Die Renaissance des „Jihad“: Islamische Traditionen und Gewalt

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ANALYSE
April 2010
Die Renaissance des „Jihad“:
Islamische Traditionen und Gewalt
Dietrich Jung
Siden den 11. september 2001 er sammenhængen mellem islam og vold blevet et centralt emne i den offentlige debat. Et nøglebegreb i denne debat er „Jihad“, ofte oversat
som „hellig krig“. Artiklen diskuterer dette begreb og spørger på hvilken måde den
islamistiske terrorisme er knyttet til islamiske traditioner.
Dietrich Jung: Die Renaissance des „Jihad“. Islamische Traditionen und Gewalt
Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hat sich eine Vielzahl von
Autoren des Themas Islam und Gewalt angenommen. Einerseits versuchen sie,
die Ursachen des islamistischen Terrorismus zu beleuchten, andererseits seine
Verankerung in den religiösen Traditionen des Islams zu hinterfragen. Im Zentrum der Debatte steht dabei der Begriff des „Jihad“, der in der islamischen Geschichte eine wichtige aber auch enorm widersprüchliche Rolle gespielt hat.
Durch den zeitgenössischen islamistischen Terrorismus hat der Jihad eine Renaissance erfahren, die vor allem seinen Bedeutungshorizont als bewaffneter
Kampf aktualisiert. Der vorliegende Essay stellt die Frage, ob es einen inhärenten Zusammenhang zwischen dem Phänomen islamistisch motivierter Gewalt
und dem den islamischen Traditionen entnommenen Begriff des Jihad gibt.
Der für den Observer arbeitende britische Journalist Jason Burke z.B. sieht
den Ursprung des militanten Islamismus in einem komplexen Zusammenhang
aus relativer ökonomischer und politischer Benachteiligung, der Suche nach
sozialer Gerechtigkeit sowie der alltäglichen Erfahrung von massiver staatlicher
Repression. Er unterstreicht die Vielzahl von unterschiedlichen Motiven, Lebenserfahrungen sowie sozialen und kulturellen Hintergründen, durch welche
sich einzelne Islamisten auszeichnen. Was ihnen gemeinsam sei, ist ein Weltbild, demzufolge sie sich in einem „kosmischen Kampf“ zwischen Gut und Böse befänden; ein Kampf, in dem ihnen ein kriegerischer Westen gegenüberstünde, dessen Ziel die Demütigung, Spaltung und Eroberung der islamischen Welt
sei. Burke betont, dass es sich beim militanten Islamismus um eine ideologische
Bewegung handelt, die ähnlich wie links- oder rechtsextremistische Ideologien
politische und soziale Missstände artikulieren. Ihre politischen Ziele verfolgten
islamistische Terroristen aber innerhalb eines oft als mystisch anzusehenden,
religiösen Bezugsrahmens. Der Islam wird somit zur zentralen symbolischen
Referenz ihrer politischen Ideologie. Diese Funktion des Islams sieht Burke
auch darin verankert, „dass der Islam eine mehr explizite politische Religion
sei, als die meisten anderen Religionen dieser Welt“. Obwohl er immer wieder
die moderne Natur des islamistischen Terrorismus herausstellt, führt er Elemente des militanten Islamismus auf den frühen Islam zurück und unterstellt
dem Islam somit einen prinzipiell politischen Charakter.
Guido Steinberg, der an der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik
forscht, verzichtet in seinem Buch Der Nahe und der Ferne Feind auf derartige
transhistorische Erklärungszusammenhänge. In ideologischer Hinsicht ordnet
er die militanten islamistischen Ideologien der Entwicklungsgeschichte der
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Salafiyya Bewegung zu. Die modernistische Salafiyya ist verbunden mit den
Namen von Jamal al-Din al-Afghani (1839-97) und Muhammad Abduh (18491905). Im Mittelpunkt ihres Denkens stand die rationale Interpretation islamischer Prinzipien als eine Grundbedingung für die authentische Aneignung der
wissenschaftlichen, politischen und ökonomischen Errungenschaften Europas.
Sie sahen diese Prinzipien in den religiösen Schriften verankert und in der prophetischen Gemeinde in Medina als zum ersten Mal historisch verwirklicht an.
