Zwischen Arktis, Adria und Armenien. Das östliche Europa und

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FORSCHUNGEN ZUR GESCHICHTE UND KULTUR
DES ÖSTLICHEN MITTELEUROPA | BAND 53
Zwischen Arktis, Adria
und Armenien
Das östliche Europa und seine Ränder
Stefan Troebst
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE, KÖLN WEIMAR WIEN
GWZO
Geisteswissenschaftliches Zentrum
Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e. V.
Forschungen zur Geschichte und Kultur
des östlichen Mitteleuropa
Herausgebergremium:
Arnold Bartetzky, Winfried Eberhard, Christine Gölz,
Frank Hadler, Matthias Hardt, Christian Lübke,
Stefan Troebst
Band 53
Zwischen Arktis, Adria
und Armenien
Das östliche Europa und seine Ränder
Aufsätze, Essays und Vorträge 1983–2016
von
Stefan Troebst
2017
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Open Access © 2017 by BÖHLAU VERLAG GMBH & CIE, KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit Unterstützung des Geisteswissenschaftlichen Zentrums
Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e. V. an der Universität Leipzig.
Das dieser Publikation zugrunde liegende Vorhaben wurde mit Mitteln des
Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderschwerpunkt
„Geisteswissenschaftliche Zentren“ (Förderkennzeichen 01UG1410) gefördert.
Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei dem Autor.
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im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung:
Sammeltassen im Museumsshop des Staatl. Stalin-Museums im georgischen Gori
Foto: Stefan Troebst, 24. Mai 2014.
© 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien
Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com
Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes
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Korrektorat: Constanze Lehmann, Berlin
Gesamtherstellung: WBD Wissenschaftlicher Bücherdienst, Köln
Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier
Printed in the EU
ISBN 978-3-412-50757-2
Werner Philipp (1908–1996) in memoriam
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Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Armeno-Sueco-Muscovitica
Narva und der Außenhandel Persiens im 17. Jahrhundert.
Zum merkantilen Hintergrund schwedischer Großmachtpolitik . . . . . . . . . .
19
Isfahan – Moskau – Amsterdam. Zur Entstehungsgeschichte des
moskauischen Transitprivilegs für die Armenische Handelskompanie in
Persien (1666–1676) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
Russland als „Magazin der Handlung zwischen Asien und Europa“?
Die Frage des Orienthandels bei der schwedischen
Moskaugesandtschaft 1673/1674 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
70
Balcanica
„Hochverehrter Meister und Genosse!“ Karl Kautsky und die
sozialistische Bewegung in Bulgarien (1887–1934) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
Makedonien als Lebensthema. Henry Noël Brailsford (1873–1958) . . . . . . .
100
Zwischen offizieller Außenpolitik und geheimer „Paralleldiplomatie“.
Italienische Versuche zur Errichtung von Bündnissystemen in
Südosteuropa unter Benito Mussolini und Dino Grandi (1922–1932) . . . . . .
111
The Internal Macedonian Revolutionary Organization
and Bulgarian Revisionism, 1923–1944 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
122
Gustav Weigand, Deutschland und Makedonien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
133
Der (bulgaro-)makedonische Terrorbürokrat Ivan Michajlov
(1896–1990). Eine biographische Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137
Silesia balcanica. Die Ankunft von Griechen, Makedoniern
und Bosnien-Polen in Niederschlesien 1946 bis 1950 . . . . . . . . . . . . . . . . .
144
Chronologie einer gescheiterten Prävention. Vom Konflikt zum Krieg
im Kosovo, 1989–1999 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
154
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8
Inhalt
Vergangenheitsbewältigung auf Bulgarisch. Zum Umgang mit den
Akten der ehemaligen Staatssicherheit und zur strafrechtlichen
Verfolgung kommunistischer Staatsverbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
175
Sovieto-Rossica
Warum wurde Finnland nicht sowjetisiert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
191
Die Sowjetunion und die bulgarisch-jugoslawische Kontroverse um
Makedonien 1967–1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
207
The “Transnistrian Moldovan Republic”, 1990–2002. From ConflictDriven State-Building to State-Driven Nation-Building . . . . . . . . . . . . . . . .
214
Vom „Vaterländischen Krieg 1812“ zum „Großen Vaterländischen Krieg
1941–1945“. Siegesmythen als Fundament staatlicher Geschichtspolitik
in der Sowjetunion, der Russländischen Föderation, der Ukraine und
Belarus’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
241
Post-Communist Holiday Legislation as Part of Governmental Politics
of History. The Case of the Russian Federation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
247
Teutonica orientalia
Die „Griechenlandkinder-Aktion“ 1949/1950. Die SED und die
Aufnahme minderjähriger Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in
der SBZ/DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
257
Herz, Darm und DDR – Arno Schmidt 1956 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
281
Die DDR im balkanischen Spiegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
302
Europaeica
From paper to practice. The Council of Europe’s Framework Convention
for the protection of national minorities . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
309
Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik? Anläufe der
Europäischen Union zur Stiftung einer erinnerungsbasierten
Bürgeridentität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
317
Jalta als europäischer Erinnerungsort? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
343
Inhalt
9
Historiographica
Debating the Mercantile Background to Early Modern Swedish
Empire-Building. Michael Roberts versus Artur Attman . . . . . . . . . . . . . . .
353
Klaus Zernack als Nordosteuropahistoriker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
372
Friedrich Braun und die Leipziger Russlandgeschichtsschreibung
in der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
386
„Die Interdependenz von Historiographie und Politik in Osteuropa“.
Ein vergessenes Forschungsprojekt der westdeutschen
Osteuropageschichtsschreibung (1976–1983) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
391
Macedonian Historiography on the Holocaust in Macedonia
under Bulgarian Occupation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
407
„Südosteuropäische Geschichte als gesonderte Disziplin“.
Mathias Bernath in Berlin und München . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
414
Ethnien und Nationalismen in Osteuropa. Drei Vorüberlegungen zur
vergleichenden historischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
418
Nachbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
431
Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
441
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Vorwort
Si hortum cum bibliotheca habes, nihil deerit
Nietzsche frei nach Cicero
„This book represents a journey in self-education“ schrieb Zara Steiner im Vorwort zum ersten ihrer beiden voluminösen Bände zur Geschichte Europas in der
Zwischenkriegszeit in der Reihe Oxford History of Modern Europe 1, und in gewisser Weise kann das auch für den vorliegenden Band gelten. Denn Studium und
Qualifikationsschriften des Autors fallen in eine jüngere wissenschaftshistorische
Vergangenheit, in der in dem Teilfach Osteuropäische Geschichte, wie es im deutschsprachigen Raum um 1900 institutionalisiert wurde, das Postulat galt, die Subdiziplin
„in ihrer gesamten Breite“ abzudecken – so etwa von der Ökonomiehistorie über die
Militär- und Kirchengeschichte bis zu intellectual history, von Sibirien bis auf den
Balkan, vom Frühmittelalter bis zur späten Neuzeit – und dabei entweder in Dissertation oder Habilitationsschrift einen Fokus auf die Rus’, den Moskauer Staat,
das Zarenreich oder die Sowjetunion zu richten. Entsprechend waren deutlich unterschiedliche thematische, regionale und epochale Schwerpunkte zu setzen. Das
war eine Auflage, die in anderen geisteswissenschaftlichen Fächern, selbst in der
„Mutterdisziplin“ der vermeintlich „allgemeinen“, im Kern aber germanozentrischen
Geschichtswissenschaft, in dieser kategorischen Form nicht bestand. Folglich findet sich auch in meiner eigenen professionellen Biographie zwischen Dissertation
und Habilitationsschrift ein relativ harter Bruch, von der Zeitgeschichte Südosteuropas zur frühneuzeitlichen Geschichte Nordosteuropas, und das mit jeweils ganz
unterschiedlichen Fragestellungen. 2 Dieses in mehrfacher Hinsicht nicht einfache
Umschalten binnen relativ kurzer Zeit – andere Forschungsfrage(n), andere Länder
(und Archive dort), auch andere Sprachen – nimmt sich allerdings in der Retrospektive als Gewinn aus. Aus dem einen Historikermilieu in ein gänzlich anderes
einzutauchen, nach Kampf um Archivzugang hier in Archivalien dort regelrecht
zu ertrinken sowie vor allem sich gänzlich neue Geschichtswelten zu erschließen,
erwies sich bald nicht länger als Zwang, sondern als Privileg. Und gar nicht so
selten stellte sich heraus, dass in- wie ausländische Kolleginnen und Kollegen, zu
denen aus dem einen Kontext Beziehungen bestanden, überraschenderweise auch
1
2
Steiner, Zara: Preface. In: Dies.: The Lights that Failed. European International History 1919–1933.
Oxford 2005, S. v–x, hier S. vi (= Oxford History of Modern Europe).
Troebst, Stefan: Mussolini, Makedonien und die Mächte 1922–1930. Die „Innere Makedonische Revolutionäre Organisation“ in der Südosteuropapolitik des faschistischen Italien. Köln, Wien 1987
(= Dissertationen zur neueren Geschichte, 19); ders.: Handelskontrolle – „Derivation“ – Eindämmung. Schwedische Moskaupolitik 1617–1661. Wiesbaden 1997 (= Veröffentlichungen des Osteuropa-Instituts München. Reihe Forschungen zum Ostseeraum, 2).
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12
Vorwort
in dem anderen präsent waren. In meinen Fall gilt dies etwa für den Prager Historiker Miroslav Hroch, dessen grundlegende Arbeiten zur Geschichte der europäischen Nationalbewegungen mir als Student natürlich bekannt waren, dessen frühneuzeitlich-nordosteuropäisches Interesse ich jedoch erst später entdeckte 3 – mit der
Folge produktiven blockübergreifenden Austausches noch zu Zeiten des Kalten Krieges.
Die ursprünglich auf die besagte teildisziplinäre Tradition zurückgehende Notwendigkeit des Sich-Einlassens auf Anderes und Eintauchens in Neues ist mir in der
Folgezeit außerordentlich zugutegekommen, und das wiederum thematisch, regional
und epochal. Der vorliegende Band kann als Beleg dafür gelten, dass das Attribut
„Allesfresser“, welches Klaus Zernack einmal anerkennend-ironisch auf Manfred
Hellmann, seinen Mitherausgeber des bis heute unübertroffenen Handbuchs der Geschichte Russlands gemünzt hat (und das natürlich auf ihn selbst ebenso zutrifft),
zwar in der Binnenperspektive der Subdisziplin einen berechtigten Zweifel enthält,
sich aber aus gesamtgeschichtswissenschaftlicher Sicht mitnichten megaloman ausnimmt. Denn dort gilt das osteuropabezogene Teilfach weiterhin (und unberechtigterweise) als parochial. Es steht zu hoffen, dass sich dies mit Blick auf die zunehmende
Zahl von Veröffentlichungen mit globalhistorischer Dimension aus der Feder von
Osteuropahistorikerinnen und -historikern künftig ändert.
Mein im Rahmen seines historischen Europainteresses auch die Geschichte der
Osthälfte des Halbkontinents eingehend berücksichtigender Wiener Kollege und
Altersgenosse Wolfgang Schmale hat 2013 in seinem Buch Mein Europa. Reisetagebücher eines Historikers exemplarisch den engen Zusammenhang von Historikerbiographie und -œuvre, genauer: von persönlich in Augenschein genommener
Regionalgeographie und urbaner Topographie sowie von modernen Gesellschaften
und akuten Konflikten, mit geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen und interessengeleiteter Themenfindung, augenfällig demonstriert. 4 Das kann ich mit Blick
auf meine eigene Sozialisation und beginnende wissenschaftliche Laufbahn bestätigen – von einer Balkanerfahrung in den späten sechziger Jahren über einen Sommersprachkurs in der Sowjetunion in den frühen Siebzigern bis zu zwei Studienjahren
in Bulgarien und im damals noch jugoslawischen Makedonien im weiteren Verlauf
dieses Jahrzehnts. Das Epochenjahr 1989 hat mir dann die einmalige Chance gegeben, diese jugendliche éducation sentimentale et regionale auf ganz ungewöhnliche
Art zu vertiefen: Im Auftrag des Auswärtigen Amtes war ich 1992/1993 deutscher
3
4
Hroch, Miroslav: Handel und Politik im Ostseeraum während des Dreißigjährigen Krieges. Zur Rolle
des Kaufmannskapitals in der aufkommenden allgemeine Krise der Feudalgesellschaft in Europa.
Praha 1976 (= Acta Universitatis Carolinae Philosophica et Historica – Monographia, 64).
Schmale, Wolfgang: Mein Europa. Reisetagebücher eines Historikers. Wien, Köln, Weimar 2013.
Zum selben Genre gehört die gleichfalls biographische Publikation eines kollegial verbundenen Sozialwissenschaftlers vom Jahrgang 1950, in der andere europäische (und außereuropäische) Länder,
Regionen und Städte eine ähnlich prägende Rolle bezüglich Forschungsfragen und Veröffentlichungsschwerpunkten spielen: Leggewie, Claus: Politische Zeiten. Beobachtungen von der Seitenlinie. München 2015.
Vorwort
13
Vertreter in der CSCE Spillover Monitoring Mission to Skopje, also der Langzeitmission der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in der jetzt
unabhängigen, aber von außen bedrohten und innerlich zerrissenen Republik Makedonien – ein Déjà-vu-Erlebnis der ganz besonderen Art –, und 1994/1995 in
nämlicher Funktion in einer Ex-Republik der mittlerweile zerbrochenen UdSSR als
Teil der CSCE/OSCE Mission to Moldova, wo ich den aus Moskau gesteuerten separatistischen De-facto-Staat „Moldauische Dnjestr-Republik“ im Osten des Landes
sowie die gleichfalls zentrifugale Region Gagausien im Süden eingehend kennengelernt habe. Die Möglichkeit eines mittels Inaugenscheinnahme vorgenommenen
Vorher-Nachher-Vergleichs der beiden größten implodierten Pro-Forma-Bundesstaaten staatssozialistischen Zuschnitts Europas mit zweien ihrer Zerfallsprodukte erwies
sich als inspirierender Glücksfall. Welcher Wissenschaftlergeneration bietet sich
schon so eine Chance?!
Im Unterschied zu zuvor veröffentlichten Sammlungen von Eigenem 5 ist die vorliegende weder strikt thematisch noch subregional ausgerichtet, wie sie auch nicht
auf einen enger begrenzten Erarbeitungs- bzw. Publikationszeitraum bezogen ist.
Vielmehr soll sie den Versuch, das besagte Postulat der „gesamten Breite“ ernst zu
nehmen, dokumentieren. Dass ich dieser Anforderung mitnichten zur Gänze gerecht
geworden bin, schon gar nicht in epochaler Hinsicht was etwa Spätantike, Völkerwanderungszeit und das gesamte Mittelalter betrifft, ist nicht zu übersehen. Auch das,
was einer meiner Berliner Lehrer Hans-Joachim Torke und sein Vorgänger Werner
Philipp, den als Emeritus näher kennenzulernen ich den Vorzug hatte, als „Altrußland“ bezeichneten, habe ich historisch nur gestreift.
Dass Historiker gleich anderen Wissenschaftlern jeweils „auf den Schultern von
Riesen“, also auf denjenigen der Vorgängergenerationen, stehen, aber aufgrund eben
ihres erhöhten Standpunkts dennoch weiter als diese sehen können, hat der als Sohn
von Emigranten aus einem ostmitteleuropäischen Shtetl 1910 in Philadelphia geborene Meyer Robert Schkolnick, der unter dem Namen Robert K. Merton in den USA
zum selbst posthum amtierenden Papst der soziologischen Forschung aufstieg, in
5
Troebst, Stefan: West-östliche Europastudien. Rechtskultur, Kulturgeschichte, Geschichtspolitik /
West-Eastern European Studies. Legal Culture, Cultural History, Politics of History. Leipzig 2015
(= Transnationalisierung und Regionalisierung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 7); ders.: Erinnerungskultur – Kulturgeschichte – Geschichtsregion. Ostmitteleuropa in Europa. Stuttgart 2013
(= Forschungen zur Geschichte des östlichen Mitteleuropa, 43); ders.: Das makedonische Jahrhundert. Von den Anfängen nationalrevolutionärer Bewegung zum Abkommen von Ohrid 1893–
2001. Ausgewählte Aufsätze. München 2007 (= Südosteuropäische Arbeiten, 130); ders.: Kulturstudien Ostmitteleuropas. Aufsätze und Essays. Frankfurt /M. 2006 (= Staaten und Gesellschaften im Epochenwandel, 11); ders: Europa Środkowo-Wschodnia, Polska a Niemiec w Europie.
Wybrane studia i esei. Wrocław 2017 (= Studia Brandtiana Translationes. Centrum Studiów Niemieckich i Europejskich im. Willy Brandta Uniwersytetu Wrocławskiego). Vgl. überdies: Zugänge zur ostmitteleuropäischen Geschichte in den Schriften Stefan Troebsts. Eine Auswahlbibliographie. In: Leipziger Zugänge zur rechtlichen, politischen und kulturellen Verflechtungsgeschichte Ostmitteleuropas. Hrsg. v. Dietmar Müller u. Adamantios Skordos. Leipzig 2015, S. 333–
336.
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14
Vorwort
seinem nur auf den ersten Blick kryptischen „Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit“ in ebenso fesselnder wie unnachahmlicher Weise demonstriert. 6 Dessen
sich bewusst zu sein, ist für Historiker einfacher als für andere Geisteswissenschaftler, verfügen wir doch über eine weitere ausgebildete Subdiziplin, die Historiographiegeschichte. Für geschichtsregional forschende Historiker ist aber neben der
Vergangenheit, wie angedeutet, auch und gerade die Gegenwart und ihre Autopsie,
zumal der unmittelbare Kontakt mit den Kolleginnen und Kollegen in der Untersuchungsregion, von zentraler Bedeutung, wäre doch sonst die Formel des „Forschens
mit, in und über“ lediglich eine Floskel.
Die nachstehend mehrheitlich wiederabgedruckten Beiträge sind teils nach regionalen, teils nach thematischen Kriterien geordnet, wobei die Reihung mitunter nach
historisch-chronologischen Gesichtspunkten, in manchen Fällen nach Entstehungszeit erfolgt. Die Zwischenüberschriften sind an das Ordnungssystem des schwedischen Reicharchivs angelehnt, dessen Aktengruppen zur frühen Neuzeit mit Bezeichnungen wie „Livonica“, „Diplomatica Muscovitica“, „Diplomatica Persica“,
„Extranea“ u. a. belegt sind. Die Regionalbezeichnungen im Buchtitel beziehen sich
auf das nördliche Nordosteuropa, konkret: auf die Nordkaproute zum russischen
Markt in der frühen Neuzeit („Arktis“), auf das Bindeglied zwischen Südosteuropa –
bzw. um mit Oskar Halecki zu sprechen: dem südlichen Ostmitteleuropa – und dem
„romanischen“ Südeuropa („Adria“) sowie auf die kaukasische Peripherie des östlichen Europa mit ihren merkantilen, kulturellen und politischen Verflechtungen zu
Osteuropa, Westeuropa und anderen Teilen Eurasiens („Armenien“). Zitierweise und
Transliteration der jeweiligen Erstveröffentlichung sind beibehalten worden, Verbindungen zu Web-Ressourcen wurden überprüft.
Dem Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO) an der Universität Leipzig und dem Bundesministerium für Bildung und
Forschung, welches das GWZO-Forschungsprogramm der Jahre 2008–2016 finanziert hat, bin ich zu Dank für nachhaltige Projektförderung sowie für einen großzügigen Druckkostenzuschuss verpflichtet. Die Entstehung zahlreicher der nachstehend
versammelten Publikationen ist vom Deutschen Akademischen Austauschdienst, der
Studienstiftung des deutschen Volkes, der Freien Universität Berlin, dem Deutschen Historischen Institut London, dem European Centre for Minority Issues, der
Deutsche Forschungsgemeinschaft, der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, der VolkswagenStiftung und dem Imre Kertész Kolleg „Europas Osten
im 20. Jahrhundert. Historische Erfahrungen im Vergleich“ der Friedrich-SchillerUniversität Jena unterstützt worden. Attila Pók vom Historischen Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest hat dankenswerterweise ein
Publikationsgutachten verfaßt.
6
Merton, Robert K.: On the Shoulders of Giants. A Shandean Postscript. New York, NY, 1965. Zur
deutschen Übersetzung vgl. ders.: Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth
der Gelehrsamkeit. Aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser. Frankfurt /M. 1980.
Vorwort
15
Gewidmet sei diese Sammlung dem Gedenken an den Berliner Altrusslandhistoriker Werner Philipp (1908–1996), der mit seinem Vortrag „Nationalsozialismus und
Ostwissenschaften“ 1966 in der Teildisziplin der Osteuropäischen Geschichte die
Debatte über die problematische Fachhistorie zur Zeit des „Dritten Reiches“ in einem außerordentlichen Mut erfordernden Alleingang angestoßen hat 7 – mit bis heute
anhaltenden Folgen.
Leipzig und Wrocław, im Oktober 2016
7
Philipp, Werner: Nationalsozialismus und Ostwissenschaften, in: Universitätstage 1966. Nationalsozialismus und deutsche Universität. Hrsg. v. d. Freien Universität Berlin. Berlin (West) 1966, S. 43–
62 (Nachdruck in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 33 [1983], S. 287–303). Zu Vita
und Œuvre siehe Hans-Christian Petersen: „Die Gefahr der Renazifizierung ist in unserer Branche
ja besonders groß.“ Werner Philipp und die deutsche Osteuropaforschung nach 1945, in: Neuanfang im Westen. 60 Jahre Osteuropaforschung in Mainz. Hrsg. v. Hans-Christian Petersen u. Jan
Kusber. Stuttgart 2007, S. 31–53, und Hans-Joachim Torke: Werner Philipp. Leben und Werk eines
Osteuropa-Historikers, in: Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte, 2 (1995), H. 1, S. 29–
42.
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Armeno-Sueco-Muscovitica
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Narva und der Außenhandel Persiens
im 17. Jahrhundert
Zum merkantilen Hintergrund schwedischer Großmachtpolitik
[1993]
Eure Königl. Majestät kann nicht nur den gesamten moskauischen, sondern
auch einen großen Teil des persischen Handels in Ihre Hand bekommen, was
Eurer Königl. Majestät viele Millionen und unsagbare Reichtümer einbringen
würde, so dass Eure Königl. Majestät künftig keine französischen oder
englischen Subsidien und Zahlungen bräuchte.
Harald Appelboom, schwedischer Gesandter in den Niederlanden, 1658 1
Dass im Mittelalter zwischen dem Ostseeraum und dem Orient enge Handelsbeziehungen bestanden haben, ist eine bekannte Tatsache. Weniger bekannt ist indes, dass
es auch am Ende des 17. Jahrhunderts einen direkten, kontinuierlichen und wertmäßig beträchtlichen Warenverkehr zwischen beiden Weltregionen auf einer Landroute
durch den Moskauer Staat hindurch gegeben hat. Das Zustandekommen dieser Fernhandelsverbindung ist ein Teilergebnis des ehrgeizigen Programms zur Kontrolle
des Ost-West-Handels, welches die schwedische Außen- und Großmachtpolitik von
Erik XIV. bis Karl XII. maßgeblich bestimmte. Hauptziel dabei war es, das Gros
des russischen Außenhandels weg von Archangel’sk am Weißen Meer und hin in
die eigenen Häfen am Finnischen Meerbusen zu umzuleiten. Die schwedische Krone
erhoffte sich davon fiskalische Vorteile, mittels derer die natürlichen Nachteile der
ressourcenarmen Großmacht im Norden ausgeglichen werden sollten. 2 Im Zuge der
Verfolgung dieses Programms geriet vom Beginn des 17. Jahrhunderts an neben dem
russischen auch der persische Markt ins Blickfeld der Stockholmer Handelsstrategen.
Aber erst in der Mitte der 1680er-Jahre trat eine Konstellation in den internationalen
Beziehungen ein, die einen Transithandel von Persien nach Schweden via Moskau
möglich machte. Narva, damals bereits Hauptumschlagort für den Russlandhandel
über die Ostsee, wurde nun zum Dreh- und Angelpunkt der neuen Fernhandelsroute. Nach tastenden Anfängen in den Jahren 1687 bis 1689 kamen von 1690 an
regelmäßig armenische Kaufleute aus der Isfahaner Vorstadt Neu-Julpha mit ihrem
1
2
Harald Appelboom an Karl X. Gustav. Den Haag, 28. Mai/7. Juni 1658, 6 fol., hier fol. 4 r–v. In:
Riksarkivet Stockholm (im Folgenden: RAS), Diplomatica Hollandica, vol. 50: Harald Appelbooms
brev till K. M:t 1658 (Maj-juli till K. M:t och maj-november till rådet).
Zu diesem ambitionierten Programm vgl. Stefan Troebst: The Attman-Roberts Debate on the Mercantile Background to Swedish Empire Building. In: European History Quarterly 24 (1994), S. 485–
509 [und im vorliegenden Band].
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Armeno-Sueco-Muscovitica
Hauptausfuhr- und Monopolprodukt persische Rohseide hierher. Allerdings unterbrach bereits der Beginn des großen Nordischen Krieges im Sommer 1700 diese
Handelsverbindung abrupt.
Diese Rolle Narvas im Handel Asiens mit Europas soll im Folgenden auf dem
genannten merkantilen Hintergrund schwedischer Großmachtpolitik in zwei Teilen
beleuchtet werden: Der erste behandelt die lange Phase der Projektierung der Fernhandelsroute Persien-Schweden, der zweite dann sowohl die Praxis des Betreibens
dieser Route als auch einige der Wirkungen, die der Warenverkehr mit Persien auf
Narva sowie das schwedische Ostseereich insgesamt hervorrief. Dabei wird zu sehen sein, dass die Nordroute nach Westeuropa für die armenischen Seidenkaufleute
eine ökonomisch lukrative und folglich regelmäßig benutzte, wenngleich in mehrfachem Sinne nicht allzu sichere Alternative zu den traditionellen Seerouten war. Die
navigatorischen Tücken des Kaspischen Meers, die Rechtsunsicherheit im Süden des
Moskauer Staates sowie vor allem die Notwendigkeit, vom Zaren jeweils eine Transiterlaubnis zu erhalten, schlagen hier negativ zu Buche.
Dennoch bot die Nordroute dem Schah und den seinen Außenhandel besorgenden armenischen Kaufleuten Isfahans große Vorteile: Die Produktionsgebiete für
Seide lagen nahe dem Kaspischen Meer, in welches die bis tief in den Moskauer
Staat hinein schiffbare Volga mündete. Und von Moskau aus führten infrastrukturell gut ausgebaute Handelswege zum einen nach Vologda und von hier aus über die
Suchona und die nördliche Dvina zum Hafen Archangel’sk, zum anderen über Land
via Novgorod in die schwedischen Ostseehäfen. Die beiden anderen persischen Ausfuhrrouten hingegen, diejenige durch das Osmanische Reich und das Mittelmeer und
die durch den Persischen Golf und um Afrika herum, waren in der Regel teurer und
periodisch deutlich risikoreicher.
Während also Schah und armenische Kaufleute, desgleichen der auf zusätzliche
Zolleinnahmen bedachte Zar und die westeuropäischen Russlandhandelskompanien
großes Interesse an einer solchen Routenverlagerung besaßen, waren die Amsterdamer Ostindienkompanie, die Londoner Levant Company und auch die russischen
gosti bzw. Großkaufleute gegen eine solche eingestellt. 3 Erst nach vielen Anläufen
konnte sich im Jahr 1676 die erstgenannte Interessenkoalition durchsetzen: Der Zar
3
Vgl. aus der umfangreichen Literatur vor allem E. S. Zevakin: Persidskij vopros v russko-evropejskich otnošenijach XVII v. In: Istoričeskie zapiski 8 (1940), S. 129–162; Hermann Kellenbenz: Der
russische Transithandel mit dem Orient im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts. In: Jahrbücher für
Geschichte Osteuropas 12 (1964), S. 481–500; V. A. Bajburtjan: Armjanskaja kolonija Novoj Džul’fy
v XVII vek (Rol’ Novoj Džul’fy v irano-evropejskich političeskich i ėkonomičeskich svjazjach). Erevan 1969; John Emerson: Ex occidente lux. Some European Sources on the Economic Structure of
Persia between about 1630 and 1690. Ph. D. Dissertation, University of Cambridge, 1969, S. 172–
194; V. K. Voskanian: Les Arméniens à Moscou du XVe au XVIIe siècle. In: Revue des études arméniennes. Nouvelle série 9 (1972), S. 425–444; Ronald W. Ferrier: The Armenians and the East India
Company in Persia in the Seventeenth and Early Eighteenth Century. In: Economic History Review
26 (1973), S. 38–62; Kéram Kévonian: Marchands arméniens au XVIIe siècle. A propos d’un livre
arménien publié à Amsterdam en 1699. In: Cahiers du Monde russe et sovietique 16 (1975), S. 199–
244; und N. G. Kukanova: Očerki po istorii russko-iranskich torgovych otnošenij v XVII – pervoj
polovine XIX veka (Po materialam russkich archivov). Saransk 1977.
Narva und der Außenhandel Persiens im 17. Jahrhundert
21
gestattete armenischen Seidenkaufleuten den Handel in Archangel’sk sowie unter bestimmten Bedingungen auch die Weiterfahrt nach Amsterdam. Zwar wurde von nun
an nicht, wie in Moskau erhofft, der gesamte persische Seidenexport über die neue
Route abgewickelt, aber es entwickelte sich doch ein regelmäßiger Warenverkehr. 4
Das schwedische Bestreben, den russischen Außenhandel weg von Archangel’sk
zur Ostsee umzuleiten, betraf selbstverständlich auch diesen neuen persischen Transithandel. Allerdings wurde das Interesse Schwedens hieran nicht erst 1676 geweckt. 5 Schon vor diesem Zeitpunkt war die Frage der Herstellung einer Handelsverbindung nach Isfahan periodisch verfolgtes Ziel schwedischer Handelsdiplomatie
gewesen. Anders jedoch als das übergreifende schwedische Programm der Umlenkung des russischen Außenhandels ging das Teilprogramm einer Umleitung des persischen Transithandels nicht auf Gustav Vasa und seine Söhne zurück 6, sondern nahm
erst unter seinem Enkel Gustav II. Adolf konkrete Gestalt an. Dieser König brachte
in den Verhandlungen mit Moskau 1615/1617 die Forderung nach Gewährung des
Rechtes auf Transit nach Persien für schwedische Kaufleute vor. 7 Im Friedensvertrag
von Stolbovo 1617 drang er damit jedoch nicht durch: Lediglich Diplomaten, keinesfalls aber Kaufleuten, gewährte der Zar einen solchen Transit. 8 Dennoch versuchte
der König im Folgejahr erneut, von der moskauischen Seite die Zusage zu erhalten, dass schwedische Kaufleute „nach Persien, ins Tatarische Land, auf die Krim,
ins Armenische Land und zurück“ reisen dürften. 9 Die Antwort war aber auch diesmal negativ. Hartnäckig verfolgte Gustav Adolf seinen Plan in Moskau weiter, wohl
nicht zuletzt aufgrund des 1621 erfolgten Zusammenbruchs des niederländischen
4
5
6
7
8
9
Vgl. zusammenfassend zuletzt Edmund Herzig: The Iranian Raw Silk Trade and European Manufacture in the Seventeenth and Eighteenth Centuries. In: Journal of European Economic History 19
(1990), S. 73–89.
Zur Kenntnis Persiens im Schweden des 17. Jahrhunderts vgl. Sven Hedin: Verwehte Spuren. Orientfahrten des Reise-Bengt und anderer Reisender im 17. Jahrhundert. Leipzig 1923, und Ture J. A.
Arne: Svenskarna och österlandet. Stockholm 1952.
Gustav I. lehnte 1557 sogar ein moskauisches Angebot auf freien Transit für schwedische Kaufleute
nach Persien als Gegenleistung für freien Transit russischer Kaufleute nach Westeuropa ab (vgl. Sven
Lundkvist: Gustav Vasa och Europa. Svensk handels- och utrikespolitik 1534–1557. Uppsala 1960,
S. 382), während Karl IX. zwar an einer Handelsverbindung mit Persien interessiert war, dabei aber
offensichtlich an den Seeweg dachte. Vgl. Karl R. Melander: Ruotsin neuvotteluja Persian ja Krimin
kaanikunnan kanssa 1600 – luvulla kauppayhteydestä ja liitosta. In: Historiallinen Arkisto XXXIV.
Juhlajulkaisu /festskrift 1875–1925. Bd. II. Helsinki 1925, Beitrag Nr. 3, S. 1–20, hier S. 2–6.
I. P. Šaskol’skij: Stolbovskij mir 1617 g. i torgovye otnošenija Rossii so švedskim gosudarstvom.
Moskva-Leningrad 1964, S. 43–46 und 55.
Vgl. den Text des Stolbovo-Vertrages vom 27. Februar 1617 in: Sverges traktater med främmande
magter jemte andra dithörande handlingar. Utg. af O. S. Rydberg och Carl Hallendorff. Bd. V /1:
1572–1632. Stockholm 1903, Dok. Nr. 24, S. 242–266, hier § 17, S. 256.
Iz pis’ma švedskogo pravitel’stva russkim poslam po povodu statej Stolbovskogo dogovora, posvjaščennych russko-švedskich torgovlej, 7. Juli 1618. In: Ėkonomičeskie svjazi meždu Rossiej i
Šveciej v XVII v. Dokumenty iz sovetskich archivov. Red. Lev Čerepnin [et al.]. Moskva 1978, Nr. 4,
S. 20, hier § 4.
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22
Armeno-Sueco-Muscovitica
Persienhandels über die Levante. 10 Die jetzt konkurrenzfähig werdende Route via
Russland führte allerdings zu einem regelrechten diplomatischen Wettlauf nach Moskau. Auch Niederländer, Engländer, Franzosen, Dänen u. a. versuchten, vom Zaren
entsprechende Privilegien zu erhalten. Am begehrtesten hierbei war die Erlaubnis,
eigene Kaufleute via Moskau nach Persien schicken zu können. An zweiter Stelle
strebte man die Möglichkeit an, in der russischen Grenzstadt Astrachan’ mit persischen Untertanen Geschäfte machen zu können. Und erst an dritter Stelle war man
daran interessiert, im Innern des Moskauer Staates, etwa in Kazan’ oder Moskau, mit
den Persern und Armeniern Gasthandel zu betreiben. Allerdings gab sich der Zar,
nicht zuletzt auf Drängen der gosti, intransingent. Ausländer konnten in Russland
Seide und andere persische Waren nur über den Umweg über russische Kaufleute
erwerben.
