Warten auf die Buntspechte

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Warten auf die Buntspechte
Liebe Liese
Sie fliegen seit Tagen schon hier im Gestrüpp vor meinem Fenster herum, immer zu zweit. Tauchen plötzlich auf, klettern behände die von Jahr zu Jahr dicker werdenden Stämme des Haselstrauchs hinauf, auf und ab, sind immer in
Bewegung. Ich nehme sie wahr, am Rande meines Bewusstseins. Rote Farbkleckse leuchten mir aus dem sonst weissen und schwarzen Gefieder entgegen. Ab und zu klopfen sie mit dem Schnabel an die Rinden. Was sie wohl darunter finden?
Die Buntspechte sind verhältnismässig grosse Vögel
und für mich klar erkennbar durch ihre auffälligen
Farben, vor allem die roten Unterschwanzdecken.
Spechte sind im Körperbau hervorragend an die ihnen
eigentümliche Lebensweise angepasst:
Köperschwerpunkt, Stützschwanz und Krallen
ermöglichen das Klettern an senkrechten Stämmen;
Schnabel und stossgedämpfter Schädel machen das
Holzhacken für Höhlenbau und Nahrungssuche
möglich; die extrem lange Zunge ist eine klebrige Harpune und ermöglicht das
Hervorholen von Raupen, Puppen und Insekteneiern aus Löchern und Spalten.
Daher sind Spechte bei Förstern sehr beliebt, dezimieren sie doch die Borkenkäfer effektiv. Der Buntspecht hat einen Ruflaut, ein scharfes „kick kick“, doch
er singt nicht, er trommelt. Dabei klopft er vor allem im Frühling regelmässig –
bis zu 10 Schlägen pro Sekunde – an dürre Äste oder andere schwingende Gegenstände. Dieses Trommeln hat nichts mit dem Klopfen bei seiner Nahrungssuche zu tun.
Ich spähe bei jeder Gelegenheit nach draussen und habe bereits allerlei Vögel
ausgemacht, die regelmässig im Garten nach Nahrung suchen: Haus- und
Feldsperlinge, Rotkehlchen, Amseln, Kohl- und Blaumeisen und Gimpel. Letztere sind wegen ihrer leuchtend roten Unterseite und ebensolchen Backen gut erkennbar. Ich sehe Gimpel, die Samen aus den Nachtkerzen klauben. Sie bewegen sich nie am Boden, sondern suchen immer eine höhere Warte, ein Zweig eines Strauches, eine hohe Staude. Es sind scheue Tiere, die sich
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beim Auftauchen von Menschen sofort zurückziehen. Ein weiches, verhaltenes
Pfeifen, ein „djüt djüt“ ist ihr Gesang.
Heute am Dreikönigstag hat der Südwestwind feuchtmildes Wetter gebracht,
hin und wieder eine Handvoll Sonnenschein. Ich sitze am Schreibtisch, meiner
Vogelwarte, die Finger startbereit auf der Tastatur und warte.
Kurz nach 15 Uhr hüpft ein Amselpärchen von Ast zu Ast. Das Männchen mit
auffällig frühlingshaft orangefarbenem Schnabel und schwarzem Gefieder. Das
aufgeplustert wirkende Weibchen ist durchgehend braun, am Rücken beinahe
schwarzbraun gefärbt, und verliert sich so fast vollständig zwischen den braunen, kahlen Zweigen und dem braunen Laub am Boden. Mimese nennt die Biologie diese Tarnung. Es wühlt den Boden auf, frisst hin und wieder etwas. Vorsichtig um sich lugend sucht es, gefolgt vom Männchen, undurchdringliches
Dickicht auf, entstanden durch einen zurück gestutzten Sanddorn und eine
darin verwachsene dichte Hainbuche. Das Tier entschwindet meinem Blick zwischen stacheligen Berberitzen und Tannenzweigen des Nachbargartens. Amseln brüten in Bäumen, Sträuchern und an Gebäuden. Sie ernähren sich von
Regenwürmern, Kerbtieren und Schnecken, die aus dem Boden gescharrt werden, im Winter hauptsächlich von Beeren und Früchten, die von Baum und
Strauch gepflückt werden.
