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Kultur
HANNOVERSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG
N
MONTAG, 26. OKTOBER 2009 · NR. 249
Schöne
Plagen
INITIAL
eue Regierung, neue Namen.
Es ist gar nicht so einfach, sich die neuen
Minister zu merkeln, aber Gott sei Dank
gibt es da ein paar Eselsbrücken. Zum
Beispiel Thomas de Maizière. Er leitet das
Innenministerium, weil innen in seinem
Nachnamen ein Accent grave schwebt.
Dirk Niebel macht Entwicklung, weil
man in diesem Ressort immer so im Nebel
stochert. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger macht Justiz, weil sie das schon
kann. Und Franz Josef Jung macht die
Arbeit, weil Arbeit
jung hält. WesterEselsbrücken
welle ist der Außenim Kabinett: ...
minister, weil er als
einziger Minister eine Himmelsrichtung
und eine Meereserscheinung gleichzeitig
im Namen führt. Annette Schavan macht
Bildung, weil ihr Name mit „Sch“ wie
Schule anfängt, und Rainer Brüderle
kümmert sich um die Wirtschaft, weil
alle Last brüderlich geteilt werden muss.
Ursula von der Leyen ist für die Familie
zuständig, weil sie darin Erfahrung hat.
Wolfgang Schäuble übernimmt die Finanzen, weil man das Geld heutzutage
mit der Schaufel bewegen muss, und KarlTheodor zu Guttenberg ist für die Verteidigung zuständig, weil Adel verpflichtet.
Philipp Rösler kann
man sich gut über ei... Ein kleiner
nen Umweg merken:
Ministerkurs
Eigentlich
müsste
Norbert Röttgen für Gesundheit zuständig sein, weil sein Name an Röntgen erinnert. Rösler dagegen müsste eigentlich
Landwirtschaft machen, weil sein Name
von Ross, Pferd kommt. Das geht aber
nicht, weil selbst einer wie Ramsauer, der
es vom Namen her eigentlich sein müsste,
nicht für Landwirtschaft zuständig sein
kann, denn da sitzt ja schon die Ilse Aigner
(die sich besonders dafür aignet). Also hat
man Röttgen die Umwelt gegeben (kaltes
Röttchen!) und Ramsauer Verkehr und
Bau (die Ramme!) Bleibt für Rösler nur
die Gesundheit. Was ja auch passt: Der
Mann ist Arzt.
rom
Neumann bleibt
Kulturstaatsminister
Kulturstaatsminister Bernd Neumann
(CDU) bleibt erwartungsgemäß auch in
der schwarz-gelben Bundesregierung im
Amt. Das teilte Bundeskanzlerin Angela
Merkel (CDU) am Sonnabend mit. Als
eine der wichtigsten Aufgaben in seiner
nächsten Amtszeit will der 67-jährige
Staatsminister sicherstellen, „dass trotz
der Wirtschaftskrise und der unverzichtbaren Sanierung der Staatsfinanzen die
Kultur nicht unter die Räder kommt“. Die
Förderung von Kultur sei keine Subvention, sondern eine Investition in die Zukunft. Als weitere Schwerpunkte seiner
nächsten Amtszeit nannte Neumann unter anderem den Ausbau der kulturellen
Bildung, die Stärkung des Filmstandortes Deutschland, den Wiederaufbau des
Berliner Stadtschlosses als Humboldtforum sowie das Einheits- und Freiheitsdenkmal in Berlin.
