Haft und die unzureichende Versorgung seine Gesundheit zwischenzeitlich ruiniert,
denn nach lediglich insgesamt neun Monaten im KZ-System kam er vom KZ Dachau aus am
12. Oktober 1943 auf einen „Invalidentransport“. Das waren i.d.R. Transporte von kranken
und nicht mehr arbeitsfähigen Häftlingen in Tötungsanstalten, wo sie ermordet wurden.
Die offiziellen Angaben zu seinem Tod dürften demnach gefälscht sein. Angeblich starb
Hans-Joachim Groll am 23. Oktober 1943 im Alter von 24 Jahren im KZ Dachau, angeblich
an einer Atemwegserkrankung.
Martin Lösche – ermordet in Sonnenstein
Der in Bernburg am 26. März 1905 geborene ledige Koch und spätere Kellner Martin Lösche
wohnte vor seiner Verhaftung in Erfurt in der Nordstraße 37. 29
Am 10. Januar 1939 wurde er in Erfurt wegen „widernatürlicher Unzucht“ zu 2 Jahren
Gefängnis abzüglich 63 Tage, 1 Stunde und 40 Minuten Untersuchungshaft verurteilt.
Außerdem wurde er zu drei Jahren Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte verurteilt. Am
3. Februar 1939 transportierte man ihn in das Gefangenenlager Rodgau in Oberroden. Dort
wurde er beschrieben: 1,78 m groß, bartlos, kräftige Gestalt, graue Augen und blondes Haar.
Sein rechnerisches Haftende sollte am 8. November 1940 sein. Ein Entlassungsdatum ist auf
seiner Karteikarte nicht verzeichnet, aber ein Stempel „entlassen“. Offenbar wurde er aber
nicht in die Freiheit entlassen, sondern der Polizei übergeben, denn er kam kurz darauf in
das KZ Sachsenhausen.
Er kam Ende 1940 als B.V. 175, also als „befristeter Vorbeugungshäftling“ - die Bezeichnung
ist auch als „Berufsverbrecher“ gebräuchlich - 35-jährig in das KZ Sachsenhausen und
erhielt die Nummer BV 175 Nr. 34.719. Er musste dann im März 1941 in das Krankenrevier
und wurde erst im Mai wieder aus dem Revier entlassen. Am 5. Juni 1941 wurde er dem
„Kommando S“ zugeteilt. Mit „Kommando S“ ist wahrscheinlich der „Transport S“ gemeint,
auf den zu der Zeit 269 unter anderem durch den Arzt Friedrich Mennecke ausgewählte
kranke und nicht mehr arbeitsfähige Häftlinge kamen. Sie wurden mit Lastwagen in die
Euthanasie-Tötungsanstalt Sonnenstein bei Pirna in Sachsen transportiert und dort in der
Gaskammer mit Kohlenmonoxid erstickt. Um diese Morde zu vertuschen, wurden zu seinem
Tod im Alter von 36 Jahren gefälschte Angaben gemacht: Martin Lösche sei am 2. Juli 1941
um 13:10 Uhr im KZ Sachsenhausen angeblich an Herzschwäche beim Grundleiden Grippe
verstorben.
Ernst Mittag, Tante Erna, ein Lagerältester im Konzentrationslager Bergen-Belsen
Zu Ernst Mittag erfahren wir zunächst nur Bruchstücke, da offenbar keine Akte überliefert
ist.30 Ernst Mittag wurde am 5. Juni 1892 in Magdeburg-Sudenburg als Sohn des Tischlers
Richard Mittag geboren.
29
Auskünfte des Archivs der Gedenkstätte Sachsenhausen und von Fred Brade und Joachim Müller, beide
Berlin, die im Archiv der Gedenkstätte Sachsenhausen geforscht haben. Sterbezweitbuch, Standesamt Oranienburg 1941 II, Pr.Br. Rep. 35 H, Band 3/9, Blatt 325.
30
Vgl. Hoffschildt 1999, S. 79 f. Rainer Hoffschildt/Thomas Rahe, Homosexuelle Häftlinge im Konzentrationslager – Das Beispiel Bergen-Belsen, in: Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus, Beiträge zur
Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung in Norddeutschland, Bremen 1999, S. 57-59.