15.16 Uhr. Eine Kohlmeise fliegt heran. Die
gelbe Unterseite mit einem dunklen, fast
schwarzen Mittelstreifen ist das eindeutige
Kennzeichen dieses spatzengrossen Vogels. Er
putzt sich lange und ausgiebig und ich betrachte ihn derweilen, die schwarze Zeichnung
des Scheitels, die bis zum Auge reicht und
sich im schwarzen Schnabel scheinbar
fortsetzt, die reinweissen Backen und die hellen Streifen in den Flügeln. Die
Kohlmeise fliegt weg, erscheint erneut, fliegt und hüpft bis zum dichten, stacheligen Wildrosenstrauch, putzt sich dort die Flügelunterseiten, putzt sich gar
die Brust, indem sie den Kopf nach hinten drückt und so den Schnabel nach
unten zur Brust bringt, schüttelt das Gefieder. Eine gute halbe Stunde geht
das so weiter.
Kohlmeisen fressen Kerbtiere von Zweigen und Ästen; Würmer, Schnecken am
Boden; Beeren und Samen. Bereits jetzt an diesem milden Januartag erklingt
ihr bekanntes Frühlingslied „zizibaäh“, das im alten Kinderlied „Zit isch do“ Anfangsreim und Tonfolge bestimmt.
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15.25 Uhr. Ein Rotkehlchen sucht wie immer
zuerst die unteren, bereits seit Jahren
abgestorbenen Äste des Wildrosengebüschs
auf. Rotkehlchen haben, wie der Name sagt,
eine orangerote Brust und Kehle. Das Braun
der Oberseite geht leicht ins Olive, die
Unterseite ist hell. Immer wieder hüpft es auf
den Boden und sucht dort Nahrung.
Rotkehlchen fressen Insekten, Spinnen, Schnecken und Würmer der Falllaubund Moosschicht, ferner Beeren und Früchte.
Der bis spät in die Dämmerung hinein tönende Gesang der Rotkehlchen
scheint uns lieblich und schwermütig. Mit ihm grenzt das Männchen sein Revier
ab, das es nachdrücklich gegen jeden Artgenossen verteidigt. Der kleine Individualist wirft sich dabei drohend in die Brust, so dass das Rot zur Geltung
kommt. Meist weicht dann der Gegner.
Eine Krähe fliegt im Tiefflug über den Garten.
15.35 Uhr. Zwei Distelfinken fressen Samen
der wilden Karde. Sie hocken dabei auf dem
Fruchtstand und klauben den Heissbegehrten
von oben her, indem sie sich immer wieder
vornüber bücken. Die stacheligen Blütenköpfe
der Karde schaukeln hin und her, die Finken
gleichen die Schwankungen mit Flügelschlägen aus. Obwohl die Karden etwas
weiter entfernt stehen, sind das rote Gesicht, die weissen Backen, das Gelbe
im Flügel und die sonst strukturreiche weiss-schwarze Zeichnung deutlich zu
sehen. Distelfinken gehören zu den farbenprächtigsten der einheimischen Vögel. Sie ernähren sich von Samen jeglicher Art, die sie vom Boden und den
Krautpflanzen direkt ablesen.
Da taucht ein mir unbekannter
Winzling auf. Scheint zuerst ähnlich
wie ein zu kleines Rotkehlchen,
schimmert leicht rötlich, brauner
Rücken, aber kein kugeliges
Köpfchen, grauer Schnabel und
hellgraue Kehle. Schlüpft in die
Lücke eines aufgeschichteten
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Asthaufens und verschwindet ganz darin. Flugs kommt er hervor und huscht in
die nächste Spalte im abgelagerten Geäst. Wenn ich nicht zufällig in diesem
Augenblick hinausgeschaut hätte – du musst wissen, dass ich dazwischen in
meinem Vogelbuch blättere – niemals würde ich den kleinen Vogel, ein Zaunkönig vermutlich, bemerkt haben.
15.52 Uhr. Zwei Spatzen mit aschgrauer Kopfoberseite, weisser Wange, hellbraunem Bauch und braungrauer Flügelzeichnung machen es sich ebenfalls im
katzensicheren Rosengewächs bequem. Es sind männliche Haussperlinge.