Das galt auch für schwedische Untertanen, denn eine Phase intensiver schwedisch-russischer Annäherung zu Beginn der dreißiger Jahre hielt nicht an. Gustav
Adolfs und Axel Oxenstiernas Persienpolitik, die zeitweise in Zusammenarbeit mit
dem Herzog von Holstein-Gottorp betrieben wurde, blieb daher ohne Erfolg. 11 Dennoch hatte sie zumindest eine bedeutsame Folge: Für den holsteinischen Persien- und
Russlandexperten Philip Crusius, dessen Reisen Adam Olearius in seinem bekannten
Buch beschrieben hat, wurde 1640 das schwedische Livland wie für so viele vor ihm
zum „Blievland“: Binnen kurzem sollte er nicht nur Burggraf von Narva, sondern vor
allem der wichtigste Berater der Krone in Sachen Osthandelspolitik werden. 12
Der später unter dem Namen Krusenstiern geadelte Crusius war es auch, der ab
1646 in mehreren Denkschriften den Plan einer schwedischen Gesandtschaft nach
Isfahan entwarf. Die schwedischen Diplomaten sollten den Schah dazu bringen, von
sich aus beim Zaren das Transitrecht für schwedische Kaufleute zu erwirken:
Sie müsten [. . . ] ex tabulis Geographicis zeigen, wie der Großfurst mit Jhr. Königl Maytt: zu
Schweden an der einen, und Schach an der andern Seyten so nahe grentzen, und zwischen
Jhnen beschlossen liege, alß gar, dass wenn diese beyde Potentaten Einig, des Großfürsten
beyderseits Unterthanen, die auß beyden Reichen biß nach Muscau zuhandeln, und denen
der Weg gar woll bekand, dem weitern blossen Fahrt aufflegen, und Durchgang durch seine
Landen wegen Handlung nach aller Völcker Rechten nicht würden können weigern, und
hette insonderheit der Schach die beste Gelegenheit, den Großfürsten, dass Er die Persianische Kauffleuthe mit ihren Wahren nach Jhr: Königl. Maytt. in Schweden angrentzenden
Landen von Muscau ab, weiter passiren lassen muste, dadurch zu constringiren, wann Er
auff Erfolgende Verweygerung denen Russen, und des Großfürsten Kauffleuthen allen Han-
10 Vgl. hierzu Jonathan I. Israel: Dutch World Primacy in World Trade, 1585–1740. Oxford 1989,
S. 149–156.
11 Zu diesem bislang nur unzureichend aufgehellten Kapitel schwedischer Persienpolitik vgl. vorläufig
noch Ernst Markus Kiecksee: Die Handelspolitik der Gottorfer Herzöge im 17. Jahrhundert. Ein Beitrag zur schleswig-holsteinischen Handelsgeschichte. Phil. Diss. Kiel 1952 (Universitätsbibliothek
Kiel, Signatur TU. 53.5356).
12 Vgl. Benigna von Krusenstjern: Philip Crusius von Krusenstiern (1597–1676). Sein Wirken in Livland als Rußlandkenner, Diplomat und Landespolitiker. Marburg /L. 1976.
Narva und der Außenhandel Persiens im 17. Jahrhundert
23
del in Persien versperrete, Nachdemmahl der Großfürst dessen, so woll seines eygenen
Schatzes, als deren in seinem Lande fallender und wieder aus Persien begehrter unentbehrlicher Wahren, unmüglich entrathen kan. 13
Vor allem der Gouverneur von Estland und Sohn des Reichskanzlers, Erik Oxenstierna, griff diese Gedanken auf und brachte sie der Krone nahe. 14 Dasselbe tat
Johan de Rodes, der 1650 bis 1655 als schwedischer Resident in Moskau tätig war.
Er befasste sich nicht nur theoretisch mit dem Persienhandel, sondern auch praktisch, indem er dem Revaler Russlandlandkaufmann Michael Paulsen beim Erwerb
persischer Seide in Novgorod und Moskau behilflich war. Da wegen des englischniederländischen Seekrieges die Archangel’skroute in der ersten Hälfte der 1650erJahre nur eingeschränkt nutzbar war, gelang es Paulsen, vom Zaren Genehmigungen
zur Ausfuhr von circa 300 Ballen 15 Rohseide zu erhalten. 16 Erstmals wurde damit
eine größere Quantität dieses teuren Produkts über Schweden geführt. Obwohl Aussagen über die Größenordnung des damaligen Weltseidenhandels problematisch sind,
dürfte diese Menge etwa ein Fünftel dessen ausgemacht haben, was der Hauptkunde
für Rohseide, nämlich die Stadt Amsterdam, in der Mitte des 17. Jahrhunderts pro
Jahr aus Persien bezog. 17 Der moskauische Angriff auf Schweden vom Sommer 1656
beendete allerdings diese Art von Handel.
13 Vgl. Uppsala universitetsbibliotek. Handskriftsavdelning, L 161, fol. 38 r–v. In diesem Band finden
sich unter Abschriften anderer Denkschriften Ph. Crusius’ auch solche, die sich auf Persien beziehen:
(1) Gründliche Nachricht und Anweysung Worinnen die Russische Handlung furnemblich bestehe,
wie es mit der Archangelschen Fahrt eygentlich beschaffen, waß für Zufälle den Handel aus dem Finnischen Meerbusen vor Jahren dahin verjaget, und auff waß Arth und Weyse der Handel von dannen
wieder anhero nach Reval kan gezogen werden, Auß einiger Anmerckung des Großfurstenthumbß
Rußland und angrentzender Königreiche und Lande beschaffenheit zu bezeigung Unterthänigster Devotion auffgesetzet durch. P. K. Reval, 29. Dezember 1646 [Abschrift mit „Dedication“ an Christina,
Reval, 8. Januar 1647], fol. 10–35; (2) Unterthänigste Anleytung Welcher Gestalt die Archangels
Fahrt zu Dismembrirn und derselben eine gute Anzahl nach Reval fueglich zuziehen sey; Auch Waß
die Reducirung des Russischen Handelß nach der Ost=See mit sich führe. Stockholm, 22. Juli 1648,
fol. 3–9; (3) Unterthäniges, Einfältiges Bedencken und Anweysung wie durch den Schach in Persien bey gegenwärtiger Zeitt, der Weg zu der Asiatischen Handlung über die Caspische See, durch
Rußland auff der Volga nach der OstSee zueröffnen. Stockholm, 1. August 1653, fol. 36–41 [Die
Datierung auf 1663 ist falsch, wie aus einer anderen Abschrift in Diplomatica Persica, vol. 1, hervorgeht].
14 Vgl. z. B. Svenska riksrådets protokoll. Bd. XII: 1647–1648. Stockholm 1909, S. 331–332
(29. Mai 1648).
15 Ein Ballen Rohseide wog etwa 100 kg und besaß einen Wert von ca. 600 Reichstalern.
16 Vgl. hierzu die Edition von J. de Rodes’ Berichten (Boris G. Kurc: Sostojanie Rossii v 1650–1655 g.
g. po donesenijam Rodesa. Moskva 1914) sowie zu J. de Rodes’ Persien-Plänen im allgemeinen
seinen Brief an Kristina. O. O., o. D. [1650], 3 fol. In: RAS, Diplomatica Persica, vol. 1: Ludvig
Fabricius’ papper 1679–1700. Svensk-persianska förhandlingar 1607–1700 (hier Mappe „Förhandlingar 1607–1698“). Zu M. Paulsens Seidengeschäften s. auch Helmut Piirimäe, M. Rand, T. Ilomets:
Andreas Baeri perekonnakroonika. In: Folia Baeriana 2 (1976), S. 122–162, hier S. 127–133.
17 Vgl. Tab. 5.10: Estimated annual imports of raw silk to the Dutch entrepôt, 1630. Bei: Israel: Dutch
Primacy, S. 154.
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Armeno-Sueco-Muscovitica
Dennoch trat auch unter Karl X. Gustav die Kontinuität schwedischer Handelskontrollpolitik gegenüber Moskau einschließlich der persischen Komponente deutlich hervor. Bereits beim ersten Waffenstillstandsfühler mit Moskau Ende 1656 ließ
der König durch seine Unterhändler die Forderung vortragen, „dass die Untertanen
Ihrer Königl. Majestät frei und unbehindert reisen und ihren Handel und Wandel
treiben mögen, sowohl in und durch alle Herrschaften, Länder, Provinzen und Städte
des Großfürsten hindurch und insonderheit nach Kazan und Astrachan, wo sie ein
Handelshaus haben sollen, als auch mit anderen Völker und Länder in Asien, die
außerhalb des Machtbereichs des Großfürsten liegen, vor allem nach und von Persien [. . . ].“ 18
Desgleichen drängte Karl X. Gustav auf einen Durchbruch in der Frage des Persienhandels beim bevorstehenden Friedensschluss mit Moskau. Wie Ph. v. Krusenstiern berichtete, hatte der König diesbezüglich „zue untersch[i]edenen mahlen mit
mihr allergnädigste unterredung gehalten“ und ihn zum Jahreswechsel 1659/1660
gefragt, „ob und wie zuegleich zue einer handlungs-correspondence mit Perßien und
selbigen Asiatischen orten zue gelangen“ sei. 19 Darüberhinaus hatte er ihm zu verstehen gegeben, dass er „auß diesen [. . . ] sachen noch viel mit mihr zue reden hette“
und er, „so bald nur der damahlige reichstag geslossen, eine gewisse zeit dazue nehmen und mich alßdann vollents abfertigen wolte.“ 20 Dazu kam es durch den Tod des
kriegerischen aber extrem übergewichtigen Karoliners im Februar 1660 nicht mehr.
Der Friedensvertrag von Kardis von 1661 war dann auch und vor allem in handelspolitischer Hinsicht eine bloße Bekräftigung des Stolbovo-Vertrages von 1617.
Weder in den Verhandlungen noch im Vertragstext tauchte die Frage des Persientransits auf. 21 Dennoch bzw. eben deshalb bemühte sich die schwedische Russlanddiplomatie auch die gesamten 1660er- und die erste Hälfte der 1670er-Jahre hindurch, vom
Zaren das Transitrecht nach Persien zu erhalten. Die Konzessionen, die man dafür in
Aussicht stellte, wurden immer gewichtiger: War man anfänglich bereit, russische
Kaufleute von Nyen, Narva, Reval und Riga aus nun auch in nicht-schwedische Ostseehäfen weiterreisen zu lassen, so bot man in der Folgezeit den freien Transit sogar
in die Niederlande und nach England an. Desgleichen offerierte man russischen Untertanen zunächst Handelsfreiheit in allen Hafenstädten des eigentlichen Schweden –
18 Instruktion Karls X. Gustav für Magnus Gabriel De la Gardie. Marienburg. 9. Dezember 1656, 22 §§.
In: Den Swenska Mercurius 6 (1761), März-Heft, S. 548–561, hier § 20, S. 560.
19 Philip v[on] Krusenstiern: Allerunterthänigste eröfn- und anweisung, wie und auff waß weise bey
gegenwertigen zuestande, zur destruirung der Archangelschen fahrt zue gelangen und die dahin
entwichene Russische handlung nach der Ostsee und in sinum Finnicum wieder zue ziehen sey.
Stockholm, 18. Juni 1660. In: Ekonomiska förbindelser mellan Sverige och Ryssland under 1600talet. Dokument ur svenska arkiv. Red. Artur Attman [et al.]. Stockholm 1978, Dok. Nr. 22, S. 142–
152, hier S. 144.
20 Ibid.
21 Vgl. Helmut Piirimäe: Kaubanduse küsimused Vene-Rootsi suhetes 1661.–1700. a. Tartu 1961,
S. 14–23, sowie die einschlägigen Paragraphen 10 bis 18 des Kardis-Vertrags in: Russko-švedskie
ėkonomičeskie otnošenija v XII veke. Sbornik dokumentov. Red. M. P. Vjatkin, I. N. Firsov. Sost.
M. B. Davydova, I. P. Šaskol’skij & A. I. Jucht. Moskva-Leningrad 1960, Dok. Nr. 136, S. 198–202.
Narva und der Außenhandel Persiens im 17. Jahrhundert
25
bis dahin konnte nur Stockholm angelaufen werden –, dann gar die Freigabe des russischerseits so geschätzten innerschwedischen Metallmarktes. 22 Dennoch wogen aus
russischer Sicht die potentiellen Vorteile dieser mangels Druckmittel eingesetzten
schwedischen Lockmittel die ganz realen Vorteile der Weißmeerroute mitnichten auf.
Der Zar war sich des fiskalischen Nutzens eines Direkthandels mit Ausländern auf
seinem eigenen Territorium wohl bewusst, wie auch derjenige einflussreiche Teil der
gosti, der die Route Moskau-Archangel’sk kontrollierte, strikt gegen die Ostseeroute
war.
Dass trotzdem Bewegung in die Frage des Persien-Transits kam, hatte ganz andere Gründe, die mit der schwedischen Politik nur in indirektem Zusammenhang
standen. Zum einen erteilte der Zar vornehmlich aus bündnispolitischen Erwägungen
in den 1660er- und 1670er-Jahren den armenischen Untertanen des Schahs mehrere
Privilegien, die, wie erwähnt, 1676 in einer Transitgenehmigung gipfelten. 23 Und
zum anderen traf im Jahr darauf in Stockholm ein Offizier niederländischer Herkunft
ein, der dort mit Erfolg an die Ideen Ph. v. Krusenstierns anknüpfte. Dieser Ludvig Fabritius war 1668 in zarischen Diensten an der Volga in die Gefangenschaft des
aufständischen Bauernführers Sten’ka Razins geraten, aus der er nach Persien fliehen
konnte. Dort machte er die Bekanntschaft des armenischen Großkaufmanns Grigoris Lusikjan, welcher im Auftrag des Schahs die besagten Privilegien des Zaren für
die Armenische Handelskompanie ausgehandelt hatte. 24 In Stockholm angekommen
bot nun L. Fabritius der schwedischen Krone an, nach Isfahan zu reisen, um mittels seiner Kontakte dort für die Umleitung der neuen persischen Ausfuhrroute nach
Westeuropa, also weg von Archangel’sk und hin nach Narva, zu sorgen. König und
Bürokratie waren von den Kenntnissen und Plänen des Offiziers beeindruckt und erklärten sich bereit, ihn in amtlichem Auftrag zum Schah zu schicken. Nachdem auch
die schwierige Frage der Finanzierung der Mission geklärt war, brach L. Fabritius im
Sommer 1679 nach Moskau und Isfahan auf. 25 In der persischen Hauptstadt übergab
er ein Memorandum, welches die folgenden vier Vorschläge bzw. Mitteilungen enthielt: (1) Schweden gestattet persischen Kaufleuten die Einreise; (2) auf zwei Jahre
werde Zollfreiheit gewährt; (3) Schweden werde auf eigene Kosten Frachtschiffe im
Kaspischen Meer bauen; und (4), die Entfernung Moskau-Narva betrage lediglich
22 Zu diesen noch nicht systematisch untersuchten Verhandlungen 1662–1674 vgl. die fragmetarische
Dokumentation samt Kommentaren in den drei Quelleneditionen Russko-švedskie ėkonomičeskie otnošenija, Ėkonomičeskie svjazi meždu Rossiej i Šveciej und Ekonomiska förbindelser mellan Sverige
och Ryssland.
23 Vgl. hierzu Stefan Troebst: Isfahan – Moskau – Amsterdam: Zur Entstehungsgeschichte des moskauischen Transitprivilegs für die Armenische Handelskompanie Persiens (1667–1676). In: Jahrbücher
für Geschichte Osteuropas 41(1993), H. 2, S. 180–209 [und im vorliegenden Band].
24 Zu L. Fabritius vgl. seine undatierte Autobiographie, 2 fol. In: RAS, Biographica F, vol. 1: Faber-Fabritius, sowie Johan Kempe: Kongl. Swenska Envoijen Ludwich Fabritii Lefwerne. Stockholm 1762,
und Bengt Hildebrand: Ludvig Fabritius. In: Svenskt biografiskt leksikon 14 (1953), S. 733–737.
25 Vgl. die Dokumentation in: RAS, Diplomatica Persica, vol. 1: Ludvig Fabricius’ papper 1679–1700.
Svensk-persianiska förhandlingar 1607–1700, hier die Mappe „L. Fabritius’ 1sta resa 1679–1689“.
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136 Meilen. 26 Während die Reaktion des Schahs freundlich, aber indifferent ausfiel,
zeigten die armenischen Kaufleute Isfahans mehr Interesse. Zurück in Stockholm,
riet L. Fabritius zur Entsendung einer weiteren, diesmal ranghöheren Mission nach
Persien, und wiederum wurde er selbst mit dieser Aufgabe betraut. Im April 1683
begann er seine zweite Gesandtschaftsreise nach Persien. 27 Dieses Mal zeigte die
persische Führung mehr Interesse an ihm, wohl nicht zuletzt, weil die niederländische Ostindienkompagnie am Golf militärischen Druck auf den Schah ausübte, um
ihn zu Zollerleichterungen und Zollrückzahlungen zu zwingen. Außerdem war kurz
zuvor eine umfangreiche Lieferung von 400 Ballen Rohseide auf der Route Archangel’sk-Amsterdam von Dünkirchener Kaperern aufgebracht worden. Der persische
Großwesir fragte L. Fabritius daher eingehend „nach fielen umstenden wie weidt
Sweden von dannen wehre, undt wie weidt Sweden von Reuslandt wehre, ob die
Reise zu waßer oder zu landt gethan muste werden“ 28 und ordnete die Aufnahme
von Verhandlungen zwischen dem Gesandten und der Armenischen Kompanie an.
Deren Vertretern antwortete L. Fabritius auf ihre Klage über die Unsicherheit der
Weißmeer-Route:
[S]ie hädten sich nicht sollen von die Reüsen, Holländer undt Engelländer so verführen laßen, den[n] dero bester wech wehre über Novogrot und so auff Narwa oder Rewel undt so
weiter auff Lybeck über die Ostseh. 29
Dieses Argument überzeugte die Kompanie. Obwohl L. Fabritius somit den Isfahaner Teil seiner Mission im Herbst 1684 erfolgreich abgeschlossen hatte, konnte
er erst zwei Jahre später die Heimreise antreten. Allerdings wurde er diesmal von
Abgesandten der Armenischen Handelskompanie begleitet, welche testhalber 30 Ballen Rohseide mit sich führten, die sie über Narva und Stockholm nach Amsterdam
auszuführen gedachten. In Moskau angekommen, gelang es L. Fabritius und seinen
armenischen Begleitern, der russischen Seite ihr Bestehen auf einer Benutzung der
Archangel’skroute auszureden und eine Ausfuhrerlaubnis für die Route über Novgorod nach Narva zu erwirken. Eine entscheidende Rolle spielte dabei der damalige
Leiter der moskauischen Außenpolitik, Fürst Vasilij V. Golicyn, der zum einen auf
26 Anlage Nr. A 2 bei Kempe: Fabritii Lefwerne, S. 158–159 (Dort irrtümlich als „Konungens af Persien
öpna Bref“ bezeichnet).
27 L. Fabritius’ Gesandtschaftssekretär bei dieser Mission war der Lemgoer Forschungsreisende Engelbert Kaempfer, der eine reichhaltige Dokumentation hierzu hinterlassen hat. Vgl. British Library
London. Department of Manuscripts. Sloane Collection, MSS. 2923, 3063 und 3064, sowie den Überblick über die umfangreiche Kaempfer-Literatur von Detlef Haberland: Engelbert Kaempfer. Leben –
Werk – Wirkung. In: 800 Jahre Lemgo. Aspekte der Stadtgeschichte. Hrsg. Peter Johanek und Herbert
Stöwe. Lemgo 1990, S. 311–325.
28 Ludvig Fabritius’s MS. entitled Kurtze Relation von meine drei gethane Reisen. Appendix zu:
S[ergei] Konovalov: Ludvig Fabritius’s Account of the Razin Rebellion. In: Oxford Slavonic Papers
6 (1955), S. 72–101, hier S. 97.
29 Ibid.
Narva und der Außenhandel Persiens im 17. Jahrhundert
27
persische wie schwedische Unterstützung für seine Feldzüge gegen das Osmanische
Reich hoffte, zum anderen persönlich eng mit Armeniern in Moskau liiert war. 30
Im Sommer 1687 traf L. Fabritius mit den drei armenischen Bevollmächtigten
in Stockholm ein, wo auf Anweisung Karls XI. umgehend eine Regierungskommission gebildet wurde, die mit ihnen über eine Privilegienvergabe konferieren sollte.
Das Ergebnis war ein königliches Oktroi vom 23. September 1687, in welchem der
armenischen Kompanie die folgenden Zugeständnisse gemacht wurden: (1) „Ein Bequemes Haus“ in Narva samt Protektion der Krone in ganz Schweden; (2) eine garantierte Zollobergrenze in Höhe von 2 % auf alle Waren, die die Armenier aus Persien
und Russland nach Schweden ein- bzw. im Transit durchführten; (3) eine ebensolche
Obergrenze in Höhe von 1 % für europäische Retourwaren; (4) völlige Zollfreiheit
auf alle Einfuhr- und Retourwaren nicht nur für die von L. Fabritius in Aussicht gestellten ersten beiden Jahre, sondern für insgesamt drei Jahre; (5) unterschiedliche
Seidensorten und einige andere Waren sollten je nach Qualität mit unterschiedlichen
Zöllen belegt werden; (6) für den Transport zwischen der russischen Grenze und
Narva würde die schwedische Seite je nach Jahreszeit Boote, Pferdefuhrwerke und
Schlitten zum üblichen Tarif bereitstellen; und (7) würde Schweden ausreichenden
Schiffsraum auf dem Seeweg Narva-Amsterdam anbieten. 31 Diese Konzessionen,
vor allem Zollfreiheit und Zollsatz, waren für schwedische Verhältnisse sehr weitreichend und sind ein Indikator für das Gewicht, das aus Stockholmer Sicht dem
Programm zur Kontrolle des Ost-West-Handels zukam. Dass in diesem Programm
nun vor allem Narva, und nicht länger Reval, als Zentrum firmierte, hatte bereits
1684 die gleichfalls höchst ungewöhliche Vergabe des Privilegs auf Religionsfreiheit
durch Karl XI. an englische Kaufleute belegt. 32
30 Vgl. zu seiner Rolle zuletzt Lindsey A. J. Hughes: Russia and the West, the Life of a SeventeenthCentury Westernizer, Prince Vasily Vasil’evich Golitsyn (1643–1714). Newtonville, MA, 1984, sowie
zu seinen Verbindungen zu armenischen Handwerkern in Moskau E. Lermontov: Šëlkovaja fabrika v
pravlenie carevny Sofi Alekseevny. Petrograd 1915.
31 Oktroi Karls XI. „für einige Armenianische Kauffleute“, Stockholm, 23. September 1687, 7 §§. Der
schwedische Wortlaut ist weder in der Riksregistratur noch in einer anderen Abschrift auffindbar gewesen. Eine zeitgenössische deutsche Übersetzung findet sich als Anlage zu einer Eingabe von Adam
Brand an einen brandenburgischen „Geheimen Rat“ (Friedrich Kupner oder „Ilgen“?) aus dem Jahr
1708 in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Abt. Merseburg, Repositur 7: Preußen,
Nr. 108: Acta betr. Handel der Armenischen Kaufleute nach Königsberg 1708, fol. 4–5. Friedrich I.
trug sich 1708 mit dem Gedanken, den Armeniern ein Oktroi zur Niederlage in Königsberg zu erteilen, dessen Entwurf in Form und Inhalt mit dem schwedischen aus dem Jahr 1687 fast identisch war.
Vgl. eine geplante „Concession“ Friedrichs I. an armenische Kaufleute, o. D. [1708], ibid., fol. 8–23.
32 Vgl. Lars Hagberg: Johannes Gezelius d. y. och engelsmännens religionsfrihet i Narva 1684. In: Kyrkohistorisk årsskrift 1948, S. 111–125, sowie weiter Dirk Erpenbeck: Die Engländer in Narva zu
schwedischer Zeit. In: Zeitschrift für Ostforschung 38 (1989), S. 481–497. Gleich Reval spielte auch
Riga nun lediglich eine untergeordnete Rolle hinsichtlich einer Umleitung des Außen- und Transithandels durch den Moskauer Staat hindurch. Vgl. hierzu Stefan Troebst: Stockholm und Riga als
„Handelsconcurrentinnen“ Archangel’sks? Zum merkantilen Hintergrund schwedischer Großmachtpolitik 1650–1700. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 48 (1993), S. 259–294.
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Armeno-Sueco-Muscovitica
Der König ordnete denn auch eigens an, dass „dieße Nation“, also die Armenier,
„mit aller bescheidenheit soll tractiret und bey gutem humeur auf dienliche weise
erhalten“ 33 werden. Wie strikt diese Weisung befolgt wurde, zeigten die zahlreichen Ausnahmegenehmigungen, mit denen die Krone in der Folgezeit zahlreichen
speziellen Wünschen der armenischen Kaufleute bereitwilligst entsprach. So wurde
beispielsweise auch persischen Untertanen, die nicht über die Ostsee nach Amsterdam gereist waren, auf dem Rückweg über Narva dennoch der niedrige Zollsatz für
Retourwaren eingeräumt. 34
Als Gegenleistung für die Erteilung des Oktroi stellten die armenischen Unterhändler die Verlegung ihrer Nordroute via Moskau in die Niederlande von Archangel’sk nach Narva in Aussicht. Zielstrebig weckten sie dabei schwedische Hoffnungen, an deren Erfüllung sie wohl kaum ernsthaft dachten. Auf die Frage von Kommerzkollegiumspräsident Fabian Wrede, ob ihre Kompanie bereit wäre, Retourwaren
statt in den Niederlanden in Narva zu erwerben, erhielt er vom Delegationsleiter Safar Nersisjan folgende Antwort:
Der alte Armenier betonte, nichts mehr anzustreben, als aus Narva dieselbe Stapelstadt wie
aus Amsterdam zu machen; und wenn sie in Narva ihre Retourwaren bekämen, so wären
sie damit sehr zufrieden. 35
Daraus wurde zwar schon des geringen Kapitals der Narvaer Bürgerschaft und des
folglich beschränkten Warenangebots in der Stadt wegen nichts, doch war nun der
Grundstein für die Inbetriebnahme der neuen Handelsverbindung Persien – Schweden gelegt.
Nur am Rande sei hier erwähnt, dass Karl XI. nicht nur außenhandelspolitische
und fiskalische Hoffnungen auf die neue Verbindung zum persischen Markt setzte,
sondern gemäß seiner merkantilistischen Politik der Importsubstitution zugleich den
Aufbau einer schwedischen Seidenindustrie anstrebte und somit an ständigem Nachschub dieses Rohstoffes höchst interessiert war. 36 Aus diesem Grunde nötigte er 1687
den Stockholmer Magistrat dazu, den Armeniern die erwähnten 30 Ballen Rohseide
zu überhöhtem Preis abzukaufen und eine städtische Seidenmanufaktur zu eröffnen.
Dieses Unternehmen endete nach einigen Jahren mit einem finanziellen Fiasko 37,
33 Karl XI. an O. W. v. Fersen, 11. November 1691 (nicht erhalten); hier zit. nach Christoffer von Kochen
an Karl XI. Narva, 6. April 1696, in: RAS, Kommerskollegium. Huvudarkivet. Inkomna handlingar.
Kungliga brev och remisser. b) Supplementserie (E I b), vol. 1: 1673, 1688–1706, fol. 117–118, hier
fol. 117 v.
34 Lediglich die Forderung der Armenier nach Religionsfreiheit in Narva scheint abschlägig beschieden
worden zu sein. Vgl. hierzu Ja. R. Daškevič: Armjano-švedskie kontakty v XVII v. In: Vsesojuznaja
konferencija po izučeniju istorii, ėkonomiki, literatury i jazyka skandinavskich stran i Finljandii. Tezisy dokladov. Red. A. O. Čubar’jan [et. al.] 1. Halbbd. Moskva 1989, S. 49–50, hier S. 50.
35 Kommerzkollegiumsprotokoll vom Nachmittag des 13. September 1687. In: RAS, Kommerskollegium. Huvudarkivet. Protokoll (A I a 1), vol. 33: 1687.
36 Vgl. allgemein Sven Grauers: Till belysning av det karolinska enväldets näringspolitik åren 1686–
97. In: Karolinska förbundets årsbok 1960, S. 21–70.
37 Vgl. hierzu die detaillierte Darstellung bei Carl-Fredrik Corin: Självstyre och kunglig maktpolitik
inom Stockholms stadsförvaltning 1668–1697. Stockholm 1958, S. 345–363.
Narva und der Außenhandel Persiens im 17. Jahrhundert
29
wohl vor allem, weil die Technologie zur Verarbeitung hochwertiger Rohseidearten
fehlte. Die Probleme, die diese Kombination von wirtschaftspolitischem Protektionismus und technologischer Inkompetenz verursachten, bestanden auch zehn Jahre
später noch. Angesichts von zunehmenden Protesten gegen das 1688 erlassene strikte
Verbot des Imports preiswerter Seidenprodukte aus Westeuropa musste das Kammerkollegium einräumen, dass die schwedische Seidenindustrie zur Versorgung des
Binnenmarktes noch immer nicht in der Lage sei. 38
Während die fiskalische Wirkung des schwedischen Oktrois von 1687 aufgrund
der dort gewährten zollfreien Jahre zunächst auf sich warten ließ, war der handelspolitische Effekt beträchtlich: Wie zeitgenössische moskauische Quellen belegen, hat
es eine überaus rasche und vollständige Umorientierung der Armenier von Archangel’sk nach Narva bewirkt. Schon 1688 reisten letztmals armenische Kaufleute über
das Weiße Meer in die Niederlande, sodann ausschließlich über die Ostsee. 39
Die Palette an persischen Waren, welche die Armenier über Narva nach Westen
führten, war nicht sehr breit. Neben Rohseide, die mit Abstand das Gros ausmachte,
handelte es sich um Saffianleder sowie um kleinere Mengen an Baumwolle, Farben, Medikamenten, Safran, Weihrauch, Petroleum, Tapeten, Textilien, Porzellan,
Perlen, Diamanten und anderen Edelsteinen. 40 Auf dem Rückweg wurden vor allem
preiswerte Stoffe aus niederländischer, mitunter gar schwedischer Produktion sowie
Kupfer- und Metallwaren oder Spiegel nach Persien mitgeführt. 41
Was den quantitativen und wertmäßigen Umfang der ab 1687 von den Armeniern über Narva umgeschlagenen Ausfuhr- und Retourwaren betrifft, so gibt es
hierzu fast nur narrative, kaum statistische Quellen. Gemäß schwedischen Archivalien sowie nach einer Übersicht der Moskauer Historikerin Nina Kukanova zu
urteilen sind um 1690 via Narva jährlich 200–300 Ballen Rohseide im Wert von
ca. 1.200.000 Reichstalern exportiert worden. 42 Allerdings stieg in der Mitte der
1690er-Jahre das Warenvolumen beträchtlich an. So trafen allein in den ersten vier
Monaten des Jahres 1696 503 Ballen Rohseide im Wert von ca. 300.000 Reichstalern
in Narva ein. 43 Aufgrund der 1687 gewährten und anschließend bis 1692 verlänger-
38 Friedrich Ferdinand Carlson: Geschichte Schwedens. Bd. V: Bis zum Tode Carl’s XI. Gotha 1875,
S. 468.
39 Vgl. Tab. 2: Poseščenie armjanskimi kupcami russkich gorodov v 1676–1697 gg. bei Kukanova:
Očerki, hier S. 91–99.
40 Ph. v. Krusenstiern: Allerunterthänigste eröfn- und anweisung, S. 149–150.
41 Vgl. O razrešenii vyezda iz Moskvy v Astrachan’ kupcam Anušu Vartanovu i Safaru Vasil’evu s tovarami, privezennymi imi iz Švecii. Moskau, 25. August 1688. In: Armjano-russkie otnošenija v XVII
veke. Sbornik dokumentov. Red. V. A. Parsamjan, Erevan 1953, Dok. Nr. 72, S. 196–197, hier S. 197.
42 Vgl. die genannte Tab. 2 bei Kukanova: Očerki.
43 Chr. von Kochen an Karl XI. Narva, 6. April 1696, fol. 117 r. Vgl. auch die Warenverzeichnisse in:
Čelobitnjaja armjanskich kupcov Grigorija Davydova, Jakova Davydova, Savelija Sergeeva, Nikolaja
Tarasova, Nikity Bogdanova, Chačika Michajlova, Isi Grigorija Christoforovych, Arakela Petrova i
drugich o razrešenii vyezda s tovarami v Šveciju, Moskau, Februar 1696. In: Armjano-russkie otnošenija, Dok. Nr. 86, S. 213–224. – Zu den genannten 503 Ballen Rohseide, die Kaufleute aus Persien
nach Narva gebracht hatten, kamen weitere 33 Ballen Rohseide hinzu, die von russischen Kaufleuten
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Armeno-Sueco-Muscovitica
ten Zollfreiheit tauchte dieser neue Warenstrom in den Lizent- und Portorienbüchern
Narvas zunächst nicht auf. 44 Mangels gesicherter Daten über den persischen Gesamtexport an Rohseide nach Westen – Schätzungen schwanken hier zwischen 1500 und
8000 Ballen pro Jahr 45 – lässt sich auch über den Anteil der Nordroute hieran wenig
mehr sagen, als dass dieser wohl nur einige wenige Prozent, in Ausnahmejahren wie
etwa 1696 möglicherweise bis zu 10 %, betragen haben dürfte.
In Narva selbst führte der zunehmende Handel der Armenier rasch zu beträchtlichen Kapazitätsproblemen. Kamen zu Beginn der 1690er- Jahre jährlich 20 bis
30 armenische Kaufleute dort an, die für ihr Personal und ihre Waren große Platzbedürfnisse anmeldeten, so waren es in der Mitte des Jahrzehnts schon doppelt so viele.
Nachdem die Untertanen des Schahs anfangs provisorisch im Keller des neuen Narvaer Rathauses untergebracht worden waren, mietete der Magistrat 1690 auf Kosten
der Krone ein eigenes, im Rohbau befindliches Haus, welches nach Fertigstellung
jedoch gleichfalls bald aus allen Nähten platzte. Daher wurde der Bau eines eigenen,
größeren „Persianischen Hauses“ begonnen, welches aber erst Ende der neunziger
Jahre bezugsfertig war. Der Narvaer Burggraf Christoph von Kochen, der die Zahl der
in der Stadt befindlichen Armenier 1696 auf „über die 50: Persohnen Ihre Bedienten
nicht mitgerechnet“ schätzte, zog daher die Sache an sich und brachte einige von ihnen auf Kosten der Stadtkasse unter. 46 Kein Wunder also, dass zum selben Zeitpunkt
der Narvaer Farsi- und Armenisch-Dolmetscher Jochum Ekebohm über Arbeitsüberlastung klagte und zur Kompensation und Aufbesserung seines staatlichen Lohnes
die Erlaubnis erbat, auf eigene Rechnung mit den Isfahaner Gästen Handel treiben
zu dürfen. 47
Trotz seiner neuen Rolle im Weltrohseidehandel war Narva am Ende des 17. Jahrhunderts aber sicher keine „Stadt am seidenen Faden“, wie Peter Kriedte das Krefeld
des 19. Jahrhunderts genannt hat. 48 Denn die wirtschaftliche Bedeutung der Stadt am
44
45
46
47
48
dorthin geführt worden waren. Die letztgenannten kündigten Chr. v. Kochen auch die baldige Ankunft
von weiteren 60 Ballen an. Vgl. wiederum den zitierten Brief Chr. von Kochens vom 6. April 1696,
hier fol. 117 r–v.
Zur Entwicklung der Einkünfte aus den verschiedenen in Narva erhobenen Zöllen vgl. Ch. A. Pijrimjaė: Tendencija razvitii i ob-em torgovli Pribaltijskich gorodov v period švedskogo gospodstva v
XVII veke. In: Skandinavskij sbornik 8(1964), S. 99–115, hier Tab. 3: Razvitie torgovli po dochodam
ot portorija (S. 106); Tab. 4: Indeksy rosta Narvskoj torgovli (S. 108); und Tab. 6: Razvitie torgovli po
dochodam ot licenzii (S. 109).
Herzig: The Iranian Raw Silk Trade, S. 76–77 und 80.
