Unser Darm - Das zweite Gehirn

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MANUSKRIPT
SENDUNG: 24.07.2015
9.05 UHR / B 2
TITEL:
Uns Darm - Das zweite Gehirn
AUTOR:
Hellmuth Nordwig
REDAKTION:
Susanne Poelchau
PRODUKTION:
Sabine Kienhöfer
SPRECHER:
GESPRÄCHSPARTNER: Prof. Dirk Haller, Lehrstuhl Ernährungswissenschaft und Immunologie, TU München; Dr. Gabriele Möller, Dr. Peter Achenbach und Dr. Wolfgang zu Castell, alle
Helmholtz-Zentrum München; Dr. Dae-Wook Kang, Arizona State University; Prof. Thomas
Baghai, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Regensburg
ED 16. September 2014
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MUSIK darüber:
Sprecherin:
Zu jeder Zelle unseres Körpers kommen zehn weitere, die gar nicht von uns selbst
stammen: Bakterien. Ein unvorstellbares Gewimmel in unserem Mund, der Nase und
den Ohren, auf den Schleimhäute und der Haut - und nicht zuletzt im Darm.
Nicht nur für die Verdauung ist unsere Darmflora unverzichtbar. Die Einzeller halten das
Immunsystem in Schach und sorgen möglicherweise sogar dafür, dass wir geistig
gesund bleiben. Noch wissen Forscher wenig über diese Zusammenhänge. Denn eine
Inventur der Darmbakterien hat gerade erst begonnen.
Musik hoch
Sprecher: Der Darm - Das zweite Gehirn. Eine Sendung von Hellmuth Nordwig.
MUSIK hoch
O-Ton 1 - Haller 0:35
Also ich würde fast von mir behaupten: Ich war einer der ersten überhaupt, die jedenfalls in Deutschland an dem Thema gearbeitet haben. In meiner Doktorarbeit damals,
2000, ging es schon um Bakterien im Darm. Damals war das noch alles andere als akzeptiert 1:28 aber ich bin schon sehr lange dabei. 15 Jahre geht die Fragestellung
schon. (25")
Sprecherin:
Dirk Haller, Ernährungswissenschaftler und Professor an der TU München. Mikrobiom
nennen Fachleute die gesamte Welt der Bakterien, die sich in und auf unserem Körper
tummeln. Im Jahr 2008 hat ein großer Zensus dieser Einzeller begonnen, das "HumanMikrobiom-Projekt". Möglich ist es erst dank einer technischen Revolution in den vergangenen Jahren: Forscher können heute das komplette Erbmaterial von allen Mikroorganismen entschlüsseln, die zum Beispiel in einer Stuhlprobe enthalten sind - auch
ohne die einzelnen Bakterien vorher anzuzüchten. Das erlaubt zum ersten Mal einen
genauen Blick in eine Welt, die für die Forschung bis dahin unzugänglich war.
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O-Ton 2 - Haller 2:15
Der Darm ist das dicht besiedeltste Organ, das wir kennen. Es scheinen dort
ganz hervorragende Umweltbedingungen für das Wachstum dieser Bakterien
zu sein. Und jetzt wird in großem Stil charakterisiert, um rauszufinden, welche
Bakterien sind da drin. Da sind viele, die man da findet, unbeschrieben. Es lassen sich maximal 50 Prozent überhaupt nur kultivieren. Das heißt: Im Grunde
genommen ist das erst der Startpunkt. (30")
Sprecherin:
Deshalb wissen die Wissenschaftler bis jetzt noch nicht allzu viel über die Vielfalt der
Mikroben, die sich in unserm Darm tummeln, auf der Fläche von zwei Tennisplätzen.
Aber ein paar Dinge sind in den letzten Jahren doch klar geworden. Erstens: Jeder von
uns beherbergt mindestens zwei- bis dreihundert verschiedene Bakteriensorten in seinem Verdauungstrakt, wahrscheinlich sind es eher tausend. Und zweitens: Die genaue
Zusammensetzung dieses mikrobiellen Cocktails ist von Mensch zu Mensch verschieden. Es kommt also nicht darauf an, dass wir ganz bestimmte Bakterien im Darm haben; nur ein paar Ausnahmen bestätigen dieser Regel. Wichtig ist die Vielfalt - und dass
die Gemeinschaft der Einzeller in der Lage ist, uns gesund zu erhalten.
