Die Melancholie verschwundenen Glanzes

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FEUILLETON
Montag, 14. Mai 2012 ^ Nr. 111
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Neuö Zürcör Zäitung
KERLE UND WEIBSBILDER
Bergs «Wozzeck»
in der Oper Stuttgart
AN DEN GRENZEN DES NORMALEN
DAS LEERE CREDO
Zwei Theaterpremieren in
Das Ideal der Demokratie ist
Basel erkunden den Wahnsinn blind gegenüber der Realität
CAMPUS
Feuilleton, Seite 38
Feuilleton, Seite 38
Feuilleton, Seite 39
Seite 45
Geisteswissenschafter
und ihre Chancen auf Jobs
Wie aus dem grossen Buch der Italien-Sehnsucht – Willard Leroy Metcalf: «Pelago-Tuscony», 1913, Öl auf Leinwand.
PALAZZO STROZZI, FLORENZ
Die Melancholie verschwundenen Glanzes
Amerikanische Impressionisten in Florenz – eine Ausstellung im Palazzo Strozzi
Die Ausstellung «Amerikaner in Florenz.
Sargent und die Impressionisten der
Neuen Welt» im Palazzo Strozzi thematisiert Bezüge amerikanischer Künstler des
19. Jahrhunderts zur Renaissancestadt.
Die Melancholie der Stadtkultur mit grosser Vergangenheit übte einen starken Reiz
aus auf die Besucher.
Gabriele Detterer
Licht, Sonne, Natur, die Farben wechselnder
Tagesstimmungen – all das bietet die toskanische
Landschaft zwischen Tyrrhenischem Meer und
Apennin dem Auge überreichlich. Zumal im Frühling fächern sich Grüntöne auf, und in den Hügeln
rund um Florenz zerspringen grobe Farbdifferenzen zwischen Hell und Dunkel, zwischen dem Silbergrau der Olivenbäume und dem Schwarzgrün
der Zypressen, in unzählige Zwischentöne. An
den von der impressionistischen Malerei bevorzugten Sujets und dem Stoff, aus dem sich lichtvolle Farbklänge komponieren lassen, mangelt es
wahrlich nicht.
Porträtisten
Wer aber John Singer Sargents Gemälde «Hotelzimmer» (1904–1906), das die kunst- wie kulturgeschichtlich ausgerichtete Schau «Americans in
Florence» einleitet, als Versprechen liest, gleich
nach der Ankunft in die freie Landschaft entführt
zu werden und dort starke Emotionen des Farbensehens zu fühlen, der muss sich gedulden. Denn
amerikanische Maler, die Ende des 19. Jahrhunderts in Florenz wirkten, waren vor allem auch Porträtkünstler, allen voran der auf diesem Sektor
sehr erfolgreiche John Singer Sargent. Somit präsentiert die Ausstellung im Palazzo Strozzi eine
Menge an ritratti, Porträts, und ebenso Genremalerei, welche nostalgische Stimmungsbilder zur Anschauung bringt.
Es ist offensichtlich: Die Melancholie einer
Stadtkultur mit genialer Hochkunst, deren Glanzzeit unwiederbringlich vorbei war, nahm die Maler
der Neuen Welt gefangen; das Alte drängte sich
dem Blick mit Macht auf. «Old things, old places,
old people, or at least old races, ever strike us as
giving out their secrets most freely in such moist,
grey, melancholy days», notierte Henry James in
«Italian Hours» (1909). Und in welchen Refugien
sich diese Zeitvergessenheit aufs Angenehmste
kultivieren liess, beschrieb Edith Wharton in ihrem
Buch «Italian Villas and Their Gardens» (1904).
Aus der Grotte in den Olivenhain
Nur wenige «Americans in Florence» gingen das
Wagnis ein, sich von dem in Florenz unumstösslichen Primat des disegno und dem Akademismus
zu verabschieden. Den tradierten Bildbegriff zu
überwinden und der Nostalgie zu entsagen, war
aber Voraussetzung dafür, sich voll und ganz der
Farbe hinzugeben und einem Neubeginn zu vertrauen, dessen Richtung Camille Pissarro und
Claude Monet ab 1870 vorgaben.
