Die Gene des Giganten

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DER TAGESSPIEGEL vom 17.01.2011
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WISSEN & FORSCHEN
Die Gene des Giganten
Ein mehr als 200 Jahre altes Skelett aus einem Londoner Museum hilft, die Ursachen von
Riesenwuchs aufzuklären
Das Aufsehen, das dieser Mann durch
seine Länge erregt, überdauert nun
schon mehrere Jahrhunderte. Zu seinen
Lebzeiten war er mit seiner Größe von
2,31 Metern eine Londoner Jahrmarktsensation. 1783 starb der gebürtige
Nordire mit 22 Jahren. Sein Skelett ist
seit langem im Hunterian Museum in
London zu sehen. Zu Beginn des 20.
Jahrhunderts erwirkte der Neurochirurg
Harvey Cushing die Erlaubnis, den
Schädel des Riesen zu öffnen. Er fand,
dass die Vertiefung, die der Hirnanhangdrüse (Hypophyse) Platz bietet, auffällig vergrößert war: ein deutlicher Hinweis darauf, dass der Verstorbene einen
Tumor hatte, der Riesenwuchs verursachen kann.
Jetzt ist der "Irish Giant" erneut zur wissenschaftlichen Sensation geworden.
Forscher um Márta Korbonits von der
London School of Medicine haben bei
ihm eine Genveränderung gefunden, die
zuvor bei vier nordirischen Familien
aufgefallen war. Sie gehörten zu 140
untersuchten Familien, in denen ebenfalls Tumoren der Hirnanhangdrüse aufgetreten waren - und Riesenwuchs, den
Ärzte als Gigantismus bezeichnen. Die
Resultate sind im "New England Journal of Medicine" veröffentlicht (Band
364, Seite 43).
Deutsche Forscher um Joachim Burger
von der Arbeitsgruppe Paläogenetik der
Uni Mainz stellten dafür ihr Knowhow
zur Verfügung, damit aus zwei Backenzähnen des großgewachsenen Iren genügend Erbsubstanz gewonnen werden
konnte. Die Forscher vermuten nun aufgrund der DNS-Analyse, dass die vier
irischen Familien von heute und ihr
Landsmann aus dem 18. Jahrhundert
einen gemeinsamen Vorfahren haben,
der ihren Berechnungen zufolge vor 57
bis 66 Generationen gelebt haben müsOrganisationen
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ste.
Die genetischen Veränderungen führen
nicht zwangsläufig zu einer Erkrankung,
denn nur 14 der 51 Träger des veränderten Gens waren erkrankt. Umgekehrt
haben nicht alle Gigantismus-Betroffenen die Mutation des Gens AIP (für:
Aryl hydrocarbon-interacting protein).
Sie bildet nur in schätzungsweise ein bis
sieben von 100 Fällen den Hintergrund
für die ohnehin seltene Erkrankung.
Sie entsteht durch einen, meist gutartigen Tumor der Hirnanhangdrüse, der
vermehrt und unkontrolliert Wachstumshormone ausschüttet. Bildet er sich
schon in der Kindheit oder Jugend,
wenn das Längenwachstum noch nicht
abgeschlossen ist, schießen die Betroffenen schier endlos weiter in die Höhe.
Auch die Wachstumsfugen der Knochen des "Irish Giant" waren zum Zeitpunkt seines Todes noch nicht geschlossen. Weil der Tumor Platz beansprucht,
kann die Hypophyse oft ihre Aufgaben
in der Hormonproduktion nicht erfüllen.
Resultat: Die Betroffenen kommen deutlich später oder überhaupt nicht in die
Pubertät.
Weit häufiger entwickelt sich eine solche Wucherung erst in späteren Lebensjahren. Dann kann das Wachstumshormon zwar aus durchschnittlich großen
Erwachsenen keine Riesen mehr
machen, bewirkt aber oft eine Vergrößerung von Händen, Füßen, Unterkiefer
und Zunge und eine Vergröberung der
Gesichtszüge, was im Fachbegriff
"Akromegalie" (griechisch für: vergrößerte Körperendglieder) zum Ausdruck
kommt.
Die Endokrinologin Ursula Plöckinger
vom Stoffwechsel-Centrum der Charité
am Campus Virchow, seit Jahren Spezialistin für Akromegalie, rechnet vor,
dass in jedem Jahr in Deutschland bis zu
Uni Mainz
Krebs
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250 Menschen neu erkranken, bis zu
5000 Menschen leben mit dem Leiden.
Unter den rund 200 Patienten, die
Plöckinger im Lauf der Jahre betreut
hat, sind nur wenige mit Riesenwuchs.
Bei ihnen und bei allen AkromegaliePatienten, die vor dem 30. Lebensjahr
erkranken, sei am ehesten an einen
genetischen Hintergrund zu denken, sagt
Plöckinger. Es sei deshalb denkbar, dass
in absehbarer Zukunft alle Mitglieder
betroffener Familien auf das veränderte
AIP-Gen untersucht werden könnten.
Derzeit kommen die Ärzte der Erkrankung durch einen Zuckerbelastungstest
auf die Schliche. Gesunde reagieren auf
große Mengen Glukose, indem sie die
Ausschüttung von Wachstumshormonen drosseln. Passiert das nicht, liegt der
Verdacht auf einen Tumor der Hirnanhangdrüse nahe. "Solange er kleiner als
einen Zentimeter ist, kann er operiert
werden", sagt die Ärztin. "Die Heilungschancen liegen bei 90 Prozent." Eine
weitere Behandlungsmöglichkeit bieten
verschiedene Medikamente, mit denen
die Ausschüttung des Wachstumshormons, das Wachstum des Tumors oder
auch die Wirkung des Hormons und
damit das Wachstum der Patienten
gestoppt werden kann. Eine Strahlentherapie sei heute nur noch in seltenen Fällen nötig, sagt Plöckinger.
Wichtig sei, früh zu reagieren, fügt die
Spezialistin hinzu. "Bei einem Kind, das
früh sehr viel größer ist als seine Schulkameraden, sollte man auf jeden Fall an
diese Krankheit denken." Denn neben
psychischen Belastungen haben Betroffene oft auch mit Stoffwechselproblemen zu kämpfen sowie mit schweren
Schäden an den Füßen und an der Wirbelsäule, die für eine solche Größe nicht
ausgelegt sind. Adelheid Müller-Lissner
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