Die Modernisierung der islamischen Welt müsse sich an diesen Prinzipien und
dem Beispiel der Altvorderen (Salafiyyun) orientieren, ohne aber dabei zu versuchen, das prophetische Zeitalter zu imitieren. Während die generellen Prinzipien des Islams ewig seien, müsse ihre Umsetzung jeweils den sich historisch
verändernden Bedingungen angepasst werden. Die Reformideen der klassischen Salafiyya boten in der Folgezeit wesentliche Ansatzpunkte für die Neuinterpretation islamischer Traditionen im zwanzigsten Jahrhundert, wobei sowohl säkulare als auch islamistische Strömungen aus ihrem Gedankengut
schöpften. Auf wenigen Seiten zeichnet Steinberg die Entwicklungslinie von
der klassischen zur gewaltbereiten „jihadistischen“ Salafiyya nach, welche den
militanten Islamismus inspiriert. In dieser Weise deutet er den modernen
ideengeschichtlichen Hintergrund des zeitgenössischen islamistischen Terrorismus an.
In seinem Buch nimmt Steinberg eine Untersuchung des Phänomens alQaida aus islam- und regionalwissenschaftlicher Perspektive vor. Er will dem
Leser zeigen, dass sich der islamistische Terrorismus in einem „komplizierten
Spannungsfeld zwischen regionaler Verankerung und globaler Orientierung“
bewege. Damit wendet er sich gegen Analysen, die vor allem das transnationale
Element von al-Qaida betonen. Während die Forschung häufig Elemente wie
die internationale Zielsetzung des neuen islamistischen Terrorismus, die Multinationalität seiner Aktivisten, seine netzwerkartigen Strukturen und multiplen
Finanzquellen hervorhebt, sieht Steinberg das Neue in al-Qaida weniger in diesen Erscheinungsformen selbst begründet, als in der eigentümlichen Art und
Weise, in welcher diese Elemente kombiniert werden. In seiner Analyse ergibt
sich der transnationale Charakter von al-Qaida gerade aus der Summe vieler
nationaler Organisationen und Gruppierungen. Ähnlich wie Jason Burke lokalisiert Steinberg die Ursachen des neuen Terrorismus in der oft katastrophalen
Wirtschaftslage, den sozialen Konflikten und dem Tatbestand despotischer
Herrschaft, die die Herkunftsländer der Jihadisten charakterisieren. Mit Länderstudien zu Ägypten, Jordanien, Saudi Arabien, Jemen und Algerien, zeigt er,
in welchem Grade der Kampf gegen nationale Regime mit dem transnationalen
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Terrorismus verwoben ist. Dies wird insbesondere auch in der internen ideologischen Auseinandersetzung deutlich, welche den militanten Islamismus seit
dem Ende des Kalten Krieges gekennzeichnet hat. Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzungen steht dabei die Frage, ob zunächst der nahe Feind, also die
nationalen arabischen Regime, oder aber der ferne Feind, die USA und der
Westen, zu bekämpfen wäre.