dpa
Hamburg: Lichterkette
für Gängeviertel
Mit einer Lichterkette um das Hamburger Gängeviertel haben am Sonnabend
mehrere Hundert Menschen für den Erhalt der historischen Gebäude demonstriert. „Wir wünschen uns nach wie vor,
dass Hanzevast zurücktritt und die Stadt
den Vertrag übernimmt“, sagte die Sprecherin der Gängeviertel-Initiative, Christine Ebeling. Der holländische Investor
hat jedoch seine Bauabsichten bekräftigt
und eine Räumung der besetzten Gebäude bis Montag gefordert. Die Stadt hatte
den Künstlern einen Umzug innerhalb
der Gebäude vorgeschlagen, wenn sie dafür Fabrik und Druckerei räumen. dpa
77. Fortsetzung
Ein Bühnenarbeiter wies ihm den Weg,
nachdem Jacob angegeben hatte, er werde
erwartet. Er durchquerte eine Reihe gefährlicher Feuerfallen, winzige Räume
und Flure, die fast bis zu den Wandleuchten hoch mit Kostümen und Perücken
vollgestopft waren. Auf den schmalen
Gängen drängten sich die Schauspieler,
die er eben noch auf der Bühne gesehen
hatte, lachend und rauchend in ihren Togen. Es war eigenartig, die römischen Senatoren zur Pfeife greifen zu sehen – noch
dazu in Gegenwart von Caesars Gemahlin, die beifällig über eine Bemerkung
lachte und deren für den Auftritt gelöstes
Haar in schönen Wellen über ihren Rücken fiel –, und zu bemerken, wie sie stutzten und ihn anstarrten, als er mit seinem
Krückstock und seiner Augenklappe in
ihr glanzvolles Reich eindrang. Doch ihre
Blicke waren ihm gleichgültig. Alles, was
er sah, schlug ihn in Bann, und ein berauschender Gedanke ließ ihn nicht mehr los:
Einst, vor einer halben Ewigkeit, war dies
Jeannies Welt gewesen. Bestimmt hatte
sie ebenso hinter der Bühne gestanden,
noch im Kostüm, hatte gelacht, mit ihren
Mitspielern geschwatzt, die Männer bezaubert, mit denen sie im wirklichen Leben nichts verband, und in einer Welt geschwelgt, die nur Illusion war.
Zuletzt dirigierte ihn jemand zu einer
schmalen Tür, an der ein hölzerner Stern
Der Bachchor Hannover singt
Händels „Israel in Egypt“
VON A NDRÉ MUMOT
ap
Und noch eine Karriere: Neu-Bariton Placido Domingo, hier mit Anja Harteros.
Jetzt auch tiefergelegt
Startenor Placido Domingo wird an der Berliner Staatsoper als Bariton bejubelt
VON R A IN ER WAGN ER
F
olgt auf drei Karrieren jetzt noch
eine vierte? Dabei hat der 68-jährige Placido Domingo doch gerade
den erstmals verliehenen Birgit-NilssonPreis (eine Million Dollar) und den deutschen Echo Klassik für sein Lebenswerk
erhalten. Das könnte ein Anlass sein,
Bilanz zu ziehen – und vielleicht auch
über ein allmähliches Abschiednehmen
nachzudenken. Schließlich ist Tenor ein
Beruf, der nicht nur Kunstfertigkeit und
Können, sondern auch Kondition verlangt. Domingo blieben doch immer noch
die Berufe Operndirektor (und das gleich
zweimal: in Los Angeles und Washington) und Dirigent (kein genialer, aber ein
grundsolider Partner seiner Sängerkollegen). Aber der fleißigste und vielseitigste Operntenor schlägt lieber ein neues Kapitel auf: Domingo jetzt auch als
Bariton. Erstmals zu erleben an der Berliner Staatsoper Unter den Linden, wo
ihn am Sonnabend ein begeistertes Publikum auch in der neuen Rolle feierte:
als Titelhelden in Giuseppe Verdis Oper
„Simon Boccanegra“.
Dass sich Baritone im Laufe ihrer Karriere zum Tenor hocharbeiten, kommt
häufiger vor als die Gegenbewegung,
weil vielen Tenören das dunkle Stimmfundament fehlt. Aber Domingo galt
schon immer als der stabilste der großen
Tenöre. Seine Stimme war immer bronzefarben, während zumindest der junge
Pavarotti einen Silberton dagegensetzte
(und Carreras in seinen besten Tagen
Weißgold zu bieten hatte).
Überraschender als die Hinwendung
zum tieferliegenden Repertoire war die
Entscheidung für die Rolle des Dogen Simon Boccanegra – aber nur auf den ersten Blick. Natürlich sollte das BaritonDebüt, wenn schon, denn schon, eine
zentrale Rolle sein. Und um den
Titelhelden in dieser Oper dreht sich alles. Allerdings hat Simon Boccanegra
keine einzige ausgeprägte Arie zu singen, keinen Ohrwurmhit, dafür aber viele Be- und Erkenntnisse. Obendrein liegt
die Partie eher hoch (weshalb mancher
Bariton damit seine Probleme hat). Das
fällt schon im Prolog auf, in dem die finsteren Charaktere und die ebenso finsteren Stimmen dominieren. Da hat Domingo leicht Oberhand. Zwar ist seine
Stimme nicht mehr ganz so flexibel wie
in jüngeren Jahren, aber das Timbre bezwingt noch immer, die Strahlkraft
scheint ungebrochen. Und die Bühnenpräsenz sowieso.