23
Der nächste Hinweis stammt von einer Zugangskarte zum Gefängnis Magdeburg31: Danach
war er im August 1933 zu acht Monaten Gefängnis wegen schwerer Urkundenfälschung in
Tateinheit mit Betrug verurteilt worden. Er hatte da schon vier Vorstrafen, eine Geld- und drei
Gefängnisstrafen. Am 21. Oktober 1933 kam er 41-jährig in das Gefängnis Magdeburg und
wurde folgendermaßen beschrieben: Beruf Reisender, 1,65 m groß, braune Augen, bartlos,
dunkles Haar bei freier Stirn, volles Gesicht, gute Zähne und untersetzte Gestalt. Zur
Strafverbüßung kam er im nächsten Monat in das nahegelegene Gefängnis in Gommern; im
Juni 1934 war diese Strafe verbüßt.
5 ½ Jahre später entstand ein weiterer Hinweis: Im Januar 1939 kam er wegen § 175 in das
Polizeigefängnis in Magdeburg, wurde aber nach 13 Tagen wieder entlassen und nach
1 ½ Monaten erneut verhaftet.32 Am 28. März 1939 übergab ihn die Polizei an das
Gerichtsgefängnis Magdeburg. Abweichend von der obigen Beschreibung wurde er nun 46jährig folgendermaßen beschrieben: Von Beruf war er nun Arbeiter, Schleifer, hatte graumelierte Haare, lückenhafte Zähne und als besonderes Kennzeichen wurde Brillenträger
angegeben. Bald darauf wurde er vom Amtsgericht Magdeburg aufgrund § 175 StGB zu
2 Jahren Gefängnis verurteilt und am 25. Mai 1939 in das Strafgefangenenlager RodgauDieburg in Hessen transportiert.33
Von dort kam er nun 48-jährig im März 1941 zurück in das Polizeigefängnis Magdeburg und
wurde am 29. April 1941 in das KZ Buchenwald transportiert.34 Der Grund könnte ein
Himmler-Erlass aus dem Jahre 1940 sein, der bestimmte, dass alle Schwulen, die mehr als
einen Partner verführt hatten, nach der Strafhaft in ein KZ einzuweisen seien. Am
1. Mai 1941 kam er im KZ Buchenwald an und wurde als § 175-Häftling unter der
Nummer 3.519 oder 3.819 registriert und musste u.a. dort im Steinbruch arbeiten.35
Zwei Jahre und neun Monate später wurde er am 22. Januar 1944 nun 51-jährig mit
1000 Häftlingen, darunter mindestens 84 Schwule, in das KZ Mittelbau-Dora transportiert.
Dort erkrankte er vermutlich, denn er kam am 27. März 1944 wiederum mit 1000 Häftlingen
auf einen Transport Kranker und Arbeitsunfähiger in das KZ Bergen-Belsen. Dort erhielt er
die Nummer 556 und als Einsatz wurde zunächst „krank“ vermerkt.36
Üblicherweise gehörten Homosexuelle im KZ zur untersten Kategorie der nicht-rassisch
Verfolgten in der Häftlingshierarchie. Im Laufe der Zeit kamen immer mehr Ausländer in die
Konzentrationslager und da die SS deutschsprachige Befehlsempfänger benötigte kamen
auch einige wenige Homosexuelle in die privilegierten Kapofunktionen. So auch Ernst Mittag,
der zunächst Häftlingsschreiber im Krankenrevier wurde. Die weiteren Informationen sind
uns nur durch Erinnerungsberichte politischer Häftlinge bekannt, in denen die Abwertung der
Homosexualität Mittags deutlich wird. Pier Pétit berichtete über ihn:
„Mittag war kein Verbrecher, - aber ein Homosexueller. Ein ‚175er‘, wie sie nach dem
Paragraphen ihres Vergehens in den Lagern genannt wurden, ein ‚Rosaroter‘ – ‚Tante
Erna‘ - so lautete sein Spitzname - war Revierschreiber, abgesehen von seiner abnormen Veranlagung verhielt er sich ziemlich neutral, und ich wüßte nicht, daß er sich je
einem andern Häftling gegenüber etwas zuschulden kommen ließ. Er interessierte sich
jeweils nur für seinen jeweiligen Puppenjungen37, den er ins Revier aufnehmen ließ
31
Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Gefangenenkarteikarte im Bestand Rep. C 144 Straf- und Gerichtsgefängnisse Magdeburg, Gommern und Schönebeck.