Chr. von Kochen an Karl XI. Narva, 6. April 1696, hier fol. 117 v (Zitat fol. 117 r). – Diese Angabe
wird durch das Narvaer Zollbuch bestätigt, welches für 1696 zwei Perser und 15 Armenier registrierte, die mit ihren Retourwaren von Lübeck kommend in der Stadt eintrafen. Vgl. Ch. A. Pijrimjaė:
Russko-švedskie otnošenija i narvskaja torgovlja v 1661–1700 gg. Avtoreferat dissertacii na soiskanie učenoj stepeni kandidata istoričeskich nauk. Tartu 1962, S. 23 (Die zugehörige Dissertation trägt
den Titel Vene-Rootsi majanduslikud suhted ja Narva kaubandus a. 1661–1700).
Kammer- und Kommerzkollegium – Karl XI. Stockholm, 10. März 1696, 2 fol. In: RAS, Kommerskollegium till K. M:t, vol. 13: 1696.
Peter Kriedte: Eine Stadt am seidenen Faden. Haushalt, Hausindustrie und soziale Bewegung in Krefeld in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1991.
Narva und der Außenhandel Persiens im 17. Jahrhundert
31
Finnischen Meerbusen beruhte ja vor allem auf ihrer Funktion als Umschlagspunkt
im zeitgleich stark zunehmenden Handel mit den sogenannten naval stores sowie
Industriepflanzen, Waldprodukten, Häuten usw. zwischen Nordeuropa und dem Moskauer Staat. 49
Dass Narva in dem Jahrzehnt, in dem der Persienhandel über die Ostsee in Gang
kam, nur einen relativ bescheidenen Anteil der persischen Rohseideausfuhr auf sich
zog, lag aber nicht nur an den genannten Problemen in der Stadt selbst. Mindestens ebenso gravierend war der Mangel an ausreichendem Schiffsraum auf der Route
Amsterdam-Narva. Denn immer häufiger gelangten die Armenier auf dem Rückweg
lediglich bis zu den Häfen Reval, Riga oder Stockholm, von wo aus sie entweder
auf ein anderes Schiff warten oder zu Land weiter nach Narva mussten. Dies kostete
neben Geld vor allem zusätzliche Zeit. Aber auch andere Faktoren verlängerten die
Gesamtreisedauer erheblich, so dass eine Handelsreise von Isfahan über Narva nach
Amsterdam und zurück in der Regel deutlich länger als ein Jahr dauerte. Während
auf die eigentliche Hin- und Rückfahrt nur ca. sechs Monate entfielen, sorgte vor allem die bürokratische Praxis der Passausgabe im Moskauer Gesandtschaftsprikaz für
lange Verzögerungen. Gleichfalls nicht eben zugunsten Narvas wirkte sich auch eine
innerarmenische Entwicklung aus: Die Zunahme des Warenverkehrs auf der Nordroute führte zu Rivalitäten innerhalb der armenischen Kaufmannschaft Isfahans, im
Zuge derer sich ab 1695 einzelne Kaufmannsgruppen bemühten, neue Routen – etwa
über das Schwarze Meer und Polen nach Mitteleuropa – oder auch andere Ausfuhrhäfen in der Ostsee zu erschließen. Libau, Königsberg und Danzig waren hier im
Gespräch. Die schwedische Krone reagierte darauf, indem sie L. Fabritius 1697 zu
seiner dritten Persien-Mission abfertigte. Zusätzliches Ziel war es, sowohl beim Zaren wie beim Schah die Erlaubnis zu erwirken, dass nun auch schwedische Kaufleute
im Transit nach Persien reisen und in Isfahan einen Handelshof unterhalten dürften. 50
Die Mission war ein Fehlschlag, dem indes nur noch beschränkte Bedeutung zukam. Als nämlich L. Fabritius im Frühsommer des Jahres 1700 wieder in Stockholm
eintraf, warf der aufziehende Krieg bereits seine Schatten auf die fragile Handelsverbindung. Im Juli des Jahres unternahmen die Armenier Schritte zur Verlegung
ihrer Niederlassung vom exponierten Narva ins geschütztere Reval, doch der Kriegsausbruch im Folgemonat führte zur sofortigen und dauerhaften Unterbrechung der
49 Vgl. zur sprunghaft steigenden Bedeutung Narvas vor allem für den Russlandhandel Englands
R. W. K. Hinton: The Eastland Trade and the Common Weal in the Seventeenth Century, Cambridge
1959 (Reprint Hamden, CT, 1975), und Sven-Erik Åström: From Stockholm to St. Petersburg. Commercial Factors in the Political Relations Between England and Sweden, 1675–1700. Helsinki 1962.
50 Vgl. die Dokumentation in: RAS, Diplomatica Persica, vol. 1: Ludvig Fabricius’ papper 1679–1700.
Svensk-persianiska förhandlingar 1607–1700, hier die Mappe „L. Fabritius’ 1sta resa 1697–1700“,
sowie einen Auszug aus der Gesandtschafskorrespondenz in: DelaGardiska Archivet, eller Handlingar ur Grefl. DelaGardiska Bibliotheket på Löberöd. Utg. af P[er] Wieselgren. Bd. IX. Lund 1837,
S. 48–50.
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32
Armeno-Sueco-Muscovitica
Route. 51 Das Jahrzehnt des Transithandels vom vorderasiatischen Safavidenimperium nach Westeuropa via Moskau und Narva war im August 1700 definitiv beendet.
Zusammenfassend sei festgehalten, dass die schwedische Osthandelspolitik im
Teilbereich des Persien-Transits also durchaus handfeste Ergebnisse gezeitigt hat.
Im Wettlauf der europäischen Mächte zum persischen Markt via Moskau hat sich
Schweden nicht, wie der Persienhistoriker John Foran noch 1989 gemeint hat, als
„another ‚non-starter‘“ 52 erwiesen, konnte es doch ganz im Gegenteil den übermächtigen niederländischen Konkurrenten durch die Verlegung der armenischen Ausfuhr
von Archangel’sk nach Narva 1687 eine empfindliche handelsdiplomatische Niederlage bereiten. Und auch der sowohl in den orientalistischen wie diplomatischen
Spuren L. Fabritius’ wandelnde Schwede Gunnar Jarring irrt, wenn er, wie unlängst
getan, als Ergebnis der Bemühungen seines Kollegen aus dem 17. Jahrhundert zur
Herstellung der Handelsverbindung Isfahan-Narva meinte:
Fabritius’ Königsgedanke war es, den schwedisch-persischen Handel über Novgorod nach
Narva und von dort weiter durch Schweden nach Lübeck zu leiten. Ein umfassenderer Handel kam indes nicht zustande. 53
Ein solcher kam, wie gezeigt, sehr wohl zustande, wenngleich er nur von armenischen und persischen, nicht hingegen von schwedischen Kaufleuten betrieben
werden konnte. Dies war fachkundigen Zeitgenossen wie etwa dem Verfasser einschlägiger Kaufmannshandbücher Paul Jacob Marperger seinerzeit wohl bewusst.
Nachdem 1705 sein „Moscowitischer Kauffmann“ erschienen war, legte er im Folgejahr ein weiteres Vademecum mit dem Titel „Schwedischer Kauffmann“ vor, in
welchem es bezüglich „deß Persianischen Commercii, so durch die Armenianer getrieben wird“, präzise hieß:
[E]s nehmen aber diese Leute ihren Weg durch Rußland / woselbst sie mit dem Czaaren
einen Vergleich wegen der Fracht und Zöllen gemacht / und kommen hierauff nach Narva
mit ein Hauffen Seide /Edelgesteine / und andere Güter / welche von dannen nach Lübeck /
Hamburg /Amsterdam und Engeland transportiret werden / nachmahls nehmen sie wieder
ihren Rückweg / durch selbige Oerter in ihr Land / und wie sie nichts als 1: pro Ct. Zoll
bezahlen / so könte sich dieser Handel inskünfftig sehr vermehren / sonderlich weil bey
dieser Passage, die Uberbringung der Wahren mit weniger Unkosten als durch Orient geschiehet. 54
51 Dass es „[a]m Ende der Regierung Karls XII. es hier [in Schweden] noch arme Armenier [gab], die
auf Staatskosten unterhalten werden mußten“, teilt A. W. af Sillén: Handelns och näringarnes historia.
[Femte del:] De tre Carlarnes tidehvarf. Upsala 1871, S. 40, mit.
52 John Foran: The Making of an External Arena: Iran’s Place in the World System, 1500–1722. In:
Review. A Journal of the Fernand Braudel Center for the Study of Economies, Historical Systems,
and Civilizations 12 (1989), S. 71–119, hier S. 106.
53 Gunnar Jarring: Vidgad horisont. In: Tre Karlar. Karl X Gustav, Karl XI, Karl XII. Stockholm 1984,
S. 138–151, hier S. 145.
54 P J. Marperger: Schwedischer Kauffmann, in sich haltende kurze Geographische und Historische
Beschreibung deß Königreichs Schweden / und aller dessen incorporirten Länder und Provincien,
sonderlich aber der vornehmsten Kriegs= und Friedens=Begebenheiten /Welche Sich in Demselben
Narva und der Außenhandel Persiens im 17. Jahrhundert
33
Und 1936 hat auch der Architekturhistoriker Sten Karling in seiner Baugeschichte
Narvas den „Gedanke[n], einen Handelsweg durch Russland nach Persien zu eröffnen,“ als „bestimmend für Schwedens Handelspolitik während der ganzen Großmachtperiode“ bezeichnet sowie daran die Beobachtung geknüpft:
Dieses kühne Projekt war beinahe endgültig durchgeführt, als Russland unter Peter dem
Großen selbst die Führung an sich riss. In Narva aber erhielt dieses grandiose handelspolitische Intermezzo ein Denkmal. 55
Allerdings ist noch einmal zu betonen, dass es nicht allein die schwedische Politik
oder die diplomatischen Fähigkeiten von L. Fabritius gewesen sind, die die genannte
Handelsverbindung zustande gebracht haben. Hauptproblem bei der Frage des Persien-Transits wie bei der Derivationspolitik Schwedens in ihrer Gesamtheit war und
blieb die Haltung des Zaren. Dass in Moskau 1687 die anti-osmanische Interessenkongruenz mit Schweden höher veranschlagt wurde als die Prinzipien russischer
Außenhandelspolitik, war die entscheidende Vorbedingung für die Inbetriebnahme
der Route Isfahan-Narva. Dieser Umstand wirft ein bezeichnendes Licht auf die
schwedische Handelskontrollpolitik und ihre Erfolgschancen im Allgemeinen: Erfolge und Misserfolge hierbei wurden nur wenig, wenn überhaupt, von der Intensität
der eigenen Bemühungen bestimmt, sondern hingen vielmehr weitgehend von der jeweiligen Interessenlage im Moskauer Staat ab. Wesentlich klarer als die einschlägig
befassten schwedischen Institutionen hat dies seinerzeit ein außenstehender Stockholm-Besucher erfasst:
Rußland gegenüber haben die Schweden einen Vertrag vorgeschlagen, demzufolge alle diejenigen Waren, die jetzt über Archangel’sk geführt werden, über Narva verschifft werden
sollen. [. . . ] Aber ich glaube nicht, dass eine solche Veränderung stattfinden wird, da die
von so vielen Seculis her / biß auff den anjetzo Glorwürdigstenregierenden König Carl den XII.
zugetragen, Wobey zugleich denen Herren Kauffleuten und curieusen Reisenden / eine accurate Verzeichniß gegeben wird / was Sie in Schweden der Commercien halber / so wohl in Ansehung dieses
Reichs überaus bequemen Situation und Fruchtbarkeit / als der (nach so vielen Königl. Verordnungen) wohleingerichteten Manufacturen, Seefahrten /Wechsel-Negotio, Müntz /Maaß /Gewicht /Zoll=
und Postwesen &c. zu beobachten. Welchen endlich zum Beschluß mit beygefüget ein kurtz=gefastes
Teutsch und Schwedisches Gespräch= und Wörter=Buch /Samt einem vollständigen Register. Wismar-Leipzig 1706, S. 326–327. Vgl. auch P. J. Marperger: Moscowitischer Kauffmann. Das ist: Ausführliche Beschreibung der Commercien, welche in Moscau, und andern Seiner Czaarischen Majestät
Bothmäßigkeith unterworffenen Reichen und Provincien, so wol von dessen Unterthanen unter sich
selbst, als mit Ausländischen Nationen getrieben werden. Wobey mit wenigen von der Rußischen
Länder und Städte bequemer Situation zur Handlung denen in Rußland ein= und ausgehenden Waaren, daselbst verfertigten Manufacturen, des Landes natürlichen Früchten, Müntz=Sorten, Maaß und
Gewichten, &c. gehandelt, zum Beschluß aber ein klein Vocabularium oder Rußisches Wörter=Buch
mit angehänget wird. Lübeck 1705 (2. Aufl. als Russischer Kaufmann. Leipzig 1723).
55 Sten Karling: Narva. Eine baugeschichtliche Untersuchung. Stockholm 1936, S. 34. Die übrige ältere Literatur zur Geschichte Narvas enthält kaum konkrete Hinweise auf den Persienhandel. Vgl.
etwa Heinrich Johan Hansen: Geschichte der Stadt Narva. Dorpat 1858, oder A. V. Petrov: Gorod
Narva. Ego prošloe i dostoprimečatel’nosti v svjazi s istoriej upročenija russkago gospodarstva na
Baltijskom poberež’e 1223–1900. St. Peterburg 1901.
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34
Armeno-Sueco-Muscovitica
Russen ja erkennen, dass es die Absicht der Schweden ist, sich zum Herrn über ihren gesamten Handel zu machen. 56
Dass die schwedische Krone trotz der fatalen Abhängigkeit von Moskau ihr Programm einer Kontrolle des Ost-West-Handels dennoch nicht aufgab, ist ein deutlicher Beleg für die Prägekraft des merkantilen Hintergrunds auf die konkrete Ausgestaltung der Außenpolitik Schwedens im 17. Jahrhundert. Ein anderer ist die Fernwirkung über die schwedische Großmachtzeit, ja Schweden selbst hinaus: Peter der
Große verwirklichte nicht nur – um mit Michail N. Pokrovskij zu sprechen – „auf
Kosten des schwedischen Handelskapitals das schwedische Programm der Jahre um
1650 zugunsten Russlands: die Verlegung des Handels vom Weißen Meer zum Baltischen Meer“ 57, sondern unternahm auch und gerade Anstrengungen zur Realisierung
des von Karl XI. so erfolgreich begonnenen persienbezogenen Teilprogramms: Mit
militärischen Mitteln setzte er sich vorübergehend in den Besitz der nordpersischen
Seideprovinzen 58 und plante darüber hinaus, seine Stadtneugründung am Finnischen
Meerbusen zur Drehscheibe des Welthandels zu machen. Gleich den Konstrukteuren der schwedischen Handelskontrollpolitik konnte aber auch er aufgrund massiver
gegenläufiger Interessen externer Faktoren – hier vor allem des Handelsstaats England – nur Teilerfolge verbuchen.
56 Lorenzo Magalotti: Sverige under år 1674. Utg. af Carl Magnus Stenbock. Stockholm 1912, S. 60–
61.
57 M. Pokrowski: Geschichte Rußlands von seiner Entstehung bis zur neuesten Zeit. Leipzig 1929,
S. 597.
58 Vgl. A. A. Kurkdjian: La politique économique de la Russie en Orient et le commerce arménien au
début du XVIIIe siècle. In: Revue des études arméniennes. Nouvelle série 11 (1975–1976), S. 245–
253.
Isfahan – Moskau – Amsterdam
Zur Entstehungsgeschichte des moskauischen Transitprivilegs für
die Armenische Handelskompanie in Persien (1666–1676)
[1993]
1977 hat die sowjetische Historikerin Nina G. Kukanova die bilateralen Handelsbeziehungen zwischen Persien und dem Moskauer Staat einschließlich des persischen
Transithandels nach Westeuropa für den Zeitraum vom 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auf der Grundlage moskauischer Archivalien monographisch behandelt 1.
Die dabei herangezogenen und z. T. präsentierten seriellen Quellen geben ihr zufolge
Aufschluss „darüber, daß im Jahr 1676 ein Umschwung im iranisch-russischen Handel eintrat“, was zu „einem intensivierten russisch-iranischen Handel mit Rohseide
zwischen Rußland und dem Iran [sowie] zwischen dem Iran und dem Westen über
die russischen Grenzstädte“ führte 2. Dass dieses Urteil wohlbegründet ist, geht auch
und gerade aus korrespondierenden nicht-moskauischen, vor allem schwedischen
Quellen deutlich hervor 3. Welche Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen jedoch die merkantile Wende von 1676 ausgelöst haben und was insbesondere
die Führung des Zarenreiches dazu veranlasste, eine beträchtliche Liberalisierung
der seit dem 16. Jahrhundert äußerst restriktiven moskauischen Transithandelspolitik herbeizuführen – dazu bietet N. G. Kukanova indes keine schlüssige Erklärung.
Im Folgenden soll daher der Versuch einer solchen unternommen werden, wobei
die Grundlage veröffentlichte Quellen unterschiedlicher, vor allem moskauischer
Provenienz sind. Deren Auswertung, Gegenüberstellung und Ergänzung durch die
internationale Fachliteratur liefern diejenigen Anhaltspunkte, die notwendig sind,
um den politischen Hintergrund des von N. G. Kukanova aus der Handelsstatistik
abgeleiteten Umschwunges zu rekonstruieren.
1
2
3
Nina G. Kukanova: Očerki po istorii russko-iranskich torgovych otnošenij v XVII – pervoj polovine
XIX veka (Po materialam russkich archivov). Saransk 1977.
Ebenda S. 86.
Vgl. dazu Stefan Troebst: Narva und der Außenhandel Persiens im 17. Jahrhundert. Zum merkantilen
Hintergrund schwedischer Großmachtpolitik, in: Die schwedischen Ostprovinzen Estland und Livland im 16.–18. Jahrhundert. Hrsg. von Alexander Loit & Helmut Piirimäe. Uppsala 1993, S. 161–
178 (= Acta Universitatis Stockholmiensis. Studia Baltica Stockholmiensia Band 11) [und im vorliegenden Band].
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36
Armeno-Sueco-Muscovitica
1. Die moskauische Politik in der Frage
des persischen Transithandels von der Mitte
des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts
Nicht nur im Mittelalter war der durch die Rus’ führende „Weg von den Warägern
zu den Griechen“ eine wichtige Fernhandelsverbindung zwischen Europa und dem
Orient; auch in der frühen Neuzeit waren die Handelsstaaten England und Niederlande am Zugang zum persischen Markt über Moskau, die Wolga und das Kaspische
Meer ebenso interessiert wie die Ostseemächte Dänemark und Schweden oder Frankreich und einige mitteleuropäische Staaten. Schufen die Eroberung von Kazan’ und
Astrachan’ durch Ivan IV. sowie die parallele Erschließung der Weißmeerroute durch
englische Kaufleute bereits in den fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts die verkehrsgeographischen Voraussetzungen für die Wiederaufnahme eines solchen westöstlichen Transithandels, so waren doch die handelspolitischen Prämissen dafür erst
vom letzten Viertel des 17. Jahrhundert an gegeben.
Die neuerworbene Position des Moskauer Staates als Brücke zwischen Europa
und dem Orient bezog der hinsichtlich seiner merkantilen Ambitionen wohl unterschätzte Ivan IV. umgehend in sein außenhandelspolitisches Kalkül ein. In den
schwedisch-moskauischen Friedensverhandlungen, die dem Krieg von 1555–1557
folgten, schlug er seinem Gegenüber Gustav I. Vasa daher folgendes Geschäft vor:
Zum einen sollten schwedische Kaufleute „nach Moskau, Kazan’, Astrachan’ mit
Waren ihrer Wahl“ kommen und von dort „nach Schemacha, Täbriz, Buchara, China, Indien, [. . . ] Konstantinopel“ weiterreisen können, zum anderen sollte der König
moskauischen Untertanen als Gegenleistung das Recht auf freien Handelstransit via
Wiborg nach „Lübeck, Antwerpen, Spanien, England und Frankreich“ einräumen
sowie westeuropäischen Kaufleuten das Recht auf Transit nach Moskau gewähren 4.
Reichsrat und Krone Schwedens hielten dies für einen ungleichen Tausch und lehnten
den Vorschlag ab. Die Einnahme Narvas durch Ivan IV. im folgenden Jahr 1558 erübrigte dann eine Wiederholung dieses Angebots: Mit dem Besitz eines eigenen Hafens
am Finnischen Meerbusen war ein Transit über das schwedische Wiborg nicht mehr
notwendig.
Allerdings bedeutete das militärische Vorstoßen bzw. merkantile Fußfassen an
Ost- und Barentssee, Weißem und Kaspischem Meer nicht zugleich eine Monopolisierung der Handelsbeziehungen nach Persien durch den Zaren bzw. die moskauischen Fern- und Großkaufleute (gosti). Vielmehr erhielt 1569 die englische Muscovy
Company ein Transithandelsprivileg für die Route vom Weißem Meer über Dvina,
Suchona, Wolga und Kaspisches Meer in die nordpersischen Seideprovinzen Gilan, Masanderan, Schirwan und Karabach, welches sie in beschränktem Umfang
4
Posylka Isana Eviloviča Zamyckago k korolju Švedskomu s izveščeniem o zaključenii mira i s
„podtverženoj“ zapis’ju, čtoby k nej korol’ pečat’ privesil i na nej krest’ celoval. 8. Juli – 28. Dezember 1557, in: Sbornik imperatorskogo russkogo istoričeskogo obščestva 129 (1910), Dok. Nr. 3,
S. 49–54. hier S. 52–53. Vgl. auch Sven Lundkvist: Gustav Vasa och Europa. Svensk handels- och
utrikespolitik. Uppsala 1960, S. 382 (= Studia Historica Upsaliensia Band 2).
Isfahan – Moskau – Amsterdam
37
auch nutzte 5. Nach dem Verlust Narvas 1581 und der Gründung von Archangel’sk
1584 wurde dieses Privileg nicht mehr erneuert. Von nun an bestand für ausländische Kaufleute de facto ein Verbot des Transits via Moskau in das Safavidenreich.
Dieser Zustand blieb bis 1667 bestehen und wurde nur in einigen wenigen – und wenig folgenreichen – Ausnahmefällen durchbrochen. Aus moskauischer Sicht war die
Verbindung zwischen den Toren zur orientalischen und zur westeuropäischen Welt,
also Astrachan’ und Archangel’sk, außen- wie handelspolitisch zu sensitiv und fiskalisch zu lukrativ, um sie von fremden Transithändlern nutzen zu lassen. Hinzu kam,
dass diese beiden Grenzstädte im Zeitraum 1581–1703 die einzigen Seehäfen des
Moskauer Staates bildeten, sieht man vom 1695 eingenommenen Azov einmal ab.
Die gravierendste der genannten Ausnahmen fiel in die kurze Phase engsten
diplomatischen, militärstrategischen und kriegsfinanziellen Zusammenwirkens zwischen dem Leiter der moskauischen Außenpolitik Patriarch Filaret und Gustav II.
Adolf im Jahr 1632: Der Zar beantwortete den Antrag von Herzog Friedrich III. von
Holstein-Gottorp auf Benutzung der Transithandelsroute nach Persien gegen ein exorbitantes jährliches Nutzungsentgelt in zehnfacher Höhe der damaligen Zolleinnahmen in Archangel’sk 6 mit der Auflage, dass zuvor die schwedische Krone zustimmen
bzw. an dem Geschäft beteiligt werden müsste 7. Als jedoch am 3. Dezember 1634
mit den holsteinischen Unterhändlern ein „Receß von Moskau“ geschlossen wurde,
hatte sich das moskauisch-schwedische Verhältnis bereits wieder deutlich abgekühlt,
und nicht zuletzt deswegen blieb diese Unternehmung eine anämische und letztlich
erfolglose Angelegenheit 8. Im „Receß“ selbst wurden überdies die von der Kompanie im Transit zu führenden persischen Ausfuhrwaren beschränkt auf „Rohe Seide,
Edelgestein, Farben undt andere großen Wahren, damit [= mit denen – S. T.] die Reußischen Kauffleute nichtt handeln“ 9. Es folgte eine lange Liste anderer persischer
5
6
7
8
9
Zum englisch-persischen Warenverkehr über die Wolga im Zeitraum 1569–1584 vgl. Thomas Stuart Willan: The Early History of the Russia Company, 1553–1603. Manchester 1956, S. 59–153. –
T. S. Willans Ansicht, wirtschaftliche Misserfolge hätten zur Einstellung dieser Route geführt, widerspricht allerdings Samuel H. Baron mit dem Hinweis auf das Eigeninteresse der gosti und den daraus
resultierenden „fremdenfeindlichen“ Einfluss, den diese auf Boris Godunov genommen hätten. Vgl.
Samuel H. Baron: Ivan the Terrible, Giles Fletcher and the Muscovite Merchantry: A Reconsideration, in: Slavonic and East European Review 56 (1978) S. 563–585, hier S. 572–575.
Nämlich anfangs 600.000 Reichstaler (300.000 Rubel), dann jährlich mehr. – Die Archangel’sker
Zollerträge schwankten in den dreißiger Jahren des 17. Jh. um 30 000 Rubel herum. Vgl. Tab. 3.6:
Summer Collection of Tolls at Archangel, bei: Paul Bushkovitch: The Merchants of Moscow, 1580–
1650. Cambridge 1980, S. 50.
David Normann: Gustaf Adolfs politik mot Ryssland och Polen under tyska kriget (1630–1632).
Uppsala 1943, S. 115–116. – Eine gründliche Aufhellung der Rolle Schwedens im holsteinischen
Persienhandelsprojekt der dreißiger Jahre steht noch aus.
Ebenfalls erfolglos blieben gleichzeitige dem Persientransit geltende Vorstöße der niederländischen,
dänischen und französischen Handelsdiplomatie in Moskau. Die Muscovy Company hatte in der Frage einer Erneuerung ihres Persienprivilegs bereits zuvor resigniert.
Der Receß von Moskau, den 3. Dezember 1634, bei: Ernst Markus Kiecksee: Die Handelspolitik der
Gottorfer Herzöge im 17. Jahrhundert. Ein Beitrag zur schleswig-holsteinischen Handelsgeschichte
[1611–1713]. Phil. Diss. Kiel 1952, Anhang S. I–IX, hier S. III (im Folgenden: Receß). Vgl. auch
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Armeno-Sueco-Muscovitica
Produkte, für die ein Ausfuhrverbot galt: „Dieselben sollen wir [= die Kompanie –
S. T.] nicht kauffen undt den Rußischen Kauffleuten Ihre Handlung nicht verhindern.“ 10 Die Einbeziehung der Interessen der gosti in das Kalkül des Zaren wird
hier also ebenso deutlich wie ein anderes vertragliches Regulativ, welches später
gleichfalls von Bedeutung sein sollte, nämlich eine spezielle und willkürlich handhabbare Konfliktklausel: Im Falle eines schwedisch-moskauischen Krieges sollte der
Warenverkehr von der vereinbarten Route „durch Schweden undt Lifflandt uff groß
Neugart“ auf die Nordkaproute und Archangel’sk umgeleitet werden 11.
2. Der Transithandel mit persischen Waren via Moskau:
Das Beispiel Rohseide
Der Außenhandel Persiens, vor allem die Ausfuhr des mit Abstand bedeutendsten
persischen Exportproduktes Rohseide, war die Domäne der armenischen Untertanen des Schahs. Diese waren nach der Vernichtung Erevans und des armenischen
Handelszentrums Ghulfa 1604 von Schah ’Abbas I. in eine neue Isfahaner Beistadt
namens Neu-Ghulfa umgesiedelt worden 12. Die armenischen Kaufleute Persiens, in
den Niederlanden als Jolfalijnen bekannt 13, waren in einer eigenen Handelskompanie organisiert, deren Gründung, innere Verfassung und Funktionsweise nur wenig
erforscht ist 14. Armenische Untertanen des Schahs agierten zum einen als Zwischen-
10
11
12
13
14
Dogovornaja zapis’, zaključennaja meždu Rossijskim i Golštinskim dvorami. Dezember 1634, in:
Akty istoričeskie, sobrannye i izdannye Archeografičeskoju komissieju. Band 3. S.-Peterburg 1841,
Dok. Nr. 181, S. 329–332.
Receß S. IV.
Ebenda S. VI.
Zu Neu-Ghulfa vgl. S. V. Ter-Avetisjan: Gorod Džuga. Materialy o istorii torgovych snošenij
džul’finskich kupcov v XV–XVII vv. Tbilisi 1937; V. A. Bajburtjan: Armjanskaja kolonija Novoj
Džul’fy v XVII veke (Rol’ Novoj Džul’fy v irano-evropejskich političeskich i ėkonomičeskich svjazjach). Erevan 1969; George Bournatian: The Armenian Community of Isfahan in the Seventeenth
Century. Pt. 1, in: The Armenian Review 24 (1971), Winter, S. 27–45, und Pt. II, ebenda 25 (1972),
Spring, S. 33–50; sowie Karapet Karapetian: Isfahan, New Julfa: Le case degli armeni. Una raccolta
di rilevamenti architettonici. Roma 1974 = Restorations III.1.
Vgl. Nicolaes J. Overschie-Vereenigde Oostindische Compagnie, Isfahan, 15. Dezember 1635, in:
Bronnen tot de Geschiedenis der Oostindische Compagnie in Perzië. Eerste deel: 1611–1638. Uitg.
door H. Dunlop: ’s-Gravenhage 1930, Dok. Nr. 269, S. 546–549, hier S. 547 (= Rijks Geschiedskundige Publicatiën. Grote serie Band 72).
Vgl. zum Forschungsstand E. S. Zevakin: Persidskij vopros v russko-evropejskich otnošenijach
XVII v., in: Istoričeskie zapiski 8 (1940) 5. 129–162, besonders S. 156–161; N. G. Kukanova: Rol’
armjanskogo kupečestva v razvitii russko-iranskoj torgovli v poslednej treti XVII v. (Po materialam
CGADA), in: Kratkie soobščenija Instituta vostokovedenija AN SSSR 26 (1958) S. 20–34; N. G. Kukanova: lz istorii russko-iranskich torgovych svjazej v XVII veke (po dannym CGADA i drugich
archivov), in: Kratkie soobščenija Instituta narodov Azii 30 (1961) S. 41–53; R. W. Ferrier: The Armenians and the East lndia Company in Persia in the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in:
Economic History Review 26 (1973) S. 38–62; Kéram Kévonian: Marchands arméniens au XVIIe
siècle. A propos d’un livre arménien publié à Amsterdam en 1699, in: Cahiers du Monde russe et
Isfahan – Moskau – Amsterdam
39
händler zwischen den persischen Seideproduzenten und den nach Isfahan selbst
oder nach Bandar ’Abbas am Persischen Golf kommenden westeuropäischen Persienhandelskompanien, zum anderen besorgten sie den Export auf der traditionellen
Ausfuhrroute durch das Osmanische Reich nach Aleppo und Smyrna. Beginnend mit
dem Jahr 1626 beteiligten sie sich auch am persisch-moskauischen Warenverkehr
und dominierten vom dritten Viertel des 17. Jahrhunderts an den Transithandel via
Moskau nach Westeuropa 15. Hauptzielland waren bei dieser Route die Niederlande,
hier vor allem Amsterdam mit seiner großen armenischen Kolonie. Niederländischen
Quellen zufolge soll die Handelsrepublik 1630 um die 400 Ballen bzw. ca. 27 % ihrer jährlichen Einfuhr an Rohseide über Moskau und Archangel’sk bezogen haben 16.
Diese Angabe korrespondiert mit einem gleichzeitigen schwedischen Bericht, dessen
Verfasser in Moskau in Erfahrung gebracht hatte, dass damals jährlich 700 Ballen
Rohseide über Archangel’sk umgeschlagen wurden 17.
Paul Bushkovitchs einschlägiger Untersuchung zufolge waren vor 1650 die beiden moskauischen Entrepôts Astrachan’ und Archangel’sk nicht unmittelbar miteinander verbunden. Dies galt auch und gerade für den Transithandel: Den Import
persischer Waren besorgten neben Armeniern, anderen Untertanen des Schahs und
soviétique 16 (1975) S. 199–244; Kukanova: Očerki S. 61–99; und Wolfgang Sartor: Die Wolga als
internationaler Handelsweg für persische Rohseide im 17. und 18. Jahrhundert. Phil. Diss. FU Berlin
1993.
15 Vgl. neben der in der vorstehenden Fußnote genannten Literatur Hermann Kellenbenz: Der russische Transithandel mit dem Orient im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts, in: Jahrbücher für
Geschichte Osteuropas 12 (1964) S. 48 1–500; John Emerson: Ex occidente lux. Some European
Sources on the Economic Structure of Persia between about 1630 and 1690. Ph. D. Diss. University of Cambridge 1969, besonders S. 172–194; Laurence Lockhart: European Contacts with Persia,
1350–1736, in: The Cambridge History of Iran. Vol. VI: The Timurid and Safavid Periods. Ed. by
Peter Jackson & Laurence Lockhart. Cambridge 1986, S. 373–411; Klaus Heller: Russische Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Band 1: Die Kiever und die Moskauer Periode (9–17. Jahrhundert).
Darmstadt 1987, S. 201–206; John Foran: The Making of an External Arena: Iran’s Place in the World
System, 1500–1722, in: Review. Journal of the Fernand Braudel Center for the Study of Economies,
Historical Systems, and Civilizations 12 (1989) S. 71–119.
16 Vgl. die Schätzung bei Jonathan I. Israel: Dutch Primacy in World Trade, 1585–1740. Oxford 1989,
Tab. 5.10, S. 154 (in Ballen à 280 lb. bzw. 127 kg):
Via Moskau und Archangel’sk
400
Aus Surat (Nordwestindien)
400
Aus dem Persischen Golf
400
Aus der Levante und Italien
300
Summe
1.500
17 Undatierter Bericht von Bengt Skytte, einem Sohn des Gouverneurs von Livland und Ingermanland,
Johan Skytte, über eine Moskau-Reise im Zeitraum Frühjahr-Sommer 1631, ausgewertet bei Axel
Norberg: Bröderna Skyttes ryska resor och deras rysslandsskildringar, in: Historisk tidskrift (svensk)
111 (1991) S. 487–502, hier S. 498 und 500 (A. Norbergs Annahme, B. Skyttes Zahlenangaben bezögen sich auf das Jahr 1631, geht aus dem Dokument nicht hervor). – Da mangels serieller Quellen für
die Zeit vor 1676 keine Aussagen über die Konjunkturen des Transithandels mit Rohseide durch den
Moskauer Staat gemacht werden können, muss allerdings offen bleiben, ob die für 1630 genannten
Mengenangaben repräsentativ sind.