MUSIK unter folgendem Taxt lassen
Sprecherin:
Vor der Geburt wird der Fötus über die Nabelschnur ernährt - der Darm ist da noch
nichts anderes als ein leerer Muskelschlauch und ganz frei von Mikroorganismen. Das
ändert sich in dem Moment, in dem wir geboren werden: Noch vor dem ersten Schrei
wird das Baby von den Bakterien aus Vagina und Darm der Mutter geradezu eingehüllt.
Das ist der Anfang unseres eigenen Darm-Mikrobioms.
Musik hoch
O-Ton 3 - Achenbach 24:40
Ja klar! Das Kind hat ja den Mund offen. Und da werden jede Menge Keime
sozusagen eingesammelt auf dem Weg nach außen. (8")
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Sprecherin:
Peter Achenbach ist Arzt und forscht am Helmholtz-Zentrum München. Eine Frage
beschäftigt ihn besonders: Wie kommt es, dass manche Kinder schon in jungen Jahren
zuckerkrank werden? Gibt es möglicherweise einen Zusammenhang mit der Darmflora?
Deshalb hat er Stuhlproben von Kindern untersucht - denn in denen stecken die bakteriellen Lebensgemeinschaften des Darms.
O-Ton 4 - Möller 2:35
(Atmo Treppenstufen / Schritte) 3:12 Man nutzt hier alle Räume aus, um Lagerraum zu schaffen …
darüber Sprecher: Die Biochemikerin Gabriele Möller führt ins Allerheiligste des Helmholtz-Zentrums. Im zweiten Stock stehen viele Gefriertruhen. Hier bewahren die Forscher unzählige Blut-, Urin- und Stuhlproben auf, von Gesunden und Kranken, teilweise
seit Jahrzehnten. Eingefroren in kleinen Plastikröhrchen.
(Tür / Atmowechsel)
… Hier die konventionelle Lagerung, Gefrierer, Tiefkühltruhen, die bis minus 80
Grad teilweise gehen. Die sind abgesperrt, weil … unbefugt eigentlich keiner
reinkommt, aber vielleicht eben doch. (9:22 Schloss) 9:53 Das Ganze ist an eine Notfallüberwachung angeschlossen Gerade letztens ist uns eine ausgefallen. Und dann ist geregelt, dass man Gefriertruhen als Ersatz zur Verfügung
hat, sodass man schnell umlagern kann und die Proben dann nicht verloren
sind. (ca. 1')
Sprecherin:
Mit großem Aufwand sorgt das Helmholtz-Zentrum dafür, dass den Hunderttausenden
winziger Gefäße auch ja nichts passiert. Denn das Material ist äußerst wertvoll für die
Forschung. Zum Beispiel für Peter Achenbach, der auf 300 Stuhlproben von Kindern
zurückgreifen konnte, die andere Forscher in den Jahren 2000 bis 2006 gesammelt hatten. Alle Kinder trugen Risikogene für Diabetes, doch nur die Hälfte von ihnen wurde
tatsächlich zuckerkrank. Liegt der entscheidende Unterschied im Darm?
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Um diese Frage zu klären, haben die Wissenschaftler in jeder Probe ein paar hundert
unterschiedliche Bakterien untersucht – das bedeutete nicht nur viel Arbeit, sondern es
kam auch einiges an Daten zusammen. Deshalb hat sich der Arzt mit einem Mathematiker zusammengetan.
O-Ton 5 - zu Castell 1:26
Es ist ja nicht nur so, dass wir viele Darmbakterien haben und auf Grund dessen eine große Menge da ist, die zu untersuchen ist, sondern dass eben auch
die Interaktionen, die dort stattfinden, sehr komplex sind, sodass wir mit einer
einfachen Statistik hier nicht viel weiter kommen. (15")
Sprecherin: Wolfgang zu Castell, ebenfalls vom Helmholtz-Zentrum München, ist
Spezialist für Netzwerke, Beziehungen, Wechselwirkungen. Genau das braucht es,
wenn man die Darmflora verstehen will.