Sie hocken nur da, ganz ruhig, aufgeplustert. Sie wirken richtig bedächtig im
Vergleich mit der sich immer noch putzenden Meise in der Nähe und dem Rotkehlchen, das im dichten Unterwuchs der Hecke umherhüpft. Haussperlinge
fressen Samen und Insekten. Ihr Gesang ist ein Tschilpen, doch sie gehören
tatsächlich zu den Singvögeln.
15.57 Uhr. Das Amselmännchen taucht
erneut auf und bezieht „Stellung“ im
Haselstrauch. Noch wird es eine Weile dauern,
bis die Männchen mit ihrem weithin hörbaren
wohlklingenden Flöten zu hören sind. Mit diesem bezeichnen die Vögel ihr Territorium
gegenüber Artgenossen. Das Schlussmotiv
wird dabei mit geschlossenem Schnabel
gesummt und klingt wie ein entferntes Echo. Inzwischen fliegt das Männchen
zum Rosengebüsch, wo es eine grosse, verschrumpelte Hagebutte abpickt und
sie verschlingt, indem es den Kopf in die Höhe streckt und sich die grosse
Frucht in den Schlund gleiten lässt. Das Weibchen, das sich eifrig den Schnabel
an einem Zweig wetzt, entdecke ich jetzt im Kirschbaum daneben.
16.05 Uhr. Nun fliegt auch das Rotkehlchen den dornenreichen, katzensicheren Wildrosenstrauch an, wippt leicht mit dem Schnabel, hüpft ins Laub, hüpft
immerzu. Neunzig Prozent der Rotkehlchen verlassen im Winter unsere Gegend in Richtung Mittelmeerraum. Im Gegenzug erhalten wir Rotkehlchengäste
aus Nordosteuropa. Mittlerweile unterliege ich meinem Beobachtungsdrang.
Ich sehe Vögel, wo gar keine sind. Eine Umkehrung der Mimese gewissermassen. Das braunrote Laubblatt, das einsam an einem Ast hängt, wird zum Rotkehlchen, ein weiteres zum Gimpel, ein abgeschnittener Zweig, der dunkel,
fast schwarz im Gebüsch steht, zur Amsel. Damit ist erwiesen: die Tarnung der
Vögel funktioniert.
16.12 Uhr. Es herrscht ein grosses Hin- und Her. Nochmals tauchen die Distelfinken bei den Karden auf, das Rotkehlchen – so vermute ich, denn das
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entzieht sich meinem Blick – macht sich an verstreutem Hasenfutter gütlich
und bezieht daher immer wieder auf einem
kleinen Mirabellenbaum Stellung. Die Amseln
fliegen weg. Die beiden männlichen Spatzen
werden unruhig, fliegen hin und her,
erscheinen wieder, auch zwei weibliche
Haussperlinge treffen ein. Diese sind gut
getarnt. Mit ihrem braun gescheckten
Gefieder verschmelzen sie beinahe mit der
Umgebung. Sie suchen nach Futter, und scheinen jetzt vor allem ein paar
Knospen der Hasel zu vertilgen.
Plötzlich taucht der Buntspecht auf, fliegt die Eberesche an, wechselt zum
Kirschbaum und flugs zurück zum Hasel. So rot, so gross. Roter Bürzel, hellbeiger Unterbauch, roter und schwarzer Kopf, schwarz-weiss gemusterte Seitenstreifen. Fliegt weg – Spaziergänger stören ihn – fliegt auf einen etwa
zwanzig Meter entfernten Baum, wo sich nun beide Buntspechte befinden, wie
ich eben entdecke. Ihre dunklen Silhouetten flattern auf und ab, zwei, drei Atemzüge lang, dann sind sie weg.
‚Es ist 16.20 Uhr’, hacke ich mit erregter Freude in die Tasten. „Warten auf die
Buntspechte“, werde ich der lieben Liese schreiben. Das Warten hat sich gelohnt.
Verena
Quellen: Ich habe mich mit dem BLV Naturführer „Vögel“ und über
www.vogelwarte.ch klug gemacht, woher auch alle Fotos stammen.
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