Soziale Dynamik im Stadtraum

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Erschienen in gekürzter, redigierter Form in „Nachrichten und Stellungnahmen der ksoe“ 9/2015, 1‐2 Soziale Dynamik im Stadtraum
Christoph Reinprecht Städte sind Knotenpunkte sozialen Wandels und zugleich Projektionsflächen für Idealvorstellungen gesellschaftlichen Zusammenlebens. Städte ziehen Menschen an, in Hoffnung auf bessere Lebenschancen. Stadtluft macht frei, lautete ein Slogan des 19. Jahrhunderts. Auf die neu Zugezogenen warteten freilich meist triste Lebensbedingungen. So wie in den Megalopolen der Gegenwart; von einem „Planet der Slums“ spricht der US‐amerikanische Stadtforscher Mike Davis (2006). Wer heute, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, durch Europas Städte reist, begegnet selten massenhafter Verelendung. Bemerkbar werden hingegen verschiedene Formen von Segregation (sozialräumliche Trennung von Bevölkerungs‐
gruppen entlang struktureller Merkmale wie Sozialstatus oder demographischen bzw. kulturellen Kriterien) oder auch von sozialer Ausschließung (etwa Wohnungslosigkeit). Geraten diese Phänomene stärker in den Blick (sozial oder ethnisch homogen Bewohnerschaft, deviantes Verhalten), werden sie in Widerspruch zu den internalisierten Vorstellungen einer „integrierten“ und „sozial durchmischten“ Stadt wahrgenommen. Vor diesem Hintergrund sind die Diskurse über die „Krise der Stadt“, „Pariser Vorstädte“ oder „Ghettoisierung“ zu sehen. In den Fokus geraten ganze Stadtviertel und/oder die dort lebenden Bevölkerungsgruppen, in Wien „der Gemeindebau“. Die soziale Realität des Städtischen entzieht sich solch vereinfachenden Zuschreibungen. Aktuelle Formen von Ungleichheit sind einerseits vielfältiger und fragmentierter, andererseits weniger gut sichtbar und können mit herkömmlichen Konzepten wie Segregation oftmals nur unzureichend erfasst werden. Unmittelbar ins Auge fällt die wachsende Diversität der Bevölkerung und von urbanen Milieus, kaum verborgen sind die Veränderungen am Arbeits‐ und Wohnungsmarkt und, damit verbunden, das Nebeneinander von Ressourcenfülle („goldenes Quartier“, exklusive Dachbodenausbauten) und Ressourcenknappheit (Armut, Obdachlosigkeit), von Aufwertung („Gentrifizierung“) und Entleerung (Verdrängung lokaler Versorgungs‐ und Kleingewerbestrukturen). Weniger sichtbar sind die prekären, häufig ins Informelle gedrängten Arbeits‐ und Wohnformen, transnationale Lebenszusammenhänge, die zunehmenden ausgefeilten Kontrolltechniken im öffentlichen Raum, die symbolischen Schließungen entlang sozio‐kultureller oder ethnischer Grenzziehungen, die nur schwer auszumachenden, verborgenen Überlebensnischen der Ausgegrenzten und Verarmten. Aktuelle stadtpolitische Diskurse bewerten diese Tendenzen sehr unterschiedlich: Den Topoi von sozialer Polarisierung und Ausgrenzung (infolge der Entwicklungen am Arbeits‐ und Wohnungsmarkt) stehen Begriffe wie „neue Gründerzeit“ oder „Weltoffenheit“ gegenüber. In den Metropolen der Gegenwart, so formulierte Ulrich Beck, herrschen „Vielfalt, Differenz, unabschließbare Globalität, die Bejahung von Ambivalenz, Ironie“ (Beck 1995, 121). Die Frage nach der Realität des Städtischen ist so gesehen eine Frage nach ihrer sozialen Dynamik, was konkret bedeutet: nach dem urbanen Zusammenleben und dem Umgang mit Migration und Mobilität. Am Beispiel einer Stadt wie Wien kann dies verdeutlicht werden: Die soziale Dynamik dieser Stadt resultiert unter anderem aus der erwarteten Nettozuwanderung und dem damit einhergehenden Städtewachstum: Nach aktuellen Berechnungen wird noch vor 2030 die Zweimillionen‐Grenze überschritten (Magistrat Stadt Wien 2014). Selbst wenn der zusätzliche Bedarf an Wohnraum und Arbeitsplätzen gedeckt werden kann, werden die