Das Weiberregiment (Seiten 28-33)

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NATUR Wandern mit WWF
Waldameisen leben in einem Frauenstaat, betreiben
Land- und Viehwirtschaft, halten sich Sklaven und können
zentnerschwere Wildschweine verjagen. Doch die für den
Wald so wichtigen Tiere sind bedroht.
Text: Andreas Krebs
O
Fotos: Dieter Bretz
bwohl die Siedlungsdichte im
schweizerischen Nationalpark
gross ist, sind die Strassen nie
verstopft – dafür sind die
Waldameisen zu gut organisiert. Hunderttausendfach krabbeln sie aus ihren
Nestern, trippeln und trappeln auf
Haupt- und Nebenstrassen bis zu 100
Meter in die Ferne, weichen den Heimkehrenden flink aus – links, rechts, wieder links – und jagen mit Mut und gewaltigen, zähnebestückten Oberkiefern
(Mandibeln) alles, was sich bewegt.
Waldameisen überwältigen selbst
Tiere, die hundertmal schwerer sind als
sie selbst: Sie verbeissen sich im Opfer,
krümmen ihren Unterleib und spritzen
aus einer Drüse an dessen Ende zielsicher
Ameisensäure in die Bisswunden. Die
Säure zerfrisst das Gewebe, das Opfer
stirbt und die Ameisen schleppen es in
ihren Bau.
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Das
Die Säure verspritzen die Winzlinge
auch, um Feinde abzuwehren. Mit der
Säure werden Alarmstoffe freigesetzt und
alsbald eilen Nestgenossinnen zu Hilfe.
So können ein paar hundert Ameisen
auch zentnerschwere Braunbären und
Wildschweine verjagen.
Krabbelnde Arterhalter
Neben der tierischen Nahrung fressen
Waldameisen aber auch gerne die ölhaltigen Anhängsel von Pflanzensamen, die
sie manchmal auf dem Weg ins Nest verlieren; so tragen die Tiere zur Ausbreitung seltener Pflanzen bei: Schöllkraut,
Waldveilchen und Lerchensporn werden
fast ausschliesslich von Ameisen verbreitet.
Ein grosser Teil der Tiere kümmert
sich um Blatt-, Schild- und Rindenläuse,
die ihnen feinen Honigtau liefern; der
zuckerhaltige Saft macht rund 45 Prozent
des Waldameisen-Speiseplans aus.
Doch Königinnen und Brut – und um
diese dreht sich das Leben im Ameisenvolk
– verlangen nach tierischer Nahrung.
Effiziente Räuberinnen
So suchen fast unentwegt Späherinnen
die Umgebung ihrer Nester nach toten
Tieren und potenzieller Beute ab. Ihre
Koloniemitglieder lotsen sie mittels Duftpfaden zu ergiebigen Futterquellen. Dazu
genügen winzigste Mengen einer chemischen Substanz: Mit einem Gramm des
entsprechenden Lockstoffes könnte
die Feuerameise Solenopsis richteri
theoretisch eine Fährte von einer
Milliarde Kilometer Länge legen.
Bis zu 50 000 Spinnen und Würmer
und Insekten trägt und schleppt und
krampft ein grösseres Volk jeden Tag
Wandern mit WWF NATUR
Weiberregiment
in seinen Bau. Mehr als 90 Prozent aller
toten Kleintiere in der Umgebung eines
Ameisenbaus werden von den Arbeiterinnen abtransportiert, noch ehe irgendein
anderer Fleischfresser überhaupt die
Chance hat, dem Frauenvolk die Nahrung streitig zu machen.
Dufte Worte
«Eine einzelne Arbeiterin ist dumm»,
sagt Ameisenexperte Daniel Cherix von
der Universität Lausanne. «Aber in der
Gemeinschaft sind sie zu erstaunlichen
Leistungen fähig.» Bei der Kommunikation spielen Gerüche die bei Weitem
wichtigste Rolle. Der Zürcher Zoologe
Rüdiger Wehner spricht von «kollektiver
Intelligenz», wenn innerhalb eines Volkes
200 000 Miniaturgehirne durch Duftkommunikation in Verbindung stehen.
«Duftstoffe sind wie Worte», erklärt
Cherix. Forscher haben bei staatenbildenden Insekten mehr als 60 verschiedene Drüsen entdeckt, ihre Sekrete
übermitteln komplexe Signale.