32
Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Gefangenenbücher B für die Jahrgänge 1938-1939 des Bestandes Rep. C
29 Polizeipräsidium Magdeburg Anhalt III Polizeigefängnis Magdeburg, laufende Nr.: 2506.
33
Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Gefangenenkarteikarte im Bestand Rep. C 144 Straf- und Gerichtsgefängnisse Magdeburg, Gommern und Schönebeck.
34
Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Gefangenenbücher B für die Jahrgänge 1940-1941 des Bestandes Rep. C
29 Polizeipräsidium Magdeburg Anhalt III Polizeigefängnis Magdeburg, laufende Nr.: 3293.
35
Information vom Archiv der Gedenkstätte Buchenwald beim Autor aus September 1995.
36
Kopie der Hollerith-Karteikarte des Wirtschafts-Verwaltungs-Hauptamtes erhalten von der Gedenkstätte
Bergen-Belsen.
37
Jüngere Sexualpartner/Freunde/Strichjungen.
24
und dort mit gestohlener Diätkost aufpäppelte und verhätschelte, bis er seiner überdrüssig wurde. Dann feuerte er ihn hinaus, und das Spiel begann von neuem mit einem
anderen Subjekt seiner besonderen Zuneigung Er hatte stets genügend Klienten, die
für den Preis ihrer Ehre wenigstens das nackte Leben zu retten suchten. [...] Tante
Erna versuchte, mich als Hilfe für die Schreibarbeiten anzuheuern; aber das war bloß
ein Vorwand, die wirkliche Ursache dieses Interesses war nur allzu klar.“38
Tatsächlich wurde Pétit Hilfsschreiber bei Mittag im Krankenrevier und gehörte damit auch
zu den Funktionshäftlingen. Über Mittag berichtete er relativ positiv, denn viele andere
Funktionshäftlinge waren wegen ihrer Brutalität von ihren Mithäftlingen mehr gehasst und
gefürchtet als die SS. Über die gemeinsame Arbeit berichtete Pétit:
„Ernst Mittag, der homosexuelle Revierschreiber, notierte die Nummer derjenigen, die
als ‚arbeitseinsatzfähig‘ angesehen wurden, und damit waren sie für den Transport
nach Buchenwald bestimmt. [...] Als Mittag endlich die zweihundertste Nummer notiert
hatte, war die ganze Aktion beendet. [...] als Mittag über seine ‚viele Arbeit im Revier‘
jammerte, wurde ich als ‚Hilfsschreiber‘ damit beauftragt, eine ‚ordnungsgemäße‘
Transportliste zusammenzustellen.“39
Im Zusammenhang mit der Umorganisation des KZ Bergen-Belsen von einem „Aufenthaltslager“ für Juden, die noch ausgetauscht werden sollten, mit relativ „milden“ Bedingungen zu
einem „typischen“ Konzentrationslager stieg Ernst Mittag gegen Ende 1944 zum Lagerältesten in dem Teil auf, der Häftlingslager genannt wurde und wurde damit auch Stellvertreter des Lagerältesten für das Gesamtlager. Spätestens jetzt geriet er als Teil der „Lagerprominenz“ in den kritischen Blick seiner Mithäftlinge. Der politische Häftling G.-L. Fréjafon
berichtet:
„Der Lagerälteste 2, stellvertretender Lagerleiter, Ernst war ein Homosexueller aus
Magdeburg, 50 Jahre, freundlich, nicht sehr freimütig, dessen einzige Beschäftigung
darin bestand, daß er die zahlreichen kleinen ‚Katerchen‘40, an denen er seine große
Freude hatte, mit Süßigkeiten, feiner Wäsche, Nippes und Parfüm versorgte. Er hätte
im Lager ein ungetrübtes Glück erfahren können, wenn er nicht vor der SS gezittert
hätte: diese Furcht raubte ihm jegliche Initiative und als er Walters Stelle übernehmen
mußte, der, wie man sagte, andere Aufgaben erhielt, wurde alles noch schlimmer und
das Lager geriet in einen Zustand chaotischer Desorganisation. Trotz seines
Pickwicker-Lächelns und seines herzlichen Blicks hinter seiner Goldrandbrille, war er
unzugänglich für Mitleid, selbst seinen jungen Liebhabern gegenüber, von dem Augenblick an, wo sie aufgehört hatten seine Gefühle anzuziehen.“41
Deutlich wird hier wieder das typische Unwerturteil über Homosexuelle und die Art, wie
Mittag seine Homosexualität auslebte, auch unter den Mithäftlingen. Vielleicht musste dies
aber auch in der noch sehr schwulenfeindlichen Nachkriegszeit so geschrieben werden.
