Fleischlos in eine bessere Welt

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Fleischlos in eine bessere Welt
Von Susanne Breuss
Vor 130 Jahren eröffnete in Wien das erste vegetarische Speiselokal des deutschen
Sprachraums. Der Impuls kam von der Lebensreformbewegung.
Die Wiener Küche wird traditionell von Fleischgerichten dominiert. Angesichts dieser
ausgeprägten Fleischeslust ist es erstaunlich (oder gerade deswegen vielleicht auch nahe
liegend), dass ausgerechnet in Wien vor 130 Jahren das erste vegetarische Speiselokal des
deutschen Sprachraumes eröffnete. In der Wallnerstraße im 1. Bezirk, mitten in einem der
vornehmsten Viertel Wiens, zwischen Adelspalästen und prunkvollen Staatskanzleien, bot
Karl Ramharter ab 1877 in seinem später als "Erstes Wiener Vegetarier-Speisehaus"
bezeichneten Restaurant fleischlose Gerichte an. Dort befand sich auch der Sitz des im
selben Jahr von Franz Kubiczek gegründeten "Wiener Vegetarier-Vereins". Es war eine Zeit,
in der der Vegetarismus in Österreich noch kaum bekannt und die Zahl seiner Anhänger
äußerst gering war. Bei Ramharter trafen sich vorwiegend junge Männer: Studenten, Lehrer,
Künstler und Angestellte. Manche waren zu jeder Jahreszeit ganz in Leinen gekleidet oder in
naturfarbene Gewänder gehüllt, die meisten trugen bis auf die Schultern fallendes Haar und
Vollbärte.
Restaurant- und Vereinsgründung fielen in eine historische Phase, in der sich verschiedene
lebensreformerische Strömungen herauszubilden begannen, welche Antworten auf die mit
der Industrialisierung und Urbanisierung verbundenen Probleme suchten. Im Bereich der
Ernährung wurde etwa kritisiert, dass mit der technisierten und industrialisierten
Lebensmittelproduktion sowie mit dem Aufkommen von Fertigprodukten immer mehr
Ein vegetarisches „Musterhaus“.
denaturierte Lebensmittel auf den Markt drängten. Vor diesem Hintergrund spielte die
ernährungsreformerische Richtung eine bedeutende Rolle. Innerhalb dieser formierten sich
die Vegetarier in eigenen Vereinen und Zirkeln.
Lebensreformerisch
Der Vegetarismus war damals zwar nicht neu, denn seine Wurzeln gehen bis in die Antike
zurück. Im 19. Jahrhundert erhielt er jedoch zunächst in England, später auch in Ländern
wie Deutschland oder Österreich ein stärkeres Gewicht. So unterschiedlich die Motivationen
für eine vegetarische Lebensweise auch waren – sie reichten von ethisch-religiösen bis zu
hygienischen, medizinischen, ökonomischen und ästhetischen Argumenten –, so waren sie
in der Regel doch in den Kontext lebensreformerischer Ideen eingebunden. Der
Fleischkonsum – wie auch der Alkoholkonsum – wurde von den Lebensreformern vielfach als
Quelle aller zivilisatorischen Übel gesehen.
Im 19. Jahrhundert war der Fleischgenuss zum zentralen Element der modernen Esskultur
geworden – wenn auch nur im städtischen Bereich, und hier lediglich in den mittleren und
Um 1900 boomte Wiens Vegetarierszene.
Fotos: Sammlung C.Brandstätter
gehobenen Bevölkerungsschichten, die es sich finanziell leisten konnten, regelmäßig Fleisch
auf den Tisch zu bringen. Im Unterschied zu heute wurde die Bedeutung von
Nahrungsmitteln tierischer Herkunft auch von den Ernährungswissenschaften sehr stark betont. Fleisch galt als essenzielles
Lebensmittel und notwendiger Kraftstoff. Der Vegetarismus, so wie er sich in den Jahrzehnten um 1900 darstellte, ist daher als
eine "antikarnivore Gegenkultur" zu verstehen, die sich vor allem in den urbanen Zentren über Vereinsgründungen und die
Einrichtung von Speisehäusern eine institutionelle Basis verschaffte.
Für diese Zeit lassen sich in Wien mehrere vegetarische Gaststätten nachweisen. Neben dem Ramharter’schen Speisehaus
zählte das in den 1880er Jahren gegründete "Thalysia" zu den bekanntesten. Es war zunächst in der Kolingasse im 9. Bezirk,
später in der Oppolzergasse im 1. Bezirk angesiedelt und galt als vorbildliches "Musterhaus", an dem sich selbst Berlin noch ein
Beispiel nehmen konnte, wie in einer vergleichenden Darstellung der Versorgung deutschsprachiger Städte mit VegetarierLokalen angemerkt wurde. Von einer recht lebendigen vegetarischen Gastronomieszene zeugen darüber hinaus das 1911
eröffnete "Vegetarische Reform-Speisehaus Austria" in der Himmelpfortgasse, das "Bauer" am Wildpretmarkt oder das
"Wohlfahrt" in der Spiegelgasse (später am Judenplatz) im 1. Bezirk. Weitere vegetarische Lokale konzentrierten sich auf den 6.
und 7. Bezirk.
Arbeiterfreundlich
Während die Speisekarten der typischen Wiener Wirtshäuser in diesen Jahrzehnten vor allem Fleisch- und Fischgerichte
anführten, von Backhendl und Gulasch über die zahlreichen Rindfleischspezialitäten bis hin zu Innereien, Flusskrebsen und
Donau-Karpfen, fanden sich auf den Karten der vegetarischen Lokale zwar ebenfalls "Schnitzel" und "Braten", zubereitet jedoch
aus Gemüse, Erdäpfeln, Hülsenfrüchten oder Getreide. Neben verschiedensten Salaten wurden ganze Rohkostmenüs
angeboten, außerdem vielfältige Gemüse- und Pilzgerichte, wie eingemachter Karfiol mit Knödeln, Champignon-Fleckerl,
Kohlrüben mit Erdäpfeln, Schwarzwurzeln mit Butter oder Eieromelette mit Schwammerln.