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Armeno-Sueco-Muscovitica
Indern vor allem Kaufleute aus Kazan’, wohingegen die Sommermesse in Archangel’sk die Domäne der Moskauer Kaufmannschaft war. In Astrachan’, Kazan’ und
Moskau wurden Fertigwaren und Rohstoffe persischer Provenienz teils an einheimische Konsumenten und Handwerker zur Konsumtion bzw. Weiterverarbeitung im
Land selbst veräußert, teils an andere einheimische Kaufleute weiterverkauft, die die
Vermarktung in Archangel’sk besorgten. Andere Warenlieferungen schließlich wurden von ausländischen Kaufleuten direkt (und z. T. illegal 18) bzw. – wie im Fall der
periodisch dem zarischen Eigenhandel vorbehaltenen Monopolwaren wie Rohseide –
unter Vermittlung von Beauftragten des Zaren erworben 19. Wohl nur ausnahmsweise
waren moskauische Kaufleute selbst mit dem Reexport persischer Waren befasst. Ein
solcher Fall war eine Transaktion der Novgoroder Stockholm-Kaufleute Andrej und
Fedor Charlamov sowie Bogdan Šorin, die 1628 auf Rechnung des zarischen Seidenmonopols und im Auftrag des dafür zuständigen Bojaren I. B. Čerkasskij 18 Pud
Rohseide (3–4 Ballen) im Wert von 1000 Rubel nach Schweden ausführten 20. Aber
auch der Umstand, dass überhaupt die Ostseeroute beim Reexport persischer Waren
benutzt wurde, stellte eine Ausnahme dar. Denn in der Regel wurde Rohseide nur
in solchen Jahren, in denen die Weißmeerroute nicht benutzbar war – aufgrund von
Kriegen oder von Epidemien –, über Novgorod ausgeführt. So konnte etwa der Revaler Kaufmann Michael Paulsen in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre, in welcher der
erste englisch-niederländische Seekrieg bzw. die Pest die Verbindung zwischen Moskau und Westeuropa via Archangel’sk unterbanden, insgesamt 300 Ballen Rohseide
in Moskau und Novgorod erwerben sowie über Narva bzw. Nyen in die Niederlande
ausführen 21.
Da der persische Gesamtrohseideexport nach Europa für das 17. Jahrhundert nicht
zuletzt der verschiedenen Ausfuhrrouten wegen nur sehr grob zu bestimmen ist, ist
auch der Anteil der über Moskau führenden Transitroute nicht eindeutig auszumachen. Während für den Beginn des Jahrhunderts die Ausfuhr persischer Rohseide
18 In einer Instruktion des Zaren an den Zollverwalter in Archangel’sk aus dem Jahr 1667 hieß es,
dass englische Kaufleute dort am moskauischen Zoll vorbei Rohseide ausführten, die sie zuvor widerrechtlich von anderen Ausländern erwürben. Vgl. Nakaznaja pamjat’ gostju Averkiju Kirilovu s
tovariščami, naznačennomu na Dvinu dlja vedanija tamožennych i kabackich sborov. 9. Mai 1667,
in: Dopolnenija k Aktam istoričeskim, sobrannyja i izdannyja Archeografičeskoju komissieju. Band 5
[1665–1669]. S.-Peterburg 1853, Dok. Nr. 40, S. 181–206, hier S. 183.
19 Bushkovitch: The Merchants of Moscow S. 94–101.
20 Vgl. Rassprosnye reči novgorodskogo torgovogo čeloveka F. Charlamova v Novgorodskoj prikaznoj izbe o poezdke ego v Stokgol’m v 1628 g. Novgorod, 7. Juni 1629, in: Russko-švedskie
ėkonomiceskie otnošenija v XVII veke. Sbornik dokumentov. Red. M. P. Vjatkin, I. N. Firsov. Sost.
M. B. Davydova, I. P. Šaskol’skij & A. I. Jucht. Moskva, Leningrad 1960, Dok. Nr. 28, S. 58–60; Rassprosnye reči novgorodskogo kupca B. Šorina v Posol’skom prikaze o ego poezdke v Stokgol’m v
1628 g. dlja prodaži kazennogo šelka-syrca. Moskau, 15. Juni 1629, ebenda, Dok. Nr. 30, S. 60–62;
und Svenska riksrådets protokoll. Band 1: 1621–1629. Stockholm 1878, S. 75–78 (28. Mai 1628).
21 Vgl. hierzu zuletzt Arno Weinmann: Reval 1646 bis 1672. Vom Frieden von Brömsebro bis zum Beginn der selbständigen Regierung Karls XI. Bonn 1991, S. 24–28, sowie das Handelstagebuch eines
Mitarbeiters von M. Paulsen: H. Piirimäe, M. Rand, T. Ilomets: Andreas Baeri perekonnakroonika,
in: Folia Baeriana 2 (1976) S. 122–162, hier S. 127–133.
Isfahan – Moskau – Amsterdam
41
nach Europa auf ca. 2200 Ballen geschätzt wird 22, wird für die zweite Hälfte dieses
Jahrhunderts mit der doppelten Menge, wenn nicht gar der drei- bis vierfachen 23, gerechnet. Unter Zugrundelegung fragmentarischer statistischer Quellen des Moskauer
Gesandtschaftsprikazes zum Transithandel der Armenischen Handelskompanie über
Moskau kann davon ausgegangen werden, dass im letzten Viertel des Jahrhunderts
pro Jahr durchschnittlich 5 % des persischen Westexports an Rohseide auf dieser
Route nach Westeuropa gelangt sind 24.
Die Quellenlage zum bilateralen wie zum Transithandel Persiens mit dem Zarenreich ist vor allem deswegen schlecht, weil die Astrachaner Zollquellen nur zum Teil
erhalten sind und darüber hinaus die Waren der wichtigsten daran beteiligten Partner
entweder gänzlich zollfrei waren – dies galt für die zarischen Privatgeschäfte ebenso
wie für die des Schahs 25 – oder aber von der Astrachaner Zollbehörde aus anderen
Gründen nicht erfasst wurden, wie im Fall der Transaktionen der privilegierten Armenischen Handelskompanie 26.
3. Die Verlagerung des Schwerpunktes
moskauischer Außenpolitik von Westen nach Süden
in den Jahren 1661–1667
Die seit dem Ende des 16. Jahrhunderts geübte restriktive Praxis der verschiedenen Zaren in der Frage der Erteilung des Rechts zum Persientransit an ausländische
Kaufleute richtete sich nicht nur gegen West- und Nordeuropäer, sondern auch ge-
22 Niels Steensgaard: The Asian Trade Revolution of the Seventeenth Century. The East India Companies and the Decline of the Caravan Trade. London, Chicago, IL 1973, S. 160–162. – Rohseide
verschiedener Qualitäten wurde üblicherweise per Ballen gehandelt, wobei das Gewicht eines Ballens 80–135 kg betrug. Ballen, die über Moskau ausgeführt wurden, wogen in der Mitte des 17. Jh.
durchschnittlich 5 Pud (82 kg), um die Jahrhundertwende dann 7 Pud (115 kg).
23 Edmund Herzig: The Iranian Raw Silk Trade and European Manufacture in the Seventeenth and
Eighteenth Centuries, in: Journal of European Economic History 19 (1990) S. 73–89, hier S. 80.
24 Vgl. Tab. 2: Poseščenie armjanskimi kupcami russkich gorodov v 1676–1687 [recte: 1676–1697] g.,
bei: Kukanova: Očerki S. 91–99. – Die Verfasserin hat allerdings andernorts betont, dass die von ihr
beigebrachten Daten „Umfang und Charakter des russisch-iranischen Handels bei weitem nicht zur
Gänze charakterisieren“ (Kukanova: Rol’ armjanskogo kupečestva S. 27). Vgl. auch einige zusätzliche Mengenangaben bei N. A. Baklanova: Privoznye tovary v Moskovskom gosudarstve vo vtoroj
polovine XVII veka, in: Očerki po istorii torgovli i promyšlennosti v Rossii v 17 i v načale 18 stoletija. Moskva 1928, S. 5–118, hier S. 37 (= Trudy Gosudarstvennogo istoričeskogo muzeja. Otdel
istoričeskij obščij. Vyp. 4).
25 Der umfangreiche Privathandel, den beide Herrscher vorwiegend untereinander trieben, fand seit dem
Anfang des 17. Jh. relativ regelmäßig in Form von gegenseitigen merkantilen Gesandtschaften statt.
Vgl. zu diesem embassy trade Emerson: Ex occidente lux S. 177–183; Kukanova: Očerki S. 50; und
Foran: Iran’s Place in the World System S. 107–108.
26 Vgl. E. N. Kuševa: Materialy Astrachanskoj tamožni kak istočnik po social’no-ėkonomičeskoj istorii
Rossii XVII–XVIII w, in: Iz istorii ėkonomičeskoj žizni Rossii. Sbornik statej k 90 – letiju akademika
Nikolaja Michajloviča Družinina. Moskva 1976, S. 261–272, hier S. 265 n, 266 und 270 n.
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Armeno-Sueco-Muscovitica
gen Kaufleute aus dem benachbarten Persien. Demgemäß wurde 1660 der Vorschlag
einer von Schah ’Abbas II. unterstützten Gesandtschaft der Armenischen Handelskompanie auf Umlenkung des persischen Außenhandels über das Kaspische Meer
nach Astrachan’ und weiter nach Westeuropa vom Zaren abschlägig beschieden 27.
Die Konsolidierung der Beziehungen des Moskauer Staates zu zweien seiner Hauptgegner – mit Schweden-Finnland im Frieden von Kardis am 21. Juni 1661 und mit
Polen-Litauen im Waffenstillstand von Andrusovo vom 20. Januar 1667 – führte jedoch zu einer außenpolitischen Schwerpunktverlagerung, die auch das moskauischpersisch /armenische Verhältnis auf eine neue Grundlage stellte. Durch den Vertrag
mit der Rzeczpospolita, der dem Moskauer Staat erhebliche Gebietsrück- und -zugewinne eintrug, war neben der Nordgrenze nun auch die Westflanke des Zarenreiches
so weit abgesichert, daß eine Wendung gegen den neuen Hauptgegner im Süden, das
Osmanische Reich bzw. das ihm tributpflichtige Krim-Chanat, in Erwägung gezogen werden konnte. Diese „Matveevsche Richtung der moskauischen Außenpolitik“
(Klaus Zernack 28), die bis an die Schwelle des großen Nordischen Krieges wirksam
blieb, ist aber bereits vor dem 1671 erfolgten Kanzlerwechsel von dem anti-schwedisch gesinnten A. L. Ordin-Naščokin zu A. S. Matveev auszumachen, wie nicht zuletzt die Übereinkunft mit dem Schah und seiner armenischen Außenhandelsagentur
von 1667 belegt. Denn mit Blick auf die moskauische Politik gegenüber Krim-Chan
und Köprülü-Dynastie bot die Annäherung an Isfahan gleich mehrfache Vorteile:
denjenigen bündnispolitischer Absicherung im Südosten, den der fiskalischen Schädigung des potentiellen Kriegsgegners bzw. der Auffüllung der eigenen Kriegskasse,
weiter vielversprechende merkantile Perspektiven sowie nicht zuletzt Abhilfe für die
eigenen gravierenden währungspolitischen Probleme. Vor allem die durch inflationäre Preissteigerungen ausgelöste Kupfergeldkrise von 1662/1663 demonstrierte die
Notwendigkeit einer Rückkehr zur Edelmetalldeckung in der moskauischen Geldpolitik überdeutlich.
Daß es vor allem A. L. Ordin-Naščokin war, der als einer der ersten Politiker
des Moskauer Staates die „Kategorien der Staatsräson und des Merkantilismus“ miteinander verknüpfte und somit den von der letztgenannten Denkrichtung postulierten „Kausalzusammenhang zwischen Umfang und Ergiebigkeit des Außenhandels,
finanzieller Leistungsfähigkeit und militärisch-politischer Macht eines Staates“ in
27 Vgl. Priezd iz Ispagani v Moskvu predstavitelja armjanskoj torgovoj kompanii kupca chodža Zakara
Sagradova s almaznym tronom i drugimi darami carju Alekseju Michajloviču. Moskau, 28. März –
20. August 1660, in: Armjano-russkie otnošenija v XVII veke. Sbornik dokumentov. Podgot. k
pečati V. A. Parsamjan, V. K. Voskanjan, S. A. Ter-Avakimova. Red. V. A. Parsamjan. Erevan 1953,
Dok. Nr. 5, S. 21–23 (= Materialy po istorii armjanskogo naroda. T. V: Armjano-russkie otnošenija.
Sbornik dokumentov Band 1; im Folgenden: ARO). Vgl. zu dieser Quellenedition auch die kritischen
Bemerkungen von A. A. Lalajan in: Voprosy istorii (1953) H. 7, S. 151–154.
28 Klaus Zernack: Die Expansion des Moskauer Reiches nach Westen, Süden und Osten von 1648 bis
1689, in: Handbuch der Geschichte Rußlands. Band 2: 1613–1856. Vom Randstaat zur Hegemonialmacht. Hrsg. von K. Zernack. 1. Halbband. Stuttgart 1986, S. 122–152, hier S. 149 (im Folgenden:
HGR).
Isfahan – Moskau – Amsterdam
43
praktische Politik ummünzte, hat Walther Mediger überzeugend begründet 29. Nach
der erfolgreichen Herbeiführung des Andrusovo-Vertrages und dem Wechsel vom
Amt des voevoda von Pskov an die Spitze des Gesandtschaftsprikaz Anfang 1667
machte sich der vielseitige Berufspolitiker energisch an die Umsetzung dieser Maxime. Seine erste diesbezügliche Maßnahme auf gesamtstaatlicher Ebene war die
Neuordnung des moskauischen Außenhandels mit Westeuropa und dem Orient sowie die Neuregelung des Transithandels durch den Moskauer Staat.
4. Das Neue Handelsstatut (Novotorgovyj ustav) von 1667
und der persische Transithandel
Das Neue Handelsstatut vom Frühjahr 1667 – erlassen am 22. April, in Kraft getreten
am 10. Mai – und die parallel dazu ausgehandelte Übereinkunft mit der Armenischen
Handelskompanie vom 31. Mai waren die beiden außenhandelspolitischen Instrumentarien, mit denen Zar und Kanzler den Edelmetallzustrom zu erhöhen und die besagten bündnispolitischen und fiskalischen Ziele zu verwirklichen hofften. Das Neue
Handelsstatut bestimmte, daß „westliche“ Kaufleute künftig nur noch die Grenzstädte im Norden und Westen des Moskauer Staates aufsuchen dürften, also nicht länger
in dessen Zentren selbst geschäftlich tätig werden könnten 30. Der Binnenhandel wur29 Walther Mediger: Mecklenburg, Rußland und England-Hannover 1706–1721 Ein Beitrag zur Geschichte des Nordischen Krieges. 2 Halbbände. Hildesheim 1967, Textband, S. 140–145, Zitate
S. 142 (= Quellen und Darstellung zur Geschichte Niedersachsens Band 70). Vgl. zum politischen
und merkantilen Denken A. L. Ordin-Naščokins auch C. Bickford O’Brien: Early Political Consciousness in Muscovy: The Views of Juraj Križanić and Afanasij Ordin-Naščokin, in: Juraj Križanić (1618–1683): Russophile and Ecumenic Visionary. A Symposium. Ed. by Thomas Eekman &
Ante Kadić. Den Haag, Paris 1976, S. 209–222, sowie aus der umfangreichen sowjetischen Ordin-Naščokin-Literatur E. V. Čistjakova: Social’no-ėkonomičeskie vzgljady A. L. Ordina-Naščokina
(XVII vek), in: Sbornik rabot po istorii. Red. I. Ja. Razumnikova. Voronež 1950, S. 3–57 (= Trudy
Voronežskogo gosudarstvennogo universiteta Band 20), und die Dissertation von Ju. V. Kurskov: Social’no-ėkonomičeskie vzgljady i gosudarstvennaja dejatel’nost’ A. L. Ordina-Naščokina (XVII vek).
Kand. diss., Leningradskij gosudarstvennyj pedagogičeskij institut im. A. I. Gercena 1958, samt gedrucktem Avtoreferat (Leningrad 1958). – Zum aktuellen Stand der Merkantilismusdiskussion und
zu ihren divergierenden Sichtweisen vgl. Ernst Hinrichs: Merkantilismus in Europa: Konzepte, Ziele, Praxis, in: Absolutismus. Hrsg. von Ernst Hinrichs. Frankfurt /M. 1986, S. 344–360 (= SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft Band 355), und Leonhard Bauer, Herbert Matis: Geburt der Neuzeit. Vom
Feudalsystem zur Marktgesellschaft. München 1988, S. 249–282 (= dtv-Taschenbuch Band 4466).
30 In der Praxis war diese Absicht aufgrund bürokratischer Hemmnisse oder aber, wie im schwedischen Fall, aufgrund widersprechender völkerrechtlicher Verträge – hier der Paragraph 10 des KardisFriedens, der „unbehinderten und freien Kaufhandel“ schwedischer Untertanen im Moskauer Staat
vorsah –, nur bedingt durchsetzbar. Vgl. E. V. Čistjakova: Novotorgovyj ustav 1667 goda, in: Archeografičeskij ežegodnik za 1957 god. Moskva 1958, S. 102–126. – Zur Entstehungsgeschichte des
Neuen Handelsstatuts siehe K. V. Bazilevič: Novotorgovyj ustav 1667 g. (K voprosu o ego istočnikach), in: Izvestija Akademii nauk SSSR 1932. Otdelenie obščestvennych nauk. Serie VII, H. 2,
S. 589–622; und A. I. Andreev: Novotorgovyj ustav 1667 g. (K istorii ego sostavlenija), in: Istoričeskie zapiski 13 (1942) S. 303–307. Diese Arbeiten enthalten sämtlich keine Hinweise zum parallel
abgeschlossenen armenisch-moskauischen Vertrag.
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Armeno-Sueco-Muscovitica
de somit vollständig den einheimischen Groß- und anderen Kaufleuten übertragen,
die nun auch im Außenhandel stärker begünstigt waren. Dennoch waren „es in erster
Linie rein fiskalische und nicht protektionistische Interessen [. . . ], die hinter diesen
handelspolitischen Maßnahmen standen“ (Klaus Heller 31). Deutlichstes Indiz hierfür
war der Paragraph 72 des neuen Regelwerkes, der bestimmte, dass russische Waren,
die ausländische Käufer mit Gold- oder Silbermünzen bezahlten, nicht mit dem neuen zehnprozentigen Ausfuhrzoll belegt werden, sondern zollfrei bleiben sollten 32.
Während das Neue Handelsstatut den Handel südost-, mittel-, west- und nordeuropäischer Kaufleute in Archangel’sk, Novgorod, Pskov, Smolensk und Putivl’ sehr
detailliert regelte, enthielten lediglich vier der insgesamt 94 Paragraphen Bestimmungen zum Handel mit dem Orient. Paragraph 77 bestimmte, dass „überseeische
Ausländer [wie] Perser, Inder, Bucharer, Armenier“ u. a. bei Handelsgeschäften in
Astrachan’ 5 %, bei solchen in Moskau und anderen Städten 10 % des Warenwerts an
Zoll zu erlegen hätten. Ausfuhrwaren wurden mit 10 % verzollt (§ 78) und Erwerb
und Ausfuhr von Edelmetall verboten (§ 79) 33. Der (offenkundig in letzter Minute
angehängte) Paragraph 94 schließlich verfügte, dass „in den Grenzstädten wie auf
den großen Messen [. ..] in Kazan’ und Astrachan’ bei Ankunft von Persern und Armeniern“ eingehende Gepäckkontrollen durchzuführen seien, um versteckte Perlen
und Edelsteine zu konfiszieren 34. War nun also der moskauische Außenhandel durch
die Konzentration auf Archangel’sk in einem für Zar und gosti günstigen, wenn auch
schwerlich praktikablen, da nicht kontrollierbaren Sinn geregelt, so traf dies für den
Transithandel mit Persien nicht zu. Denn die durch das Neue Handelsstatut bewirkte räumliche Separierung von „westlichen“ und orientalischen Kaufleuten bedingte,
dass gosti und andere einheimische Berufsvertreter als Zwischenhändler zwischen
Astrachan’ und Archangel’sk bzw. Kazan’ oder Moskau und Archangel’sk fungieren
mussten. Eine bloße Vermittlung von Handelsgeschäften zwischen Kaufleuten aus
Ost und West an einem Ort war nun nicht länger möglich; vielmehr mussten Ankauf,
Transport und Weiterverkauf nun zur Gänze von der moskauischen Kaufmannschaft
31 Heller: Russische Wirtschafts- und Sozialgeschichte Band 1, S. 195.
32 Vgl. Novotorgovyj ustav, in: Pamjatniki russkogo prava. Red. L. V. Čerepnin. Vyp. VII: Pamjatniki
prava perioda sozdanija absoljutnoj monarchii. Vtoraja polovina XVII v. Moskva 1963, S. 303–356,
hier S. 317.
33 Ebenda S. 318–319.
34 Ebenda S. 321. – Wie überaus angebracht diese Maßnahme war, belegt die Tatsache, dass der schwedische Persienhandelsexperte Philip Crusius von Krusenstiern in einem Projekt aus dem Jahr 1648
zur Entsendung einer schwedischen Gesandtschaft nach Isfahan mit dem Ziel der Herstellung einer
Handelsverbindung via Moskau zu eben dieser Art des Schmuggels geraten hatte, um damit die Unkosten der Gesandtschaft zu decken. Vgl. P[hilip] v[on] C[rusenstiern]: Unterthänigste Anleytung
Welcher Gestalt die Archangels Fahrt zu Dismembrirn und derselben eine gute Anzahl nach Reval
fueglich zuziehen sey; Auch Waß die Reducirung des Russischen Handelß nach der Ost=See mit sich
führe. Stockholm, 22. Juli 1648. Abschrift in: Uppsala universitetsbibliotek. Handskriftsavdelning
(im Folgenden: UUB), L 161, fol. 3–9, hier fol. 8 r. Gemäß dem § 17 des Vertrags von Stolbovo hatte
Schweden zwar das Recht, Gesandtschaften nach Persien, ins Osmanische Reich und auf die Krim
über moskauisches Territorium zu entsenden, doch durften diese im Unterschied zu Gesandtschaften
etlicher anderer Staaten „Kaufleute mit Waren nicht dabei haben“.
Isfahan – Moskau – Amsterdam
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übernommen werden. Der Zar, dessen Interesse, wie erwähnt, auf steigende Einnahmen aus dem persischen Transithandel samt dadurch bewirktem zusätzlichem
Edelmetallzustrom aus Richtung Westen zielte 35, sah hier offensichtliche Probleme auf sich zukommen, die aus der Diskrepanz zwischen dem großen Kapitalbedarf für derartige Handelstransaktionen und der Kapitalknappheit der einheimischen
Kaufmannschaft resultierten. Die finanzielle und organisatorische Schwäche der im
Orienthandel tätigen Kazaner, Moskauer und Astrachaner Kaufleute, die durch staatliche Reglementierung noch verstärkt wurde, lag gerade in der Mitte der sechziger
Jahren offen zutage: Eine von Schah ’Abbas II. 1664 verfügte Öffnung des persischen Marktes für zarische Untertanen wurde von ihnen teils mangels know-how
und Kapitals, teils schlechter Erfahrungen wegen nur in sehr geringem Umfang genutzt 36.
Die handelsgeographische und -kommunikative Lücke, die das Neue Handelsstatut zwischen den von „westlichen“ Kaufleuten auf der einen und orientalischen
auf der anderen Seite frequentierten Messe- und Umschlagsorten im Moskauer Staat
riss, bedurfte aus der Sicht des Zaren der Schließung mittels staatlichen Eingriffs. Da
das Neue Handelsstatut einer Ausnahmegenehmigung für Westeuropäer zum Transit nach Persien diametral entgegenstand, mussten andere intermédiaires gefunden
werden. Das Ergebnis dieser Suche war die Übereinkunft mit der Armenischen Handelskompanie.
5. Der erste armenisch-moskauische Vertrag
vom 31. Mai 1667
Zusammen mit einer großen Gruppe armenischer Kaufleute und Handwerker kamen am 21. Februar 1666 zwei hochrangige Vertreter der Neu-Ghulfaer Kompanie,
„Stepan Romodamskij“ (Stepanos Sagradjan) und „Grigorij Lusikov“ (Grigoris Lusikjan), nach Moskau und beantragten dort die Genehmigung zum Transithandel nach
Westeuropa 37. Dabei dachten sie nicht nur an einen Verkauf von Rohseide und anderen persischen Waren an westeuropäische Kaufleute in den moskauischen Grenzund Hafenstädten zu niedrigen Zollsätzen, sondern planten auch, selbst nach Westeuropa zu reisen sowie von dort Retourwaren entweder im Transit nach Persien oder zur
35 Vgl. als deutlichen Beleg hierfür etwa die zitierte Instruktion für A. Kirillov vom 9. Mai 1667, hier
S. 183.
36 Vgl. zuletzt Heller: Russische Wirtschafts- und Sozialgeschichte Band 1, S. 203.
37 V. K. Voskanjan: Les Armeniéns à Moscou du XVe au XVIIe siècle, in: Revue des études arméniennes. Nouvelle série 9 (1972) S. 425–444, hier S. 438. – Sprachlich nicht zugänglich waren mir
die Dissertation sowie ein Aufsatz desselben Verfassers. Vgl. die russischen Nebentitel derselben:
V. K. Voskanjan: Armjano-russkie ėkonomičeskie otnošenija v XVII v. (Rol’ armjanskogo kupečestva v persidskoj torgovle Rossii). Kand. diss. Erevan 1948, und Ders.: Russko-armjanskie otnošenija
v 17 – om veke, in: Izvestija Akademii nauk Armjanskoj SSR (1948) No. 1 (Obščestvennye nauki), S. 53–77. – G. Lusikov /Lusikjan firmiert in den Quellen auch als „Lusikenc“, S. Romodamskij /
Sagradjan als „Ramadamskij“, „Romadamskij“ und „Romodanovskij“.
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Vermarktung im Moskauer Staat mitzubringen 38. Nach Verhandlungen mit A. L. Ordin-Naščokin tauchten in mehreren armenischen Bittschriften an den Zaren neben
der Weißmeerroute auch die Handelswege von Novgorod an den Finnischen Meerbusen sowie von Smolensk nach Westen, also nach Polen-Litauen, ins kurländische
Libau oder ins schwedische Riga, auf 39. Als Agent der Armenischen Kompanie in
Moskau sollte der dort ansässige englische Russlandkaufmann Thomas Brayne fungieren; des Weiteren wünschte die Kompanie Agenten in Astrachan’, Novgorod und
Archangel’sk 40. Im Gegenzug für diese Zugeständnisse boten die Armenier an, die
gesamte persische Seidenausfuhr – den Unterhändlern zufolge 8000 Ballen pro Jahr –
über den Moskauer Staat zu lenken 41.
Der nach über einjährigen Verhandlungen geschlossene erste armenisch-moskauische Vertrag enthielt auf der einen Seite gewichtige Konzessionen des Zaren,
die weitgehend den Forderungen der Armenier entsprachen: (1) Der Einfuhrzoll, im
38 Ihre Bittschriften sind enthalten in: Peregovory predstavitelej armjanskoj torgovoj kompanii Stepana
Ramadamskogo i Grigorija Lusikova s Alekseem Michajlovičem o razrešenii im vyvozit’ šelk-syrec
v Rossiju i čerez Novgorod i Archangel’sk v zarubežnye strany. Moskau 1666, in: ARO, Dok. Nr. 6,
S. 34–41 (im Folgenden: Peregovory 1666), sowie in: Peregovory predstavitelej armjanskoj torgovoj kompanii Stepana Ramadamskogo i Grigorija Lusikova s russkim pravitel’stvom ob uslovijach
zaključenija torgovogo dogovora i torgovyj dogovor 31 maja 1667 g. Moskau, 21. Dezember 1666–
3. September 1667, ebenda, Dok. Nr. 10, S. 44–64 (im Folgenden: Peregovory 1666–1667).
39 Peregovory 1666, S. 37–38.
40 Peregovory 1666–1667, S. 59. – Der Umstand, dass auf Vorschlag der Armenier ein Engländer ihre
Interessen in Moskau vertreten sollte, war weniger ungewöhnlich, als es auf den ersten Blick scheinen mag: Der 1671 in Isfahan gestorbene Th. Brayne, ein Schwiegersohn John Hebdonsd. Ä. und
1663–1664 dem Earl of Carlisle bei seiner wenig glückhaften Moskau-Mission als Dolmetscher zu
Diensten, war nicht nur im Zeitraum 1664–1666 als Charles’ II. vice-agent in Moskau, d. h. halboffizieller und unbesoldeter diplomatischer Vertreter, sowie 1665 als zarischer Gesandter in Isfahan
gewesen, sondern hielt sich 1667 zudem im Rang eines Gesandten des Schahs in der Hauptstadt des
Zarenreiches auf. Vgl. Earl of Carlisle – Lord Clarendon. Moskau, 12. März 1664. Abgedruckt bei:
S[ergei] Konovalov: England and Russia: Three Embassies, 1662–5, in: Oxford Slavonic Papers 10
(1962) S. 60–104, hier Appendix 1, b, S. 87–91, besonders S. 90; Phyllis S. Lachs: The Diplomatic
Corps under Charles II & James II New Brunswick, NJ 1965, S. 16 und 198; V. K. Voskanjan: Novo-torgovyj ustav i dogovor s armjanskoj torgovoj kompaniej v 1667 g., in: Izvestija Akademii nauk
Armjanskoj SSR. Obščestvennye nauki (1947) H. 6, S. 29–43, hier S. 41; Central’nyj gosudarstvennyj archiv drevnich aktov. Putevoditel’ v četyrech tomach. Band 1. Red. M. I. Avtokratova [et al.].
Moskva 1991, S. 291; und Zapis’, zaključennaja meždu poverennymi torgovoj v Ispagani Armjanskoj
kompanii Stepanom Romodamskim i Grigor’em Lusikovym i Angličaninom Tomasom Brejnom. –
O bytii emu Brejnu ot ich kompanii v Moskve i vo vsech gorodach Rossijskich Agentom; ob ischodatajstvovanii emu i ot Persidskago Šacha podtverždenija v sem ego zvanii, s platežem za takovuju
službu s privozimych imi tovarov po den’ge, s prisylaemych že emu dlja prodaži po dve kopejki s
rublja. Moskau, 31. Mai 1667, in: Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii. Sobranie pervoe: S
1649 po 12 dekabrja 1825 g. Tom I: S 1649 po 1675. S.-Peterburg 1830 (im Folgenden: PSZ I,1),
Dok. Nr. 410, S. 695–697 (dasselbe in: Peregovory 1666–1667, S. 58–60).
41 Peregovory 1666, S. 37. – Der Autor der neuesten Spezialuntersuchung zum Umfang der persischen
Seidenproduktion samt Westexportanteil im 17. Jh. hält die genannte Mengenangabe zwar für sehr
hoch, zumal die Unterhändler im eigenen Interesse übertrieben haben dürften, sieht aber die genannte Zahl durchaus noch im Bereich des Möglichen, da sie mit einer Angabe vorn Beginn des 18. Jh.,
die auf 9000 Ballen lautet, übereinstimmt. Vgl. Herzig: The Iranian Raw Silk Trade S. 77 und 80.
Isfahan – Moskau – Amsterdam
47
Neuen Handelsstatut soeben auf 10 % festgesetzt, wurde für die Kompanie auf 5 %
gesenkt; (2) ihren Mitgliedern wurde gegen Erlegung von weiteren 5 % das Recht
des Besuchs Moskaus und des Gasthandels dort zugestanden; (3) Seide, die in der
Hauptstadt nicht abzusetzen wäre. sollten sie gegen 5 % Binnenzoll in die Grenzstädte bringen und dort an Ausländer oder Russen verkaufen dürfen; (4) Seide, die
auch dort nicht abzusetzen wäre, könnten sie gegen 5 % Ausfuhrzoll ins westeuropäische Ausland exportieren; und (5) wurde für Retourwaren ein Zollsatz von 7 %
bestimmt. Dem standen zwei Verpflichtungen der Kompanie gegenüber: (1) Persische Rohseide sollte künftig ausschließlich über den Moskauer Staat ausgeführt
werden; und (2) sollte der Edelmetallerlös, den die Armenier im Falle ihrer Weiterreise in Westeuropa erzielten, zum Ankauf russischer Waren verwendet werden, welche
sodann zollfrei nach Persien ausgeführt werden könnten 42. Die Armenische Kompanie erhielt also zum einen Bewegungsfreiheit samt Gasthandelsrecht innerhalb des
Moskauer Staates sowie zum anderen ein bedingtes, aber mittels des Preisregulativs
durchsetzbares Transitrecht.
Die auf den ersten Blick merkwürdig erscheinende Diskrepanz zwischen der
Einschränkung der Bewegungsfreiheit westeuropäischer Kaufleute durch das Neue
Handelsstatut einerseits und der Vergrößerung des Spielraumes der Mitglieder der
Armenischen Handelskompanie in dem fast gleichzeitig geschlossenen Vertrag andererseits hat in der Historiographie sehr unterschiedliche Beurteilungen erfahren.
Während der US-amerikanische Russlandhistoriker Samuel H. Baron die letztgenannte Übereinkunft „in einem flagranten Widerspruch zum Geist, wenn nicht gar
Buchstaben, des neuen Statuts“ sieht 43, vermag sein sowjetarmenischer Kollege
V. K. Voskanjan bloß einen „Nebenwiderspruch“ zwischen den Interessen der „handelskapitalistischen“ und der „feudalgutsbesitzenden“ Teile ein und derselben „herrschenden Klasse“, deren gemeinsames Interesse die „Ausbeutung der leibeigenen
Bauernschaft“ gewesen sei, zu erkennen 44. Beide Einschätzungen sind einseitig, atmen doch beide Regelwerke den Geist vor allem fiskalischen und „bullionistischen“
Denkens, weisen insofern also durchaus eine Handschrift auf, worauf nicht zuletzt S.
Baron selbst hingewiesen hat 45.
42 Zur russischen Fassung des Vertrages siehe: Žalovannaja Gramota (v spiske), na osnovanii zaključennago Bojarinom Afanasiem Lavrent’evičem Ordinym-Naščokinym dogovora s Stepanom Romodamskim i Grigoriem Lusikovym, pri[s]lannymi ot Armjanskoj torgovoj Kompanii: o nenarušimoj
s obeich storon torgovle, pri posredstve živuščago v Moskve Agenta Angličanina Tomasa Breina.
Moskau, 31. Mai 1667, in: Sobranie gosudarstvennych gramot i dogovorov, chranjaščichsja v gosudarstvennoj kollegii inostrannych del. Čast’ četvertaja. Moskva 1828 (im Folgenden: SGGD IV),
Dok. Nr. 56, S. 204–208. Dasselbe als Žalovannaja gramota Armjanskoj kompanii na privoze v Rossiju šelka i syrca, in: PSZ I,1, Dok. Nr. 409, S. 692–695, sowie in: Peregovory 1666–1667, S. 47–
52.
43 Samuel H. Baron: Vasilii Shorin: Seventeenth-Century Russian Merchant Extraordinary, in: Canadian-American Slavic Studies 6 (1972) S. 503–548, hier S. 530.
44 Voskanjan: Novo-torgovyj ustav S. 42.
45 Baron: Vasilii Shorin S. 531.
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Das ganze Bündel von Argumenten, die aus der Sicht des Zaren in seiner doppelten Eigenschaft als Privatunternehmer und Staatsoberhaupt für den Vertrag sprachen,
wies neben fiskalisch-monetären aber auch solche wirtschafts-, handels- und vor
allem bündnispolitischer Art auf. Die Hoffnung auf eine generelle Steigerung der
Anziehungskraft des Reiches auf europäische Kaufleute, hier vor allem der Sommermesse in Archangel’sk, auf die genannte Schließung der vom Neuen Handelsstatut
gerissenen Transport- und Verkehrslücke zwischen dem Wolgagebiet und dem Dvina-Delta, möglicherweise auch die Einlösung eines Versprechens der Vertreter der
Kompanie, armenische Handwerker zur Ansiedlung in Moskau zu bewegen 46, sind
hier zu nennen. Hinzu kamen die gleichfalls erwähnten außen- und sicherheitspolitischen Erwägungen, derer sich auch die armenischen Unterhändler wohl bewusst
waren und auf die sie in den Verhandlungen deutlich anspielten: „Du, großer Herrscher, hältst mit Schah ’Abbas von Persien enge Freundschaft, aber mit dem türkischen Sultan lebt Schah ’Abbas in großem Streit.“ 47 Im Zusammenhang mit der
neuen moskauischen Südpolitik erschien eine bündnispolitische Rückversicherung
in Isfahan also erstrebenswert, eine handelspolitische Übereinkunft dabei als Schritt
in die richtige Richtung 48. Dass der Zar vor diesem ersten Vertragsschluss mit der
Armenischen Handelskompanie die hauptstädtische Kaufmannschaft entgegen moskauischem Brauch nicht um ihre Meinung gefragt hatte, weist dabei auf die primär
politischen und erst sekundär ökonomischen Aspekte in seinem Kalkül hin, wie
schon E. S. Zevakin betont hat 49. Folglich entschloss sich der Zar noch im April 1667,
unter der Leitung des genannten Th. Brayne „an den Persianer expresse eine absendung [zu] thun“, diesmal in diplomatisch-handelspolitischem Auftrag und nicht, wie
zuvor üblich, zum Zwecke des zarischen Privathandels 50.
