Forschungen und Fortschritte

Werbung
Forschungen und Fortschritte
15. Jahrgang
Berlin 10. und 20. August 1939
Nr. 23/24
Die Rechtsgeschichte des alten Ägypten
Von Prof. Dr. Erwin Seidl, Universität Greifswald
Die Griechen, die sonst gerne auf alles Ausländische als „barbarisch“ herabsahen,
brachten der Rechtskultur des alten Ägypten eine hohe Achtung entgegen. Von ihren
berühmtesten Gesetzgebern Lykurg und Solon, dazu von dem Philosophen Platon erzählt
eine freilich sagenhafte Überlieferung, dass sie Reisen nach Ägypten unternommen
hätten, gerade zu dem Zwecke, dort das Recht der Ägypter an Ort und Stelle als
vorbildlich zu studieren.
Auch bei Rednern, z.B. Isokrates, dann in manchen kleinen Berichten tritt uns diese
Wertschätzung des ägyptischen Rechts entgegen. Was diese griechischen Quellen von
einzelnen positiven Rechtssätzen der Ägypter berichten, ist zwar dürftig und
uneinheitlich, doch hat man deshalb diese Tradition nicht bezweifelt, die so gut zu den
Leistungen der Ägypter auf anderen Kulturgebieten, wie Kunst, schöne Literatur und
Technik zu stimmen scheint.
Als aber im Laufe des vorigen Jahrhunderts und in den letzten Jahrzehnten die
Entzifferung der orientalischen Rechtsdenkmäler selbst gelang, schien es, als müsse man
die Bedeutung des alten Ägypten für die Entwicklung des Rechts in der Antike überhaupt
doch weniger günstig als die Griechen beurteilen. In den Vordergrund trat das
sumerische Volk, dessen Rechtskultur den Codex Chammurabi mitbestimmt, der dann
seinerseits die größte Bedeutung innerhalb des alten Orients erlangt und die späteren
vorderasiatischen Rechte alle mehr oder weniger stark beeinflusst.
Eine Fülle von Keilschrifttexten, nach Tausenden zu zählen, gestattet ein genaues
Studium des babylonischen Rechts; aber auch über assyrisches, hethitisches und
elamisches Recht können wir uns aus reichlichem Material heute ein gutes Bild machen.
Demgegenüber hat uns der Sand Ägyptens, so sehr er uns andere Kulturdenkmäler
konservierte, doch für die großen nationalen Epochen des Landes, das Alte, Mittlere und
Neue Reich (bis 712 v.Chr.), kein Gesetzgebungswerk auferstehen lassen, das sich mit
dem Codex Chammurabi entfernt vergleichen ließe, und bis heute auch nicht mehr als
etwa 120 Texte überhaupt, die man als ausgesprochen juristische bezeichnen darf.
Aufgabe der antiken Rechtsgeschichte muß es aber sein, die Entwicklung der
Rechtskultur in der Antike möglichst vollständig zu erforschen. Die Abhängigkeit vom
Zufall der Funde soll jedenfalls so gut es geht überwunden werden. Zu diesem Zwecke
musste gerade diese an sich spärliche Überlieferung Ägyptens untersucht und der
Versuch unternommen werden, den Stand dessen, was wir über Quellenkunde, Privatund Prozessrecht erschließen können, darzustellen. (1)
[(1)Einführung in die ägyptische Rechtsgeschichte bis zum Ende des Neuen Reiches. Von
A. Scharff und E. Seidl. I. Juristischer Tel von E. Seidl. Ägyptische Forschungen, hgg. Von
A. Scharff, Heft 10, Glückstadt, J. J. Augustin. Erscheint etwa September 1939]
Das Ziel, damit der „Antiken Rechtsgeschichte“ als Forschungs- und Lehrfach zu dienen,
schreibt von selbst die Anwendung rechtsvergleichender Methode vor. (2)
[(2Dadurch unterscheidet sich in die Anm 1 genannte Schrift von dem dreibändigen
Werke des belgischen Gelehrten Pirenne, Histoire des institutions et du droit privé de
l’ancienne Égypte. Bruxelles 1932/35(reicht bis zum Ende des Alten Reiches)]
Dabei zeigte sich, dass die hohe Meinung der Griechen vom ägyptischen Recht auch
neben dem Codex Chammurabi aufrechterhalten werden kann und dass Ägypten als das
Ursprungsland für manche Einrichtung in Betracht kommt, die durch die Antike hindurch
noch für uns heute von Bedeutung ist. (3)
[(3) Dies soll freilich keine Wiederkehr jener Behauptungen Revillout’s bedeuten, der in
der ersten Entdeckerfreude ein Buch betitelte: Les origines égyptiennes du droit civil
romain (Paris 1912)]
Das Urkundenwesen der Ägypter geht von der Papyrusurkunde aus; es steht damit schon
dem Materiale nach der späteren hellenistisch-römischen Papyrusurkunde und unserer
heutigen Papierurkunde näher als die Tontafel der Babylonier oder die Wachstafel der
Römer.