Domingo singt siegessicher und muss
das auch, denn aus dem Orchestergraben
liefert Hausherr Daniel Barenboim einen Verdi voller musikalischer Ausrufezeichen. Man weiß nicht recht, ob die
Berliner Staatskapelle so aufdreht, weil
sie keine Angst um die Durchsetzungskraft des Baritons haben muss. Oder ob
Domingo so kraftvoll auftritt, um die
Oberhand nicht zu verlieren.
Es wird an diesem Abend aus dem Vollen geschöpft, zumindest was die Musik
angeht. Anja Harteros ist eine selbstbewusste, souveräne Tochter Amelia,
Kwangchul Youn ein rachedurstiger,
profunder Fiesco. Fabio Sartori gibt als
Liebhaber Gabriele Adorno den Strahletenor, und Hanno Müller-Brachmann als
Verschwörer Paolo ist so dunkel wie sein
Charakter.
Doch der bleibt weitgehend im Dunkeln. Star Placido Domingo hatte sich
eine „traditionellere“ Inszenierung gewünscht. Und die bekam er auch. Regisseur Federico Tiezzi wird als Erfinder
eines „Poesietheaters“ gerühmt (was immer das auch sein mag), doch er lieferte
zusammen mit seinem Baukastenbühnenbildner Maurizio Balò eine rampennahe Stehparty ab, die vor drei Jahrzehnten schon altbacken gewesen wäre.
Im Programmbuch schwadroniert Tiezzi
seitenlang von der „Realität der Existenz“, auf der Bühne aber existieren nur
Opernklischees. Nun ist die Handlung
(die Vorlage stammt wie beim noch verworreneren „Trovatore“ vom Spanier
Garcia Gutiérrez) schwer nachzuvollziehen. Es geht um einen Fluch und um permanente Verschwörung. Und als endlich
klar ist, dass Amelia nicht Simon Boccanegras Geliebte, sondern seine Tochter
ist – und die Enkelin Fiescos –, als der
vermeintliche Gegner zum Nachfolger
ausgerufen wird, als also alles gut werden könnte, da stirbt der schon im Akt
zuvor vergiftete Titelheld. Nicht ohne
zuvor allen und jedem verziehen zu
haben.
Auf Edelmut musste in Berlin nur Regisseur Tiezzi hoffen, der zwar auch Zustimmung, aber noch mehr Widerspruch
erntete. Für die Musiker und die Solisten
aber gab es Jubel, für Domingo obendrein auch Ovationen im Stehen.
Es war, vielleicht, der Start einer neuen, späten Karriere. Und alle können sagen, sie seien dabei gewesen.
Die nächsten Vorstellungen am 27. und
30. Oktober und im November. Karten:
(0 30) 20 35 45 55.
Auch wenn es sich merkwürdig anhört:
Am schönsten sind die Plagen. Es beginnt
mit den Fröschen, die quakend über die
Ägypter herfallen, hinzu kommen Fliegen, Läuse und Heuschrecken. Und so beginnt im Orchester ein barock rasantes
Surren, Summen, Hicksen und Raunen.
Es klingt beinahe nach musikalischer
Gehässigkeit, was Händel hier, also um
1739, so alles einfällt, um den Auszug der
Israeliten aus Ägypten zu illustrieren.
An diesem Abend in der Marktkirche
sind es das eigens zusammengestellte
Bachorchester mit seinen historischen Instrumenten und der Bachchor Hannover,
die einen aufregenden, stürmischen Eindruck davon geben, wie Händel in seinem
Oratorium „Israel in Egypt“ alle Formgrenzen sprengt. Hagel und Feuer werden
zu wilden Streicherschlägen, und als die
Finsternis über Ägypten fällt, bricht die
vollmundige Chorgewalt auseinander, die
Stimmen verlieren sich im Ungefähren,
die harmonische Ordnung löst sich auf.
Das ist die herausragende Mitte eines
faszinierend unmittelbaren Konzertes,
bei dem nicht zuletzt sechs Gesangssolisten in schöner Abwechslung nach vorn
treten. Die Bässe Uwe Schenker-Primus
und Johannes Weinhuber entfalten dabei
in ihrem Duett nicht weniger lyrische Innerlichkeit als die beiden Soprane in
ihrem gemeinsamen Moment. Marietta
Zumbült und die nur manchmal etwas
belegt klingende Verena Usemann überzeugen mit gesanglichem Feingefühl und
sensibler Textausdeutung. Michael Connaires gleißender Tenor fesselt mit selbstbewusster Kraft – für die bewegendsten
Momente aber sorgt zweifelsohne Altus
Franz Vitzthum. Sein „And the Children
of Israel sigh’d“ erhebt sich klar und
durchdringend in feinste Höhen und sorgt
für atemlose Publikumsstille.