Die Erfolgsaussichten einer solchen Mission waren um so größer, als sich die
Interessen des Schahs auf beiden genannten Ebenen mit denen des Zaren deck-
46 Vgl. Hans-Heinrich-Nolte: Religiöse Toleranz in Rußland 1600–1725. Göttingen [usw.] 1969, S. 53
und 92–93 (= Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft Band 41). – H.-H. Nolte sieht in
diesem speziellen Punkt zugleich die Voraussetzung dafür, dass sich die armenischen Kaufleute
gegen die Konkurrenz indischer Kaufleute im Inneren des Moskauer Staates durchsetzen konnten.
Zur weiterhin starken Stellung der Inder in Astrachan’ vgl. R. V. Ovčinnikov: Obzor dokumentov
Astrachanskoj prikaznoj palaty o russko-indijskoj torgovle poslednej četverti XVII veka, in: Archeografičeskij ežegodnik za 1957 god. Moskva 1958, S. 217–227.
47 Zitiert nach Peregovory 1666, S. 37–38. Vgl. auch Bajburtjan: Armjanskaja kolonija Novoj Džul’fy
S. 98. – Die Frage, ob das von der armenischen Nationalgeschichtsschreibung der Armenischen
Handelskompanie unterstellte Motiv der Gewinnung moskauischer Rückendeckung zur Wiederherstellung einer armenischen Staatlichkeit eine Rolle gespielt hat, bleibt hier ausgeklammert. Vgl. dazu
z. B. Voskanjan: Novo-torgovyj ustav S. 43; oder Bournatian: The Armenian Community of Isfahan.
Pt. II, S. 45–48.
48 Vgl. zum Zusammenhang von Außen- und Handelspolitik Kukanova: Rol’ armjanskogo kupečestva
S. 23–25; Kukanova: Ocerki S. 67–77; und Bajburtjan: Armjanskaja kolonija Novoj Džul’fy S. 96.
49 Zevakin: Persidskij vopros S. 158–159.
50 Adolf Eberskjöld – schwedische Vormundschaftsregierung. Moskau, 22. Mai 1667, in: Ekonomiska
förbindelser mellan Sverige och Ryssland. Dokument ur svenska arkiv. Red. Artur Attman. Stockholm 1978, Dok. Nr. 26, S. 164 (im Folgenden: EFSR).
Isfahan – Moskau – Amsterdam
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ten: Der von 1665 an den Schiffsverkehr in der Levante zum Erliegen bringende
osmanisch-venezianische Konflikt um Kreta machte die Benutzung der persischen
Hauptausfuhrroute nach Aleppo unmöglich, so dass eine Ausweichroute zusätzlich
zum ausgesprochen teuren Seeweg um Afrika überaus attraktiv erschien. Und der
sich unter dem neuen Schah Safi II. (Soleiman) weiter beschleunigende Machtverfall
des Safavidenreiches erforderte eine aktive Bündnispolitik gegen den Militäraktionismus des übermächtigen osmanischen Nachbarn.
6. Praxis versus Propaganda 1667–1672
Noch vor dem förmlichen Vertragsschluss mit der Armenischen Handelskompanie
hatte der Zar begonnen, Kaufleute wie politische Instanzen in den Niederlanden,
Hamburg, Italien, Spanien, Frankreich und England von der bevorstehenden Übereinkunft schriftlich zu informieren 51. Wie der über gute Kontakte verfügende neue
schwedische Resident in Moskau, Adolf Eberskjöld, erfahren hatte, ermunterte Aleksej Michajlovič die Adressaten dahingehend,
daß sie künftig selber mit ihre eigene landz wahren, auch mit gut silber solten nach Archangel kommen, allwohr sie näher alß über Ormus [= Hormuz am Persischen Golf – S. T.], die
seide von ihnen kauffen könnten; könnten auch darbey den jährlichen caviarhandell selber
an sich bringen, daß es sonsten frembden jährlich zu ihnen brachten, auch jufften, pelterey und andere stattliche wahren mehr, die sie von Archangel könnten führen; die Spaniger
sollten nur Silber genung bringen. 52
Einen Monat später teilte A. L. Ordin-Naščokin A. Eberskjöld mit, der Armenischen
Handelskompanie stünden neben der Weißmeerroute nach Westeuropa auch die Wege „über Nogorodt nach Narwa und Revel, auch über Smolensko nach Riga“ offen 53.
Diese Ankündigung war insofern bemerkenswert, als sie in diametralem Gegensatz
zur Generallinie bisheriger moskauischer Außenhandelspolitik, nämlich der Priorität
für Archangel’sk, stand. Obwohl es hinsichtlich der Rigaroute bei der bloßen Ankündigung blieb – mit der Ausnahme einer kleinen Rohseidelieferung im Jahr 1678 54 –,
51 Ebenda. Das Foreign Office wurde von dem in moskauischen Diensten stehenden General Patrick
Gordon informell in Kenntnis gesetzt: „Wee ar[e] projecting to draw the Persian and Armenian Traffique through this Countrey.“ Vgl. P. Gordon – Joseph Williamson (Under-Secretary of State). Moskau,
9. Juli 1667, bei: S[ergei] Konovalov: Patrick Gordon’s Dispatches from Russia, 1667, in: Oxford
Slavonic Papers 11 (1964) S. 8–16, hier S. 9–10 (Zitat S. 9).
52 Vgl. A. Eberskjölds zitierten Brief vom 22. Mai 1667.
53 A. Eberskjöld – Vormundschaftsregierung. Moskau, 19. Juni 1667, in: EFSR, Dok. Nr. 26, S. 164–
165, hier S. 164.
54 Dem Sundzollregister zufolge wurden damals aus Riga 980 Pfund, d. h. ca. 4 Ballen, dieser Ware nach
Westen ausgeführt. Nicht auszuschließen ist jedoch, dass dieser Posten nicht via Moskau, sondern
via Polen-Litauen in die livländische Metropole gelangt war. Vgl. hierzu Stefan Troebst: Stockholm
und Riga als „Handelsconcurrentinnen“ Archangel’sks? Zum merkantilen Hintergrund schwedischer
Großmachtpolitik 1650–1700, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 48 (1993) S. 259–
294, hier S. 283.
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Armeno-Sueco-Muscovitica
ist diese Absichtserklärung als Indiz für die erhebliche Bedeutung zu werten, die man
in Moskau dem persischen Transithandel beimaß. Der 1687 erfolgte Sprung über den
eigenen handelspolitischen Schatten, also die maßgeblich von V. V. Golicyn verfügte
Öffnung der Ostseeroute für Mitglieder der Armenischen Handelskompanie, kündigte sich hier bereits an 55.
In Westeuropa führte die Kunde vom armenisch-moskauischen Vertrag zwar zu
einem deutlich gesteigerten Interesse am Persientransit über Moskau, doch war man
in Amsterdam, Paris, Berlin u. a. weniger an einem armenisch vermittelten Zwischenhandel in Archangel’sk als vielmehr an der Erteilung des Rechtes zum Transit
nach Persien via Moskau an die eigenen Kaufleute interessiert. So schlug Ludwig XIV. 1668 dem russischen Gesandten P. I. Potemkin vor, der Zar möge französischen Kaufleuten die zollfreie Durchreise nach Persien gestatten 56, und der Große
Kurfürst fertigte im selben Jahr eine Gesandtschaft nach Moskau ab, die dort für
Königsberg als Zielpunkt der Transitroute aus Persien werben sollte 57. Während beiden Unternehmungen kein Erfolg beschieden war 58, gelang indes der Warschauer
Diplomatie in Moskau ein diesbezüglicher Durchbruch: Im antiosmanischen Bündnisvertrag zwischen Adelsrepublik und Zarenreich vom 4. Dezember 1667 wurde
vereinbart, dass moskauische Kaufleute via Polen nach Westeuropa und polnische
55 Vgl. Ders.: Narva und der Außenhandel Persiens.
56 Vgl. Sergej M. Solov’ev: Istorija Rossii s drevnejšich vremen v pjatnadcati knigach. Red. L. V. Čerepnin. Kniga VI (toma 11–12): Istorija Rossii v carstvovanie Alekseja Michajloviča. Moskva 1961,
S. 540.
57 In der Instruktion für den Gesandten hieß es: „Demnach auch verlauten will, daß in denen zwischen
dem Tzaren und dem Könige in Persien Jüngsthin aufgerichteten Pactum unter anderem verglichen
worden, daß die Commercien so vorhin aus Persien durch die Türckey in Italien gangen, hinfüro durch
die Moscow in Pohlen gehen sollen, Alß hat er sich zuerkundigen was etwa an dieser Zeitung seyn
mag, und solchen falls anzuhalten, daß Sie unsern Landen, so viel müglich, zugewendet werden mögen, Gleicher gestalt hat er zu versuchen, ob nicht Ihre Tzaar. M.tt und Ld. zu mehrer Fortsetzung der
Commercien auch andere wahren Ihrer Lande nach Königsberg kommen zu lassen und des fals gewiße Verordnung machen wollten“ (Instruktion Friedrich Wilhelms für Friedrich von Dönhoff. Berlin,
18. Februar 1668, in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin. XX. Hauptabteilung.
Herzogliches Briefarchiv. Abt. E: Rußland, Wallachei, Türkei, Kasten 724: 1662–1720 Gesandtsch.
nach Moskau, Bll. 61–72, hier Bl. 71).
58 Zur französischen Initiative vgl. Ferdinand Grönebaum: Frankreich in Ost- und Nordeuropa. Die
französisch-russischen Beziehungen von 1648–1689. Wiesbaden 1968, S. 55–57 (= Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa Band 2). – F. v. Dönhoff erkrankte unterwegs in Königsberg
und musste die Reise abbrechen. Seinem Ersatzmann Samuel Arciszewski wurde von A. L. OrdinNaščokin die Einreise verweigert. Erst dem armenischen Kaufmann und Untertan des Schahs Jakub
Samokutli, der 1670 in Moskau eine brandenburgische Vollmacht vorlegte, wurde das Transitrecht
gewährt, wobei unklar bleibt, ob es sich um eine einmalige oder um eine permanente Erlaubnis
handelte. Vgl. G. V. Forsten: K vnešnej politike velikago kurfjursta Fridricha Vil’gel’ma brandenburgskago, in: Žurnal Ministerstva narodnago prosveščenija 1900, Teil 330 (Juli), S. 22–58, hier
S. 33–35; Kurt Forstreuter: Preußen und Rußland von den Anfängen des Deutschen Ordens bis zu
Peter dem Großen. 2. Aufl. Göttingen 1955, Anm. 158, S. 212–213 (= Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft Band 23); und Zevakin: Persidskij vopros S. 153.
Isfahan – Moskau – Amsterdam
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via Moskau nach Persien handeln dürften (§ 5) 59. Bereits 1668 traf der polnische
Gesandte Bohdan Gurdziecki in Isfahan ein, wo er zum einen den Schah zum Beitritt zum polnisch-moskauischen Bündnis gegen den Sultan zu bewegen suchte, zum
anderen auf die kriegsfinanzielle Bedeutung einer Verlegung des persischen Seideexportes von Aleppo ins Zarenreich hinwies 60. Auch hier also tritt die Verknüpfung
von Bündnis- und Handelspolitik im Kalkül des Zaren deutlich zutage.
Allerdings gab es in den Teilen Europas, die mit dem Moskauer Staat in Handelsbeziehungen standen, nicht nur Zustimmung zur neuen Transitroute aus Persien.
Skeptische Stimmen erhoben sich vor allem in den großen Persienhandelskompanien
der Handelsstaaten. „Opening a trade for Persian silkes at Archangel“, hieß es in einer
zeitgenössischer Londoner Stellungnahme von interessierter Seite, „[. . . ] will ruin
the English trade in the Levant.“ 61 Und auch der moskauerfahrene Samuel Collins
gab zu bedenken, dass eine Umleitung des Weltrohseidehandels durch den Moskauer Staat hindurch die Wiederherstellung des privilegierten status quo ante 1646 für
englische Kaufleute noch mehr als ohnehin der Fall erschweren würde:
If the Persian and Indian Silk trade prevail in Russia, the Czar, Ifear will think it too great a
boon to restore the English Immunities, and ’twill be as hard for them to regain their priviledges, as it was for the Pharoahs [sic!] people to drive their Charriots through the Red Sea
when their wheels fell off. 62
Zugleich hegte er die Befürchtung, dass die an dieser Routenänderung stark interessierten niederländischen Russlandkaufleute damit der englischen Kaufmannschaft
auf russischem Terrain noch stärkere Konkurrenz als bisher machen würden. Sein
vielzitiertes, wenngleich die Tatsachen nicht allzu exakt wiedergebendes Diktum
„The Dutch like Locusts, swarm in Mosco, and eat breat out of the English-mens
mouth“ 63 ist just auf diesen Umstand gemünzt.
S. Collins’ an den Vertrag von 1667 geknüpfte Befürchtungen waren vorerst
jedoch ebenso grundlos wie die damit verbundenen Hoffnungen seiner Widersacher. Denn die Übereinkunft von Zar und Armenischer Kompanie setzte keinerlei
Warenverkehr in Gang: Noch im Frühjahr 1667 wandten sich die Truppen des aufständischen Sten’ka Razin nach Südosten und unterbrachen den Wolga-Kaspi-Weg
auf mehrere Jahre hinaus. Dabei zerstörten sie auch das Schiff Orel, das der Zar
59 Vgl. Zbigniew Wójcik: Mi˛edzy traktatem andruszowskim a wojna˛ turecka.˛ Stosunki polsko-rosyskie 1667–1672. Warszawa 1968, S. 108, sowie allgemein zum polnischen Persienhandelsinteresse
Zevakin: Persidskij vopros S. 143–147.
60 Ebenda S. 144. Vgl. auch Bajburtjan: Armjanskaja kolonija Novoj Džul’fy S. 103; und Wójcik:
Mi˛edzy traktatem andruszowskim a wojna˛ turecka˛ S. 122.
61 Vgl. Ferrier: The Armenians and the East India Company S. 59, Anm. 7.
62 Samuel Collins: The Present State of Russia, in a Letter to a Friend at London, Written by an Eminent Person Residing at the Great Tzars Court at Mosco for the Space of Nine Years. London 1671,
S. 127–128.
63 Ebenda S. 128.
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Armeno-Sueco-Muscovitica
zum Transport von Rohseide auf dem Kaspischen Meer bauen ließ 64. Zugleich trübte
diese innerrussische Rebellion das Verhältnis zu Persien: Als die Razinovščina auf
den Kaspi-Raum übergriff, armenische Persien-Kaufleute Warenverluste erlitten und
persische Städte angegriffen wurden, forderte der Schah vom Zar Kompensation, was
abgelehnt wurde 65.
7. Der zweite armenisch-moskauische Vertrag
vom 7. Februar 1673
Erst Ende 1671 gelang es der Moskauer Zentralmacht, die Rebellion der RazinAnhänger im Südosten des Reiches zu ersticken und mit der Rückeroberung von
Astrachan’ die Handelsroute aus Persien wieder benutzbar zu machen. Noch im selben Jahr fertigte der Schah das Führungsmitglied der Armenischen Handelskompanie
G. Lusikjan formell als Gesandten nach Moskau ab, damit dieser das von ihm selbst
mitausgehandelte Abkommen vom Jahre 1667 bestätigen ließe 66. Jedoch zögerten
Aleksej Michajlovič und sein neuer Kanzler A. S. Matveev, das der Kompanie seinerzeit gewährte Gasthandels- und Transitrecht wie zuvor ohne Rücksprache mit
der einheimischen Kaufmannschaft zu erneuern. Vielmehr wurden am 15. Juli 1672
etliche hauptstädtische gosti mit dem im Handel mit persischen Waren besonders erfahrenen Vasilij Šorin an der Spitze in den Gesandtschaftsprikaz gerufen, um ihre
Meinung über den Vertrag von 1667 und seine anstehende Bestätigung einzuholen 67.
Die Moskauer Großkaufleute lehnten die Erteilung des Gasthandels- und Transitrechts an ihre persischen und armenischen Konkurrenten entschieden ab und rieten
zur gesetzlichen Beschränkung von deren Handel auf die Stadt Astrachan’ 68. In den
direkten Verhandlungen mit G. Lusikjan machte sich A. S. Matveev diese Forderungen der gosti dann zwar nicht gänzlich zu eigen, nahm aber doch auf ihre Interessen
Rücksicht 69. Daher wurde die Übereinkunft von 1667 nicht bestätigt, sondern am
7. Februar 1673 ein neuer und modifizierter Vertrag zwischen Zar und Armenischer
64 Vgl. hierzu Samuel H. Baron: A. L. Ordin-Nashchokin and the Orel affair, in: Ders.: Explorations in
Muscovite History. Aldershot 1991, X, S. 1–22, besonders S. 8–11.
65 Kukanova: Očerki S. 82.
66 ARO, Dok. Nr. 16–18, S. 70–74.
67 Vgl. Hans-Joachim Torke: Die staatsbedingte Gesellschaft im Moskauer Reich. Zar und Zemlja in der
altrussischen Herrschaftsverfassung 1613–1689. Leiden 1974, S. 204–205 (= Studien zur Geschichte
Osteuropas Band 17).
68 Ob-jasnenie, prizvannych v Posol’skij prikaz, Rossijskich gostej na zapros: ne delaet li kakogo podryva Rossijskomu kupečestvu torgovyj dogovor s Armjanami, v 1667 godu zaključennyj? Moskau,
15. Juli 1672, in: SGGD IV, Dok. Nr. 81, S. 277–279. Dasselbe in: ARO, Dok. Nr. 19, S. 74–76, sowie
in Russko-indijskie otnošenija v XVII v. Sbornik dokumentov. Red. K. A. Antonova, N. M. Gol’dberg
& T. D. Lavrencov. Moskva 1958, Dok. Nr. 95, S. 172–173.
69 Zu den Verhandlungen in Moskau in der zweiten Hälfte des Jahres 1672 vgl. ARO, Dok. Nr. 20–24,
S. 76–95.
Isfahan – Moskau – Amsterdam
53
Kompanie geschlossen 70. Die Mitglieder der Kompanie sollten nun zwar weiterhin
über Astrachan’ hinaus in den Moskauer Staat einreisen und überall mit einheimischen Kaufleuten Handel treiben dürfen, doch vom Gasthandelsrecht war keine
Rede mehr. Wie bereits 1667 wurde den Armeniern aber auch diesmal gestattet,
in die Grenzstädte einschließlich Archangel’sks sowie – im Falle fehlender Absatzmöglichkeiten dort – weiter in westeuropäische Länder zu reisen. Die letztgenannte
Konzession wurde jetzt jedoch mit einer zusätzlichen Einschränkung versehen: Das
Transitrecht sollte nur dann gelten, „wenn mit diesen [Ziel-] Staaten nicht irgendwelche Streitigkeiten bestehen“ (Bude s temi Gosudarstvy ssory kakija ne budet) 71;
in einem solchen Konfliktfall müsste bereits in den Grenzstädten eingetroffene Rohseide entweder an den Zaren selbst oder an einheimische Kaufleute verkauft werden.
G. Lusikjan erklärte sich damit notgedrungen einverstanden, allerdings unter der
Voraussetzung, dass für diesen Fall ein verbindlicher Mindestpreis festgesetzt würde. Die moskauische Seite gab daraufhin einen Preis von 30 bis 35 Rubel pro Pud
für unterschiedliche Rohseidequalitäten an 72, was deutlich unter den Archangel’sker
Marktpreisen von 40 bis 46 Rubel pro Pud lag 73.
In einem gesonderten Rechtsakt musste G. Lusikjan im Namen der Armenischen
Handelskompanie ebenfalls am 7. Februar 1673 noch einmal explizit versichern,
dass persische Rohseide künftig ausschließlich in den Moskauer Staat bzw. von dort
weiter nach Europa exportiert würde 74. Desgleichen sollten die Armenier allen ausländischen Kaufleuten, die innerhalb Persiens von ihnen Seide aufkaufen wollten,
dies verweigern und ihnen erklären: „Die gesamte Seide geht nach Russland“ (Ves’
šelk idet v Rossiju) 75.
Die genannte, das Transitrecht einschränkende Konfliktklausel ist in der historischen Fachliteratur häufig missverstanden worden und hat daher zu wenig begründeten Vermutungen bzw. irrigen Schlussfolgerungen Anlass gegeben. Dabei hatte noch
N. I. Kostomarov, der sich als einer der ersten mit dem Vertrag von 1673 und der
besagten Klausel befasste, weitgehend zutreffend, wenngleich stark interpretierend
geurteilt: „Dieser letztgenannte Vorbehalt wurde lediglich pro forma gemacht, da es
sich in Wirklichkeit so verhielt, daß die Regierung, von den gosti agitiert, die Auslandsreisen [der Armenier] einschränken und ihre Waren innerhalb Rußlands an sich
70 Dogovornaja torgovaja Zapis’ (v spiske), zaključennaja, v podtverždenie pervoj, Okol’ničim Artemonom Sergeevičem Matveevym s prislannym Armjanskoju torgovoju Kompanieju doverennym Grigoriem Lusikovym: o vozobnovlenii s Rossieju prežnej torgovli, prervavšejsja na nekotoroe vremja
po končine Šacha Abbasa II. Moskau, 7. Februar 1673, in: SGGD IV, Dok. Nr. 83, S. 280–283 (im
Folgenden: Dogovornaja torgovaja Zapis’). Eine andere Fassung in: ARO, Dok. Nr. 29, S. 110–113.
71 Dogovornaja torgovaja Zapis’ S. 281–282.
72 Ebenda S. 283.
73 Vgl. Kukanova: Rol’ armjanskogo kupečestva S. 26.
74 Obeščanie Grigorija Lusikova, dannoe im v Posol’skom prikaze ot imeni Armjanskoj torgovoj kompanii ne prodavat’ šelk-syrec priezžim inostrancam, a vvozit’ ego v Rossiju i vyvozit’ čerez Moskvu.
Moskau, 7. Februar 1673, in: ARO, Dok. Nr. 30, S. 113–114.
75 Zitiert nach Solov’ev: Istorija Rossii kn. VI, t. 11–12, S. 571.
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Armeno-Sueco-Muscovitica
bringen wollte.“ 76 Während nach ihm P. P. Mel’gunov in einer Übersicht aus dem Jahr
1904 zwar die persisch-moskauischen Handelsbeziehungen, die Transitfrage und das
Neue Handelsstatut behandelte, aber weder die Armenische Handelskompanie noch
den Vertrag mit ihr erwähnte 77, behauptete Pavel P. Smirnov 1912 lakonisch, dass
„die Regierung [. . . ] im Jahr 1673 die Einfuhr von Seide nach Archangel’sk zum
Handel mit Ausländern verbot“ 78. Dass „der Hauptvorteil der Kompanie – das Transitrecht – ihr verlorenging“, glaubte in einer Kiever Publikationsreihe 1915 dann
auch Boris G. Kurc konstatieren zu können 79, wohingegen sich bereits im Folgeband dieser Reihe vom selben Jahr eine textnähere Interpretation der Konfliktklausel
aus der Feder von A. Ja. Špakovskij fand 80. Ähnliche Verwirrung herrscht auch in der
modernen westlichen Literatur: Während W. Mediger 1967 im Wesentlichen korrekt
feststellte, dass der 1667 geschlossene moskauisch-armenische „Vertrag 1673 mit einigen für Moskau vorteilhaften Abänderungen erneuert wurde“, da „die Gosten [. . . ]
weder seine Aufhebung noch seine durchgreifende Änderung in ihrem Sinne zu erreichen“ vermochten 81, meinte H.-H. Nolte 1969 in Vermengung von Wortlaut und
Handelspraxis, „bei der Verlängerung des Vertrages 1673 mußten die Armenier [. . . ]
auf den Handel bis zu den russischen Westgrenzen verzichten“ 82. Und gar von einer
„1673 widerrufene[n] Erlaubnis für die armenische Handelskompanie, über Astrachan’ [!] hinaus Handel zu treiben“, sprach 1987 K. Heller 83. Dem war, wie gezeigt,
nicht so.
76 N. I. Kostomarov: Očerk torgovli Moskovskogo gosudarstva v XVI–XVII stoletijach. S.-Peterburg
1862 (Reprint Den Haag 1966), S. 48.
77 P. P. Mel’gunov: Očerki po istorii russkoj torgovli IX–XVIII vv. Moskva 1904.
78 P. P. Smirnov: Ėkonomičeskaja politika Moskovskogo gosudarstva v XVII v., in: Russkaja istorija v
očerkach i stat’jach. Band 3. Red. M. V. Dovnar-Zapol’skij. Kiev 1912, S. 369–410, hier S. 386–387.
79 B. G. Kurc: Sočinenie Kil’burgera o russkoj torgovle v carstvovanie Alekseja Michajloviča. Kiev
1915, S. 357 (= Sbornik Studenčeskago Istoriko-Ėtnografičeskago Kružka pri Universitete Sv. Vladimira. Vyp. VI).
80 A. Ja. Špakovskij: Torgovlja Moskovskoj Rusi s Persiej v XVI–XVII vekach. Kiev 1915, S. 27
(= Sbornik Istoriko-Ėtnografičeskago Kružka pri Universitete Sv. Vladimira. Vyp. VII).
81 Mediger: Mecklenburg, Textband S. 171 und 172.
82 Nolte: Religiöse Toleranz S. 93.
83 Heller: Russische Wirtschafts- und Sozialgeschichte Band 1, S. 203–204. K. Heller beruft sich hierbei auf N. I. Kostomarov. Tatsächlich dürfte die Quelle für diese Fehlinformation aber nicht dieser,
sondern J. Ph. Kilburger gewesen sein. Diesem Augenzeugen zufolge „sind die Perser in Moscau so
verhaßt worden, daß sie im Jahr 1673 alle Freyheit verlohren, und nun kein Perser und Indianer [. . . ]
seine Güter weiter als nach Astrachan bringen darf“ (Johann Philipp Kilburger: Kurtzer Unterricht
von dem Rußischen Handel, wie selbiger mit aus= und eingehenden Waaren 1674 durch ganz Rußland getrieben worden, in: Magazin für die neue Historie und Geographie, angelegt von D. Anton
Friderich Büsching [Hamburg] 3 [1769] S. 243–342, hier S. 311). Diese an sich zutreffende Feststellung – vgl. den nachstehend erwähnten Zarenukas vom Frühjahr 1673 – wird dadurch falsch, daß
J. Ph. Kilburger am persischen Export lediglich „Perser und Indianer“ bzw. „Persianer, wie auch
einige indostanische Indianer“ beteiligt wähnte (ebenda), jedoch vom maßgeblichen Anteil der Armenier keine Kenntnis besaß und diese daher überhaupt nicht aufführte. Dies ist umso merkwürdiger,
als sein Vorgesetzter bei der schwedischen Moskau-Gesandtschaft von 1673/1674, der Stockholmer
Großkaufmann und Assessor im Kommerzkollegium, Jochim Pötter Lillienhoff, durch enge Kontakte
zu orientalischen Russlandkaufleuten Anfang 1674 den genauen Inhalt des armenisch-moskauischen
Isfahan – Moskau – Amsterdam
55
Hatten also die gosti ihre Interessen in dem zweiten Vertrag zwar besser wahren
können als im ersten, so erzielte jedoch auch die Armenische Handelskompanie bald
nach Vertragsschluss eine Verbesserung ihrer Stellung auf dem russischen Markt.
Denn am 21. Mai 1673 versammelte A. S. Matveev erneut die hauptstädtischen Großkaufleute mit V. Šorin an der Spitze, um ihnen einen zarischen Ukas vorzulesen,
demzufolge der persisch-russische Handel in Astrachan’ konzentriert werden sollte,
fürderhin also weder moskauische Kaufleute nach Persien noch persische Kaufleute
ins Innere des Moskauer Staates reisen dürften. Die Mitglieder der Armenischen
Handelskompanie indes sollten davon ausgenommen bleiben 84. Während die gosti
aufgrund der Willkür persischer Behörden auf ihr Recht, im Inneren des Nachbarlandes Geschäfte zu tätigen, leichten Herzens verzichteten und das Verbot einer Weiterreise von Persern, Indern und anderen orientalischen Kaufleuten über Astrachan’
hinaus begrüßten, warnten sie vor dem ungesetzlichen Handelsgebaren der Armenier
in Moskau und andernorts: Diese würden „mit allen möglichen Leuten Kleinhandel
mit ihren Waren zu hohen Preisen betreiben, hingegen die besten russischen Waren
zu niedrigem Preis erwerben“ 85. Zusätzlich holte A. S. Matveev auch die Meinung
des noch in Moskau befindlichen G. Lusikjan zu dem Ukas ein. Der Armenier beruhigte den Kanzler sowohl hinsichtlich etwaiger negativer Reaktionen des Schahs
auf den Ukas wie in Bezug auf die Vorwürfe der gosti: „Wir, die Armenier, werden
weder mit Tabak handeln noch Russen betrügen, weil wir Christen sind.“ 86 Der Ukas
des Zaren vom Mai 1673 konsolidierte also die im Vertrag vom Februar desselben
Jahres partiell geschwächte Stellung armenischer Kaufleute. Das Recht, als einzige
orientalische Kaufmannsgruppe auch über Astrachan’ hinaus in den Moskauer Staat
einreisen zu können, gewährte ihnen deutliche Vorteile vor allem vor ihren indischen
Konkurrenten.
Im Unterschied zum Vertrag von 1667, mit dem der Zar Privat- und Staatsinteressen durchsetzte, diejenigen der gosti aber überging, war die Übereinkunft von
1673 das Ergebnis eines Kompromisses zwischen diesen Interessenpolen. Während
der Zar zwar in eingeschränktem Umfang sein fiskalisches Anliegen festschreiben
konnte, aber in handels-, geld- und bündnispolitischer Hinsicht zurückstecken musste, erzielte die moskauische Kaufmannschaft mit der Rücknahme des den Armeniern
Vertrages von 1673 in Erfahrung gebracht hatte. Vgl. hierzu die informationsträchtige Dokumentation: Åthskillige Papper Ryske Handeln angående /mäst papper effter J. Lillienhoff som han Med sig i
Musco hafft. 1673 och 1674, in: UUB, Nordinska samlingen, vol. 438: Diplomatica Sveco-Moscovitica, fol. 194–359.
84 Solov’ev: Istorija Rossii kn. VI, t. 11–12, S. 571. Vgl. auch Kukanova: Očerki S. 53 und 82; sowie Tri
gramoty Astrachanskomu voevode bojarinu knjazju Jakovu Odoevskomu, otnositel’no preimuščestv
Armjanskoj Kompanii. Moskau, 31. Mai–20. Juni 1673, in: Dopolnenija k Aktam istoričeskim,
sobrannyja i izdannyja Archeografičeskoju komissieju. Band 6 [1670–1676]. S.-Peterburg 1857,
Dok. Nr. 80, S. 286–289.
85 Zitiert nach Solov’ev: Istorija Rossii kn. VI, t. 11–12, S. 572.
86 Ebenda S. 572–573 (Zitat S. 573). – Hier wie bei anderen Entscheidungen des Zaren hinsichtlich des
Orienthandels „mag die Tatsache eine Rolle gespielt haben, daß die Armenier, wenn auch Ketzer, so
doch Christen waren“ (Nolte: Religiöse Toleranz S. 93 n).
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Armeno-Sueco-Muscovitica
1667 verliehenen Gasthandelsrechtes und der Beschneidung von deren Transitrecht
einen klaren Erfolg 87. Denn von nun an hatten die gosti zumindest auf dem Papier
die Möglichkeit, in Archangel’sk als Vermittler bei Handelstransaktionen zwischen
armenischen und westeuropäischen Kaufleuten zu fungieren.
8. Von der Stagnation zum Stau 1673–1675
Zu einer solchen merkantilen Vermittlungs- und Kontrolltätigkeit kam es den vorliegenden Quellen zufolge wenn überhaupt, dann nur in sehr geringem Umfang 88.