Diese entscheiden oft über Leben und Tod, etwa am Ein-
gang der Nester, wo der Geruch als Passwort gilt: Wer nicht vom spezifischen
Bukett umhüllt ist, wird getötet, in den
Bau verschleppt und aufgefressen.
Ein intelligentes Ganzes
Das nahm vor etwa 100 Millionen Jahren
seinen Anfang. Damals entwickelten sich
aus wespenähnlichen Insekten die Vorfahren von Ameisen. In dieser Urzeit
lebten wohl mehrere Weibchen zusammen in einem Nest, wobei sich jede um
ihren eigenen Nachwuchs kümmerte.
Irgendeinmal legten innerhalb eines
Nestes nur noch wenige Weibchen Eier,
aus denen nun Larven schlüpften, die
sich in der Regel zu Arbeiterinnen entwickeln. Und als sie auch noch lernten
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Wandern mit WWF NATUR
Das WWF-Alpenprogramm
Für die Serie «Wandern mit
dem WWF» arbeiten WWF
und «Natürlich» zusammen.
In der Serie werden Tiere
und Pflanzen vorgestellt,
die in Smaragd-Gebieten
vorkommen oder europäisch wichtige
Smaragd-Arten sind. Smaragd ist vom
Europarat initiiert und ergänzt Natura 2000
in Nicht-EU-Ländern. Der WWF macht
Smaragd in der Schweiz seit acht Jahren
bekannt und führt in Smaragd-Gebieten
sogenannte Walks durch, Daywalks als
Tagesexkursionen und Nightwalks als
besinnliche Nachtwanderungen. Mehr dazu
unter: www.smaragd.wwf.ch
miteinander zu kommunizieren, stand
ihrer Weltherrschaft nichts mehr im
Wege.
Das Gewicht der Menschheit
Heute leben schätzungsweise zehn Billiarden Ameisen auf der Erde – gemeinsam
wiegen sie etwa so viel wie die gesamte
Menschheit. Ihre Familie (Formicidae)
umfasst rund 12 000 Arten, 142 leben in
der Schweiz. Noch, denn einige Arten
sind bereits ausgestorben, andere vom
Aussterben bedroht. Die Waldameisen
zum Beispiel. Sie wurden 1966 als erste
Insekten in der Schweiz unter Schutz
gestellt – und trotzdem sieht man ihre
Hügel heute seltener als damals.
Dabei seien Waldameisen bei guten
Bedingungen im Gebirge weitverbreitet,
Bisher erschienen:
6-06: Ringelnatter, Mastrilser Auen GR
7-06: Adonislibelle, Les Grangettes VD
8-06: Murmeltier, Fellital UR
9-06: Hirsch, Schwägalp AI
10-06: Sumpfschildkröte, Le Moulin-de-Vert GE
11-06: Gämse, Stockhorn BE
12-06: Kolbenente, Ermatinger Becken TG
1-07: Biber: Chablais de Cudrefin/Fanel NE
2-07: Wasseramsel: Val Müstair GR
3-07: Feuerwanze: Bois-de-l’Hôpital NE
4-07: Hummelragwurz: Erlinsbach SO
5-07: Kleine Hufeisennase: Kleinteil OW
6-07: Spechte: Stazerwald GR
7-07: Zugvögel: Bolle di Magadino TI
auch im Jura, sagt Cherix. Im Tiefland
hingegen gebe es fast keine mehr. Zu
lange wurde zu sorglos geholzt und
Insektizide gaben vielen Völkern den
Rest. Zudem haben Waldameisen in
eintönigen Forstplantagen kaum eine
Chance zu überleben – und der Mensch
wundert sich dann, dass Schädlinge überhand nehmen.
Ein Heer von Königinnen
Cherix will nun genau wissen, wie es um
die Waldameisen in diesem Land steht.
Er leitet eine Arbeitsgruppe, die zum
ersten Mal seit den Erhebungen des
WWF von 1976 bis 1979 wieder den
Schweizer Waldameisenbestand ermittelt. Cherix wird erst in ein bis zwei
Jahren klare Aussagen über die Bestan-
desentwicklungen machen, doch er befürchtet, dass die Rote Liste um einige
Arten ergänzt werden muss.