Im Mittelpunkt bleibt aber der Chor,
der nie Spannung vermissen lässt und
klangstark durch die knapp zweieinhalb
Stunden führt. Unter der mitreißenden
Leitung Jörg Straubes trumpft so ein
Schwergewicht der Oratorienliteratur
schwungvoll auf. Es sind doch nicht nur
die Plagen, die zum Großereignis taugen.
K U LT U R N O T I Z
Leyendecker in Langenhagen
Wo bleibt die Moral in der Wirtschaftskrise? In seinem Buch „Die große Gier“
beschreibt der Journalist Hans Leyendecker, der beim „Spiegel“ und der „Süddeutschen Zeitung“ an der Aufdeckung
vieler großer Politaffären federführend
beteiligt war, wie renommierte Großkonzerne für kurzfristige Gewinne ihren Ruf
aufs Spiel setzen. Am Freitag, 30. Oktober, um 19 Uhr kommt Leyendecker zum
Buchgespräch in den Langenhagener
Ratssaal. Infos: (05 11) 73 07 97 09.
Ihr seid Helden
Uraufführung beim Jungen Schauspiel Hannover: „Alle kriegen dick und werden Kinder“
VON R ONALD M EY ER -A RLT
Ribbe
10
Z
weierlei war Laszlo klar: Nie würde er
den Führerschein machen, nie würde
er einen Computer besitzen. Mit dem Führerschein hat es dann tatsächlich noch etwas gedauert, aber den Computer hat er
sich schon bald gekauft. Und überhaupt
ist in seinem Leben vieles anders gekommen, als er sich das so vorgestellt hat, damals, als er mit seinem Freund Dario an
der Haltestelle abhing und Unmengen von
Kaugummi kaute. Laszlo ist von zu Hause
abgehauen, er ist Musiker und berühmt
geworden, er hat seine Freundin verlassen, und er hat Männer geliebt.
Der Theaterautor Kristo Sagor beschreibt in „Alle kriegen dick und werden
Kinder“ das Leben eines jungen Mannes,
der glaubt, seinen Weg zu kennen, und am
Ende doch erkennen muss, dass er irgendwo gelandet ist, wo er vielleicht gar nicht
hin wollte. Es ist zwar an vielen Stellen zu
prangte. Einen Augenblick lang blieb er
vor der Tür stehen und zögerte; ein Phantombild von William Williams dem Dritten erstand vor seinen Augen. Doch dann
fasste er Mut und klopfte.
„Mr Booth?“, rief er.
Er hatte erwartet, ein Diener oder Bühnenarbeiter werde öffnen, stattdessen
hörte er eine überaus joviale Männerstimme dröhnen: „Herein, herein, die Tür
ist nicht versperrt!“ Jacob stützte sich auf
seinen Krückstock, öffnete mit der freien
Hand die Tür und betrat Edwin Booths
Privatgarderobe.
Der Schauspieler saß auf einem niedrigen Schemel an einem mit Kämmen und
Kölnischwasserflaschen
übersäten
Schminktisch und begutachtete den vollkommensten Kopf Amerikas kritisch im
Spiegel. Zwei rechts und links vom Spiegel angebrachte, hohe Gaslampen beleuchteten Edwin Booths wohlgestaltete
Züge. Anders als seine Freunde, Römer
und Mitbürger vor den Toren seines exklusiven Refugiums, trug er bereits einen
hocheleganten Anzug, wie in Vorbereitung auf ein spätabendliches Fest. Toga
und Lorbeerkranz hingen über einem
Garderobenständer zu seiner Linken. Bei
Jacobs Eintritt drehte er sich nicht um,
sondern lächelte sich weiter beifällig im
Spiegel zu und band sein Halstuch neu.
„Sie sind der Bursche namens Rappaport, der mich wegen der Firma sprechen
will, stimmt’s?“, fragte er, immer noch wie
Stark: Nicolaas van Diepen (r.), Tim Ritter.
grell und breit ausgemalt, aber es ist kein
schlechtes Jugendstück. Man kann etwas
draus machen. Man müsste das Stück hart
angehen, seine Kabarettelemente (schwule Friseure!) entfernen, einiges verdichten,
den Kitsch minimieren, dann könnte es
gehen. Man könnte das alles in einer guten
Stunde erzählen, die Zuschauer würden
der Geschichte einer komplizierten
Selbstfindung applaudieren – und hätten
die Sache wohl bald vergessen.