Ähnlich auch das Urteil über die organisatorischen Fähigkeiten Mittags durch Pétit:
„Als er [der Lagerälteste] später in das ‚Sternlager‘ übersiedelte und Ernst Mittag als
stellvertretender Lagerälteste das Lager I übernahm, begann ein wilder Kampf alle
gegen alle, bei dem nur noch das Faustrecht, das ‚Recht des Stärkeren‘ regierte.
Innerhalb kurzer Zeit brach jede Ordnung zusammen, das Lager ging in Anarchie und
völligem Chaos unter; Tausende von Menschen fanden dabei den Tod.“42
38
Piere Pétit, Schutzhäftling Nr. 2201, Das war Bergen-Belsen, in Rappel, Organe de la Ligue Luxembourgeoise
des Prisonniers et Déportés Politiques, Heft 9, September 1965, S. 479 f.
39
Piere Pétit, Schutzhäftling Nr. 2201, Das war Bergen-Belsen, in Rappel, Organe de la Ligue Luxembourgeoise
des Prisonniers et Déportés Politiques, Heft 4, April 1966, S. 195.
40
Im französischen Original „minetman“. Damit sind seine Partner gemeint.
41
G.-L. Fréjafon, Bergen-Belsen, Paris 1947, S. 33 f.
42
Pierre Pétit, Das war Bergen-Belsen, Rappel, Heft 10, Oktober 1965, S. 535.
25
Tatsächlich dürfte gegen Ende 1944 die völlig unzureichende Nahrungsversorgung und die
Unmenge von Zugängen in das KZ Bergen-Belsen zum Chaos geführt haben. Selbst, wenn
Mittag ein guter Organisator gewesen wäre, hätte dies kaum etwas geholfen. Sich in dieser
ausweglosen Situation aus der Verantwortung zu entfernen, könnte eine notwendige Überlebensstrategie gewesen sein. Anton Igel, ein weiterer ehemaliger deutscher Häftling schrieb
zur Befreiung des Lagers am 11. April 1945: Er berichtete über den Lagerältesten und
seinen „Stellvertreter Ernst Mittag aus Magdeburg. Bei der Befreiung durch die Alliierten
waren sie plötzlich spurlos verschwunden.“43
Ernst Mittag überlebte das KZ, nun 52-jährig, nach drei Jahren und elf Monaten im KZ und
nach insgesamt über sechs Jahren Haft wegen seiner Homosexualität. Vermutlich ging er
nach Magdeburg zurück zu Verwandten44, jedenfalls ist er im Adressbuch von Magdeburg für
1950/1951, dessen Datenstand ein Jahr früher liegen dürfte, in Magdeburg-Sudenburg als
Rentner in der Lutherstr. 24 verzeichnet. Dass er schon im Alter von etwa 58 Jahren in
Rente war, lässt vermuten, dass die Strapazen der Haft doch einen Einfluss auf seine
Gesundheit gehabt hatten. Am 22. Oktober 1951 starb er 59-jährig in seiner Wohnung in
Magdeburg-Sudenburg, in dem Stadtteil, in dem er auch geboren wurde und begraben ist.45
Wilhelm Neuchelmann – Zuchthäuser, Strafgefangenenlager und KZ überlebt
Wilhelm Neuchelmann wurde am 7. November 1901 in Oberhausen-Sterkrade geboren. Der
ledige Bauarbeiter und spätere Gärtnereiarbeiter verzog nach Köln.