Bisher wurden nur im Kanton
Graubünden alle sieben hügelbauenden
Waldameisenarten der Schweiz nachgewiesen. Im Nationalpark leben drei:
die Schweizer Gebirgsameise (Formicidae paralugubris), die Starkbeborstete
Gebirgswaldameise (F. lugubris) und die
Schwachbeborstete Gebirgswaldameise
(F. aquilonia). Sie bilden polygyne Völker,
das heisst, in jedem leben mehrere Dutzend oder sogar Hunderte Königinnen.
Bei den monogynen Völkern der Grossen
Roten Waldameise (F. rufa) hingegen lebt
nur eine einzige Königin.
Superkolonien
Ein paar Härchen mehr auf dem Rücken
oder eine Einbuchtung am Kopf machen
den Unterschied einer Art aus. «Anhand
der Hügel lassen sich die Waldameisen
nicht bestimmen», sagt Cherix. Die Form
des Hügels gebe aber Auskunft über das
lokale Klima: «An warmen Orten sind
Ameisenhügel flach, an kalten bis zu
zwei Meter hoch.»
Auf der schattigen Seite des Inn
zwischen Scuol und Sur En stehen einige
Riesennester, manche sind 100 Jahre alt.
Stellenweise stehen die Hügel dicht an
Mehr als mannshoch: Die Bauten grosser Waldameisen-Völker werden bis über zwei Meter hoch
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NATUR Wandern mit WWF
Wandern zwischen Inn
und Nationalpark
Die protestantische Kirche von Scuol steht auf
einem Hügel im Unterdorf und ist nicht zu
übersehen. In der Nähe plätschert ein
Mineralwasserbrunnen, dort kann man sich
stärken für die Wanderung nach Sur En, von
wo es weitergehen wird nach Sent und wieder
zurück nach Scuol. Dort ladet das Bogn
Engiadina zum Baden.
Smaragd-Veranstaltungen in der Region:
Doch vor dem Vergnügen das Staunen:
• Daywalk: Entdecke die Smaragd-Gebiete,
Auf der rund fünfstündigen Wanderung
2. und 9. August 2007, 14.30 Uhr, Stazer-
werden wir so viele Waldameisenhügel sehen
wald bei St. Moritz
wie kaum je zuvor. Dazu gehen wir beim
• Alpenlager: 14.–20. Oktober, in Tschierv,
Münstertal
• Weitere Infos und Details:
http://www.wwf.ch/de/newsundservice/
• Nightwalk: Spaziergang in der Stille,
Brunnen weiter hinunter zum Inn, überqueren
14. September 2007, 20.30 Uhr, Stazerwald
ihn und folgen seinem Lauf auf dieser Seite
bei St. Moritz
news/events/index.cfm
Routenvorschläge und weitere Infos:
Scuol Tourismus AG, 7550 Scuol,
Telefon 081 861 22 22, www.scuol.ch;
Graubünden Ferien, 7001 Chur,
Tel. 081 254 24 24, [email protected]
www.graubuenden.ch.
Anreise:
Mit den SBB bis Landquart, von dort mit der
Rhätischen Bahn bis Scuol. Die SBB fahren
von Landquart weiter bis nach Chur; von dort
Fotos: Andreas Krebs
sind alle Destinationen in Graubünden mit der
RhB oder dem Postauto erreichbar. Die Fahrt
von Zürich nach Scuol dauert 2 3⁄4 Stunden
und kostet mit dem Halbtax Fr. 29.50.
■ Postautohaltestellen
bis Sur En. Links der Inn, rechts der Nationalpark – und nach dem Elektrizitätswerk
■
Ameisenhügel dicht an dicht. Dabei gilt:
■
Das rege Treiben nur beobachten und keinesBei Sur En kann man den Inn wieder überqueren und auf einem Pfad hochsteigen zur
Hauptstrasse. Wer will, kann von hier mit dem
Postauto nach Scuol fahren. Wer weiter
wandern mag, setze seinen Weg nach oben
fort bis zum sonnenverwöhnten Dörflein Sent,
von wo sich eine herrliche Aussicht bietet.
Von Sent wandert man in einer gemütlichen
Stunde zwischen prächtigen Wiesen hinunter
nach Scuol.
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■
Reproduziert mit Bewilligung von swisstopo (BA071432)
falls die sensiblen Nester (zer)stören.
Wandern mit WWF NATUR
Nach dem Hochzeitsflug: Eine begattete Königin wirft ihre Flügel ab
dicht, die Völker bilden eine einzige
Superkolonie, untereinander verbunden
durch breite Ameisenstrassen.