Denn in den auf den zweiten Vertrag folgenden drei Jahren trafen keine Mitglieder
der Armenischen Handelskompanie im moskauischen Weißmeeremporium ein. Ob
der Grund hierfür eine „überaus pedantische Anwendung“ der Konfliktklausel von
1673 durch moskauische Zentralbehörden war, wie N. G. Kukanova vermutet hat 89,
oder ob Schikanen moskauischer Beamter in Astrachan’ die Armenier abschreckten,
so ein anderer sowjetischer Historiker 90, ist dabei wohl unerheblich. Denn unabhängig davon dürfte man sich auf armenischer Seite durchaus im Klaren darüber
gewesen sein, dass der Zar jederzeit auf „irgendwelche Streitigkeiten“ mit jedem
beliebigen Zielland in Westeuropa verweisen und damit einmal nach Archangel’sk
gelangte Seideposten unter Preis an sich bringen konnte. Wohlweislich stellten daher
die Armenier in Moskau erst gar keine Anträge auf Erlaubnis zur Weiterreise nach
Archangel’sk bzw. nach Amsterdam, sondern beschränkten sich ganz auf Handelsgeschäfte innerhalb des Zarenreiches, wie nicht zuletzt aus den von N. G. Kukanova
selbst beigebrachten Quellenfunden hervorgeht 91. Aber sogar diese Handelsaktivitäten hielten sich 1673 und 1674 in bescheidenem Rahmen, denn es gelangten jährlich
nur ca. 100 Pud Rohseide, das sind um die 15 Ballen, nach Moskau 92. Das den Armeniern neuerlich zugesagte, wenngleich nun eingeschränkte Transitrecht war also
auch diesmal in der Praxis wertlos. Das hatte bereits der von Herbst 1673 bis zum
Sommer 1674 mit einer schwedischen Gesandtschaft in Moskau weilende Johann
Philipp Kilburger erkannt:
87 Vgl. Kostomarov: Očerk torgovli S. 48; und Zevakin: Persidskij vopros S. 159.
88 Der einzigen verfügbaren Angabe zufolge erwarb der gost’ Andrej Suchanov 1673 von G. Lusikjan
und anderen Armeniern die bescheidene Menge von insgesamt 96 Pud Rohseide (ca. 14 Ballen), die er
mit einem Gewinn von 1056 Rubel in Archangel’sk an Ausländer veräußerte. Vgl. Kukanova: Očerki
S. 84.
89 Ebenda S. 85.
90 Zevakin: Persidskij vopros S. 160.
91 Tab. 1: Poseščenie armjanskimi kupcami russkich gorodov v 1673–1675, bei: Kukanova: Očerki
S. 89–91, hier S. 89.
92 Ebenda. – Die gosti nutzten diesen Umstand, um die Armenier des Vertragsbruches zu zeihen. Vgl.
Predloženie gollandskogo posla Kondratija fon Klenka carju Fedoru Alekseeviču i mnenie russkich
kupcov ob učastii Gollandii v vostočnoj torgovli. Moskau, Februar 1676, in: ARO, Dok. Nr. 37,
S. 129–142, hier S. 139 (im Folgenden: Predloženie).
Isfahan – Moskau – Amsterdam
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So siehet auch der Schach sehr ungern, daß jährlich noch eine nicht geringe Quantität [Seide] mit der Caravane durch die Türkey auf Aleppo gehet [. . . ]; in Erwegung, daß sein
größter Feind, der Türk, so großen Nutzen daraus ziehet, und seinen Schatz damit vermehret; ist auch dannenhero um so viel mehr geflissen, diesen Handel zu divertiren, und
gänzlich nach Rußland zu Richten. Die Russen aber wissen in diesem Punkt ihren Nutzen
selbst nicht zu beobachten, und sperren vielmehr den persischen Handel. 93
Allerdings trat Ende 1675 – aus nur unzureichend aufhellbaren Gründen – eine
deutliche Veränderung ein: Im November und Dezember führten einer zeitgenössischen moskauischen Quelle zufolge armenische Kaufleute „in den Moskauer Staat
Rohseide, zwar nicht vertragsgemäß, jedoch in großer Menge“ 94 ein – insgesamt
über 1000 Pud bzw. mehr als 150 Ballen 95. Die gosti weigerten sich, diese Ware anzukaufen, da sie zum einen deren Preis für überhöht hielten 96, zum anderen Taktik
hinter dem Vorgehen der Neu-Ghulfaer Kompanie wähnten: Diese, so ihre Klage,
hätten in den Jahren zuvor deswegen so wenig Rohseide nach Moskau gebracht,
um dort den Preis hochzutreiben, was ihnen auch gelungen sei. Durch den Boykott
wollten die Moskauer Großkaufleute ihren armenischen Konkurrenten einen Strich
durch die mutmaßliche Spekulationsrechnung machen. Desgleichen argwöhnten sie,
„daß [den Armeniern] von den überseeischen Ausländern gewisse Hoffnungen gemacht worden sind“ 97, die Armenier daher „auf Anraten der Holländer [nur] mit
Ausländern handeln wollen“ 98. Da die moskauischen Kaufleute also Obstruktion betrieben, gemäß Neuem Handelsstatut Westeuropäern zumindest de iure der Weg nach
Moskau versperrt und schließlich den Armeniern seit 1673 der Gasthandel verboten
war, fanden sich auch keine „westlichen“ Käufer für die in der Hauptstadt befindlichen Seideposten. Dem Zaren blieben daher nur zwei Auswege, wollte er den nun
augenscheinlich in Gang kommenden Seidehandel mit der Armenischen Kompanie
nicht zum Erliegen bringen: entweder unter Übernahme aller finanzieller Risiken
selbst als go-between tätig zu werden oder aber den Armeniern gegen den Widerstand der gosti den ungehinderten Zugang nach Archangel’sk freizumachen und
ihnen dort den Gasthandel, wenn nicht gar den Transit, zu erlauben. Eine denkbare
dritte Möglichkeit, nämlich die Erteilung eines Transitprivilegs an westeuropäische
Russlandkaufleute, die bis 1667 theoretisch und, wie gezeigt, ausnahmsweise auch
praktisch bestanden hatte, war des Neuen Handelsstatuts wegen mittlerweile nicht
mehr gegeben.
93
94
95
96
Kilburger: Kurzer Unterricht S. 310.
Zitiert nach Kurc: Sočinenie Kil’burgera S. 357.
Vgl. Tab. 1 bei Kukanova: Očerki S. 89–90.
Kurc: Sočinenie Kil’burgera S. 357. Vgl. auch Boris Raptschinsky: Bescheiden betreffende het Gezantschap van Koenraad van Klenck naar Moscovië in 1675–1676, in: Bijdragen en Mededeelingen
van her Historisch Genootschap 59 (1938) S. 83–190, hier S. 128 n.
97 Zitiert nach Kurc: Sočinenie Kil’burgera S. 357.
98 Zitiert nach Zevakin: Persidskij vopros S. 160.
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Armeno-Sueco-Muscovitica
9. Die niederländisch vermittelte moskauische
Transiterlaubnis für die
Armenische Handelskompanie 1676
Das Dilemma, in dem sich Aleksej Michajlovič zwischen Eigen- samt Staatsinteresse und den Interessen der gosti in Sachen Persientransit befand, wurde erst unter
seinem Nachfolger Fedor Alekseevič gelöst: Erstmals im Frühjahr 1676 beantragten
armenische Kaufleute in Moskau eine Genehmigung zur Ausfuhr von über 500 Ballen Rohseide via Archangel’sk, die ihnen umgehend erteilt wurde 99. Dass dies keine
Ausnahme war, belegt das gute Dutzend gleichfalls positiv beschiedener Ausfuhranträge, das Mitglieder der Armenischen Handelskompanie im Durchschnitt in den
folgenden Jahren stellten. Zwar wurde von nun an nicht, wie von moskauischer Seite
1667 und 1673 nachdrücklich gefordert, die gesamte persische Rohseideproduktion
im Transit über Moskau nach Westeuropa exportiert, aber doch ein nicht unerheblicher und zudem wachsender Anteil derselben.
Wie ist dieser Kurswechsel in der moskauischen Transithandelspraxis gegenüber
Persien zu erklären? Auch hier dürfte nicht ein einzelner Grund, sondern ein ganzes
Bündel von Ursachen und Anlässen eine leidlich plausible Erklärung bieten. Denn
wiederum spielten sowohl fiskalische wie monetäre, handels- wie außenpolitische
Aspekte eine Rolle. Den entscheidenden Impuls hat dabei offensichtlich der Vorstoß
des als niederländischer Gesandter fungierenden Amsterdamer Russlandkaufmanns
Coenraat van Klenck im Winter 1675/1676 gegeben 100. Dass dem 1675 eine niederländisch-armenische Absprache vorausgegangen war, wie die gosti misstrauisch
mutmaßten, erscheint dabei zwar angesichts der besagten Steigerung der Rohseideeinfuhr durch die Armenier als wahrscheinlich, muss aber mangels Quellenbelegen
dahingestellt bleiben.
In deutlichem Gegensatz zur englischen Diplomatie, die ebenso unermündlich
wie fruchtlos in Moskau ihre 1646/1649 aberkannten Privilegien einzufordern fortfuhr, hatten es die Generalstaaten vermieden, in Moskau einmal abgelehnte Forderungen zu wiederholen. Daher war die auch aus niederländischer Sicht bedeutsame
99 Kukanova: Očerki S. 85–86, und Tab. 2, S. 91–92.
100 Zu dieser Gesandtschaft vgl. die gründliche Auswertung moskauischer und niederländischer Quellen bei Boris Raptschinsky: Het gezantschap van Koenraad van Klenck naar Moskou, in: Jaarboek
van het genootschap Amstelodamum 36 (1939) S. 148–199, und Raptschinsky: Bescheiden, sowie
in dem umfangreichen Band: Posol’stvo Kunraada fan-Klenka k carjam Alekseju Michajloviču i
Feodoru Alekseeviču. Voyagie van den Heere Koenraad van Klenk, Extraordinaris Ambassadeur
van haer Ho: Mo: aen Zyne Zaarsche Majesteyt van Moscovien. Izdanie Archeografičeskoj Kommissii. Perevod, vvedenie, primečanija i ukazatel’ A. M. Lovjaginym. S.-Peterburg 1900. Dieser
enthält eine ausführliche Einleitung des Bearbeiters A. M. Lovjagin (Vvedenie, S. I–CLXXXVI)
und einen dem Gesandtschaftsmitglied Balthasar Coyet zugeschriebenen Historisch Verhael, of
Beschryving van de vovagie, Gedaen onder de suite van den Heere Koenraad van Klenk. Amsterdam 1677 (S. 1–264; im Folgenden: Historisch Verhael) samt russischer Übersetzung (S. 265–571).
Gleichfalls detaillierte Angaben finden sich bei Jakobus Scheltema: Rusland en de Nederlanden
beschouwd en derzelver wederkeerige Betrekkingen. Eerste Deel. 2. Aufl. Utrecht 1836 (1. Aufl.
Amsterdam 1817), S. 307–327 und 332–347.
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Frage des Persientransits seit 1648 offiziell nicht mehr erwähnt worden. Und selbst
die moskauischen Verträge mit der Armenischen Handelskompanie von 1667 und
1673 scheinen die niederländischen Russlandkaufleute nicht zum Ausüben politischen Drucks auf ihre Regierung hinsichtlich einer flankierenden Persien-Initiative in Moskau veranlasst zu haben. Dass 1676 dennoch eine solche stattfand, war
den erreichbaren Informationen zufolge daher weniger das Ergebnis eines diplomatisch-handelspolitischen Sinneswandels der Generalstaaten als vielmehr dasjenige
eines doppelten kairos: Der Tod Aleksej Michajlovičs am 29. Januar 1676 und das
gleichzeitige Eintreffen größerer Seidenlieferungen aus Persien veranlaßten C. van
Klenck – sei es aus Eigeninitiative bzw. Eigenmächtigkeit 101, sei es aufgrund geheimer Instruktionen 102 – zu einem Vorstoß in Sachen Persientransit. Zwar konnte er
dabei sein Maximalziel, den freien Transit nach Persien für niederländische Kaufleute, in Moskau nicht durchsetzen, doch gelang es ihm, für die Armenische Kompanie die Route Moskau – Archangel’sk – Amsterdam frei zu machen. Der eingangs
erwähnte Aufschwung im Transithandel mit Persien von 1676 ging also nicht auf
einen weiteren moskauisch-persisch /armenischen Vertrag, sondern wesentlich auf
eine moskauisch-niederländische Übereinkunft zurück. Zusätzlich zur Beherrschung
des zum Großteil über die Weißmeer-Route abgewickelten russischen Außenhandels zog die Amsterdamer Kaufmannschaft nun auch den zwar noch nicht allzu
bedeutsamen, aber doch ausbaufähigen persischen Rohseideexport via Moskau an
sich. Von nun an entwickelte sich auf dieser Route ein kontinuierlicher Warenverkehr zwischen Persien und Europa, der ab 1687 über die Ostseeroute fortgesetzt
wurde.
C. van Klenck, im Moskauer Staat als Kondratij Jur’evič fon-Klinkin bekannt,
war der Sohn des namhaften Amsterdamer Russlandkaufmanns Georg Everhart van
Klenck 103 und hatte vom Zaren in den fünfziger Jahren den Rang eines gost’ erhalten. Seine Verbindungen zur Spitze des Moskauer Staates waren eng, und es deutet
sogar einiges darauf hin, dass er mit Aleksej Michajlovič persönlichen Umgang
101 So Lovjagin: Vvedenie S. CXLVII.
102 Die offizielle Instruktion der Generalstaaten für C. van Klenck vom 18. Juni 1675 enthielt keinerlei
Bestimmungen hinsichtlich des Persientransits. Vgl. den Text bei Raptschinsky: Bescheiden S. 93–
103. – Keine Erklärung zu C. van Klencks Persieninitiative bietet Scheltema: Rusland en de Nederlanden Band 1, S. 337–338.
103 Vgl. Boris Raptschinsky: Uit de geschiedenis van den Amsterdamschen handel op Rusland in de
XVIIe eeuw. Georg Everhard Klenck, in: Jaarboek van het genootschap Amstelodamum 34 (1937)
S. 57–83. – Die Familie van Klenck besaß in Archangel’sk einen eigenen Lagergebäudekomplex,
den „Klenckenhof“, sowie einen eigenen Pier, „de Klenckbrug“. Vgl. ebenda S. 71, sowie Simon
Hart: Amsterdam Shipping and Trade to Northern Russia in the Seventeenth Century, in: Mededelingen van de Nederlandse Vereniging voor der Zeegeschiedenis No. 26, März 1973, S. 5–30 und
105–116, hier S. 28 (siehe auch die Corrigenda hierzu, ebenda No. 27 [September 1973], S. 77–
78). – S. Baron verwechselt Vater und Sohn van Klenck, obwohl er deren unterschiedliche Vornamen benutzt. Vgl. Samuel H. Baron: Who Were the Gosti?, in: California Slavic Studies 7 (1973)
S. 1–40; Ders.: Vasilii Shorin; und Ders.: Muscovite Russia. Collected Essays. London 1980, Index,
S. 5.
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pflegte 104. Zusätzlich zu diesen günstigen äußeren Voraussetzungen verfügte C. van
Klenck über diplomatisches Fingerspitzengefühl, vor allem in den heiklen Form- und
Titulaturfragen, was ihn gleichsam als Idealbesetzung auf dem Gesandtenposten erscheinen ließ.
Das politische Hauptziel dieser niederländischen wie vorangegangener dänischer
und brandenburgischer Missionen war es, Moskau im Rahmen der antifranzösischen
Koalition zu einem Angriff auf Schweden, den Verbündeten Ludwigs XIV., zu bewegen. Zwar war der Zar nicht bereit, den „ewigen Frieden“ von Kardis zu brechen,
doch verlegte er immerhin einige Truppen an die livländische Grenze. Auch in
wirtschaftlicher Hinsicht zeigte sich Moskau den Generalstaaten gegenüber entgegenkommend – eine Getreidelieferung über 40.000 četvert’ (ca. 10 Schiffsladungen)
wurde kontraktiert 105 –, so dass die Mitte Januar 1676 aufgenommenen Verhandlungen mit A. S. Matveev durchaus unter einem guten Stern standen. Aber erst nach
dem Tod Aleksej Michajlovičs schob C. van Klenck die bündnispolitischen und
wirtschaftlichen Aspekte seiner Mission in den Hintergrund und konzentrierte sich
stattdessen auf die Frage des Persienhandels 106. Zunächst fühlte er in einem informellen Gespräch mit dem Gesandtschaftsprikazbeamten Andrej Vinius am 2. Februar 1676 vor, wie sich die Regierung zur Frage der Erteilung eines Transitprivilegs
für niederländische Kaufleute stellte 107. Daraufhin erhielt er am folgenden Tag Besuch von dem Moskauer gost’ Averkij Kirillov, dem er gleichfalls sein Anliegen
zum Zwecke der Weiterleitung an A. S. Matveev vortrug. Die Reaktionen A. Vinius’ und A. Kirillovs deutete C. van Klenck als Zustimmung zu seinem Vorschlag,
denn er berichtete umgehend an die Generalstaaten, dass das Transitrecht schon so
gut wie erteilt sei 108. Am 16. Februar fand eine weitere Verhandlungsrunde statt, in
der der Gesandte sein Ansinnen erläuterte. Außerdem reichte er am 17. ein Memorandum über den Persienhandel ein, in welchem er eine Übersicht über die seiner
Meinung nach vom Zaren zu erwartenden Einnahmen aus dem Rohseidetransit gab.
Unter Zugrundelegung der Zahl von 8000 Ballen pro Jahr, die er dem armenischrussischen Vertrag von 1667 entnommen hatte und als stark untertrieben kennzeichnete, errechnete er zusätzliche jährliche moskauische Zoll- und Wegegeldeinnahmen
in Höhe von 237.600 Rubel 109 – das Dreifache der damaligen Zolleinnahmen in Archangel’sk. Weiter führte er darin aus, dass die Freigabe der Strecke Astrachan’ –
104 Vgl. zur Person C. van Klencks Johan E. Elias: De Vroedschap van Amsterdam, 1578–1795. 2
Halbbände. Harlem 1903–1905, S. 564–568 und 622 (hier zitiert nach einem [einbändigen] Reprint,
Amsterdam 1963), sowie die Zusätze von Raptschinsky: Gezantschap S. 152–156.
105 M. I. Belov: Rossija i Gollandija v poslednej četverti XVII v., in: Meždunarodnye svjazi Rossii v
XVII–XVIII vv. (ékonomika, politika i kul’tura). Sbornik statej. Moskva 1966, S. 58–83, hier S. 64–
65.
106 Raptschinsky: Gezantschap S. 156–174.
107 Ebenda S. 174–177.
108 Ebenda S. 177–178.
109 C. van Klenck: Memorie aen den doorluchtighsten Grootmaghtighsten Grooten Heer Zaer. Moskau,
17. Februar 1676, bei: Raptschinsky: Bescheiden S. 121–126 (Zahlenangaben S. 123).
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Archangel’sk für den Transithandel mit Waren aus Persien zu einer größeren Attraktivität der Handelsstadt an der Dvina-Mündung führen und eine weitaus größere Zahl
westeuropäischer Kaufleute als bisher dorthin ziehen würde 110. Und schließlich bot
er die Entsendung niederländischer Handwerker an, die auf dem Kaspischen Meer
Schiffe zum Transport von Waren aus Persien bauen sollten 111.
Nach weiteren Verhandlungen reichte C. van Klenck dann fünf Tage später ein
zweites „Memorandum zur Erläuterung des vorigen wegen des Persischen Handels“
ein, in welchem er vor den negativen Folgen einer allzu detaillierten Regelung des
persischmoskauischen Handels warnte. Zu starke Reglementierung, so der Gesandte,
könne das rasche Anwachsen des Handelsvolumens und damit der zarischen Zolleinnahmen hemmen, führe zu überhöhten Preisen sowie zu ungerechter Bevorteilung
„einiger weniger reicher Leute“. Nach dieser Spitze gegen die gosti wiederholte er
seinen eigenen Vorschlag: Bei Erlegung eines relativ hohen Einfuhrzolls in Astrachan’ sollten Seide und andere Waren aus Persien in Moskau und Archangel’sk an
einheimische und ausländische Kaufleute gleichermaßen frei verkauft werden dürfen; was an diesen Orten nicht absetzbar sei, solle dann gegen einen relativ niedrigen
Ausfuhrzoll über Archangel’sk in die Niederlande exportiert werden können 112.
C. van Klencks eindringliche Beschreibung der fiskalischen Vorteile einer Freigabe des Persientransits verfehlte bei A. S. Matveev ihre Wirkung ebensowenig wie die
uneingeschränkt positive Antwort des Gesandten auf die ihm am 19. Februar gestellte Frage, ob die Niederlande zum Ankauf sämtlicher im Moskauer Staat mittlerweile
angestauten Seidevorräte bereit wären 113. Die moskauische Regierung, in der neben
dem beim Zarenwechsel unglücklich taktierenden Kanzler der Bojar M. Ju. Dolgorukij an Einfluss gewann, begann nun, die Sache ernsthaft zu ventilieren. Aus diesem
Grund wurden gemäß der bereits 1672/1673 geübten Praxis am 23. Februar 1676
die gosti zu einer Beratung über die Transit-Freigabe zusammengerufen. Wiederum
unter Führung von V. Šorin fanden sich 21 hauptstädtische Großkaufleute, darunter
auch C. van Klencks Gesprächspartner A. Kirillov, ein, denen zunächst die Verträge
von 1667 und 1673, dann die beiden Memoranda des niederländischen Gesandten
vom 17. und 22. Februar 1676 vorgelesen wurden. Bezeichnend dabei war, dass von
seiten der Regierung neben der fiskalischen auch die außen- und sicherheitspolitische Bedeutung des Themas betont wurde. Die gosti sollten sich daher nicht nur
zu den von C. van Klenck prognostizierten moskauischen Mehreinnahmen, sondern
auch zu den mutmaßlichen Mindereinnahmen des osmanischen Kriegsgegners äußern 114. Die Angesprochenen jedoch stellten ihrerseits Prognosen auf: Ein aufgrund
110 Ebenda S. 124.
111 Ebenda S. 125.
112 C. van Klenck: Een memorie tot Elucidatie van de vorige weegen den Parssiaenssen handel. Moskau [22. Februar] 1676, ebenda S. 126–129. Vgl. dazu die zeitgenössische russische Übersetzung:
Predloženie S. 129–132 (Datumsangabe ebenda S. 129).
113 Raptschinsky: Gezantschap S. 179.
114 Das Protokoll dieser Diskussion ist wiedergegeben bei Lovjagin: Vvedenie S. CXLIX–CLVI, hier
S. CL. Dasselbe in: Predloženie S. 132–137.
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eines Transitprivilegs für die Armenier ungehinderter Verkehr zwischen Persien und
Westeuropa müsse zwangsläufig zur Verdrängung moskauischer Kaufleute aus dem
Handel mit persischen Waren führen. Als ihnen daraufhin von den Bojaren entgegnet
wurde, dass einheimische Kaufleute von einem regen Warenverkehr durch den Moskauer Staat hindurch doch nur profitieren könnten, brachten die gosti einen weiteren
Einwand vor: „Die überseeischen Ausländer und Armenier und Perser sind reiche
Leute und tätigen gewaltige Handelsgeschäfte“, an denen sich zu beteiligen die kapitalarmen gosti keine Chance hätten. Als nächstes erhoben die Bojaren den Vorwurf,
die Großkaufleute würden entgegen ihren 1672 gemachten Zusagen die Seidenlieferungen, die der Zar nicht auf eigene Rechnung erwerbe, nicht ankaufen, so dass die
armenischen Kaufleute das Moskauer Reich mieden. Dem wurde entgegnet, der von
den Armeniern in Moskau geforderte Preis für Rohseide sei im Vergleich zum Ankaufspreis in Persien überhöht. Die Bojaren hielten dieses Argument für stichhaltig
und stellten in Aussicht, den Zaren hiervon zu informieren. Aber unabhängig davon
erachteten sie eine auf ein bis zwei Jahre begrenzte Freigabe des Transits für nützlich,
um während einer solchen Testphase die tatsächlichen Auswirkungen auf die zarischen Einnahmen feststellen zu können. Davon rieten die gosti dringend ab, da ihnen,
so ihre Warnung, bereits während eines einzigen Jahres großer Schaden entstünde.
Zugleich baten sie darum, C. van Klencks Memoranda einsehen zu können, um eine ausführliche schriftliche Antwort darauf zu geben 115. Damit erklärten sich die
Bojaren einverstanden, und am 29. Februar reichten V. Šorin und seine Kollegen ihre
Entgegnung ein 116. Unter Berufung auf ihre bereits 1672 in nämlicher Angelegenheit
erteilte Antwort argumentierten sie ziemlich holzschnittartig: Wenn armenische und
persische Kaufleute Rohseide und andere Waren aus Persien in den Moskauer Staat
transportierten und dort mit dem Zaren und russischen Kaufleuten Handel trieben,
dann profitierten Zar wie gosti davon; wenn aber dieselben Waren von denselben
Kaufleuten innerhalb des Moskauer Staates an Ausländer verkauft oder im Transit
verschifft würden, dann erlitten Zar wie gosti finanziellen Schaden 117. Das eigentliche Problem sahen sie darin, dass Schah und Armenische Kompanie sich nicht an den
Vertrag von 1673 gehalten hätten, da entgegen der Vereinbarung mitnichten die gesamte persische Rohseideproduktion über Astrachan’ ausgeführt, sondern weiter die
Ausfuhrrouten durch das Osmanische Reich sowie über den Persischen Golf favorisiert worden seien. Dieser Punkt, so die gosti, und nicht etwa die Vorschläge C. van
Klencks, müsse der Kern einer neuen Abmachung sein, denn die Erlangung des
115 Lovjagin: Vvedenie S. CXLIX–CLVI, hier S. CLVI.
116 Ob-jasnenie, podannoe v Otvetnoj palate Bojaram ot Rossijskich gostej: o vygodach i neudobstvach
v torgovle s Armjanami šelkom syrcom, i o sredstvach dlja ograničenija domogatel’stv inostrannogo kupečestva povredit’ družestvennym svjazjam Rossii s Persieju. Moskau, 29. Februar 1676,
in: SGGD IV, Dok. Nr. 105, S. 337–342 (im Folgenden: Ob-jasnenie). Das hier angegebene Datum
23. Februar 1676 bezieht sich auf die erwähnte Diskussion. Dass die Antwort erst am 29. Februar 1676 eingereicht wurde, teilt Lovjagin Vvedenie S. CLVI mit. Der Text der in Frage stehenden
Entgegnung findet sich auch in: Predloženie S. 137–142. Siehe außerdem ebenda S. 142 die Namen
der Unterzeichner des Dokuments.
117 Ob-jasnenie S. 338.
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De-facto-Weltmonopols auf Rohseide brächte Zarenschatz, Staatskasse und Kaufmannschaft gemeinsam weit mehr Gewinn als alle anderen Regelungen. Allerdings
erkannten V. Šorin und seine Berufskollegen klar die Schwäche der moskauischen
Position: Es gäbe bedauerlicherweise kein Druckmittel, mit dem man armenische
Untertanen des Schahs und Westeuropäer zwingen könnte, bei ihren Handelsbeziehungen ausschließlich die über Moskau führende Route zu benutzen 118.
Parallell zu den Beratungen zwischen gosti und Regierung hatte C. van Klenck
in Moskau intensive Gespräche mit Vertretern der Armenischen Handelskompanie,
anderen Kaufleuten aus Persien und dem übrigen Asien sowie am 1. März mit einem inoffiziellen Vertreter des persischen Hofes geführt. Es gelang ihm dabei, von
seinen Gesprächspartnern die Zusage zu erwirken, dass persische Rohseide im Falle
einer Freigabe des Transits durch den Zaren ausschließlich nach Amsterdam, nicht
hingegen nach England oder Hamburg, ausgeführt werden würde 119.
Am 6. März 1676 lag C. van Klenck dann die offizielle Antwort auf seinen Persien-Vorstoß vor. Sie enthielt im Wesentlichen eine Wiederholung der Bestimmungen
der armenisch-moskauischen Verträge von 1667 und 1673 samt partiellen Erweiterungen: Kaufleute jedweder Nationalität, die Untertanen des Schahs seien, sollten
Rohseide nach Astrachan’, Moskau sowie in andere russische Städte bringen und
dort an einheimische Kaufleute veräußern dürfen; Ware, die nicht absetzbar wäre, sollte anschließend nach Archangel’sk gebracht und dort zur Messezeit auch an
ausländische Käufer verkauft werden können; und ausschließlich Mitgliedern der
Armenischen Handelskompanie werde erlaubt, diejenigen Rohseidekontigente, die
auch in Archangel’sk keinen Käufer fänden, selbst weiter nach Westeuropa zu exportieren 120.
Am folgenden Tag, dem 7. März 1676, teilte A. S. Matveev den in Moskau befindlichen armenischen Kaufleuten die neuen Regelungen für den Transit nach Westeuropa mit 121. Zum selben Zeitpunkt erhielten auch die gosti und die übrigen Untertanen
des Zaren Kenntnis von dem entsprechenden Ukas, dessen Titel bereits durch den
darin hergestellten außenpolitischen Bezug möglichem Widerspruch vorbeugte:
Über die Genehmigung für armenische Kaufleute, mit Rohseide und anderen persischen
Waren aus Moskau nach Archangel’sk und Übersee [fahren zu dürfen], damit die armenischen Kaufleute Seiner Majestät des Schahs mit Rohseide und anderen persischen Waren
118 Ebenda S. 339. – Schließlich verwarfen die gosti auch C. van Klencks Angebot, mit niederländischer Hilfe im Kaspischen Meer Schiffe bauen zu lassen, sowie den Vorschlag der Bojaren, eine
Transitfreigabe zunächst auf zwei Jahre zu begrenzen (ebenda S. 340).
119 Historisch Verhael S. 161. Vgl. auch die Anmerkung zur russischen Übersetzung, ebenda S. 457–
458, sowie Raptschinsky: Gezantschap S. 180.
120 Vgl. die zeitgenössische niederländische Ubersetzung dieser zweiten russischen Antwort an C. van
Klenck vom 6. März 1676 bei: Raptschinsky: Bescheiden S. 130–139, S. 138.
121 Posol’stvo Kunraada fan-Klenka S. 463, Anm. 7. Das bei Bajburtjan: Armjanskaja kolonija Novoj
Džul’fy S. 108 genannte Datum 17. Juli 1676 ist falsch.
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aus Persien und Schemacha nicht[länger] gemäß ihrem früheren Brauch durch das Osmanische Reich in die westeuropäischen Staaten reisen. [Hervorhebung von mir – S. T.] 122
C. van Klenck, der ganz offenkundig weitergehende Zugeständnisse erwartet hatte 123, machte stehenden Fußes den Versuch einer Nachbesserung dieses Ergebnisses.
Seine Forderung nach Freigabe des Gasthandels nicht nur in Archangel’sk, sondern
in allen Städten des Moskauer Staates, wurde indes unter Verweis auf das Neue Handelsstatut abgelehnt 124. Und ebenfalls abschlägig beschieden wurde seine Forderung
nach Außerkraftsetzung eben dieses Neuen Handelsstatuts für Niederländer 125. Es
war daher nur ein Teilerfolg, den der Gesandte errungen hatte, denn das Recht auf
Transit nach Persien für niederländische Kaufleute war nicht einmal angeklungen 126.
Es blieb also beim alleinigen Transithandelsrecht für die Armenische Handelskompanie, deren Mitglieder davon umgehend Gebrauch machten. Noch am 7. März,
also am selben Tag, an dem der zarische Ukas bekanntgegeben wurde, stellte eine zwölfköpfige Gruppe armenischer Kaufleute um „Jakub Pogosov“ im Gesandtschaftsprikaz den Antrag, vier Ballen Rohseide über Archangel’sk in die Niederlande
ausführen zu dürfen. Binnen einiger Wochen wurde dieses Gesuch genehmigt 127.
Ebenfalls noch im Frühjahr 1676 stellten auch andere armenische Kaufleute und
Kaufmannsgruppen derartige Anträge, so dass den Angaben von N. G. Kukanova
122 „Ob otpuske armjan torgovych ljudej s šelkom-syrcom i inymi persickimi tovarami s Moskvy k Archangels’komu gorodu i za more, i čtob šachova veličestva torgovye ljudi armjane s šelkom-syrcom
i inymi persickimi tovarami iz Persidy i iz Šemachi čerez Tureckuju zemlju protiv prežnego svoego
obyčaja v nemeckie Gosudarstva ne ezdili“ (zitiert nach Bajburtjan: Armjanskaja kolonija Novoj
Džul’fy S. 109; Quelle: Central’nyj Gosudarstvennyj Archiv Drevnich Aktov [Moskau], Reestr po
armjanskim delam, delo No. 14, 1676, list 2).
123 Vgl. zahlreiche Hinweise hierauf bei Raptschinsky: Gezantschap S. 175–193.
124 Vgl. die am 29. April 1676 erteilte Antwort des Zaren auf eine neuerliche Eingabe C. van Klencks
vom 8. März 1676 bei: Raptschinsky: Bescheiden S. 149–162, hier besonders S. 157–159.
125 Ebenda S. 139.
126 Auch muss bezweifelt werden, ob C. van Klencks Mission als Erfolg der Niederlande in ihrem
Bestreben, die schwedische Umleitungspolitik zu durchkreuzen und den russischen Außen- und
Transithandel allein auf Archangel’sk zu beschränken, gewertet werden kann, wie dies A. S. Lappo-Danilevskij sehr dezidiert getan hat (A. S. Lappo-Danielevskij: Novye perevody i kommentarii
donesenij i zapisok Rodesa i Kil’burgera o Rossii, in: Russkij istoričeskij žurnal 5 [1918] S. 33–69,
hier S. 62–63; Reprint Den Haag, Paris 1971). Denn das von 1677 an Gestalt annehmende Persienprojekt der Stockholmer Handelsdiplomatie erwies sich – nicht zuletzt dank offener und heimlicher
Unterstützung durch etliche niederländische Offiziere, Kaufleute und Diplomaten – von 1687 an als
erfolgreich.
127 Vgl. hierzu Čelobitnaja Jakuba Pogosova i tovariščej o razrešenij prodavat’ tovary v Moskve, Archangel’ske i v zarubežnych stranach. Rospis’ privezennym tovaram. Moskau, 7. März 1676, in:
ARO, Dok. Nr. 40, S. 145–146 (in N. G. Kukanovas Tab. 2 figuriert „Jakub“ bzw. „Egupko Pogosov“
auch als „E. Boguzov“, „Ja. Borosov“ und „Ja. Pogaosov“). Am 30. Mai 1676 machte sich der Ende
November 1675 in Moskau eingetroffene Kaufmann mit neun Kompagnons und 1170 Pud Rohseide (ca. 167 Ballen) nach Archangel’sk auf. Vgl. Tab. 2 bei Kukanova: Očerki S. 91. – Zweifellos
war „Ja. Pogosov“ einer von C. van Klencks armenisch-persischen Gesprächspartnern in Moskau
gewesen.
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zufolge im selben Jahr mehrere hundert Ballen Rohseide in das Weißmeeremporium
transportiert und von dort auf niederländischen Schiffen ausgeführt wurden 128.
War die Übereinkunft von 1676 für die Niederlande also nur ein partieller Erfolg,
so stellte sie für die Armenische Handelskompanie einen Durchbruch dar, der zudem im folgenden Jahr durch die Ausschaltung ihrer schärfsten Konkurrenz auf dem
russischen Markt gekrönt wurde: Indische Kaufleute wurden aus Moskau verbannt
und ausschließlich auf ihren Astrachaner Handelshof verwiesen 129. Allerdings traten
ebenfalls in diesem ersten Jahr auch einige der Nachteile der Weißmeer-Route zutage: Im Zuge des niederländisch-französischen Krieges 1672–1679 nahmen einem
späteren Bericht zufolge Dünkirchener Kaperer trotz Sicherung durch niederländische Konvoischiffe „die guten Persianer beim kopp [recte: Topp] undt Declarirten
die Seide vor preys [= Prise – S. T.] weilen sie auff dhero Feinde Schiffe wahren
gewehsen“. Dabei verlor die Armenische Handelskompanie 400 Ballen Rohseide im
geschätzten Wert von 120.000 Rubel. „Dieses“, so hieß es weiter, „tähte den Persianer grosen schaden, wurden auch bange, weiter auff Reuslandt zu Handeln.“ 130
Dennoch hielt, wie aus N. G. Kukanovas statistischem Material erhellt, bis 1688 ein
relativ regelmäßiger Export von Rohseide durch die Kompanie nach Archangel’sk
an 131. C. van Klenck hat also zum einen erreicht, dass westeuropäische Kaufleute
unter Umgehung moskauischer Zwischenhändler in Archangel’sk persische Waren
von Armeniern erwerben, zum anderen, dass armenische Kaufleute in bestimmten
Fällen mit ihrer Ware via Russland nach Westeuropa reisen konnten. Dass sie dies
regelmäßig taten, belegen russische, schwedische und andere zeitgenössische Quellen sehr deutlich.
Auch bezüglich des handelspolitischen Ertrages der Klenck-Mission finden sich
in der Fachliteratur etliche schiefe bis falsche Urteile. Wie im Fall der Einschätzung
des Vertrages von 1673 gehen diese auf die Fehlinterpretation einer einzelnen Textpassage – hier einer Äußerung des russischen Historikers A. M. Lovjagin – zurück.