Am 21. Juni 1937 wurde er vom Landgericht Köln wegen „widernatürlicher Unzucht § 175a“
zu 1 Jahr und 9 Monaten Zuchthaus abzüglich 49 Tage Untersuchungshaft und zu 3 Jahren
Ehrverlust verurteilt.46 Zunächst brachte man ihn im Juli 1937 in das Zuchthaus Siegburg und
im September 1938 kam er in das Zuchthaus Butzbach, wo er am 7. Februar 1939 entlassen
wurde.
Am 8. November 1940 wurde er erneut in Köln, diesmal nach § 175a Ziffer 3, zu 2 Jahren
Zuchthaus abzüglich einen Monat Untersuchungshaft verurteilt.47 Das Gericht erkannte ihm
die bürgerlichen Ehrenrechte für 3 Jahre ab und stufte ihn als „Kriegstäter“ ein, der zwar in
Haft blieb, aber seine Strafe erst nach Kriegsende verbüßen sollte. Zum Zeitpunkt des Urteils
hatte er bereits acht Vorstrafen.
Im Dezember 1940 brachte man ihn zunächst in das Zuchthaus Siegburg und am 1. August
1941 transportierte man ihn von dort in das Strafgefangenenlager „Rodgau, Lager II Rollwald-Nieder-Roden/Hessen“, wo er am 7. August ankam. Dort wurde der 39-Jährige
beschrieben: 1,68 m groß, bartlos, schlanke Gestalt, braune Augen und gräuliches Haar. Auf
seiner Karteikarte wurde nach drei Jahren Haft vermerkt „3.11.43 entlassen“, obwohl er ja als
Kriegstäter seine Strafe nach damaligem Recht gar nicht verbüßen konnte. Tatsächlich war
es wohl auch keine Entlassung in die Freiheit sondern eine Übergabe an die Polizei, die die
Justiz aus ihrer Sicht als Entlassung wertete.
43
Anton Igel [wohl politischer Häftling in Bergen-Belsen, aus Deutschland], Meine Inhaftierung von 1941-1945
(Unveröffentlichtes Manuskript, 15.01.1986. Archiv der Gedenkstätte Bergen-Belsen), S. 34.
44
Unter gleicher Anschrift ist im Adressbuch von Magdeburg 1950/1951 auch Ottilie Hangen, geborene Mittag,
vermutlich seine Schwester, verzeichnet, aber auch seine Mutter hieß Ottilie.
45
Auskunft des Stadtarchivs Magdeburg vom 24.05.2006, des Standesamtes Magdeburg vom 24.07.2006 und
des Kirchspiels Magdeburg Süd vom 20.06.2006. Das Grab ist eingeebnet.
46
Eintrag im Gefangenenbuch Butzbach, Hessisches Staatsarchiv Darmstadt Bestand G 30 Butzbach Nr. 1224.
Ich danke Christian-Alexander Wäldner, Weetzen, für diese zusätzliche Information.
47
Angaben zum Urteil und zu Rodgau: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt Best. G 30 Rodgau Nr. 7, 1938-1945,
Kartei deutscher Häftlinge der Gefangenenlager Rodgau (Dieburg, Rollwald, Nieder-Roden, Oberroden) Na-Ri.
Außerdem sind zwei Karteikarten des Zuchthauses Siegburg überliefert: ITS Bad Arolsen Doc. No. 11473752#1
und No. 11473753#1. Ich danke Christian-Alexander Wäldner, Weetzen, für diese zusätzliche Information.