Geheimgänge
im Ameisenhügel
Wird eines Tages ein Volk zu gross, zieht
eine Gruppe von Arbeiterinnen mit
mehreren Königinnen aus und baut ein
neues Nest. In seinem Zentrum steht
oft ein Baumstumpf, darüber schichten
Legionen von Arbeiterinnen Abermillionen Aststückchen, Harzklümpchen und
Grashalme auf und bedecken das Baumaterial mit einer isolierenden Schicht
Tannennadeln.
Sonne, verrottendes Material und die
Bewohner selbst heizen das Nest auf, das
von einem komplexen Gänge- und Kammernsystem durchzogen ist, das sich
nicht selten ein bis zwei Meter unter die
Erdoberfläche erstreckt, wo die Ameisen
im Winter gut geschützt sind vor Feinden, etwa dem Specht (siehe «Natürlich»
06-07), und vor Frost.
Tod nach dem Hochzeitsflug
Die erste Brut entwickelt sich unter normalen Verhältnissen zu Geschlechtstieren: Königinnen und Männchen. Ende
April schlüpfen die geflügelten Tiere aus
ihren Puppenkokons; bei schwülem sonnigem Wetter verlassen sie ihre Nester
zum Hochzeitsflug. Die Königin wird
meistens nur ein einziges Mal begattet –
der Spermienvorrat reicht für die Befruchtung der vielen Hunderttausend
Eier, die sie in ihrem Leben legt. Polygyne Königinnen können zehn Jahre
alt werden, monogyne sogar zwanzig;
die Männchen hingegen sterben kurz
nach dem Hochzeitsflug.
Sklavenhaltung
Die Königinnen werfen nach der Begattung ihre Flügel ab und versuchen bei
einem Waldameisenvolk Unterschlupf
zu finden. Doch die meisten finden den
Tod. «Etwa eine von Tausend Königinnen
schafft es, ein neues Volk zu gründen»,
sagt Cherix, wozu sie Sklaven braucht.
Diese sind meistens Ameisen der deutlich kleineren Untergattung Serviformica.
Sie leben in Erdnestern, oft unter Steinen
versteckt. Findet die Waldameisenkönigin
ein solches Nest, mischt sie sich unters
Volk und tötet dessen Königin. Dann legt
sie an ihrer statt Eier, worum sich die
Hilfsameisen weiter fleissig kümmern.
Spätestens in einem Jahr ist das Volk der
kleineren Hilfsameisen ausgestorben.
Waldameisen haben das Nest übernommen und über Generationen bauen sie
einen grossen Hügel, der hundert Jahre
und mehr bevölkert sein kann.
■
I N FO B OX
Literatur zum Thema:
• Otto: «Die roten Waldameisen», Verlag
Westarp Wissenschaften 2005, Fr. 48.–
• Reihe: Die Neue Brehm-Bücherei 293
Verlag: Westarp Wissenschaften
• «Ameisen Nord- und Mitteleuropas»,
Verlag Lutra 2007, Fr. 64.50
Film
• Thaler: «Ameisen – Die heimliche Weltmacht», Verlag Impuls/Polyband 2006,
DVD 50 Min., Fr. 33.90
Internet
• www.tierlexikon.ch
• www.infochembio.ethz.ch/links/
zool_insekt_ameisen.html
Ein kurzes Leben: Nach dem Hochzeitsflug stirbt das Ameisenmännchen innert weniger Stunden
Winterruh und Sonnenbad
Erste wärmende Frühlingssonnenstrahlen locken die wechselwarmen Tiere an
die Nestoberfläche, wo sie sich von März
bis April dicht gedrängt sonnen. Dann
kann man auch die deutlich grösseren
Königinnen sehen, die danach für den
Rest des Jahres im Bau verschwinden, wo
sie nichts anderes tun als Eier legen, jede
Königin 20 bis 50 pro Tag. Täglich bis
zu 50 000 frische Eier für das Volk.
Junge Arbeiterinnen, sogenannte
Innendiensttiere, tragen die frischen Eipakete in wohltemperierte Kammern,
wenden und belecken sie ständig, damit
nicht Schimmelpilz die Brut befällt.
Gleich behutsam gehen die Arbeiterinnen
mit den Puppen und Larven um.
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