Der Ursprung eines übergeordneten ideologischen Rahmens, innerhalb dessen die verschiedenen national operierenden militanten Islamisten zu gemeinsamem Handeln finden konnten, ist im Krieg gegen die sowjetische Besetzung
von Afghanistan zu suchen. Steinberg unterstreicht, dass der Jihad gegen die
Sowjetunion fundamental zur Formulierung gemeinsamer Zielsetzungen und
Ideologien beitrug. Der Bezug auf den Islam schaffte dabei den Rahmen, in dem
die transnationale Rekrutierung und Organisation von Kämpfern stattfand. Darüber hinaus schien er die dualistische Weltsicht mit ihrer strikten Trennung
von gut/gläubig und böse/ungläubig zu bestätigen Mit der religiösen Institution
des Jihad fand sich auch eine zentrale Referenz, um diesen Kampf zu legitimieren. In ihrer einseitigen Interpretation des Jihad als militärischem Kampf machen die zeitgenössischen militanten Islamisten Anleihen im Denken des ägyptischen Islamisten Sayyid Qutb (1906-66), der 1966 unter Präsident Gamal Abdel Nasser hingerichtet wurde. Jihadistische Ideologen wie der in Afghanistan
im Krieg gegen die sowjetischen Truppen aktive Palästinenser Abdallah Azzam
(1941-1989) entwickelten ihren Jihad-Begriff mit Bezug auf die breite Diskussion
dieses Konzeptes im islamischen Recht. Diese Referenz zur klassischen Diskussion des Jihad, so muslimische und nicht-muslimische Kritiker, findet allerdings ohne Rücksicht auf die methodischen Grundlagen statt, auf denen diese
Debatte um den „gerechten Krieg“ im islamischen Recht basiert. Diese entfaltete sich unter den religiösen Gelehrten zwischen dem achten und vierzehnten
Jahrhundert und drehte sich vor allem um die legitime Begründung und moralische Motivation zur Kriegsführung. Entscheidend war, dass der Griff zu militärischen Mitteln nur durch legitime Autoritäten wie den Kalifen erlaubt werden durfte. Die zeitgenössischen militanten Islamisten haben aber den Ruf zum
Jihad von jeder religiösen oder politischen Autorisation gelöst und verwandelten ihn zum Werkzeug ihrer politischen Strategien und existentiellen Sinnsuche.
Die Frage, inwieweit das dem historischen und kulturellen Wandel ausgesetzte Konzept des Jihad in seinem Kern die Idee eines „heiligen Krieges“ verkörpert, spielt eine zentrale Rolle in der aktuellen Debatte um Islam und Gewalt. Die semantische Breite des Begriffes, die vom religiös motivierten morali-
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schen Handeln bis zum bewaffneten Kampf reicht, hat sowohl Polemiken gegen
als auch Apologien des Islams gestützt. In Understanding Jihad versucht David
Cook der verwirrenden Vielfalt von Bedeutungen des Jihad-Begriffs auf den
Grund zu gehen. Die Studie des an der Rice University lehrenden Religionswissenschaftlers basiert auf der Analyse von religiösen Quellen, der islamischen
Rechtsliteratur und modernen Interpretationen des Jihad. Mit seiner Untersuchung der historischen Bedeutungsinhalte des Jihad wendet sich Cook gegen
apologetische Auffassungen, die der militärischen Bedeutung des Jihad nur
eine untergeordnete Funktion beimessen wollen. Für Cook bildet der Koran die
Grundlage für eine kriegerische und aggressive Jihad-Doktrin, die dann in den
Traditionen zu einer umfassenden Beschreibung religiös motivierter Kriegsführung erweitert wurde. In vor-moderner Zeit, so Cook, hätte man mit dem Jihad
hauptsächlich den militärischen Kampf verbunden. Daher können sich seiner
Meinung nach die zeitgenössischen Jihadisten durchaus auf die islamische Tradition stützen, auch wenn ihre Interpretationen nicht wirklich in den gelehrten
Diskurs eingebunden seien. Im Wesentlichen unterscheide sich der JihadBegriff militanter Islamisten von der klassischen Lehre allerdings nur dadurch,
dass sie die Notwendigkeit einer etablierten politischen Autorität missachteten,
welche nach klassischer Lehre zu seiner Ausrufung unbedingt notwendig war.