26
Am 9. Februar 1944 transportierte die Kriminalpolizei den 42-Jährigen in das KZ Natzweiler,
wo er die Nummer § 175 Nr. 7.293 erhielt.48 Bereits am 2. März 1944 transportierte man ihn
weiter in das KZ Dachau, wo er zwei Tage später ankam und die Nr. 65.062 erhielt. Er
überlebte den NS-Terror und wurde am 29. April 1945 im KZ Dachau befreit.
Rudolf Nicolai stirbt im KZ Neuengamme
Rudolf Albert Herbert Nicolai wurde am 14. September 1896 in Koblenz geboren. Er war als
Kaufmann und später als Kellner tätig. Außerdem war er aktiver Nazi und brachte es in der
SA bis zum „Sturmhauptführer“. Der Staatsanwaltschaft fiel er bereits 1932 auf.49 Da hatte er
Plakattafeln und Fußsteige in politischem Zusammenhang mit Farbe beschmiert, also eine
Sachbeschädigung zusammen mit einem Mitangeklagten begangen. Die Strafe fiel allerdings
unter eine Amnestie vom 20.12.1932. Er wohnte 1936 in Darmstadt in der Liebigstraße 4.
Im September 1936 kam er 39-jährig in Darmstadt in Untersuchungshaft und am
15. Februar 1937 wurde er von der Großen Strafkammer des Landgerichts Darmstadt wegen
„widernatürlicher Unzucht, Unzucht mit Männern nach §§ 175 alter und neuer Fassung“ zu
4 Jahren Gefängnis verurteilt abzüglich der Untersuchungshaft.50 Er hatte zu zahlreichen
Männern sexuelle Kontakte gehabt. Er wurde auch in einer Akte des verurteilten
„Strichjungens“ Wilhelm J. erwähnt51, mit dem er sexuelle Kontakte auf dem Exerzierplatz in
Darmstadt gehabt hatte. Aus Darmstadt kam er 1937 zunächst in das Gefängnis
Zweibrücken, dann 1938 über das Gefängnis Mannheim in das Gefängnis Freiburg im
Breisgau, dann 1939 in das Gefängnis Bruchsal und schließlich transportierte man ihn am
2. Oktober 1939 in das Strafgefangenenlager Rodgau, Lager II, Rollwald in Ober-Roden.
Dort entließ man ihn zum rechnerischen Strafende am 15. November 1940 nicht in die
Freiheit, sondern transportierte ihn am 18. November in das Polizeigefängnis in Darmstadt.
Die Kriminalpolizei Darmstadt ordnete die polizeiliche Vorbeugungshaft an.
Bereits am 19. November 1940 befand sich der nun 44-Jährige als Rosa-Winkel-Häftling und
„Berufsverbrecher“ auf einem Transport aus dem KZ Sachsenhausen, wo er die
Nummer 33.809 BV 175 erhalten hatte, zum KZ Neuengamme.52 Dort erhielt er die Nummer
3.327. Er starb im Hauptlager des KZ Neuengamme am 2. Januar 1942 im Alter von
45 Jahren.53 Eine Todesursache ist nicht bekannt; sie dürfte aber in den Strapazen der
jahrelangen Haft, der Zwangsarbeit und der Unterversorgung in den Lagern zu finden sein.
Theodor Schneider, drei KZ überlebt – keine Entschädigung
Theodor Schneider wurde am 16. Mai 1905 in Ellmendingen in Baden geboren.54 Er blieb
ledig und hatte keine Kinder, war evangelischer Religion und als Kaufmann und Vertreter in
Ellmendingen tätig.
48
Informationen zum KZ-Aufenthalt: Archive der Gedenkstätten Dachau und Yad Vashem, von Professor
Lautmann, früher Bremen und von Dr. Jürgen Müller, Köln, denen ich danke.
49
Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Amtsgericht Darmstadt G 28 Darmstadt, Verfahren in Strafsachen,
Sachbeschädigung (HADIS).
50
Für Informationen zum Urteil und zur Gefängnishaft bedanke ich mich bei Harald Switalla, Pfungstadt, der die
Strafgefangenenakte im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt G 27 – 3042 eingesehen hat. Für Informationen aus
dem Gefangenenbuch Darmstadt im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt, Darmstadt 1936, G 30 Darmstadt
Nr. 3321, bedanke ich mich bei Christian-Alexander Wäldner, Weetzen.