Was uns Ägypten hier zeigt, ist also insoweit die älteste Geschichte unserer Urkundsform.
Wir sehen in älterer Zeit bei Privatrechtsgeschäften eine durch ein amtliches
Verschlusssiegel gesicherte Urkunde, in späterer Zeit eine unversiegelte Urkunde, die
aber durch Einhaltung eines strengen Formulars, die Unterschrift des Notars und der
Zeugen gegen nachträgliche Zusätze oder Verfälschung gesichert ist, wozu wenigstens
für die letzten Jahrhunderte Archive und Register einen weiteren Schutz bieten.
In einem Prozess des Alten Reiches finden wir ein Verfahrensrecht, das vom formalen
Beweis ausgeht: von dem Eide dreier Zeugen wird die Entscheidung abhängig gemacht.
Für eine Würdigung ihrer Aussage durch den Richter ist kein Raum. Eine Parallele dazu
bietet das frühmittelalterliche deutsche Recht in seinen „Eideshelfern“. Dagegen ist das
Prozessrecht des Neuen Reiches einmal, wie das Keilschriftrecht, auf dem Versuch einer
gütlichen Einigung der Streitenden, dann aber auf der freien Beweiswürdigung aufgebaut.
Ja man geht in dem Bestreben, jede Möglichkeit der Wahrheitsforschung auszunützen,
sogar weiter als unser modernes Recht: man scheut sich z. B. nicht, über ein und
dieselbe Tatfrage Parteieid und Zeugeneid gegenüberzustellen, so dass notwendigerweise
einer der beiden zu einem Meineid werden muß. Dem Keilschriftrecht gleich ist aber die
geringere Bedeutung des Urteils im Neuen Reiche: nicht dieses ist vollstreckbar, sondern
nur eine Unterwerfungserklärung, die die unterlegende Partei nach dem Urteil mehr oder
weniger freiwillig ausstellt.
Die griechische Überlieferung jedoch, wonach die Ägypter ein reines Schriftverfahren
gehabt hätten, wonach also ohne mündliche Verhandlung das Gericht nur auf Grund der
eingereichten Schriftsätze seine Entscheidungen gefällt hätte, erwies sich für die Blütezeit
Ägyptens als unrichtig. Allenfalls könnte in der letzten Epoche des Neuen Reiches ein
solches Experiment unternommen worden sein.
Aus unser geschichtlichen Vergangenheit kennen wir das G o t t e s u r t e i l. Durch
Zweikampf oder andere Proben wurde auch bei uns einmal versucht, die Allwissenheit
der Gottheit in den Dienst einer Prozessentscheidung zu stellen. Den konsequentesten
Versuch in dieser Richtung bietet aber die ägyptische Rechtsgeschichte der 19. bis 24.
Dynastie (1350-712): Götter wurden befragt, wenn es galt, eine gestohlene Sache
ausfindig zu machen oder über einen Eigentumsstreit zu urteilen. Der in dieser Weise
„Überführte“ wird dann so lange geprügelt, bis er sich dem Urteil unterwirft. Doch
gereicht es Ägypten zur Ehre, dass diese Verirrung seines Prozessrechts nur eine
vorübergehende Erscheinung blieb, außerdem das daneben weiter geübte „weltliche“
Verfahren wahrscheinlich niemals ganz verdrängt hat.
In der Literatur der Ägypter begegnet schon ein „N a t u r r e c h t“ im Sinne des
kanonischen Rechts, d.h. ein Recht göttlichen Ursprungs, von dem aus man an dem
tatsächliche geltenden Recht Kritik über kann. Auch der Satz, dass in dem „Suum cuique
tribuere“ die Aufgabe des Privatrechts zu sehen sei, findet sich nicht nur an der Spitze
von Justinians Corpus Iuris, sondern schon in den ägyptischen Quellen.