O-Ton 6 - zu Castell 2:20
Mich persönlich interessieren komplexe Systeme per se. Da ist es im ersten
Moment egal, ob es Darmbakterien sind, die miteinander interagieren.Wir versuchen aus Daten, die wir bekommen, die Interaktionsmuster herauszubekommen. (23")
Sprecherin: In diesem Fall die Wechselwirkungen zwischen den Darmbakterien. Das
Ergebnis der Studie, kurz zusammengefasst: Kinder mit Diabetes haben auf den ersten
Blick genauso viele verschiedene Einzeller im Darm wie ihre gesunden Altersgenossen.
Es gibt keine Bakteriengattung, die typisch ist für Diabetes - und es gibt auch keine, die
bei allen zuckerkranken Kindern fehlt. Aber auf den zweiten Blick lässt sich eben doch
ein Unterschied erkennen. Peter Achenbach:
O-Ton 7 - Achenbach 18:10
Dass offensichtlich die Kommunikation unter diesen verschiedenen Bakterien
unterschiedlich ist bei den Kindern, die krank werden im Vergleich zu den Kindern, die diese Entwicklung nicht machen. (14")
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Sprecherin: Die Kommunikation zwischen den Bakterien läuft zum Beispiel über Botenstoffe und andere biochemische Signale. Da bilden sich ganze Netzwerke: Wer
kennt wen, wer arbeitet mit wem zusammen, welche Einzeller senden Botschaften aus,
und wer sagt "gefällt mir", wenn er eine solche Nachricht bekommt? In unserem Darm
gibt es tatsächlich eine Art „Bakterien-Facebook“, haben die Münchner Forscher herausgefunden. Und wie beim sozialen Computernetzwerk kommt es nicht in jedem Einzelfall darauf an, wer da nun ganz genau zu den Freunden zählt. Entscheidend ist, was
das Netzwerk insgesamt bewirkt. Wie es zum Beispiel das Immunsystem beeinflusst.
Genau darauf scheint es beim Typ-1-Diabetes anzukommen.
O-Ton 8 - Achenbach 19:00
Die Hypothese hier ist ganz klar: dass gerade in der frühen Phase der Entwicklung des Immunsystems, gerade wenn dieser Prozess bei den kleinen Kindern
losgeht, der nachher letztendlich zum Typ-1-Diabetes führt - in dieser frühen
Phase vermuten wir, dass da ein Zusammenspiel zwischen Immunsystem und
bakterieller Besiedelung im Darm eine Rolle spielt. Und zwar in der Form, dass
die Bakterien im Darm das Immunsystem trainieren, sodass das Immunsystem
eben nicht mit voller Aggressivität gegen alles, was aufgenommen wird, gleich
mit Entzündung reagiert. (40")
Sprecherin:
Beim Typ-1-Diabetes läuft etwas schief bei diesem Training des Immunsystems. Die
Abwehr richtet sich nämlich doch gegen körpereigene Zellen - diejenigen, die in der
Bauchspeicheldrüse Insulin produzieren. Dieses Stoffwechselhormon fehlt dem Körper
dann, und das Kind wird zuckerkrank. Sein Immunsystem hat also nicht gelernt, dass
die Bauchspeicheldrüse nichts Fremdes ist, und es bekämpft sie deshalb. Eine Ursache
könnte sein, dass die Körperabwehr in der frühen Kindheit mit einem anderen Bakterien-Netzwerk zu tun hatte, als bei Kindern, die gesund geblieben sind, sagt Wolfgang
zu Castell.
O-Ton 9 - zu Castell 22:14
Das Interessante an dieser frühen Phase ist eben, dass sich das Immunsystem
in genau der Zeit entwickelt und lernt und trainiert wird, in der auch der Körper
das erste Mal massiv mit Bakterien konfrontiert wird. Und dieses erste Zusammentreffen von dieser Bakterienvielfalt mit dem Immunsystem könnte - und so
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wäre die Hypothese - dazu führen, dass in einem Fall das Immunsystem einen
Reaktionsmechanismus lernt, der später hinderlich ist, sich gegen den Körper
selber richtet, während im anderen Fall das Immunsystem vielleicht den Weg
lernt, der quasi von der Evolution vorgegeben ist. (42")
Sprecherin:
Noch formulieren sie vorsichtig, die Wissenschaftler, die sich mit dem Zusammenspiel
von Darmbakterien und Immunsystem beschäftigen. Tatsächlich ist noch längst nicht
klar, was genau in den ersten Lebensmonaten abläuft. Aber es spricht viel dafür, dass
ein intaktes, natürliches Netzwerk der Darmflora darüber mitentscheidet, ob unsere
Abwehr später im Leben gut funktioniert und sich nicht gegen den eigenen Körper richtet. Da ist zum Beispiel der eigenartige Zusammenhang zwischen der Art der Geburt
und Diabetes.