Auch Obst war sehr präsent, da es die Lebensreformbewegung – im Gegensatz zur damaligen Ernährungswissenschaft – als
äußerst gesundes Nahrungsmittel wertete und daher zum häufigen Verzehr empfahl. So warb das "Vegetarische Speisehaus
Freya" in der Eszterhazygasse mit einem großen Obstbuffet zu jeder Tageszeit. An Desserts gab es neben den üblichen Wiener
Mehlspeisen auch Spezialitäten der Reformküche, etwa Grahamtorten oder Früchtepudding.
Üblicherweise boten vegetarische Gaststätten keinen Alkohol an, sondern Wasser, Kräutertee, Malzkaffee, Milch, unvergorene
Obstsäfte und ähnliches. Vermutlich waren auch andere, von den Lebensreformern aus gesundheitlichen Gründen gemiedene
Genussmittel wie Kaffee, schwarzer Tee und Tabak verpönt. Der Vegetarismus war zu dieser Zeit ein weitgehend bürgerliches
Phänomen – so wie sich insgesamt die Anhänger der Lebensreformbewegung aus dem Bürgertum rekrutierten. Entsprechend
darf man sich auch das Stammpublikum der vegetarischen Gaststätten vorstellen. Es handelte sich um einen Personenkreis, der
– im Unterschied zu den Arbeitern – nicht aus finanzieller Not, sondern freiwillig auf Fleisch verzichtete. Nicht zuletzt vor dem
Hintergrund massiver Fleischteuerungswellen wurde aber auch immer wieder betont, dass die vegetarische Lebensweise
weniger kostspielig sei und daher einen möglichen Ausweg aus der ökonomischen Misere der Arbeiterschaft bedeuten könnte.
Diese Idee stand zum Beispiel hinter einer 1885 gestarteten Initiative zur Einrichtung einer preisgünstigen vegetarischen
Volksküche in einem der Wiener Arbeiterbezirke. Ihr war allerdings kein Erfolg beschieden, da sie bereits an der Aufbringung
des notwendigen Betriebskapitals scheiterte. Für die Arbeiter war eine fleischlose Kost ohnehin nicht erstrebenswert, da sie als
Zeichen von Armut angesehen wurde.
Gleichwohl suchten einige Arbeiter statt dem üblichen Wirtshaus offensichtlich immer wieder vegetarische Gaststätten auf, um
den häufigen Fleischteuerungen auszuweichen. Vegetarische Lokale waren auf solche mehr oder weniger unfreiwilligen, in
Wirklichkeit an Fleischspeisen interessierten Gäste vermutlich sogar angewiesen. Eine zeitgenössische Vegetarier-Zeitschrift
meinte jedenfalls, dass die vegetarischen Speisehäuser von den Vegetariern allein gewiss nicht leben könnten. Insofern war es
den Vegetarier-Lokalen sicher förderlich, dass sie auch von Sozialisten und Abstinenzlern aufgesucht wurden, da in ihnen kein
Trinkzwang herrschte. Bereits in der Frühzeit des österreichischen Vegetarismus bestanden enge Verbindungen zum
Sozialismus, da sich die Lösungsansätze der beiden Bewegungen im Hinblick auf die damals herrschenden sozialen Probleme in
mancherlei Hinsicht trafen. So galt der Vegetarismus hinsichtlich des vor allem unter männlichen Arbeitern grassierenden
Alkoholismusproblems als ein möglicher Ausweg: Man glaubte, dass durch die reizärmere vegetarische Ernährung das Interesse
am Alkohol eingedämmt werden könne. Ab den späten 1870er Jahren gab es in Ramharters Lokal in der Wallnerstraße einen
Stammtisch, an dem sich mehrere damals noch junge zukünftige Größen des Wiener Geistes- und Kulturlebens zum
gemeinsamen fleischlosen Mahl trafen.
Völkerversöhnend
Neben Komponisten wie Gustav Mahler und Hugo Wolf oder dem Pianisten August Göllerich, einem Lieblingsschüler von Franz
Liszt, versammelten sich hier bedeutende Sozialisten wie Viktor Adler und sein Kreis. Diese hatten sich dem Vegetarismus vor
allem als einem ihrer Meinung nach die Völker versöhnenden, auf eine bessere Zukunft hinweisenden Friedensideal zugewandt.
Mit den Anhängern von Pythagoras und Richard Wagner, die vielen vegetarisch lebenden Intellektuellen als Leitfiguren dienten,
diskutierten sie über die "Greuel blutbefleckter Nahrung" und über die fragwürdigen Chancen, das Proletariat für die Idee des
Vegetarismus zu gewinnen. Letztlich behielt wohl eher Eduard Pötzl Recht, der in seinen 1906 erschienen Skizzen über
"Zeitgenossen" konstatierte, dass es um die Vegetarier ruhiger geworden sei: "Die garnierte Kalbsleiche hat doch den Sieg
davongetragen."
Die Ausstellung "Im Wirtshaus. Eine Geschichte der Wiener Geselligkeit" im Wien Museum am Karlsplatz ist noch bis 23.
September 2007 zu sehen.
Susanne Breuss, geboren 1963, Volkskundlerin, ist Kuratorin im Wien Museum, und Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien,
Graz und Innsbruck.
Printausgabe vom Samstag, 18. August 2007
Online seit: Freitag, 17. August 2007 13:16:00
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