Selbst John Singer Sargents Gemälde «Torre
Galli» (1910), auf dem die Farben des Gartens zerfliessen und sich die weissen Roben der Ladys zu
schaumigen Wellen bauschen, entpuppt sich bei
genauerem Hinsehen als «Einbahnstrasse», auf
der man gegen Mauern stösst: Die Perspektive
weist auf eine Grotte mit einer zugehörigen Skulptur, und das Fluide des Farbauftrags findet sich gebändigt durch eine konventionell geordnete
Raumvorstellung.
Endlich! – Das malerische Spätwerk von William Merritt Chase (1849–1916) lässt genau die
innere Erregung verspüren, die beim Betrachten
impressionistischer Malerei aufsteigt und die Sehnerven aufs Angenehmste reizt: verfolgen zu können, wie der Maler den Realismus überwindet und
mit Licht, Schatten und feinen Farbabstufungen
die Konstanz statischer Formen und Linien auflöst.
1909 malte Chase die Orangerie der Villa Silli, und
ein Jahr später übertrifft er mit der auf der Haut zu
spürenden Licht- und Farbwirkung des «Olivenhains» das impressionistische Gemälde «Santa-Trinità-Brücke» (1897) von Frederick Childe Hassam
(1859–1935).
Zeichnung und Fotografie
Zahlreiche in die Reihe der Gemälde eingefügte
Landschaftszeichnungen von Joseph Pennell (1857
bis 1926) unterbrechen und stören die Bildwirkung
der von Linienstruktur befreiten colori und der Zufallsmuster von Lichtreflexen und Schattenflecken.
Die mit dem Zeichenstift festgehaltenen Villen und
Landschaften kommunizieren Gewissheiten und
bringen bildnerisch die Eindrücke der Maler der
Neuen Welt vom Leben in der Toskana zu Papier.
Auch gross aufgezogene «Kodaks» der Künstlerin
Ernestine Fabbri (1863–1941) betonen Erinnerungen an das social life in Tuscany und bilden einen die
Bewegtheit und die im Sonnenlicht flirrenden Farben der impressionistischen Malerei ausbremsenden Gegenpol. Denn das reale Momentum, das die
Fotografie festhält, unterscheidet sich doch sehr
vom Phänomen der Flüchtigkeit der Farbsensationen, die impressionistische Malkunst evoziert.
Gänzlich unbewegt muten die Gemälde der
Sektion «Der Kult der Renaissance» an. Bildsymbolik stülpt den Zyklen des Werdens einen
Ewigkeitscharakter über und profanisiert die Kul-
turlandschaft. «Der Mönch» (George Inness, 1873)
beweist, wie gross das Verlangen amerikanischer
Italienreisender nach Bildern mystischer Erfahrung war und nach einem Erleben von Dauer, die
dem gegenwartsbezogenen Wirklichkeitsbegriff
Amerikas entgegengesetzt ist.
Fraglos erschwerte es die florentinische Kunsttradition des disegno, sich für eine neue Ästhetik
prozesshafter Farbeninteraktion zu öffnen und sich
vom Objektcharakter der Darstellung zu verabschieden. So macht die retrospektive Sicht auf das
Wirken amerikanischer Maler in Florenz einen tiefen Zwiespalt deutlich: Einerseits trachtete man
danach, am Geburtsort der Renaissance das Werk
grosser Meister zu studieren und intensiv zu erforschen, wie es der Renaissance-Kenner Bernard
Berenson (1865–1959) in seiner Villa I Tatti vorlebte, andererseits wollte man sich nicht den von
Frankreich ausgehenden, progressiven Kunstbewegungen verschliessen.
Vibrierende Farben
Vom Aufbruch hin zur Auflösung scharf konturierter Gegenständlichkeit in bewegte Farben so richtig gepackt und aufgewühlt wurde neben William
Merritt Chase der in Paris ein Studienjahr absolvierende Künstler Frank Weston Benson (1862–1951).
Er gehört zu denjenigen Malern der Neuen Welt,
die das Vibrieren der Farben in Bildkomposition
umsetzten und sich nach ihrer Heimkehr als Protagonisten des amerikanischen Impressionismus
exponierten. Bensons Gemälde «Sisters» (1899) ist
Form in Bewegung und entfaltet als Endpunkt der
Ausstellung mit irisierenden Farben den Zauber
fluider Bildlichkeit.
Americans in Florence. Sargent and the American Impressionists.
Palazzo Strozzi, Florenz. Bis 16. Juli 2012. Katalog € 45.–.
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