Am Jungen Schauspiel Hannover versucht man etwas anderes. Dort inszeniert
der Autor die Uraufführung seines Stückes
selbst (was gefährlich ist). Das Stück wird
nur in den Erwachsenenrollen von Profischauspielern gespielt, die meisten Rollen
aber spielen jugendliche Laien (was sehr
gefährlich ist). Und dann schlägt man noch
alle Regeln der Unterhaltungskunst in den
Wind, verzichtet auf jede Spannungsdramaturgie und lässt die ganze Sache fast
drei Stunden dauern (was tödlich ist).
Vor allen Nächten
VON DARA HORN
gebannt an seinem Spiegelbild hängend.
Er griff nach einem elfenbeinernen Kamm
auf dem Schminktisch und ließ ihn durch
seine untadelige Frisur gleiten.
„Ja, der bin ich“, sagte Jacob. „Ich weiß
es über die Maßen zu schätzen, Mr Booth,
Sie hier aufsuchen zu dürfen.“ Er bemühte sich nach Kräften um einen gewinnenden und möglichst ehrerbietigen Ton.
„Ihr Sekretär hat mir mitgeteilt, es sei die
einzige Möglichkeit, Sie noch in dieser
Woche vor Ihrer Abreise nach Cincinnati
zu treffen. Ich kann Ihnen nicht genug für
Ihre Liebenswürdigkeit danken, mich zu
empfangen.“ Er trat ein paar Schritte auf
ihn zu und versuchte, seinen Krückstock
möglichst geräuschlos aufzusetzen.
„Nicht doch, nicht doch“, gab Edwin
Booth fast schon übertrieben zuvorkommend zurück. Er sprach noch immer zu
seinem Spiegelbild, lächelte und zwinkerte sich zu, als habe er eine junge Dame
vor sich, die um seine Gunst buhlte. Endlich wandte er sich grinsend zu Jacob.
Dann bemerkte er den Krückstock, die
Augenklappe und die Narben und fuhr
zusammen.
„Oh, bitte – bitte um Entschuldigung,
Mr – Mr Rappaport“, stammelte er. Seit
seiner Verwundung entschuldigten die
Menschen sich oft bei ihm, hatte Jacob
festgestellt, vielleicht für ihre gesunden
Augen und ihre kräftigen Beine. Edwin
Booth sprang auf und kaschierte sein Erschrecken mit einer flinken Verbeugung;
dann deutete er auf den Schemel, der ihm
als Sitzgelegenheit gedient hatte. „Nehmen Sie doch Platz.“
Als Jacob wieder laufen lernte, hatte er
stets abgelehnt, wenn ihm ein Platz angeboten wurde. Doch nach eineinhalb Jahren körperlicher Qualen glich er einer
zerbrechlichen Dame, die den Rittern dieser Welt auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war. „Danke“, sagte er und ließ
sich auf dem Schemel nieder. Edwin holte
sich aus einer Ecke eine leere Kiste, auf
die er sich Jacob gegenüber setzte. Es fiel
Jacob schwer, ihm in sein ebenmäßiges
Gesicht zu sehen. An allen Wänden ringsum hingen Spiegel, neben denen Lampen
brannten. Beim Blick durch den Raum
sah Jacob in jeder Richtung seine hässlichen Narben hundertfach vervielfältigt,
sein abstoßendes Äußeres ins Endlose
fortgesetzt.
„Mein Bester, Sie wissen sicher, dass
ich mich für gewöhnlich nicht mehr als
Das kann sich ein Theater nur leisten,
wenn es sich das leisten kann. In diesem
Fall kann es das, denn die Produktion
wird von enercity, dem Hauptsponsor des
hannoverschen Jugendtheaters, gefördert. Und dieser Sponsor lässt sich nicht
lumpen und bringt sogar eine CD mit heraus. Die ist im Programmheft eingeklebt
und recht sinnvoll, denn die Musik ist ein
wesentlicher Bestandteil der Produktion.
Die Kompositionen stammen von Sebastian Katzer, der auch die musikalische
Leitung hat, und von Jean-Michel Tourette, der ansonsten Bandmitglied und
Komponist von „Wir sind Helden“ ist. Die
Songs werden live von einer Rockband
gespielt, Nicolaas van Diepen, der den
Laszlo spielt, singt dazu. Er macht das
sehr gut, sein Körpereinsatz ist großartig; er könnte was werden am Theater.