O-Ton 10 - Achenbach 35:43
Im Vergleich entwickeln mehr Kinder einen Typ-1-Diabetes, die per Kaiserschnitt geboren wurden im Vergleich zu Kindern, die nicht per Kaiserschnitt, also auf normalem Weg geboren wurden.
Sprecherin: Säuglingen, die durch einen Kaiserschnitt zur Welt kommen, fehlt anfangs
ein Teil der Darmbakterien, mit denen sie normalerweise im Geburtskanal konfrontiert
würden. Andererseits wissen Forscher schon länger: Kinder, die im Dreck spielen und
viele Bakterien aufnehmen, haben ein robusteres Immunsystem. In Naturvölkern gibt es
ebenfalls kaum Autoimmunkrankheiten - also solche wie Typ-1-Diabetes, bei denen die
Abwehr sich gegen den eigenen Körper richtet. All das sind Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Darm und Immunsystem - Beweise sind es allerdings noch
nicht, schränkt der Ernährungswissenschaftler Dirk Haller von der TU München ein.
O-Ton 11 - Haller 15:52
Es verdichtet sich langsam eine Möglichkeit, wie das funktionieren könnte. Es
geht im Moment darum einzuschätzen: Wo spielen Bakterien denn wirklich eine
Rolle, wo sind sie vielleicht nur das Zünglein an der Waage und wo spielen sie
keine Rolle? Im Moment hat man so den Eindruck, wenn man liest: Die Bakterien haben mit allem irgendwas zu tun. Das ist der Goldgräberrausch. Und jetzt
muss man gucken, wo sie tatsächlich richtig was mit zu tun haben. (28")
MUSIK
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Sprecherin: Zum Beispiel mit dem Nervensystem, wie einige Forscher vermuten, Dass
es eine Verbindung mit dem Darm gibt, ist schon lange bekannt.
O-Ton 12 - Haller 17:02
Der Darm funktioniert von der Bewegungsfähigkeit völlig autonom. Also das
Nervensystem hat autonome Funktion auf den Darm. Das muss auch so sein.
Und jetzt wird halt überlegt: Wie kommunizieren Bakterien mit diesem Nervensystem? Und da scheint es schon so zu sein, dass es da eine Achse gibt: Bakterienkommunikation mit dem Nervensystem. Und jetzt wird es halt noch wilder:
Jetzt geht es darum, wie kommunizieren Bakterien mit dem Zentralnervensystem? Und hat das irgendwas mit Demenz, Autismus, der kognitiven Fähigkeit,
Alzheimer zu tun? (33")
Sprecherin:
Das klingt im ersten Moment ziemlich verwegen. Doch es gibt Forscher, die einer möglichen "Darm-Hirn-Achse" nachgehen? Teilweise geht das nur in Tierexperimenten.
Mäuse können keimfrei gezüchtet werden, also ganz ohne Darmbakterien. Erstaunlich:
Solche Tiere verhalten sich viel risikofreudiger als ihre Artgenossen - sitzt unsere angeborene Vorsicht, das "Bauchgefühl" für Gefahren, also möglicherweise im Darm? Noch
ist das eine ziemlich gewagte Hypothese - genau wie die, dass Alzheimer oder andere
Demenzkrankheiten auch mit den Bakterien in unserem Verdauungstrakt zu tun haben.