Dieser hatte 1900 in seiner Einleitung der genannten Quellenedition zur niederländischen Gesandtschaft von 1675/1676 auf die seinerzeit schlechte Quellenlage
hinsichtlich der ökonomischen Ergebnisse dieser Mission hingewiesen und mit aller
gebotenen Vorsicht festgestellt:
Daher befinden wir uns – zumindest bis jetzt – im Ungewissen hinsichtlich der Resultate
der von Klenck erzielten Erleichterungen, so daß wir auch über keine statistischen Angaben
darüber verfügen, wieviel Seide genau von den Armeniern ausgeführt worden ist, welchen
128 Ebenda S. 91–92.
129 Nolte: Religiöse Toleranz S. 53–54.
130 Ludvig Fabritius’s MS. entitled Kurtze Relation von meine drei gethane Reisen. Appendix zu:
S[ergei] Konovalov: Ludvig Fabritius’s Account of the Razin Rebellion, in: Oxford Slavonic Papers 6 (1955) S. 72–101, hier S. 96. Die Mengenangabe „ein Kargesun von 400 balen seide“ deckt
sich mit den Angaben in Tab. 2 bei Kukanova: Očerki S. 92–93.
131 Ebenda S. 91–95. Und auch danach zwang der Zar zumindest nicht-armenische Untertanen des
Schahs, ausschließlich die Weißmeerroute zu benutzen, so etwa 1693 den persischen Gesandten
Aga Karim Murat Chan, der 45 Ballen Rohseide via Narva nach Amsterdam ausführen wollte.
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Profit die moskauische Regierung daraus gezogen hat, ob der moskauische Staatsschatz
irgendwelche Verluste erlitten hat, ob der Gewinn für Holland groß war usw. 132
Die Lovjaginsche Vorsicht außer Acht ließen zwei niederländische Russlandhistoriker, die 1966 die Behauptung aufstellten, daß C. van Klencks „Pochen auf den niederländischen Handel mit Persern und Armeniern in Archangel’sk [. . . ] schließlich auf
nichts hinauslief“ 133. Ins selbe Horn stieß 1976 S. Baron, der bezüglich der 300 Jahre
zuvor zustande gekommenen Übereinkunft nur um ein weniges vorsichtiger urteilte, „the agreement’s practical significance appears to have been nil“ 134. Und ebenso
pauschal wie unzutreffend äußerte sich 1986 schließlich der in den Niederlanden tätige tschechische Osteuropahistoriker Zdeněk R. Dittrich, wenn er zum Ausgang der
Klenck’schen Mission meinte, „ook hier was her resultat nihil“ 135. Diese Fehlurteile
sind um so auffallender, als gerade in der niederländischen Handelsgeschichtsschreibung die angeführten Forschungen von B. Raptschinsky rezipiert worden sind und
folglich ihr Nestor J. G. van Dillen in seinem einschlägigen Handbuch aus dem Jahr
1970 zutreffend von einem 1676 in Moskau erzielten „Kompromiß“ in der Frage des
Persienhandels gesprochen hat 136.
Denn ein Kompromiss war es, hatte doch C. van Klenck kein niederländisches
Rohseide-Monopol, geschweige denn ein Transitprivileg für niederländische Persienkaufleute, erwirkt. Welch großen Wert die moskauische Führung gerade auf
merkantile Konkurrenz der den Außenhandel des Landes im Allgemeinen und den
Transithandel mit Persien im besonderen besorgenden ausländischen Kaufleute und
Kaufmannsgruppen legte, zeigte ein Brief des neuen Zaren Fedor Alekseevič nach
London vom 20. April 1676. Zum einen teilte er Charles II. hierin mit, dass armenische Kaufleute künftig persische Rohseide zur Messe nach Archangel’sk bringen
dürften, zum anderen forderte er ihn auf, diese Nachricht der englischen Kaufmannschaft zukommen zu lassen und diese zum Einstieg in das Seidegeschäft zu
132 Lovjagin: Vvedenie S. CLVI.
133 Th. J. G. Locher, Piet De Buck: Inleiding, in: Nicolaas Witsen: Moscovische Reyse 1664–1665.
Journaal en aentekeningen. Uitg. door Th. J. G. Locher en P. De Buck. Band 1: Journaal. Eerste
gedeelte. ’s-Gravenhage 1966, S. XIX–LXXV, hier S. XLIII (= Werken uitgegeven door de Linschotenvereeniging Band 66).
134 Baron: Vasilii Shorin S. 532. Bereits 1967 hatte derselbe Autor hinsichtlich des armenisch vermittelten persischen Transithandels via Moskau die Ansicht geäußert, „this enterprise soon foundered“,
die er noch 1983 bekräftigte: „The great expectations [. . . ] proved illusionary“. Vgl. Samuel H Baron: Introduction, in: The Travels of Olearius in Seventeenth Century Russia. Transl. and ed. by
Samuel H. Baron. Stanford, CA 1967, S. 1–30, hier S. 11, und Ders.: Entrepreneurs and Entrepreneurship in Sixteenth /Seventeenth Century Russia, in: Entrepreneurship in Imperial Russia and the
Soviet Union. Ed. by Gregory Guroff & Fred V. Carstensen. Princeton, NJ 1983, S. 27–58, hier
S. 35.
135 Zdenek R. Dittrich: Illusies, misverstanden, wanklanken. De Republiek en Moskovië in de zeventiende eeuw, in: Rusland in nederlandse ogen. Een bundel opstellen. Amsterdam 1986, S. 33–50, hier
S. 49.
136 J. G. Van Dillen: Van Rijkdom en Regenten. Handboek tot de economische en sociale geschiedenis
van Nederland tijdens de Republiek. ’s-Gravenhage 1970, S. 347.
Isfahan – Moskau – Amsterdam
67
ermuntern 137. Wie im Außenhandel des eigenen Reiches vermied der Zar also auch
im persischen Transithandel einseitige Abhängigkeiten.
***
1983 hat Samuel H. Baron betont, dass nicht nur der moskauische Außenhandel mit
Europa passiver Art gewesen war, sondern ebenso derjenige mit Asien: „Armenian [. . . ] merchants performed the role of middlemen between Russia and the Orient
much as the Dutch, English, and German merchants did between Russia and the
West.“ 138 Die niederländisch vermittelte Übereinkunft zwischen Zar und Armenischer Handelskompanie von 1676 demonstrierte aber nicht nur einmal mehr dieses
doppelte Abhängigkeitsverhältnis, sondern machte darüber hinaus eine noch weitaus
gravierendere Schwäche moskauischer Handelspolitik und russischen merkantilen
Potentials deutlich: Die mit dem Handel befassten einheimischen Agenturen – gosti und andere Fernkaufleute, „Binnenkaufleute“ und Zar – waren angesichts des
steigenden Aufkommens persischer Waren nicht einmal zur Vermittlung zwischen
Westeuropäern und Orientalen auf eigenem Boden in der Lage. Die Mitglieder der
Armenischen Handelskompanie waren daher nicht bloß „Mittelsmänner zwischen
Rußland und dem Orient“, um S. Barons Ausdruck aufzugreifen, sondern fungierten von 1676 an sowohl innerhalb des Moskauer Staates als Vermittler zwischen den
persischen Produzenten und den westeuropäischen Russlandkaufleuten als auch im
Transithandel als direkte Verbindung zu den Konsumenten Westeuropas 139.
Dabei waren sie durchaus effektiv, und so wurde nach dem diplomatischen Teilerfolg C. van Klencks die Route Isfahan-Moskau-Amsterdam zu einem kontinuierlich
benutzten Fernhandelsweg zunächst zweiter Ordnung, im 18. Jahrhundert zeitweilig
gar zur Hauptausfuhrroute für persische Rohseide 140. Anfänglich gingen persische
Waren via Moskau über Archangel’sk und die Weißmeer-Route nach Amsterdam,
ab 1687 dann fast ausschließlich über Narva, wobei nun auch Lübeck als Absatzmarkt an Bedeutung gewann 141. Im Durchschnitt sind bis zum Beginn des großen
Nordischen Krieges jährlich ca. 400 Ballen Rohseide bzw um die 5 % des persischen
Seideexportes auf diesem Weg nach Westeuropa gelangt 142 . Auf dem Rückweg führten die armenischen Kaufleute preiswerte niederländische Textilien, schwedische
137 Fedor Alekseevič-Charles II. Moskau, 20. April 1676. Englische Übersetzung in: Public Record
Office (London), State Papers, Foreign: Russia (S. P. 91), vol. 3: 1634–1680, fol. 208–209. Zum
russischen Wortlaut dieses Briefes (mit der Datumsangabe 25. April) vgl. Lovjagin: Vvedenie
S. XCIII–XCIV. Ein Zarenbrief analogen Inhalts ging auch nach Hamburg. Vgl. Raptschinsky: Gezantschap S. 182–183. Beide Briefe wurden C. van Klenck am 13. Mai 1676 zugänglich gemacht.
Vgl. ebenda S. 193, und Posol’stvo Kunraada fan-Klenka S. 508, Anm. 11.
138 Baron: Entrepreneurs S. 34.
139 Dass S. Baron diese wesentlich weiterreichende Mittlerfunktion der Armenier nicht nennt, geht auf
seine zitierte Unterschätzung der Ergebnisse der armenisch-moskauischen Verhandlungen 1667–
1673 zurück.
140 Vgl. Sartor: Die Wolga als internationaler Handelsweg.
141 Ebenda.
142 Vgl. Tab. 2 bei Kukanova: Očerki S. 91–99.
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Armeno-Sueco-Muscovitica
Buntmetalle sowie russische Retourwaren nach Persien. Dem Moskauer Staat brachte dieser Warenverkehr jährlich 2000–3000 Rubel an Zoll- und Wegegeldzahlungen
ein 143, was indes lediglich 3–4 % der damaligen Archangel’sker Zolleinnahmen entsprach 144.
Im Ergebnis sind es daher weniger die konkreten wirtschaftlichen und fiskalischen Resultate, die den Stellenwert des moskauischen Transitprivilegs für die Armenische Handelskompanie ausmachen, sondern eher dessen verkehrs- und handelspolitische Wirkungen. Denn die Erteilung dieses Vorrechts zeigt, dass „der Durchbruch der Neuzeit unter Fedor und Sof’ja“ (Hans-Joachim Torke 145) auch und gerade
durch eine Wende in der Außenhandelspolitik des Moskauer Staates markiert wurde: Während am Beginn dieser unmittelbar prä-petrinischen Periode 1676–1689 die
Revision moskauischer Transitpolitik steht, erfolgte gegen deren Ende hin 1687 eine partielle, aber nicht minder spektakuläre Revision der Handelsverkehrspolitik.
Dem über ein Jahrhundert lang anhaltenden schwedischen Drängen nach Verlegung
des moskauischen Außenhandels von der Weißmeer- auf die Ostseeroute wurde nun
insofern entsprochen, als der mittlerweile in Gang gekommene persische Transithandel mit dirigistischen Mitteln dorthin, nach Narva, verlegt wurde 146. Eine mittelbare
Folge hiervon war, dass etwa vom selben Zeitpunkt an auch die moskauische Ausfuhr über Narva steil anstieg, der armenisch vermittelte Transithandel hier also als
Wegbereiter für den moskauischen Außenhandel fungierte. Nach einer neuerlichen
kriegsbedingten, aber kurzen Umleitung nach Archangel’sk in den Jahren 1701–1711
stieg die Bedeutung der Transithandelsroute vom Orient zur Ostsee weiter an. In Peters I. ambitiösem Plan, Russland – und hier vor allem die Hauptstadtneugründung
St. Petersburg – „zum Mittler des Handels zwischen Asien und Europa zu erheben“
(W. Mediger 147), spielte der persische Transithandel eine zentrale Rolle. Eine erheblich intensivierte Zusammenarbeit mit der Armenischen Handelskompanie und dem
Schah sowie schließlich der nur kurzfristig erfolgreiche Versuch einer Eroberung der
nordpersischen Seidenprovinzen belegen dies 148. Der Feldzug von 1722/1723 stellte so gesehen zwar einen politischen Höhepunkt, aber mitnichten den merkantilen
143 Ebenda S. 52–53.
144 Im Zeitraum 1676–1699 waren diese auffallend konstant und betrugen durchschnittlich
75.000 Rubel pro Jahr. Vgl. Spisok s 1763 goda k Archangel’skomu gorodu bylo v prichode karablej i v tamožne u pošlinnogo zboru kto byli služiteli i kakogo zvanija i kto imjany i čto v kotorom
godu v zbore bylo, in: Archiv Sankt-Peterburgskogo Instituta istorii Akademii nauk Rossii (früher:
Archiv Leningradskogo otdelenija Instituta istorii SSSR Akademii nauk SSSR), fond 36: Voroncovy, op. 1, delo 566, listy 125–128 (D-r Nikolaj N. Repin von der Universität Omsk sei für eine
Abschrift dieses Dokuments gedankt).
145 Hans-Joachim Torke: Der Durchbruch der Neuzeit unter Fedor und Sof’ja (1676 bis 1689), in: HGR
2/I, S. 152–182.
146 Vgl. hierzu Troebst: Narva und der Außenhandel Persiens.
147 Mediger: Mecklenburg, Textband S. 460.
148 Ebenda S. 172–174. Vgl. auch die Übersicht bei Aristide Fenster: (in Zusammenarbeit mit Fikret
Adanır und Michael G. Müller) Rußland und Asien 1689–1725, in: HGR 2/I, S. 363–369, sowie
zuletzt die Edition: Poslannik Petra I na Vostoke. Posol’stvo Florio Beneveni v Persiju i Bucharu v
1718–41725 godach. Red. V. G. Volovnikova [et al.]. Moskva 1986.
Isfahan – Moskau – Amsterdam
69
Schlusspunkt dar: Denn nicht nur blieb Russland bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
ein wichtiges Transitland für den persischen Export, sondern nun wurde ein beträchtlicher Prozentsatz der Rohseideausfuhr – ca. 20 %, in Spitzenjahren wie 1744 bis zu
42 % 149 – über Astrachan’ und durch das Zarenreich hindurch geführt.
Nicht zuletzt deswegen ist also die in der Literatur mehrheitlich vertretene Ansicht einer weitgehenden Folgenlosigkeit der beiden ersten armenisch-moskauischen
Übereinkünfte zu revidieren. Denn zum einen wurde der Armenischen Handelskompanie in dem vorstehend beschriebenen dreistufigen Entscheidungsprozess von 1667
über 1673 bis 1676 sehr wohl das Transitrecht gewährt; zum anderen aber hatte diese
Gewährung auch ganz konkrete Folgen: Zunächst kam unter armenischer Vermittlung ein begrenzter Fernhandel mit persischer Rohseide durch den Moskauer Staat
hindurch in die Niederlande in Gang, was dann mittel- und langfristig eine neue und
periodisch erstrangige Ost-West-Handelsroute entstehen ließ.
149 Sartor: Die Wolga als internationaler Handelsweg.
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Russland als
„Magazin der Handlung zwischen
Asien und Europa“?
Die Frage des Orienthandels bei der
schwedischen Moskaugesandtschaft 1673/1674
[2001]
Unter den zahlreichen Gesandtschaften der Großmacht Schweden-Finnland zum Zaren besitzt diejenige von 1673/1674 regelrechte Berühmtheit, sind doch zwei zentrale
Quellen zur Kenntnis des Moskauer Staates unmittelbares Produkt dieser diplomatischen Mission. Dies sind zum einen Johann Philip Kilburgers vielzitierte Mercatura
Ruthenica Oder Kurtzer Unterricht Von den Reußischen Commercien 1, zum anderen
„Schwedens schönster Diplomatenbericht“ (Kari Tarkiainen 2), nämlich Erik Palmquists Någre /. . . / Observationer öfwer Ryßland. 3 So bekannt diese von Reichsrat
Graf Gustav Oxenstierna geleitete bevollmächtigte Großgesandtschaft somit auch
ist, so unbekannt sind doch zu großen Teilen Ziele, Verlauf, Resultate und Folgen
der Mission. Dies deshalb, weil sie in die „Fahlborg-Zernack-Lücke“ fällt, die in
der internationalen Forschungsliteratur zu den schwedisch-moskauischen Beziehungen im 17. Jahrhundert zwischen den Jahren 1672 und 1675 klafft. 4 Eine aus den
Quellen gearbeitete Darstellung samt Analyse der langen Planungsphase dieser Gesandtschaft, der Instruktion und der Weisungen des Königs an die Gesandten, des
überaus zähen Verhandlungsverlaufs samt abruptem Abbruch sowie der vielfälti-
1
2
3
4
[Kilburger, Johann Philipp:] Mercatura Ruthenica Oder Kurtzer Unterricht Von den Reußischen Commercien, Wie Selbige mit Auß= und Eingehenden Wahren A.o 1674 durch gantz Moscovien getrieben
worden. O. O., o. D. In: Riksarkiv, Stockholm [im Folgenden: RAS], Manuskriptsamlingen, vol. 78.
Zu einer gekürzten veröffentlichten Version s. Kilburger, Johann Philipp: Kurtzer Unterricht von dem
Rußischen Handel, wie selbiger mit aus= und eingehenden Waaren 1674 durch ganz Rußland getrieben worden. In: Magazin für die neue Historie und Geographie 3 (1769), S. 243–342.
Tarkiainen, Kari: Stormaktstidens vackraste diplomatrapport. Erik Palmquists Rysslandsbeskrivning
1674. ln: Källor till den svenska historien. Årsbok för Riksarkivet och Landsarkivet 1993. Stockholm
1993, S. 73–78.
[Palmquist, Erik:] Någre widh Sidste Kongl: Ambassaden till Tzaren i Muskou giorde Observationer
öfwer Ryßlandh, des Wägar, Paß medh Fästningar och Gräntzer, Sammandragne Aff Erich Palmquist
Anno 1674. O. O. [Stockholm] 1674. In: RAS, Kartor och ritningar utan känd prov. N:o 636. Dass.
als photolitographischer Nachdruck herausgegeben von Karl Sandgren und Axel Lagrelius (Stockholm 1898).
Vgl. hierzu Fahlborg, Birger: Sveriges yttre politik 1660–1664. Stockholm 1932; Ders.: Sveriges
yttre politik 1664–1668. 2 Bde. Stockholm 1949; Ders.: Sveriges yttre politik 1668–1672. 2 Bde.,
Stockholm 1961; und Zernack, Klaus: Studien zu den schwedisch-russischen Beziehungen in der
2. Hälfte des 17. Jahrhunderts. Teil I: Die diplomatischen Beziehungen zwischen Schweden und
Moskau von 1675 bis 1689. Gießen 1958.
Russland als „Magazin der Handlung zwischen Asien und Europa“?
71
gen Aktivitäten, welche die 44 Gesandtschaftsmitglieder und ihre 116 schwedischen
Bediensteten in der Hauptstadt des Zarenreiches entfalteten 5, würde eine eigene Monographie erfordern. Und selbst die Untersuchung der handelspolitischen Agenda
dieser Mission, nämlich der neuerliche Versuch Stockholms, den Stapel des russischen Außenhandels von Archangel’sk am Weißen Meer in die schwedischen Hafenstädte Nyen, Narva, Reval oder Riga zu verlegen bzw. – so der Quellenterminus: –
zu „derivieren“, sprengt den Rahmen eines Aufsatzes. Im Folgenden soll daher der
Schwerpunkt auf der schwedischen Orienthandelspolitik und ihrem Russlandfokus
liegen – zwei zentrale Punkte in der Instruktion König Karls XI. an Graf Oxenstierna und seine Gesandtenkollegen Hans Heinrich von Tiesenhausen und Gotthard
Johan von Budberg, deren konkrete Umsetzung einem eigens ernannten handelspolitischen Berater der Gesandtschaft oblag. Da der Nestor der russland- und persienbezogenen „Wirtschaftwissenschaft“ in Schweden, der Revaler Statthalter Philip
Crusius von Krusenstiern, zwar weiterhin Expertisen produzierte 6, aber aufgrund seines hohen Alters nicht mehr reisefähig war, wurde der Stockholmer Großkaufmann,
Industrielle, Reeder und Bankier Jochim Pötter Lillienhoff mit dieser Funktion betraut. 7 Zugleich wurde Lillienhoff zum Assessor im Kommerzkollegium ernannt und
erhielt den Titel eines „Russlandgesandtschaftskommerzienrat“ verliehen. 8 Einem
ungewöhnlichen Glücksfall ist es zu verdanken, dass nicht nur die offiziellen Berichte, Denkschriften und Expertisen, die Lillienhoff während und im Umfeld der
Gesandtschaft verfasst hat 9, sondern auch seine Konzepte sowie Teile seiner von
Russland aus geführten kaufmännischen Korrespondenz in schwedische Archive gelangt sind. 10
Das Interesse der frühneuzeitlichen Großmacht Schweden-Finnland an der „Derivation“ des Russlandhandels von der Nordkaproute in die Ostsee, das seit der Mitte
des 16. Jahrhunderts die Moskaupolitik Stockholms bestimmte, besaß durchgängig auch eine persische Komponente. Denn ebenso wie man schwedischerseits eine
5
Zu einem Überblick vgl. Forsten, G. V.: Snošenija Švecii i Rossii vo vtoroj polovine XVII veka
(1648–1700). Žurnal Ministerstva Narodnogo Prosveščenija 328 (1899), ijun’, S. 277–339, hier
S. 286–308.
6 Krusenstjern, Benigna von: Philip Crusius von Krusenstiern (1597–1676). Sein Wirken in Livland
als Rußlandkenner, Diplomat und Landespolitiker. Marburg /L. 1976, S. 81.
7 Zu seiner Person s. Högberg, Staffan: Lillienhoff, Joachim. In: Svenskt biografiskt leksikon 23
(1980–1981), S. 127–129; und Rosevaere, Henry: Markets and Merchants of the Late Seventeenth
Century: The Marescoe-David Letters, 1668–1680. Oxford 1987, S. 27–34.
8 Vgl. Karls XI. Ernennungsschreiben vom 28. Juni 1673 in: RAS, Riksregistratur 1673 (Juni), Bll. 297
und 313.
9 S. die Mappe „Kommercierådet på ambassaden till Ryssland 1674 Jochim Pötter Lillienhoff“. In:
RAS, Kommerskollegium. Huvudarkivet. Inkomna handlingar. Skrivelser från konsuler och minister.
a) Skrivelser från svenska (svensk-norska) konsuler (E VI a), vol. 345.
10 S. das umfangreiche Konvolut „Åtskillige Papper Ryske Handeln angående, mäst papper effter
J. Lillienhoff som han Med sig i Musco hafft. 1673 och 1674“. In: Uppsala universitets bibliotek. Handskriftsavdelning [im Folgenden: UUB]. Nordinska samlingen, vol. 438, f. 194–359. Zum
schriftlichen Nachlaß s. auch Hedar, Samuel: Enskilda archiv under karolinska enväldet. Stockholm
1935, S. 261–265.
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Armeno-Sueco-Muscovitica
fiskalische Abschöpfung der Warenströme zwischen dem Zarenreich und den nordwesteuropäischen Handelsstaaten Niederlande und England anstrebte, hoffte man
auch, den Rohseidehandel Persiens auf der Russlandroute nach Amsterdam in eigene Häfen zu ziehen und dort mit Zöllen belegen zu können. Bis zur schrittweise
erfolgten Freigabe der Kaspi-Volga-Weißmeerroute in die Niederlande durch Zar
Aleksej Michajlovič in den Jahren 1667, 1673 und 1676, im Jahr 1687 dann auch
der Kaspi-Volga-Ostseeroute dorthin durch Kanzler V. V. Golicyn 11, schlug sich das
schwedische Persienhandelsinteresse kaum in Form tatsächlicher Warengeschäfte
in der Handelsstatistik nieder. Dies war erst in den neunziger Jahren des 17. Jahrhunderts der Fall, als bis zu 7 % der jährlichen persischen Rohseideausfuhr nach
Westeuropa über den schwedischen Hafen Narva verschifft wurden. 12 Durchgeführt
wurden diese Warentransaktionen von der im Vorort Neu-Julpha der Safavidenhauptstadt Isfahan ansässigen Armenischen Handelskompagnie, welche 1618 vom Schah
das Ausfuhrmonopol für den persischen Exportschlager Rohseide erhalten hatte. 13
Die schwedische Außenhandelsdiplomatie musste also ein Spiel mit mindestens drei
Bällen beherrschen: Sie musste sich mit dem Schah ins Benehmen setzen, mit den
Armeniern handelseinig werden sowie die Transitgenehmigung des Zaren für die
Route Moskau-Novgorod-Narva sichern.
1. Die handels- und verkehrspolitischen Zielsetzungen der
schwedischen Moskaugesandtschaft
1672 wurde mit Karl XI. ein schwedischer König für volljährig erklärt, der sich
binnen kurzem zu einem energischen sowie nachhaltigen Verfechter einer Handelsverbindung mit dem Safavidenreich entwickelte. 14 In den ersten Jahren seiner
Herrschaft war dieses Interesse das Resultat der Persienhandelspläne von Reichskanzler Magnus Gabriel De la Gardie, der von 1664 an eine partielle Verlagerung
11 Vgl. Troebst, Stefan: Handelskontrolle – „Derivation“ – Eindämmung. Schwedische Moskaupolitik 1617–1661. Wiesbaden 1997, S. 167–203, 369–391, 459–460 und 486–490; ders.: Isfahan –
Moskau – Amsterdam: Zur Entstehungsgeschichte des moskauischen Transitprivilegs für die Armenische Handelskompanie in Persien (1666–1676). In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 41 (1993).
S. 180–209 [und im vorliegenden Band]; und ders.: Die Kaspi-Volga-Ostsee-Route in dem Handelskontrollpolitik Karls XI. Die schwedischen Persien-Missionen von Ludvig Fabritius 1679–1700. In:
Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 54 (1998), S. 127–204.
12 S. Tab. Transithandel mit persischer Rohseide über Narva 1683–1697. Ebd., S. 175
13 Zum Forschungsstand vgl. Aghassian, Michel, Kéram Kévonian: The Armenian Merchant Network:
Overall Autonomy and Local Integration. In: Merchants, Compagnies and Trade. Europe and Asia in
the Early Modern Era. Hrsg. Chaudhury, Sushil, Michel Morineau. Cambridge 1999, S. 74–94; und
Matthee, Rudolph P.:The Politics of Trade in Safavid Iran. Silk for Silver, 1600–1730. Cambridge
1999.
14 Zu Person und Politik vgl. Dahlgren, Stellan: Karl XI. In: Florén, Anders, Stellan Dahlgren, Jan Lindegren: Kungar och krigare. Tre essäer om Karl X Gustavus, Karl XI och Karl XII. Stockholm 1992,
S. 81–148 und S. 234; und Upton, Anthony F.: Charles XI and Swedish Absolutism. Cambridge 1998.
Russland als „Magazin der Handlung zwischen Asien und Europa“?
73
des Schwerpunkts weg vom russischen Außenhandel und hin zum russischen Transithandel mit dem Krim-Khanat, Persien und Indien ins Werk zu setzen trachtete. 15
Über vorbereitende diplomatische, propagandistische und administrative Schritte
war dieses Vorhaben indes nie hinaus gekommen. Mit dem Perspektivwechsel zarischer Außenpolitik, wie er 1670 durch den Übergang vom anti-schwedisch gesinnten
A. L. Ordin-Naščokin zur anti-osmanisch orientierten und als pro-schwedisch geltenden A. S. Matveev im Kanzleramt personifiziert wurde, sah man in Stockholm dann
günstige Chancen für einen neuerlichen Vorstoß zur Verbesserung der bilateralen Beziehungen auf allen Ebenen. Noch im Jahr seiner Volljährigkeitserklärung verfügte
Karl XI. daher die Entsendung einer Großgesandtschaft nach Moskau. Schweden
wollte den Zaren zu einem universalen Bündnisvertrag bewegen, der indirekt gegen
die antifranzösischen Koalitionsmächte Niederlande und Dänemark-Norwegen gerichtet war. Hinzu kamen die Erneuerung des Kardis-Friedens von 1661, die durch
die Volljährigkeitserklärung Karls XI. erforderlich geworden war, sowie eine Reihe
von strittigen Punkten, die sich aus eben diesem Vertrag ergaben. 16 Auf der informellen Tagesordnung ganz oben standen überdies handelspolitische Ziele, vor allem das
„Derivationsprogramm“. Die Details hierzu sollte das Kommerzkollegium anhand
grober Vorgaben des Königs ausarbeiten. Das Streben nach Umlenkung des russischen Außenhandels bildete dabei den Rahmen, die Frage des Persien-Transits einen
der zentralen Punkte. Am 28. Oktober 1672 forderte die Krone das Kollegium auf,
zum Zwecke der Abfassung der Instruktion für die Gesandten
Uns ihren Vorschlag darüber mitzuteilen, auf welche Weise [. . . ] zu erreichen ist, daß
die Archangel’sk-Fahrt hierher in die Ostsee deriviert werden kann und daß Unseren
Untertanen freigegeben werde, entweder an allen oder an den vornehmsten [russischen]
Handelsplätzen, insonderheit in Astrachan’, mit allen Fremden und Persern Handel zu treiben [. . . ]. 17
Dieser Aufforderung kamen Kommerzkollegiumspräsident Knut Kurck und seine
Mitarbeiter Ende April 1673 nach. Sie rieten dazu, die russische Seite auf die bereits geschlossenen bilateralen Verträge festzulegen: Der Paragraph 10 des KardisVertrages, der schwedischen Untertanen „freien und unbehinderten Handel“ im gesamten Moskauer Staat gestattete, beziehe sich selbstredend auch auf die Volga
und auf Astrachan’. 18 Diese Ansicht machte sich der König im Paragraph 37 sei-
15 Fahlborg: Sveriges yttre politik 1664–1668. Bd. 1. S. 551.
16 Zernack: Studien zu den schwedisch-russischen Beziehungen, S. 54–55.
17 Karl XI.-Kommerskollegium. Stockholm, 28. Oktober 1672. In: RAS, Kommerskollegium. Huvudarkivet. Inkomna handligar. Kungliga brev och remisser. Huvudserie (E I a), vol. 3, f. 553.
18 Kommmerzkollegium-Karl XI. Stockholm, 29. April 1673. In: Ekonomiska förbindelser mellan Sverige och Ryssland under 1600 – talet. Dokument ur svenska arkiv. Red. Artur Attman et al. Stockholm
1978 [im Folgenden: EFSR], Dok. Nr. 35, S. 189–191, hier S. 190 (nach einer Abschrift in: RAS,
Handel och sjöfart, vol. A 15).
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74
Armeno-Sueco-Muscovitica
ner umfangreichen Instruktion an die Gesandten vom 28. Juni 1673 zu eigen. 19 Sie
sollten klarstellen, dass das Neue Handelsstatut (Novotorgovyj ustav), das der Zar
1667 erlassen hatte, samt dem darin enthaltenen Verbot der Einreise ausländischer
Kaufleute in den Moskauer Staat gemäß Kardis-Frieden für schwedische Untertanen
nicht gelten könne. Vielmehr sei diesen im gesamten Staatsgebiet und namentlich
in 15 Städten, darunter Astrachan’ und Terskij gorod am Kaspischen Meer, Reiseund Handelsfreiheit zuzugestehen. 20 Zudem enthielt die Instruktion einen weiteren Paragraphen zum Persien-Handel (§ 39), der über die knappen Empfehlungen
des Kommerzkollegiums deutlich hinausging: Als Gegenleistung für das schwedischen Kaufleuten vom Zaren zu erteilende Recht des Transithandels nach Persien
„und die anderen an des Zaren Gebiet angrenzenden fremden Länder“ sollte russischen Kaufleuten „erlaubt werden [. . . ] durch K[önigliche] M[ajestä]ts Deutsche
Provinzen Pommern und Bremen mit ihren Waren ein- und auszureisen, nach und
von Holland, Frankreich, England, Deutschland und andere angrenzende Länder und
Nationen“. 21 Damit gestand Schweden der russischen Seite nicht nur zu, über die eigenen transbaltischen Häfen mit den übrigen Ostseeanrainern in Handelbeziehungen
zu treten, sondern weitete den Kreis der potentiellen russischen Handelspartner auf
alle europäischen Staaten aus. Bezeichnend ist allerdings die Verfügung, dass diese
neuen Handelsverbindungen nicht direkt von Nyen, Narva, Reval und Riga, sondern
über den Umweg über die schwedischen Besitzungen Vorpommern, Wismar und Bremen-Verden zu unterhalten wären. Dies bot zum einen die Möglichkeit, auch in den
Reichsterritorien Zölle zu erheben, zum anderen die, diesen Territorien zusätzliche
ökonomische Stimuli zu verschaffen.
Die praktisch-politische Umsetzung des skizzierten Tauschgeschäftes verlief jedoch alles andere als glatt. Obwohl Stockholm bereits im Februar 1673 die Ankunft
der Oxenstiernaschen Gesandtschaft avisiert hatte, konnte diese sich gravierender finanzieller Probleme wegen erst am 21. August 1673 auf den Weg über die Ostsee
machen. Am 18. November 1673 erreichte man die russische Grenze und zog am
31. Dezember in Moskau ein. Die für den 2. Januar 1674 geplante Begrüßungsaudienz bei Aleksej Michajlovič kam nicht zustande, da die russische Seite forderte,
dass die Gesandten ohne Kopfbedeckungen vor den Zar treten sollten, wohingegen
diese in einer aus ihrer Sicht so gravierenden Änderung des Zeremoniells erst ihren König konsultieren wollten. Am 19. März traf Karls XI. zustimmende Antwort
ein, so dass die Audienz am 30. März stattfinden und am 2. April schließlich die
19 Instruktion Karls XI. für die Gesandten Gustav Oxenstierna, Hans Heinrich von Tiesenhausen, Gotthard Johan von Budberg und Jonas Klingstedt. Stockholm, 28. Juni 1673. In: RAS, Diplomatica
Muscovitica, vol. 90. Gedruckt nach einer Abschrift in RAS, Handel och sjöfart, vol. A 15, in: EFSR,
Dok. Nr. 36, S. 192–198.
20 Ebd., S. 194.
21 Ebd., S. 194–195.
Russland als „Magazin der Handlung zwischen Asien und Europa“?
75
Verhandlungen beginnen konnten. 22 Geführt wurden diese moskauischerseits von
Fürst Ju. A. Dolgorukij, seinem Sohn M. Ju. Dolgorukij, und Kanzler Matveev. 23
Gleich zu Beginn erwies sich, dass der Zar in keiner Weise geneigt war, der schwedisch-französischen Koalition gegen die Niederlande und Dänemark-Norwegen beizutreten, sondern lediglich an Unterstützung gegen die im Süden Polen-Litauens
vordringenden Osmanen und Krimtataren interessiert war. Daraufhin schlugen die
schwedischen Gesandten vor, Bündnisfragen ganz auszuklammern und allein die
strittigen Punkte der existierenden bilateralen Verträge zu behandeln, darunter auch
handelspolitische. 24 Am 11. April überreichte Graf Oxenstierna ein entsprechendes Memorandum zur Handelspolitik, in welchem unter Berufung auf die Kardisund Pljussa-Vertragsschlüsse von 1661 und 1666 für schwedische Kaufleute das
Recht, auch Kazan’ und Astrachan’ zum Zwecke von Handelsgeschäften aufsuchen
zu können, geltend gemacht wurde. 25 Die russische Antwortschrift vom 30. April,
die hauptsächlich aus Gegenforderungen und Beschwerden bestand, ging auf diesen speziellen Punkt gar nicht erst ein. 26 Endgültig näherten sich die Verhandlungen
ihrem Scheitern als die zarischen Unterhändler zur Wiedergutmachung von Titularund Zeremoniellverfehlungen, die sich die schwedische Seite in der Vergangenheit
zuschulden habe kommen lassen, die Abtretung Ingermanlands und des karelischen
Läns Kexholms forderten. Zwar kam es am 16. Juni zu einer Diskussion zwischen
Graf Oxenstierna und Fürst Dolgorukij über Handels- und Zollfragen, doch wurde
den schwedischen Gesandten bereits am 18. Juni der Abbruch der Verhandlungen
mitgeteilt. 27 Die Frage des Persien-Transits und die besagte schwedische Konzession an russische Kaufleute kamen gar nicht erst zur Sprache: „Aufgrund der [. . . ]
Dickköpfigkeit der Russen“, so die Gesandten selbigentags an Karl XI., „ist es uns
dieses Mal nicht gelungen, [der russischen Seite gegenüber] eine Bemerkung über
den Persien- und Archangel’sk-Handel anzubringen“. 28 Am Folgetag fand die Abschiedsaudienz für die Gesandten bei Aleksej Michajlovič statt, und weitere vier
Tage später mussten Graf Oxenstierna und sein Tross die Rückreise antreten. 29
22 Kurc, Boris G.: Izsledovanie o Kil’burgera i ego sočinenii o russkoj torgovle tret’ej četverti XVII
veka. In: Ders.: Sočinenie Kil’burgera o russkoj torgovle v carstvovanie Alekseja Michajloviča. Kiev
1915, S. 1–83, hier S. 2–3.