Das gilt auch für Tim Ritter, der den
Freund Dario spielt, und für den 15-jährigen Jannis Burkardt, der als kleiner
Bruder des Rockstars auf der Bühne
steht. Aber es gilt eben nicht für alle. Es
ist leider so: Nicht alle sprechen so, dass
man ihnen gern zuhört – und das macht
die drei Stunden Spieldauer zu gefühlten
vier, fünf Stunden. Da rettet dann auch
der Text nichts mehr, dessen Pointen eher
sparsam gesät sind. Und die hilflosen
Regieeinfälle (Leute, die mit Wasser aus
Plastikflaschen herumspritzen, sind keine neue Theatererfindung) verlängern die
Sache noch unnötig.
Aber: Man hat immerhin etwas gewagt.
Und am Ende stehen lauter glückliche
junge Leute auf der Bühne. Man sieht
ihnen an, dass sie sich wohl ihr ganzes
Leben lang an diese Arbeit erinnern werden. Das ist das eigentlich Schöne bei solchen Produktionen.
unbedingt nötig mit Finanzdingen belaste“, tönte Edwin. Er hatte sich von Jacobs
hässlichem Gesicht abgewandt, sah wieder in den Spiegel über dem Schminktisch und tupfte sich Kölnischwasser hinter die Ohren. „Natürlich, die Firma gehört zur Hälfte mir, aber wie Sie sehen, ist
die Schauspielerei mein eigentliches métier“, sagte er großspurig, sprach die letzte Silbe allerdings wie „Tier“ aus.
Jacob betrachtete die hundert vollkommenen Köpfe in den Spiegeln ringsum
und dachte kurz an das ungeheure Talent
von Junius Booth, Edwins Vater. Ein Bastard hat sein Leben lang etwas zu beweisen. „In der Tat“, sagte Jacob.
„Was also haben Sie für mich in Aussicht?“, fragte Edwin. Er griff an Jacobs
Schulter vorbei und stellte das Kölnischwasser behutsam zurück auf den
Schminktisch, zwinkerte sich ein weiteres Mal im Spiegel zu und beugte sich, die
Hände auf die Knie gestützt, zu seinem
Besucher hin. Einhundert schöne Duplikate beugten sich mit ihm vor und forderten Jacobs Hässlichkeit zum Duell.
Jacob dachte daran, wie Jeannie zu ihm
gesagt hatte, er sei ein miserabler Schauspieler. Er blickte in die Spiegel an den
Wänden, auf die endlosen Narben und
Augenklappen. Miserable Schauspielkunst war das Beste, was er im Augenblick zu bieten hatte, und seine Zukunft
hing davon ab. „Die Gelegenheit, der Sache der Freiheit zu dienen“, verkündete er
wie von einer Bühne herab, griff in die
Tasche und zog den Ring heraus.
Edwin Booth warf einen Blick darauf
und nahm ihn dann zwischen Daumen
und Zeigefinger. Zurückgelehnt besah er
sich die Gravierung auf der Innenseite.
Sein dunkler Schnurrbart zuckte. Jacob
bemerkte, wie jegliche Verstellung von
ihm abfiel.
„Den haben Sie von John, stimmt’s“,
sagte Edwin Booth schließlich mit gedämpfter Stimme.
John Clarke, nahm Jacob an. Er hatte
sich vorgenommen, so wenig wie möglich
zu sagen, stattdessen zuzuhören und dann
mit äußerster Umsicht zu entscheiden,
wie er die Sache am besten anging. „Ja,
von John“, gab er zurück. Die Sorge, dass
seine Gefühle aus seiner Miene abzulesen
sein könnten, hatten Narben und Augenklappe ihm abgenommen.
Edwin Booth holte tief Luft und starrte
auf sein Spiegelbild in den ringsum aufgehängten Spiegeln. Plötzlich sprang er
auf und warf den Ring zu Boden. Jacob
sah verdutzt zu, wie er umherkollerte, die
Spitze seines Stocks streifte und daneben
liegen blieb.
Weitere Aufführungen am 31. Oktober,
1., 10., 12. und 22. November im Ballhof 1,
Karten: (05 11) 99 99 11 11.
Fortsetzung folgt
Dara Horn, Vor allen Nächten.
Der Roman erschien im Berlin Verlag.
Aus dem Amerikanischen von
Christiane Buchner und Martina Tichy.
© 2009 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin
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