51
Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, G 27 DA 3040. Ich danke Markus Jöckel und Peter Friedl, Darmstadt, für
diese Information.
52
Russisches Staatliches Militärarchiv in Moskau, 1367/1/196, Bl. 425, 437. Kopie im Archiv der Gedenkstätte
Sachsenhausen D 1 A/1196, Bl. 425, 437.
53
DVD der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, Die Toten Konzentrationslager Neuengamme (Stand 2004).
54
Die meisten Angaben stammen von Karteikarten im Hauptregister des ITS in Bad Arolsen. Es ist auch die
Karteikarte aus Rodgau erhalten: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt Best. G 30 Rodgau Nr. 8, 1938-1945,
27
Am 29. April 1937 wurde der 31-Jährige verhaftet und am 13. Juli 1937 vom Amtsgericht
Pforzheim aufgrund § 175 StGB zu einer Gefängnisstrafe von 3 Jahren und 6 Monaten,
abzüglich 2 Monaten Untersuchungshaft, verurteilt. Zunächst wollte er das Urteil anscheinend nicht akzeptieren, denn seine Strafverbüßung begann erst am 20. Juli 1937. Die Strafe
verbüßte er in Darmstadt, Mannheim, Freiburg im Breisgau und ab 8. Dezember 1938 im
Strafgefangenenlager Rodgau, Gefangenenlager II in Oberroden. Sein rechnerisches
Strafende wurde in seiner Karte in Rodgau mit dem 20. November 1940 vermerkt, ein Datum
der Entlassung aber nicht.
Vermutlich wurde er nicht in die Freiheit entlassen, sondern in Rodgau der Polizei übergeben, denn er wurde in das KZ Dachau transportiert, wo er am 13. Februar 1941 zuging
und die Nummer 23.828 erhielt. Bereits am 6. Mai 1941 wurde er von Dachau in das KZ
Auschwitz transportiert, wo er am 8. Mai 1941 ankam und die Nummer 15.526 § 175 erhielt.
Vermutlich wurde er in Auschwitz bestraft, denn er ist im dortigen „Bunkerbuch“ verzeichnet.
Aus Auschwitz wurde der 39-Jährige in das KZ Mauthausen evakuiert, wo er am 25. Januar
1945 ankam und die Nummer 118.346 erhielt. Bereits am 26. oder 29. Januar wurde er nach
Melk in das Außenlager Quarz gebracht. Befreit wurde er nach über fünf Jahren Haft am
6. Mai 1945 im Außenlager Ebensee.
In der Nachkriegszeit versuchte er vergeblich, als NS-Opfer anerkannt zu werden. Homosexuelle waren per Gesetz von einer Entschädigung ausgeschlossen – sie wurden nicht
unter den antragsberechtigten Gruppen in den Entschädigungsgesetzen erwähnt und weiterhin als gewöhnliche Kriminelle behandelt.
Willi Zimmt – Berlin, Frankfurt, Rodgau
Willi Zimmt wurde am 26. Februar 1905 in Berlin geboren.55 Er arbeitete in Berlin zunächst
als Hotelpage und später als Telefonist und selbständiger Zigarrenhändler.
Im Juni 1937 wurden er und sein Freund anonym als homosexuelles Paar denunziert. Bald
darauf wurden beide verhaftet und im Februar 1938 verurteilt, Willi Zimmt zu einer
Gefängnisstrafe von zwei Jahren und drei Monaten. Am 29. September 1938 hatte der 33Jährige vom Strafgefängnis Zweibrücken kommend seinen Zugang im Strafgefangenenlager
II Oberroden/Hessen, Strafgefangenenlager Rodgau in Dieburg. Ein dreiviertel Jahr später
stellte die Mutter ein Gnadengesuch an die Lagerverwaltung. Sie bat um Erlass der
Reststrafe, denn sie sei lungenkrank, lebe von der Wohlfahrt, brauche Unterstützung.