Prozesse von Migration und Mobilität selektiv verarbeitet. So etwa sind die Zugangschancen im Wohnungs‐ und Arbeitsmarkt für Zugewanderte (aber auch innerhalb der Kategorie der Zugewanderten) ungleich verteilt, wofür rechtliche Regelungen, aber auch institutionalisierte Praktiken der Benachteiligung verantwortlich gemacht werden können. Ungleichheiten und Benachteiligungen können sich jedoch nur verstetigen, weil sie durch soziale Interaktionen (mit)erzeugt und reproduziert werden. Ein Beispiel wären typisierende und generalisierende Zuschreibungen, die im Kontext sozialen Wandels mobilisiert werden, um das Unbekannte und Unvertraute einzuordnen. Die sozialen Repräsentationen, die diesen Zuschreibungen zugrunde liegen, sind zumeist alltagsideologisch verankert (ein Beispiel wäre die politisch häufig instrumentalisierte Neigung zur Ethnisierung von sozialen Unterschieden); sie können in Interaktionszusammenhängen jedoch auch reduziert oder sogar aufgebrochen werden. Die Frage nach dem Zusammenleben in der Stadt richtet sich deshalb stets auf die Stadt als einen dynamischen und konflikthaften Handlungs‐ und Interaktionszusammenhang.
In einem Forschungsprojekt zu den Folgen aktueller sozialer Veränderungsprozesse im Wiener Stadtraum, für das mehrdimensionale Sozialraumanalysen in insgesamt acht Wiener Stadtgebieten durchgeführt wurden (vgl. Reinprecht et al. 2010; Rode et al. 2010) konnten verschiedene Beispiele für die Stadt als dynamischer und auch konflikthafter Handlungs‐ und Interaktionszusammenhang beobachtet werden. Ziel des Projektes war es zu zeigen, dass sich hinter scheinbar gleichförmigen sozial‐statistischen Tatbeständen unterschiedliche sozialräumliche Realitäten und „Dynamiken“ verbergen können, die verstärkte Ungleichheit, potentiell aber auch neue Formen des Zusammenlebens hervorbringen. Prozesse des Stadtwandels, die beispielhaft untersucht wurden, waren Tendenzen einer „innerstädtischen sozialräumlichen Peripherisierung“, womit eine institutionelle Entleerung infolge der Schaffung lokaler Einkaufszentren und gleichzeitigem Zuzug einkommensschwacher Gruppen bezeichnet wird; die „Transformation innerstädtischer Großwohnhausanlagen“, die auf einen Spannungs‐ und Konfliktaufbau im Kontext des Wandels der BewohnerInnenschaft in Gemeindebauten im Verhältnis zum Wandel angrenzender Stadtteile hinweist; die „Fragmentierungen in Stadtrandgebieten“ durch kleinräumige Schließungsprozesse entlang von Lebensstilen und sozialer Mobilität; oder der „Stadtraum als Integrationsmaschine“, womit ein stadtteilspezifisches Vermögen zur Verarbeitung von Migration und Mobilität angesprochen ist. Was diese Fallbeispiele verbindet, ist nicht nur die Einsicht, dass soziale Differenzierungen und Spaltungen sich mitunter sehr kleinräumig manifestieren; sondern dass sich über die Analyse der damit verbundenen Spannungs‐und Konfliktpotentiale auch Handlungs‐und Entwicklungspotentiale sichtbar gemacht werden können. Dies soll abschließend an einem Beispiel, nämlich der Transformation innerstädtischer kommunaler Großwohnhausanlagen gezeigt werden. Die Transformation kommunaler Großwohnhausanlagen wird medial stark bearbeitet, nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem Erfolg rechtspopulistischer Wahlkampagnen. In der Analyse des von uns erhobenen empirischen Materials (Befragungen, Spontaninterviews, partizipative Workshops) werden markante Grenzziehungen und Hierarchisierungen sichtbar, und zwar sowohl entlang von innen‐ als auch außengerichteten „Wir‐Sie‐Achsen“: nach innen zwischen länger Wohnhaften und Neuzugezogenen; nach außen zwischen der Wohnhausanlage und dem Wohnumfeld. Der Konflikt zwischen Etablierten und Außenseitern in der Anlage geht einer mit der Umdrehung der hierarchischen