Längst bekannt ist die eigentümlich freie Stellung der ägyptischen Frau: sie kann ohne
Mitwirkung eines männlichen Vormundes jedes Geschäft abschließen und kann als Zeugin
bei Rechtsgeschäften fungieren. In der Antike, im Vergleich mit dem babylonischen,
griechischen und römischen Recht, mutet uns dies seltsam neuzeitlich an.
Gewiß herrscht in Ägypten – bis zur Ptolemäerzeit – die Vorstellung, dass der König als
Obereigentümer allen Grund und Bodens sei. Doch kommt bei der Übertragung von
Grundstücken nur in der ältesten Zeit bis zur 4. Dynastie eine Belehnung durch den
königlichen Obereigentümer hinzu, während in den späteren Epochen die Übertragung
nur mehr, wie etwa im römischen Recht, durch Formvorschriften erschwert ist, das
Obereigentum also nicht viel mehr als eine Gebiets- und Steuerhoheit bedeutet. Erst
recht gab es Privateigentum an weniger wertvollen Sachen von jeher.
Das Recht der Schuldenverhältnisse ist – ähnlich wie nach dem Codex Chammurabi, aber
in Ägypten schon in älterer Zeit nachweisbar – auf dem Entgeldgedanken aufgebaut. Nur
der entgeldliche Erwerb verschafft grundsätzlich das Eigentum; unentgeldlicher Erwerb
ist wie in den germanischen Rechten durch besondere Formvorschriften erschwert. Dem
entspricht, dass der Kauf – wie im Keilschriftrecht – ursprünglich nur Barkauf ist, durch
sofortigen Austausch von Leistung und Gegenleistung vollzogen wird.
Nun kennen aber die Ägypter schon früh die klagbare künftig zu erfüllende Verpflichtung,
die durch einen Eid begründet wird, wie sie auch im ältesten griechischen und römischen
Recht bestanden haben mag. Damit kommen sie anscheinend schon früher als die
Babylonier zur richtigen Kreditkauf: Im Mittleren Reiche (2100-1700) sehen wir, dass ein
Verkäufer den gestundeten Kaufpreis einklagt, während man nach dem gleichzeitigen
babylonischen Recht erwarten würde, dass er nur die Kaufsache wieder zurückverlangen
kann.
Auch kann durch einen Verpflichtungseid ein Entgeld für eine Leistung versprochen
werden, die an eine dritte Person gegeben wurde, doch ist das in Ägypten der
Ausnahmefall; normalerweise leistet der Empfänger der Leistung selbst den Eid, sie
später zu entgelten.
Damit zeigt sich die Entwicklung der Bürgschaft in Ägypten ganz selbstständig gegenüber
der, die sie im germanischen, griechischen und babylonischen Recht nahm: in diesen
Rechten ist die Bürgschaft, die Haftung des eintretenden zahlungskräftigen Dritten der
ursprünglichere Fall, dem erst allmählich die Haftung des empfangenden
Hauptschuldners nachfolgt.
Auch auf den Gebieten des Ehe- und Erbrechts, in der Geschichte treuhänderischer
Rechtsverhältnisse, beim Darlehen und im Zinsfuß, im Diebstahlsrecht und in der
Gerichtsverfassung zeigt sich die Entwicklung des ägyptischen Rechts bald selbständiger,
bald parallel mit dem gleichzeitigen Keilschriftrecht.
Die Frage einer gegenseitigen Beeinflussung des ägyptischen und vorderasiatischen
Rechts ist bei den seit ältester Zeit regen Kulturbeziehungen beider Landschaften
durchaus nicht von der Hand zu weisen. Noch erscheint aber jeder Versuch als
aussichtslos, ein bestimmtes Datum für die Rezeption eines Rechtssatzes aus dem einen
in das andere Rechtsgebiet angeben zu wollen.
Nicht die Invasion der Perser, nicht die der Assyrer, auch nicht der König Bokchoris
(718-712), dessen von den Griechen gerühmtes großes Gesetztgebungswerk wohl nur
eine Sage ist, können für die Gleichartigkeit mancher Rechtseinrichtungen verantwortlich
gemacht werden. Doch ist zu hoffen, dass künftige noch genauere Kenntnis des
ägyptischen Rechts auch einmal die Rezeptionsfrage beantworten können wwird: eine
solche erwarten wir einmal von neuen Funden, dann aber auch von philologischer
Behandlung der ägyptischen Rechtssprache.
Herunterladen