Bei der Untersuchung von Menschen mit Autismus sind Forscher vor kurzem einen entscheidenden Schritt weiter gekommen, berichtet Dr. Dae-Wook (Ausspr. in USA:
Däjwúhk) Kang von der Arizona State University:
O-Ton 13 - Kang 12:15
We detected 50 metabolites … with autism. (32")
(Voiceover: Wir haben uns in Stuhlproben von Kindern 50 Stoffwechselprodukte der
Darmbakterien angeschaut. Bei sieben davon haben wir deutliche Unterschiede zwischen Kindern mit und solchen ohne Autismus gefunden. Von denen hängen wiederum
drei Stoffwechselprodukte mit Botenstoffen des Nervensystems zusammen, den Neurotransmittern. Zum Beispiel finden wir bei Kindern mit Autismus mehr Glutamin. Es wird
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im Körper zur Substanz GABA umgewandelt. Sie ist sehr wichtig, um die Neurotransmitter im Gleichgewicht zu halten.)
Sprecherin:
Führen die Stoffwechselprodukte von Darmbakterien also dazu, dass im Gehirn Autismus entsteht? Oder ist es genau umgekehrt: Ernähren sich Menschen mit Autismus
anders, so dass bestimmte Bakterien im Darm die Oberhand gewinnen? Auf diese Frage sagt Dae-Wook Kang:
O-Ton 14 - Kang 26:45
This is a good point … future study. (20")
(Voiceover: Das ist ein guter Punkt. Hier liegt eine Schwachstelle unserer Studie: Wir
haben keine vollständigen Informationen darüber, wie sich unsere Probanden ernähren.
Die wenigen Daten lassen zwar darauf schließen, dass die Ernährung mit den beobachteten Unterschieden nichts zu tun hat. Aber das müssen weitere Studien klären.)
Sprecherin: Das findet auch Thomas Baghai (Ausspr. bággei), Oberarzt am Universitätsklinikum Regensburg. Er zählt zu den wenigen Fachleuten in Deutschland, die sich
mit dem Zusammenhang zwischen Darm und Gehirn, zwischen dem Mikrobiom und
dem Verhalten beschäftigen. Dass Menschen mit Autismus eine veränderte Darmflora
haben sollen, hat den Psychiater nicht weiter erstaunt.
O-Ton 15 - Baghai 12:32
Also ich bin mir sicher, dass es solche Veränderungen gibt. Es ist nur nicht
ganz so einfach, diese Ergebnisse in Studien zu belegen und dann solche Studienergebnisse auch zu replizieren. Die verschiedenen Menschen haben verschiedene Mikrobiome. Die hängen aber auch damit zusammen, wo ein
Mensch lebt, welche Ernährungsgewohnheiten er hat. (25")
Sprecherin:
Thomas Baghai ist Spezialist für depressive Erkrankungen. Auch da will er klären: Haben die möglicherweise etwas mit den Darmbakterien zu tun? Ist also an Depressionen
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die Darm-Hirn-Achse beteiligt? Hierüber gibt es zwar viele Spekulationen, doch in der
Forschung betritt der Regensburger Arzt damit Neuland.
O-Ton 16 - Baghai 14:02
Wir wollen herausfinden, wie das Mikrobiom bei Patienten, die an einer typischen Depression leiden, zusammengesetzt ist. Wir wollen versuchen, das im
klinischen Alltag zu untersuchen und müssen dann sehen, ob wir tatsächlich
regelhaft Veränderungen finden. Als nächstes wollen wir dann sehen, ob die
Mikrobiome sich verändern im Therapieverlauf und ob sie womöglich mit dem
psychischen Zustand der Patienten zu tun haben. (27")
Sprecherin:
Dass viele Patienten mit Depressionen zugleich einen geringen Appetit haben und
möglicherweise schon deshalb eine veränderte Darmflora, macht diese Forschung nicht
einfacher. Für Thomas Baghai ist es aber auch ein Zeichen dafür:
O-Ton 17 - Baghai 1:23
Dass letztlich das keine Einbahnstraße ist, sondern dass es in beide Richtungen geht: Das Verhalten kann das Mikrobiom beeinflussen, und das Mikrobiom
kann das Verhalten beeinflussen. (13")
Sprecherin:
Wie das geschieht, das ist bis jetzt völlig offen. Möglicherweise sind Substanzen, wie
sie Dae-Wook Kang in den USA gefunden hat, der Schlüssel: Stoffwechselprodukte der
Darmbakterien, aus denen Botenstoffe für das Nervensystem gebildet werden. Wie sie
ins Gehirn gelangen und dort ihre Wirkung entfalten - das muss die Forschung noch
klären. Mit schnellen Antworten ist aber nicht zu rechnen, sagt Dirk Haller von der TU
München:
O-Ton 18 - Haller 19:20
Ich glaube, da ist irgendwas, aber ob es wirklich Demenz, Alzheimer, Autismus
beeinflusst? Ich denke, da sollten wir Wissenschaftler auch ein bisschen vorsichtig sein. Man generiert ja viel Hoffnung bei Patienten, und das ist auch ok
so, aber man muss dann auch liefern können. Da bin ich ehrlich gesagt skeptisch. Ich schätze, das geht einfach noch zwanzig Jahre, um das wirklich klar zu
sortieren. (45")
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MUSIK
Sprecherin:
Vorerst gibt es also deutlich mehr Fragen als Antworten zur Rolle der Darmbakterien.