Der Vorstand der Gefangenenlager Rodgau Dieburg meinte aber in einer typisch NSmoralischen Unwertbewertung:
„Zimmt ist ein charakterlich und moralisch minderwertiger Mensch. Derartige Unzuchtstaten
fordern restlose Verbüßung der Strafe. Dem Ernst des Strafvollzugs brachte Zimmt bis jetzt
noch nicht die erforderliche Einsicht entgegen. Seine Führung und sein Fleiß sind
hinreichend. Ich befürworte das Gesuch nicht.“
Zum rechnerischen Haftende am 14. November 1939 wurde er „arm und zahlungsunfähig"
an die Privatanschrift der Mutter in Berlin entlassen.
Am 17. November 1941 wurde er in Frankfurt/M. erneut nach §175 verurteilt, diesmal zu
einem Jahr und 6 Monaten Zuchthaus und 5 Jahren Ehrverlust.56 Außerdem stellte das
Gericht fest, dass er Kriegstäter sei und damit zwar in Haft bliebe, seine Strafe aber erst
nach Kriegsende verbüßen sollte. Das bedeutete für ihn unabsehbare Haft. Am 11.
Dezember 1941 transportierte man ihn wiederum in das Gefangenenlager Rodgau, Lager II.
Kartei deutscher Häftlinge der Gefangenenlager Rodgau (Dieburg, Rollwald, Nieder-Roden, Oberroden) Ro-Schn.
Außerdem danke ich Andreas Pretzel, Berlin, für zusätzliche Informationen zur Nachkriegszeit.
55
Landesarchiv Berlin A Rep. 358-02 Nr. 129929.
56
Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, Bestand G 30 Rodgau, Rodgau-Karteikarten.
28
Dort wurde auf seiner Karteikarte vermerkt „entlassen am 18.5.43“ und das, obwohl er als
Kriegstäter eigentlich nicht entlassen werden sollte. Tatsächlich dürfte er zwar aus der
Justizhaft entlassen worden sein, nicht aber in die Freiheit, sondern er dürfte der Polizei
übergeben worden sein.
Am 10. Juli 1943 kam er als Rosa-Winkel-Häftling in das KZ Buchenwald und musste hier in
einer Strafkompanie unter härtesten Bedingungen im Steinbruch arbeiten.57 Im Februar 1944
wurde er in das unterirdische KZ Mittelbau-Dora transportiert, in dem u.a. die „Geheimwaffe“
V2 produziert wurde. Ende März 1944 kam er mit einem Invalidentransport 1.000 kranker
Häftlinge in das KZ Bergen-Belsen, wo er nach wenigen Tagen am 9. April 1944 39-jährig an
allgemeiner Körperschwäche verstarb.
Hauptsächlich verwendete Literatur
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57
Heidi Fogel, Das Lager Rollwald, Strafvollzug und Zwangsarbeit 1938 bis 1945,
Rodgau 2004.
Rainer Hoffschildt, Die Verfolgung der Homosexuellen in der NS-Zeit, Zahlen und
Schicksale aus Norddeutschland, Berlin 1999.
Rainer Hoffschildt, 140.000 Verurteilungen nach „§ 175“, in: Invertito, Jahrbuch für die
Geschichte der Homosexualitäten, 4. Jahrgang, Hamburg 2002, S. 140-149.
[Kriminalstatistik 1935, 1936] Statistik des Deutschen Reichs, Band 577, Kriminalstatistik für die Jahre 1935 und 1936, bearbeitet im Reichsjustizministerium und im
Statistischen Reichsamt, Berlin 1942.
Statistisches Jahrbuch für das Deutsche Reich 1941/42, Hrsg. Statistisches Reichsamt, Berlin 1942.
Christian-Alexander Wäldner, Nationalsozialistische Opfer aufgrund homosexueller
Handlungen am Beispiel des braunschweigischen Gefängnisses Wolfenbüttel, in:
Invertito, Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten, 14. Jahrgang, Hamburg
2013, S. 102-145.
Nummernkarte aus der Gedenkstätte Buchenwald. Transportliste und Todesbescheinigung aus der
Gedenkstätte Bergen-Belsen.
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