Cook streitet keinesfalls ab, dass es neben der militärischen Traditionslinie
auch eine andere, eher spirituelle Jihad-Tradition gibt. Er datiert die Herausbildung dieser spirituellen Interpretation auf das neunte Jahrhundert, in dem sich
die asketische Bewegung des Islams im Sufismus zu formieren begann. Die
Doktrin dieses „großen Jihad“ führt er dann auf die Lehren des Theologen alGhazali im zwölften Jahrhundert zurück. Diesem zufolge handle es sich beim
großen Jihad um den anhaltenden Kampf mit sich selbst und zum Wohle der
Gemeinschaft, während sich der kleine Jihad auf die militärische Verteidigung
der Muslime beziehe. Diese Unterscheidung griffen die salafitischen Reformer
des neunzehnten Jahrhunderts wieder auf und interpretierten den Jihad als einen Aufruf zum sozialen Engagement zur Reform der muslimischen Gesellschaft. Die Schüler von Muhammad Abduh betonten die nicht-militärische Bedeutung des Jihad und erklärten in apologetischer Absicht seine militärische
Dimension zum Ausnahmefall. Damit aber, argumentiert Cook, stellten sie die
historische Wirklichkeit auf den Kopf. In dieser dominiere nämlich die militärische Bedeutung des Jihads eindeutig und seine spirituelle Dimension erwiese
sich als ein Derivat der militärischen und nicht umgekehrt. Im zwanzigsten
Jahrhundert hätten dann islamistische Intellektuelle den Begriff sukzessive auf
seinen aggressiven Kern zurückgeführt. Im Unterschied zur klassischen
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Salafiyya verbindet die Mehrzahl der zeitgenössischen militanten Islamisten
mit dem Jihad wieder die Verteidigung und Ausbreitung des Islams mit militärischen Mitteln. Diese Renaissance des militärischen Jihad sieht Cook als einen
Beleg dafür, dass die Erinnerung und Rationalisierung der islamischen Eroberungen alle Versuche der reformistischen Apologeten konterkariert hätte, den
militärischen durch den spirituellen Jihad zu verdrängen.
Es wäre in der Tat irreführend, die militärische Dimension des Jihad als einen Ausnahmefall der islamischen Geschichte zu präsentieren. Auch bieten der
Koran und die in der Sunna zusammengefassten Überlieferungen vom Propheten eine Reihe von Anknüpfungspunkten für die religiöse Rechtfertigung der
Taten von militanten islamistischen Aktivisten. Andererseits können sich aber
auch die Apologeten eines friedlichen Islam auf dieselben religiösen Quellen
stützen. Es stellt sich daher bei der Lektüre von Cooks Buch die Frage, woher
der Autor die Gewissheit nimmt, dass es sich bei den Theorien eines inneren,
spirituellen Jihad um nichts anderes als Wunschdenken handle und der militärische Jihad allein die historische Wirklichkeit widerspiegle? Warum sollen die
Vertreter eines kriegerischen Jihad authentischere Muslime sein, als z.B. Muhammad Iqbal, nach dessen Interpretation der islamischen Traditionen der Islam eine „Religion des Friedens“ sei?
Als eine lebendige religiöse Tradition bietet der Islam einen Referenzrahmen,
auf den sich sowohl radikale Islamisten in ihrem bewaffneten Kampf als auch
moderne islamische Reformer in ihrer Rechtfertigung beispielsweise der allgemeinen Menschenrechte beziehen können. Der Streit über die Auslegung des
Jihad-Begriffes, der nicht nur muslimische Interpreten, sondern auch die Wissenschaft spaltet, macht deutlich, dass es ein einheitliches Verständnis der Traditionen, also einen „wahren Islam“ nicht gibt. In den islamischen Interpretationen der Quellen begegnet uns der Jihad eben als beides, eine Aufforderung
zum religiös motivierten bewaffneten Kampf und eine nicht enden wollende
Bemühung um individuelle und gesellschaftliche Vervollkommnung. Angesichts der Vielseitigkeit dieser Stimmen wäre es daher falsch, dem Islam per se
eine besondere Nähe zur Gewalt zu unterstellen. In der Erklärung des islamistischen Terrorismus spielt der Islam keinesfalls die Rolle einer „unabhängige Variable“. Dieser ist vielmehr das Resultat eines komplexen Geflechts von Faktoren, in denen der Islam die Funktion eines symbolischen Horizontes für die
normative Rechtfertigung von Gewalt erfüllt.
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Dietrich Jung: Die Renaissance des „Jihad“. Islamische Traditionen und Gewalt
Literatur
Jason Burke: Al-Qaeda. The True Story of Radical Islam, I.B. Tauris, London
2004.
Guido Steinberg: Der Nahe und der Ferne Feind. Die Netzwerke des islamistischen
Terrorismus, C.H. Beck, München 2005.
John Kelsay: Arguing the Just War in Islam, Harvard University Press, Cambridge (Mass.) 2007.
David Cook: Understanding Jihad, California University Press, Berkeley 2005.
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