Erst seit wenigen Jahren ist es technisch überhaupt möglich, deren Vielfalt einigermaßen zu erfassen. Und dabei finden die Wissenschaftler dann manchmal Unterschiede
zwischen dem Darm-Mikrobiom von Gesunden und Menschen mit bestimmten Krankheiten. Weiter sind sie noch nicht. Trotzdem wecken schon diese ersten Ergebnisse
große Hoffnungen. Denn vielleicht ist es irgendwann möglich, Krankheiten wie Depressionen zu lindern oder ganz zu verhindern, indem man die Zusammensetzung der
Darmflora beeinflusst. Thomas Baghai:
O-Ton 19 - Baghai 9:10
Die Idee in der Psychiatrie ist natürlich: Möglicherweise können wir durch Veränderungen des Mikrobioms - wobei man im Moment noch gar nicht sagen
kann, ob es überhaupt verändert ist bei psychiatrischen Erkrankungen und wie
es verändert ist - aber vielleicht kann man letztlich doch solche Erkrankungen
beeinflussen, oder vielleicht die Widerstandsfähigkeit beeinflussen oder das
Ansprechen auf eine Behandlung. 11:39 Wir sind noch viele Schritte davon entfernt, dass man tatsächlich von möglichen wirksamen Therapien in dieser Richtung reden kann. Aber vorstellen kann ich es mir schon, und das treibt uns ja
auch an, diesen wissenschaftlichen Fragestellungen weiter nachzugehen. (36")
Sprecherin: Würde das gelingen, könnten Ärzte mit sogenannten Probiotika versuchen, Krankheiten zu beeinflussen. Probiotika sind Lebensmittel oder Nahrungsergänzungsmittel, die lebende Mikroorganismen enthalten. Ein Beispiel ist probiotischer Joghurt; es gibt aber auch Quark, Wurst, Käse und sogar Speiseeis, denen bestimmte
Bakterienstämme zugesetzt werden. Und zahllose Arten von Kapseln mit Bakterien wie
etwa Bifidus oder Laktobazillen. Der Ernährungswissenschaftler Dirk Haller beschäftigt
sich schon seit 15 Jahren mit den Probiotika - und findet es ganz gut, dass sie heutzutage nicht mehr so populär sind wie damals.
O-Ton 20 - Haller 31:10
Viele dieser Probiotika wurden vor 50, 100 Jahren isoliert. Wenn man sich jetzt
mal die Technologiesprünge anguckt der letzten zehn Jahre, dann ist eigentlich
eher meine Hoffnung, dass basierend auf dem Wissen, das wir jetzt gerade ge-
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nerieren, in zehn, zwanzig Jahren eine ganz neue Generation an Probiotika haben, die wesentlich spezifischer identifiziert und isoliert wurden, wahrscheinlich
auch viel spezifischer eingesetzt werden. (26")
Sprecherin: Ein anderer Ansatz ist viel radikaler: Wenn das Mikrobiom des Darms einen Menschen krank macht - dann ersetzen einige Ärzte es kurzerhand durch ein anderes, das von einem Gesunden stammt. Dabei werden die Darmbakterien des Patienten
durch Antibiotika komplett abgetötet, und dann erhält er eine sogenannte Stuhltransplantation. Das klingt ziemlich unappetitlich und war es lange Zeit auch, denn die Patienten bekamen den Kot eines Spenders als wässrige Brühe zu trinken. Heute gibt es
bessere Methoden, zum Beispiel Nasensonden oder Einläufe. Gute Erfolge hat die Methode bei Patienten, deren Darm infiziert ist: durch einen gefährlichen Keim namens
Clostridium difficile.