Beziehung zwischen Gemeindebau (früher dominant) und umgebendem Gründerzeitstadtteil (früher eher arm, jetzt in Aufwertung). Der soziale Wandel verändert nicht nur die Beziehungen im Innenverhältnis, sondern auch im Außenverhältnis. Dieser Wandel wird als „Entzauberung“ bzw. „Säkularisierung“ des Gemeindebaus erlebt und verstärkt aufs erste das Gegen‐ und Nebeneinander der verschiedenen Kategorien der BewohnerInnenschaft. Sicherheit wird zum Zentralthema. Dahinter verbirgt sich jedoch weniger Sicherheit als Schutzbedürfnis, sondern die Erfahrung von Ungewissheit. Während etablierte BewohnerInnen die Situation als bedrohlich und Verlust interpretieren und dazu tendieren, institutionelle Akteure anzurufen, wählen neu Zugezogene, für die der Umzug oftmals einen Statusgewinn bedeutet, eher Strategien sozialer Kontaktaufnahme oder der Binnenintegration (Gemeinschaftsbildung). Ein negatives Framing des Gemeindebaus im medialen Diskurs trägt dazu bei, diese Situation zu stabilisieren. Worauf können sich neue Formen des Zusammenlebens stützen? Mehr noch als diskursive Strategien (positive Deutung einer entzauberten Vergangenheit und einer „Normalisierung“ des Gemeindebaus) scheinen im Spiegel der Ergebnisse unserer Forschungen zwei Ansätze besonders relevant: Eine integrative Sanierung und Stadtteilentwicklung, welche die Kluft zwischen Gemeindebau und Stadtumfeld aktiv bearbeitet; sowie, damit durchaus in Zusammenhang stehend, eine Investition in „gehegte Konflikte“ (Dubiel 1995). Nach Albert O. Hirschmann (1994, von ihm stammt dieser Ausdruck ursprünglich) gilt es allerdings zwischen teilbaren und unteilbaren Konflikten zu unterscheiden. Während teilbare Konflikte (etwa Verteilungskonflikte) gehegt werden können, ist dies bei unteilbaren Konflikten (etwa Identitätskonflikten) sehr viel schwerer möglich, da sie sich einer demokratischen Verfahrenslogik entziehen (was auch die Begrenztheit partizipativer Ansätze erklärt). Welche Perspektive bietet sich dann aber an? Quer zu den Kategorien der Bewohnerschaft existiert in den von uns untersuchten Feldern ein Wunsch nach mehr Präsenz: Ernstnehmen und Bearbeiten von Sorgen; Zugehen und Moderieren von Konflikten, die teilbar und somit hegbar sind; Schaffung neuer Anerkennungsorte, die für alle offen sind. Nach Friedman (2000, 122) liegt der Schlüssel für eine offene Stadt in einer “autonomous, self‐organising civil society, active in making claims, resisting and struggling on behalf of the good city within a framework of democratic institutions”. Zitierte Literatur Beck, Ulrich (1995). Die offene Stadt. Architektur in der reflexiven Moderne. In ders., Die feindlose Demokratie. Ausgewählte Aufsätze. Stuttgart, 121–130. Davis, Mike (2006). Planet of Slums. London/ New York 2006. Dubiel, Helmut (1995). Gehegte Konflikte. Merkur, Heft 12, 1095‐1106. Friedman, John. 2000. The Cood city: in defense of utopian thinking. International Journal of Urban and Regional Research, Vol. 24(2), 460‐472. Hirschmann, Albert O. (1994). Social Conflicts as Pillars of Democratic Market Society. Political Theory, Vol. 22 (2), 203‐218. Magistrat der Stadt Wien (2014). Wien wächst… Statistik Journal 1/2014. Reinprecht, Christoph, Datler, Georg, Keckeis, Carmen, Kurtev, Angelina (2010). Soziale Dynamik im Stadtraum. Stadtraumanalysen in 8 Wiener Wohngebieten. Unveröffentlichter Forschungsbericht. Wien. Rode, Philipp, Schier, Helge, Giffinger, Rudolf, Reinprecht, Christoph (2010). Soziale Veränderungsprozesse im Stadtraum. Wiener Sozialraumanalyse mit Vertiefung in acht ausgewählten Stadtvierteln. Werkstattbericht 104. Wien: MA 18 Stadtentwicklung und Stadtplanung.
Christoph Reinprecht, Institut für Soziologie, Universität Wien 
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