O-Ton 21 - Haller 32:23
Dort gibt es auch gute klinische Studien, die den Mehrwert einer solchen Stuhltransplantation auch rechtfertigen. Wenn Sie eine nicht behandelbare Clostridium-difficile-Infektion haben, kann das durchaus auch mit einem hohen Mortalitätsrisiko einhergehen. Und da sind die Stuhltransplantationen offensichtlich
fantastisch, wo bis zu 95 Prozent der Fälle tatsächlich behandelt werden können. 30 // 33:06 Schwierigkeiten habe ich eher dann, wenn der Stuhl in alles,
was nicht bei zehn auf dem Baum ist, transplantiert werden soll. In alte Menschen, denn die könnten ja immundefizient sein, in Reizdarmpatienten … in alles. Und da muss man schon nochmal reflektieren, was man da tut. (45")
Sprecherin: Denn niemand weiß, was bei einer Fäkaltransplantation genau passiert.
Profitiert der Darm des Patienten von den bakteriellen Stoffwechselprodukten im Kot?
Oder doch von den Bakterien selbst, und wenn ja, von welchen? Wie müsste ein optimaler Spenderstuhl zusammengesetzt sein - und kann man jedem Patienten mit einer
bestimmten Krankheit das gleiche Kotpräparat transplantieren? Vielleicht sogar vorbeugend - etwa Kindern mit Risikogenen für Diabetes, damit die Zuckerkrankheit nicht ausbricht? Das ist nicht so weit hergeholt, wie es klingt. Bei Mäusen hat es bereits geklappt, berichtet Peter Achenbach.
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O-Ton 22 - Achenbach 37:33
Da konnte gezeigt werden: Wenn man von einer Diabetes-resistenten Maus
den Stuhl einer Maus zuführt, die normalerweise spontan Typ-1-Diabetes entwickelt, dass man hier einen schützenden Effekt erzielen konnte. Das Problem
ist aber wiederum, dass auch wenn man den Stuhl transplantiert, nicht genau
weiß, welches Netzwerk oder welchen Keim man wesentlich dem Organismus
zugeführt hat, um den gewünschten Effekt zu erzielen. Also der exakte Cocktail
ist heute noch nicht bekannt. (30")
Sprecherin:
Hier sind noch sehr viele Fragen offen, meint auch Wolfgang zu Castell. Er sieht das
als Mathematiker so, der ganz unterschiedliche Ökosysteme untersucht, die nur eines
gemeinsam haben: Sie sind komplex und hoch vernetzt.
O-Ton 23 - zu Castell 40:17
Jetzt reden wir hier von einem Ökosystem, wo wir die zentralen Akteure noch
gar nicht mal identifiziert haben. Wo wir die zentralen Mechanismen anfangen,
langsam zu verstehen. 38:36 Für mich ist hier bei der Frage der Prävention
ganz entscheidend, dass wir nicht den Fehler machen, nur auf einen Aspekt zu
schauen und andere Aspekte zu vernachlässigen. Wir haben ja schon gesagt,
dass bei der Entwicklung von Diabetes die genetische Voraussetzung eine entscheidende Rolle spielt, das Immunsystem eine entscheidende Rolle spielt. Sicherlich kommen noch Faktoren dazu wie die Ernährung, die Hygieneverhältnisse im Elternhaus, auch die mikrobielle Ausstattung der Eltern. Und alle diese
Faktoren kommen zusammen. (40")
Sprecherin:
Viele Fragen, keine einfachen Antworten - das ist typisch für ein ziemlich junges Forschungsgebiet. Eines, das im Moment auch dank neuer Techniken einen Boom erlebt.
Soviel lässt sich jetzt schon sagen: Unser Darm ist eine höchst lebendige Zone. Die
Bakterien dort sind nicht nur für die Verdauung wichtig, sondern auch für ein intaktes
Immunsystem. Ob sie sogar zur geistigen und seelischen Gesundheit beitragen, wird
die Forschung der nächsten Jahrzehnte zeigen. Und es spricht einiges dafür, dass
dann ein paar Kapitel in den Lehrbüchern der Medizin neu geschrieben werden müssen.
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