23 Forsten, G. V.: Snošenija Švecii i Rossii, S. 296–297.
24 Zernack: Studien zu den schwedisch-russischen Beziehungen, S. 55.
25 Memorandum der schwedischen Gesandten zur Handelspolitik. Moskau, 11. April 1674. Auszug in
russ. Übers. in: Ėkonomičeskie svjazi meždu Rossiju i Švecii v XVII v. Dokumenty iz sovetskich
archivov. Moskva 1978 [im Folgenden: ĖSRŠ], Dok. Nr. 85/I, S. 124–139, hier S. 135.
26 Vgl. die beiden Auszüge in: Russko-švedskie ėkonomičeskie otnošenija v XVII veke. Sbornik
dokumentov. Red. M. P. Vjatkin, I. N. Firsov. Moskva, Leningrad 1960 (im Folgenden: RŠĖO],
Dok. Nr. 213, S. 346–354, und ĖSRŠ, Dok. Nr. 86/I, S. 139–145.
27 Gesandte-Karl XI. Moskau, 16. Juni 1674. In: RAS, Diplomatica Muscovitica, vol. 88; GesandteKarl XI. Mšaga, 16. Juli 1674. Ebd.
28 Gesandte-Karl XI. Moskau, 18. Juni 1674. Ebd.
29 Forsten, G. V.: Snošenia Švevii i Rosii, S. 307.
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Armeno-Sueco-Muscovitica
2. Handelspolitische Konzepte und merkantile Phantasie:
Lillienhoff in Moskau (Dezember 1673 – Juni 1674)
Das Ergebnis der Gesandtschaft stand also in krassem Missverhältnis zu den Erwartungen, die schwedischerseits auf diese Mission gesetzt worden waren und die
sich im Winter 1673/1674 noch verstärkten, als Karl XI. erfuhr, dass in der Zarenstadt „ein großer Persischer Kaufmann in der Eigenschaft eines Ambassadeurs“
eingetroffen war. 30 Gemeint war der Gesandte des Schahs Grigoris Lusikjan (russ.
Grigorij Lusikov), der zugleich führendes Mitglied der Armenischen Handelskompagnie Isfahans war und der am 7. Februar 1673 den zweiten armenisch-moskauischen
Vertrag über Transithandel geschlossen hatte. 31 Nach erfolgreicher Durchführung
des Persien-Punktes in der Instruktion, so der König am 9. Dezember 1673 an
Graf Oxenstierna, sollte dieser umgehend mit Lusikjan in Verbindung treten und die
Aufnahme direkter Handelsbeziehungen vereinbaren. Dadurch möglicherweise hervorgerufene „Jalousie und Ombrage“ auf russischer Seite sollte durch Hinweise auf
von Schweden soeben gemachte Hilfszusagen an den zarischen Verbündeten PolenLitauen in dessen Kampf gegen das Osmanische Reich neutralisiert werden. 32 Während die Gesandten jedoch die Information besaßen, ihr persischer Kollege werde
gleich allen anderen Persern durch einen zarischen Ukas vom Mai 1673 daran gehindert, weiter als bis nach Astrachan’ in das Moskauer Reich einzureisen 33, war
Handelsexperte Lillienhoff deutlich besser informiert. Dass der Zar und die Armenische Handelskompagnie die Umleitung des persischen Rohseidehandels von Ormus
(fars. Hormuz) am Persischen Golf und Smyrna (türk. İzmir) an der Ägäis nach Archangel’sk vertraglich vereinbart und auch schon in die Wege geleitet hatten, war
ihm bereits bekannt. In einem Brief aus Moskau an das Kommerzkollegium vom
15. Januar 1674 sah er daher gute Chancen für eine „Derivation“ des persischen
Rohseidehandels mit Nordwesteuropa in die Ostsee, da seiner Meinung nach der Zar
selbst aus Gründen der Belebung seines eigenen Außenhandels daran interessiert sei.
Lillienhoff schlug daher vor, an Stelle der in der königlichen Instruktion genannten
30 Karl XI.-Gesandte. Stockholm, 9. Dezember 1673. In: RAS, Diplomatica. Muscovitica, vol. 90.
31 Dogovornaja torgovaja Zapis’ (v spiske), zaključennaja v podtverždenie pervoj, Okol’ničimi Artemonom Sergeevičem Matveevym s prislannym Armjanskoju torgovoju Kompanieju doverennym
Grigoriem Lusikovym: o vozobnovlenii s Rossieju prežnej torgovli, prervavšejsja na nekotoroe
vremja po končine Šacha Abbasa II. Moskau, 7. Februar 1673. In: Sobranie gosudarstvennych gramot
i dogovorov, chranjajuščichsja v gosudarstvennoj kollegii inostrannych del. Teil 4, Moskva 1828,
Dok. Nr. 83, S. 280–283.
32 Karl XI.-Gesandte. Stockholm, 9. Dezember 1673. In: RAS, Diplomatica. Muscovitica, vol. 90.
33 Gesandte-Karl XI. Moskau, 22. Januar 1674, f. 2 r–v. In: RAS, Diplomatica Muscovitica, vol. 88. Der
Ukas besagte, dass der persisch-russische Handel prinzipiell auf Astrachan’ beschränkt sein sollte,
d. h. persische Kaufleute nicht mehr in das Innere des Zarenreiches geschweige denn im Transit nach
Nordwesteuropa reisen könnten. Allerdings sollten die Mitglieder der Armenischen Handelskompagnie, also auch Lusikjan selbst, davon ausgenommen bleiben. Vgl. Solov’ev, Sergej M.: Istorija
Rossii s drevnejšich vremen v pjatnadcati knigach. Red. L. V. Čerepnin. Buch 6 (Bd. 11–12): Istorija
Rossii v carstvovanie Alekseja Michajloviča. Moskva 1961. S. 572.
Russland als „Magazin der Handlung zwischen Asien und Europa“?
77
Konzession russisch-nordwesteuropäischer Handelsbeziehungen über schwedische
Reichsterritorien dem Zaren anzubieten, dass russische Kaufleute in Schweden nicht
nur Hafen- und Stapelstädte, sondern auch Landstädte sowie vor allem die mittelschwedische Industrie- und Bergbauregion Bergslagen aufsuchen dürften. 34 Unmittelbar nach Eingang dieses Briefes beriet das Kollegium am 7. und 10. Februar über
diesen Vorschlag und gelangte zu der Ansieht, dass der erfolgreichen Herstellung einer direkten Handelsverbindung zwischen Schweden und Persien durch die Ostsee
eine Vorreiterfunktion bei der „Diversion“ des eigentlichen russischen Außenhandels
zukommen könne. 35 In einer umgehend angefertigten ausführlichen Stellungnahme
für den König stimmten Kurck und Kollegen daher Lillienhoffs Vorschlag zu. Die
innenpolitisch nur schwer vermittelbare Freigabe des Handels in Landstädten sowie
in Bergslagen wurde hier zum einen mit dem bekannten Paragraph 10 des KardisVertrages, zum anderen wie folgt begründet:
Zweitens ist der russische Handel nicht nur an sich sehr beträchtlich und bedeutsam [. . . ],
sondern auch deshalb um so mehr in Betracht zu ziehen, als dort in Moskau bereits ein
guter Weg zur Derivation des persischen Handels von Ormus und Smyrna sowie auch nach
und von Cathay und China gebahnt worden ist. Woraus folgt, daß im Falle einer Verlegung
des russischen Handels hierher ein Großteil des Profits des ostindischen und Smyrnaer
Handels, der sich derzeit in den Händen der Holländer und anderer Nationen befindet, der
Krone Schwedens und ihren Untertanen zufiiele. 36
Karl XI. beauftragte daraufhin den Reichsrat mit der Erstellung weiterer Expertisen. Am 24. März konferierten die Reichsräte Bengt Horn und Johan Gyllenstierna
sowie der für die Moskaupolitik zuständige Hofrat Jonas Klingstedt mit dem Kommerzkollegiumspräsidenten Kurck, während gleichzeitig auch das übrige Kollegium
über diese Frage beriet. 37 In beiden Fällen fiel die Antwort positiv aus, so dass der
Reichsrat noch am selben Tag dem König seine eigene Stellungnahme zur Erweiterung der Handelsprivilegien für russische Kaufleute zukommen ließ. Wohl nicht
zuletzt der Beteiligung Kurcks wegen stand auch hier das Argument der „Derivation“ nicht nur des russischen Außenhandels, sondern auch und gerade derjenigen
des „persischen und ostindischen Handels“ im Mittelpunkt. 38 Aufgrund der positiven Stellungnahmen von Kommerzkollegium und Reichsrat zur Frage der Freigabe
der Landstädte und der Bergslagen-Region für russische Kaufleute wies Karl XI. am
34 Lillienhoff-Kommerskollegium. Moskau, 14. [recte: 15.] Januar 1674, Original in: RAS, Kommerskollegium, E VI a, vol. 345, f. 184–190, hier f. 187 v–188 r.
35 Protokoll des Kommerzkollegiums vom 10. Februar 1674. In: RAS, Kommerskollegium. Huvudarkivet. Serie A. Protokoll och föredragningslistor. Protokoll. Kollegii protokoll. Serie 1651–1752,
vol. 20, f. 21–23, hier f. 22. Vgl. auch das Protokoll vom 7. Februar 1674, ebd. f. 20.
36 Kommerzkollegium-Karl XI. Stockholm, 10. Februar 1674, f. 1 v–2 r. In: RAS, Kommerskollegium
till Kungl. Maj.t, vol. 4.
37 Protokoll des Kommerzkollegiums vom 24. März 1674. In: RAS, Kommerskollegium (A I 1 a: 20),
f. 86–91, hier f. 91.
38 Riksråd-Karl XI. Stockholm, 24. März 1674. In: RAS, Rådets handlingar och bref, vol. 26, f. 68–72,
hier f. 70 v.
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25. März die Gesandten in Moskau an, dem Zaren diese Konzession nun als Gegenleistung für die Freigabe des Persien-Transits in Aussicht zu stellen. 39 Offensichtlich
wurde schwedischerseits dieses Zugeständnis mittlerweile als erfolgversprechender
erachtet als die in der Instruktion vom Vorjahr aufgeführte Möglichkeit direkter russisch-nordwesteuropäischer Handelsverbindungen durch schwedisches Gebiet. Aus
etlichen Stellungnahmen geht hervor, dass es vor allem die erheblich verbesserten
Möglichkeiten des Erwerbs schwedischen Kupfers durch russische Kaufleute waren,
von denen man sich ein Einlenken in der Frage des Persien-Transits erhoffte.
Dass die Oxenstiernasche Gesandtschaft trotz der demonstrativen schwedischen
Kompromissbereitschaft in Moskau auf Granit biss, erklärte Lillienhoff durch den
starken Einfluß der gosti auf Regierung und Zar. Am 8. März schickte er einen
Bericht an das Kommerzkollegium, in dem er die Chancen für die Verlegung des Persien-Handels nicht mehr so positiv wie noch am 15. Januar beurteilte. Dies stützte er
auf die Erkenntnis, dass die gosti in diesem Punkt ganz andere Interessen als der Zar
verfolgten. Während Lillienhoffs Mitarbeiter Kilburger wenig später die vielzitierte
Ansicht vertrat, „die Gosten sind des Zaaren Commercienräthe und Factoren“ 40,
widersprach ihm sein Vorgesetzter entschieden: Zwar hätten die Großkaufleute zahlreiche Aufgaben im zarischen Auftrag auszuführen, aber dennoch seien „diese Goster
nicht gemäß früheren Beschreibungen des Zaren Faktoren, sondern treiben ganz
auf eigene Rechnung Handel“. 41 Aus diesem Grund seien sie bestrebt, ausländische Kaufleute vom russischen Binnenmarkt völlig zu verdrängen und sie auf die
Grenzstädte Astrachan’ und Archangel’sk zu beschränken, um so für sich selbst ein
Monopol über den Außen- und Transithandel zu erlangen. Allerdings schloss Lillienhoff daraus nicht auf völlige Chancenlosigkeit der schwedischen Persien-Pläne.
Diese hielt er im Gegenteil für umso lohnender, als er inzwischen nicht nur über die
Aktivitäten persischer, armenischer. griechischer und anderer Kaufleute in Astrachan’ zahlreiche Informationen gesammelt, sondern auch die Bekanntschaft eines
indischen Kaufmanns christlicher Konfession namens Zachaj gemacht hatte. Dieser
teilte ihm mit, dass die auf Drängen der gosti erfolgten Verschärfungen der russischen Handelsgesetzgebung „über 100 Familien“ indischer Kaufleute „aus Hindustan und vom Ganges bzw. Bengalen im Gebiet des Großmoguls“, die in Astrachan’
ansässig gewesen waren, vertrieben hätte. Da die gosti aufgrund ihrer notorischen
Kapitalschwäche nicht zur Schließung dieser Lücke im Stande waren, so Lillienhoff, böte sich schwedischen Kaufleuten hier eine interessante Chance. 42 In einem
39 Karl XI.-Gesandte. Stockholm, 25. März 1674. In: Diplomatica Muscovitca, vol. 90.
40 Kilburger: Kurtzer Unterricht von dem Rußischen Handel, S. 322.
41 Lillienhoff-Kommerzkollegium. Moskau, 8. März 1674. In: RAS, Kommerskollegium, E VI a,
vol. 345, f. 184–190. Hier zit. Nach einer Abschrift in: UUB, Nordinska samlingen, vol. 438, f. 207–
209, hier f. 207 r.
42 Ebd., f. 207 v–208 r; J. P. Lillienhoff: Berättelse om ett samspråk med en Hindu vid namn Zachaj.
Moskau, 17. Februar 1674. In: UUB, Nordinska samlingen, vol. 438, f. 321. – Zu den indischen
Kaufleuten in Astrachan’ vgl. Dale, Stephen Frederic: Indian Merchants and Eurasian Trade, 1600–
1750. Cambridge 1994; und Jucht, A. I.: Russko-vostočnaja torgovlja v XVII–XVIII vv. i učastie v
nej indijskogo kupčestva. In: Istorija SSSR 1978, H. 6, S. 42–59.
Russland als „Magazin der Handlung zwischen Asien und Europa“?
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ausführlichen Zwischenbericht vom 24. März über den Stand der Gesandtschaftsangelegenheiten an Reichskanzler De la Gardie skizzierte Lillienhoff erneut die
handelspolitischen Perspektiven, die sich Schweden durch Erlangung des Transitrechtes eröffneten: Der direkte Umgang mit armenischen, persischen und indischen
Kaufleute brächte Schweden in Handelskontakte mit Südostasien, Indien, dem Vorderen Orient und der Levante und würde darüber hinaus Niederländer, Engländer,
Franzosen und Hamburger vermehrt in die eigenen Ostseehäfen ziehen. Vorbedingung sei allerdings die Überwindung des Widerstandes der gosti gegen die Vergabe
des Transitrechts. Zu diesem Zwecke müsse man
mit allem Fleiß danach trachten, die Glaubwürdigkeit der gosti beim Zaren zu diskreditieren, vor allem indem man ihm beweist, mit welch schädliche Ratschlägen sie hinsichtlich
des Handels allein um ihren eigenen Nutzen und Interesse willen erteilen. 43
Hatte Lillienhoff in diesem Bericht das Interesse hervorgehoben, das seinen Vorschlägen vor allem vom moskauischen Kanzler Matveev entgegengebracht wurde,
so war ein Brief der Gesandten an den König vom selben Tag eher sybillinisch:
Artamon Sergeevič [Matveev] hat sich Kommerzienrat Lillienhoff gegenüber dahingehend
ausgelassen, daß er vermutet, daß unsere Kommission rasch zum Ende komme, da sie über
die [. . . ] Punkte, die schon zuvor vorgelegt worden waren, zur Genüge informiert seien und
beschlossen hätten, was diesbezüglich zu tun sei. 44
Obwohl der reale Verlauf der Verhandlungen mitnichten zu großen Hoffnungen Anlass gab, blieb Lillienhoff weiterhin optimistisch. Am 28. April schrieb er seinem
Nachfolger an der Spitze des vormaligen Handelshauses Pötter & Thuen, Peter von
Cölln, er erwarte weitreichende handelspolitische Zugeständnisse innerhalb von zwei
Wochen 45, und noch am 12. Mai teilte er dem Kommerzkollegium mit, „wir hoffen im übrigen auf eine gute Verrichtung, wenngleich es auch nur langsam voran
geht“ 46. Selbst nach der Abschiedsaudienz der Gesandten beim Zaren am 19. Juni
gab er nicht auf und sprach am 21. Juni davon, dass „der Vertrag zu einem guten
Eide gebracht“ sei. 47 Worauf sich Lillienhoffs hochgespannte Erwartungen stützten,
ist nicht eindeutig auszumachen. Zu einem Teil dürfte er sie aus informellen Gesprächen mit zarischen Beamten gezogen haben, zu einem anderen aus den in Moskau
gesammelten Informationen und Grunddaten zu Verkehrs- und Wirtschaftsgeographie. Von deren vorläufiger Auswertung ausgehend, hatte er am 6. Mai 1674 eine
Denkschrift zur Handelspolitik verfasst, die er dem Kommerzkollegium zukommen
43 Lillienhoff-de la Gardie: Moskau, 24. März 1674. In: RAS, Kommerskollegium, E VI a, vol. 345,
f. 180–183, hier f. 180 r.
44 Gesandte-Karl XI. Moskau, 24. März 1674, 4 f. In: RAS, Diplomatica Muscovitica, vol. 88.
45 Lillienhoff-Von Cölln. Moskau, 28. April 1674. In: UUB, Nordinska samlingen, vol. 438, f. 219–220,
hier f. 219 r. P. von Cölln war zusammen mit Lillienhoff nach Moskau gereist und Ende Januar 1674
von dort nach Stockholm zurückgekehrt.
46 Lillienhoff-Kommerzkollegium. Moskau, 12. Mai 1674. In: RAS, Kommerskollegium, E VI a,
vol. 345, f. 178 r–179 v. hier f. 178 v.
47 Lillienhoff-Kommerzkollegium. Moskau, 21. Juni 1674. Ebd., f. 198–204, hier f. 211 r.
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ließ und die ihres propagandistischen Untertons wegen unverkennbar für russische,
aber wohl auch für armenische und indische Leser bestimmt war. Gleich in den ersten
Sätzen wurde hier die Transitfunktion Russlands für den Ost-West-Handel thematisiert:
Wem dieses landz Situation bekandt, muss sich verwundern, dass nach so vielen jahren
hero die handlung in diesem reich nicht auf einen andern fuss ist gestehet alss biss hiehero
geschehen, da es doch mit so herrlichen, fruchtbahren und köstlichen ländern und landschafften umb und umb umbfangen ist, welcher einwohner sehr und fast mehr alss alle andre
nationen in Europa zu der handlung incliniret seind und wegen der miserablen lebens-Unterhaltung ihre wahren fast bessern kauffs geben können alss irgendt anderswo in der welt.
Nun hat die natur diesen theil dess erdreichs, und in Sonderheit respectu der herumbliegenden Länder, alss Kithaja, China, Indien und Persien wie auch des gantzen umbkreisses vom
Ponto Euxino biss an den Archipellagum, mit zwo herrlichen commoditäten begabet, ihre
commertien und handlungen mit den Europäern, und die Europäern mit ihnen, zu befordern und ihre wahren zu- und abzuführen, nemlich eine zu wasser und die andre zu landt.
Wann man aber nun will examiniren wie selbige beyde gelegenheiten belegen sind und welche sich zu des handels beforderung am bequämsten zu bediene, so befindet sich warlich,
was die sei[de]nen wahren angehet, derjenige passage, selbige durch das Moscowitische
reich über landt nach der Ostsee zu transportiren, wohl viel näher und bequämer alss selbige durch lange weitläuffige und kostbare reysen nach der Indianischen see zu bringen,
welche handlung hernach alldorten nur allein unter der Holländischen und Englischen OstIndianischen compagnie zwang bestehet und sehr kostbar und mit viel zeitverlust zu andrer
traffiquanten hemmunge muss unterhalten werden. wodurch man die wahren gegen dem,
was sie einkauffs kosten, allezeit in hohem preise haltet. 48
In Ormus, Smyrna und Archangel’sk, so Lillienhoffs Argument, bestimmten ausschließlich Niederländer und Engländer die terms of trade – ein für russische wie für
orientalische Kaufleute gleichermaßen negativer Umstand, dem durch Benutzung der
Ostseeroute via Russland begegnet werden könne. Um „dieses reich zu einem magazin der handlung zwischen Asien und Europa in wenig jahren“ zu machen 49, müsse
der Zar daher zwei Änderungen verfügen: in der Handelspolitik und -gesetzgebung
sollten fürderhin nicht ausschließlich die Interessen der gosti, sondern diejenigen
sämtlicher Stadtbewohner des Reiches berücksichtigt werden; und wegen der zu
befürchtenden Reaktionen der Niederlande und der Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC) auf die Verlegung des Weltseidenhandels auf die Russlandroute müsse
der Persien-Transit weg vom ungeschützten Archangel’sk in die sicheren schwedi-
48 J. P. Lillienhoff: Ein kurtzer doch unvergreifflicher auffsatz über die handelung in gantz Moscowien und Reusslandt, wie dieselbige zu der einwohner grossem nachtheil und desselbigen reichs
einkünffter verminderung anitzo alda beführet wirdt, und wie hiengegen durch eine gute verordung
und abschaffung voriger abüsen in den commercien der tzarliche Schatz auf ein merckliches könne
vermehret und die handelung zu des landt grossem aufnehmen und der untersassen und einwohner
hohem nutzen und gedeyen genosse und verbessert werden. Moskau, 6. Mai 1674. In: RAS, Kommerskollegium, E VI a, vol. 345, f. 170–177. Gedruckt nach einer Abschrift in RAS, Handel och
sjöfart, vol. A 17, in: EFSR, Dok. Nr. 39, S. 203–209, hier S. 203–204.
49 Ebd., S. 207.
Russland als „Magazin der Handlung zwischen Asien und Europa“?
81
schen Ostseehäfen umgelenkt werden. Sodann schilderte der Stockholmer Tycoon
die Verschiebungen im Ost-West-Handel, die nach Ergreifung der von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen zu Russlands Gunsten einträten. Aber auch strategische und
mächtepolitische Vorteile wusste er zu nennen. So würde der Bau einer Handelsflotte
auf dem Kaspischen Meer dem Zaren „in selbiger see [. . . ] das dominium“ bringen,
„insonderheit wann I. Königl. May:t von Schweden bequäme schiffs-zimmerleute
und botzleute dazu geben möchten und auch selbige schiffe mit guter defension von
geschütze alss ammunition besetzet würden“ 50 – alles Gründe also, die aus der Sicht
des Autors für ein bündnis- wie handelspolitisches Zusammengehen Moskaus mit
Schweden sprachen.
Der jenseits dieser propagandistischen und entsprechend partiell phantastischen
Zukunftsvisionen nüchtern denkende, da europaweit tätige und profitorientierte
Großunternehmer errechnete für den Transithandel aber auch intern Gewinnspannen, die seine ursprünglichen Erwartungen weit übertrafen und sein wirtschaftliches
Interesses in höchstem Maße weckten. „Ich für meine Person“, schrieb er seinen Kollegen im Kommerzkollegium am 12. Mai, „muß bekennen, daß ich, je mehr ich die
Beschaffenheit dieses Landes untersuche und mich darüber informieren lasse, um so
größere Lust und Neigung habe ich, seine Kultivierung und die Beförderung seines
Handels zu planen.“ 51
3. Nachrichtendienstliche Aktivität und merkantile Realität:
Lillienhoffs Stockholmer Abschlussbericht (Oktober 1674)
War also die diplomatisch-handelspolitische Mission der Gesandtschaft ein Fehlschlag, so war doch deren nachrichtendienstliche Ausbeute beträchtlich. Neben militärisch relevanten, vor allem kartographischen Informationen, die Palmquist zusammentrug, waren auch solche über Manufakturwesen und Handel einschließlich
der innenpolitischen Verflechtung dieser beiden Bereiche in großer Menge gesammelt worden. Federführend für die Wirtschaftsspionage war dabei Lillienhoff gewesen, dem Kilburger zur Hand ging. Seine gesammelten Erkenntnisse übersandte
der im Laufe des August 1674 wieder in Stockholm eingetroffene Kommerzienrat
dem Kommerzkollegium in einem umfangreichen Abschlussbericht vom 22. Oktober 1674, der wohl die letzte handelspolitische Expertise vor seinem Tod am
26. Februar 1676 darstellte. 52 Dieser Bericht bestand aus einer Einleitung sowie einer
50 Ebd., S. 208.
51 Lillienhoff-Kommerzkollegium. Moskau, 12. Mai 1674. In: RAS, Kommerskollegium, E VI a,
vol. 345, f. 178 r–179 v, hier f. 178 v.
52 J. P. Lillienhoff: Oförgripelige relation til dhet höglåfvelige konungzl. commerciae-collegium, hvadh
som uppå min reesa til Moscou jagh hafver kunnat observera och i acht taga, sambt mit ringa betenkkiandhe om handelen dhersammastädes och huru dhen skulle ståå at bringa undher handhen hit til
Östersiönn. Stockholm, 22. Oktober 1674. In: RAS, Handel och sjöfart, vol. A 17, sowie gedruckt in:
EFRS, Dok. Nr. 38, S. 199–203.
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Armeno-Sueco-Muscovitica
Sammlung von 17, mit „Lit. A“ bis „Lit. G“ sowie „N:o 1“ bis „N:o 10“ nummerierten Text-, Tabellen- und Kartenanlagen, die jedoch in ihrer ursprünglichen Form
nicht erhalten ist. Bei den Anlagen handelte es sich teils um Originale, teils aber um
Kopien von solchen Briefen, Denkschriften, Dokumenten und Karten, die Lillienhoff
im Original von Moskau aus nach Schweden geschickt hatte. Wohl im Zuge ihrer
archivalischen Bearbeitung wurden einige dieser Dokumente dem Provenienzprinzip gemäß unterschiedlichen Aktenserien des Reichsarchivs zugeordnet. Allerdings
lässt sich die Sammlung, wie Per Nyström demonstriert hat, aufgrund der Hinweise
in Lillienhoffs Einleitung sowie anhand der korrespondierenden Buchstaben und
Zahlen, mit denen er andere Schriftstücke aus seiner Feder versah, weitgehend rekonstruieren. 53 Im Zusammenhang mit dem Orienthandel sind die Anlagen „Lit. B“
und „Lit. C“ sowie „N:o 9“ und „N:o 10“ von Interesse, vor allem aber auch Lillienhoffs Einleitung. Anhand dieser wird der Erkenntnisprozess deutlich, den der
Handelsexperte während und im Anschluss an die Moskaumission durchlaufen hat.
Hatte er sich in seinen Briefen aus der Zarenstadt, wie gezeigt, enthusiastisch über
die merkantilen Möglichkeiten schwedisch-moskauischer Zusammenarbeit bezüglich des russischen Außenhandels wie des Transithandels mit dem Orient geäußert, so
stellten sich ihm nun dieselben Möglichkeiten in ganz anderem Licht dar. Den „moskowitschen Handel“ und „besonders den Handel mit Persien und Indien samt allen
anderen umliegenden Ländern, Herrschaften und Dominien“ mit schwedischer Hilfe
„durch das Moskowiterreich zu führen“ erschien ihm jetzt nicht mehr angebracht –
und zwar primär aus politischen Gründen:
Aber da dies eher geeignet ist, dem Russen zu nutzen und ihn mächtig zu machen, gar
mächtiger als es nützlich sein kann, eher zum Präjudiz für Königliche Majestät und das
Reich Schweden gereicht als daß deren eigene Provinzen irgendwelchen Nutzen und Vorteil davon haben könnten, so betrachte ich es nicht als ratsam, [dem Russen] derzeit die
Augen darüber zu öffnen. 54
Hinzu kam in Lillienhoffs Sicht, dass aus gleichfalls politischen Erwägungen heraus weder Zar und gosti noch deren nordwesteuropäische Handelspartner irgendein Interesse an der Einstellung der Weißmeerroute bzw. deren Verlagerung durch
schwedisches Territorium hindurch haben könnten. Wenn man also schwedischerseits „dem Russen die Augen“ bezüglich des Orienthandels „öffne“, schneide man
sich ins eigene Fleisch, da dann auch dieser Warenverkehr über Archangel’sk abgewickelt werde. Schließlich sprachen Lillienhoff zufolge auch merkantile Erwägungen gegen eine Fortsetzung des „Derivationsprogramms“ in seiner bisherigen Form:
Die Verkehrsinfrastruktur und die natürlichen Gegebenheiten der Kaspi-Volga-Weißmeerroute stellten sich ihm deutlich vorteilhafter als diejenigen der kürzeren Strecke
an die Ostsee dar, wie auch die höhere Zollbelastung durch den Transit durch die
schwedischen Ostprovinzen gegen diese Route sprach. Als ultima ratio erschien dem
53 Nyström, Per: Mercatura Ruthenica. In: Scandia 10 (1937), S. 239–296, hier S. 291–292.
54 Lillienhoff: Oförgripelige relation til dhet höglåfvelige konungzl. commerciae-collegium, S. 201.
Russland als „Magazin der Handlung zwischen Asien und Europa“?
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Kommerzienrat daher die militärische Option: Der König sollte „sich der Archangel’sk-Einfahrt bemächtigen und sie absperren“ – ein Unternehmen, das Lillienhoff
noch in Moskau vorsorglich hatte projektieren lassen. 55
Bei der Anlage „Lit. C“ handelt es sich um die Beschreibung der besagten militärischen Operation zur Sperrung des Hafens Archangel’sk samt Karte, um dergestalt
russischen Außenhandel und persischen Transithandel mit Gewalt zu „derivieren“.
Mit großer Wahrscheinlichkeit ist diese Anlage identisch mit dem anonymen Text
„Unvorgreifliches Projekt, auf welche Weise Krieg gegen Rußland zu führen wäre“,
der sich in Lillienhoffs Gesandtschaftsunterlagen findet und in seinem Auftrag verfasst wurde. 56 Als eine von mehreren außenpolitischen Voraussetzungen für eine
solche Operation nennt der anonyme Autor eine Übereinkunft mit dem Schah. 57 Parallel zu einem anschließenden Friedensschluss mit dem Zar sollte das Safavidenreich
überredet werden,
seine Seide und seine Waren lieber durch das Kaspische Meer zu transportieren als nach Ormus oder Smyrna, sowie zu remonstrieren, wie der Handel aus Hindustan und Indien durch
dieses Land gelenkt werden könnte und wie nötig es wäre, den Zaren zu einem solchen
Handel und zur Durchfahrt durch sein zu obligieren. 58
Bezüglich der Verkehrsinfrastruktur enthielt das Projekt den Vorschlag zum Bau eines Volga-Don-Kanals, welcher persischen Waren den Weg über das Azovsche Meer
in die Dneprmündung sowie weiter dnepraufwärts zur Dvina und schließlich nach
Riga eröffne. Damit würde man sich den langen Weg über die Volga sowie anschließend zu Lande nach Narva sparen. 59 Im Zusammenhang damit ist eine „PassCaert
van de Caspische Zee“ zu sehen, die Palmquist seinem eigenen Bericht einfügte. 60
Schließlich wurde in dem anonymen Projekt ganz ähnlich wie in Lillienhoffs Propagandadenkschrift vom 6. Mai 1674 vorgeschlagen,
55 Ebd. Vgl. auch unten die Ausführungen zu „Lit. C“ sowie Attman, Artur: Swedish Aspirations and
the Russian Market in the 17th Century. Göteborg 1985, S. 32–33.
56 O. A.: Oförgripeliget project på huadh sätt krigh emott Ryßland ståår at föra. Moskau, 28. März 1674.
In: UUB, Nordinska samlingen, vol. 438, f. 316–320. Vgl. dazu die Faksimilewiedergabe samt deutscher Übersetzung bei Zernack, Klaus: Imperiale Politik und merkantiler Hintergrund. Ein Dokument
der schwedischen Russlandpolitik im 17. Jahrhundert. In: Russland – Deutschland – Amerika. Russia – Germany – America. Festschrift für Fritz T. Epstein zum 80. Geburtstag. Hrsg. Alexander
Fischer, Günter Moltmann, Klaus Schwabe. Wiesbaden 1978, S. 24–36, hier zwischen den Seiten
29 und 30.
57 O. A.: Oförgripeliget project på huadh sätt krigh emott Ryßland ståår at föra, f. 316 v.
58 Ebd., f. 317 v (Die Übersetzung ist an diejenige bei Zernack: Imperiale Politik, S. 35, angelehnt).
59 Ebd., f. 317 r.
60 Vgl. Palmquist: Någre widh Sidste Kongl: Ambassaden till Tzaren i Muskou giorde Observationer
öfwer Ryßlandh, ohne Seitenzahl. Zu Palmquists kartographischer Ausbeute insgesamt vgl. Bagrow,
Leo: Croneman, Prytz and Palmqvist. In: Ders.: A History of Russian Cartography up to 1800. Hrsg.
Henry W. Castner. Wolfe Island, Ontario, 1975, S. 26–30.
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84
Armeno-Sueco-Muscovitica
daß [der Zar] Schiffe für das Kaspische Meer bauen ließe und daß Königliche Majestät gutes Holz anschaffen wolle und anderes was vonnöten sein könnte zu dieser Sache und zur
Förderung des Handels. 61
Die nicht auffindbare Anlage „N:o 9“ war Lilienhoff zufolge „der Vertrag, den der
König in Persien mit dem Zaren bezüglich des Transports seiner Rohseide in und
durch das Moskowitische Reich geschlossen hat.“ 62 Da hier der Schah als Vertragspartner erwähnt wird, dürfte es sich um den Text des besagten zweiten armenischmoskauischen Vertrages vom 7. Februar 1673 handeln.
Ebenfalls nicht auffindbar ist Anlage „N:o 10“ zu Lilienhoffs Abschlussbericht,
in der beschrieben wird, „wie der Handel durch Persien nach Indien und Hindustan
betrieben wird“ 63 bzw. „wie der Handel mit Persien mit Nachdruck auch bis Indien
ausgedehnt werden kann.“ 64
***
Der Fehlschlag von 1673/1674, dem 1676 der Tod der beiden wichtigsten schwedischen Russland- und Persienhandelsexperten Lillienhoff und Krusenstiern folgte,
führte nur vorübergehend zu einer Umorientierung schwedischer Handelskontrollpolitik in Gestalt verstärkter diplomatischer und propagandistischer Bemühungen
gegenüber den nordwesteuropäischen Haupthandelspartnern des Zarenreiches und
zu einem Eingehen auf das Drängen der nordwestrussischen Kaufmannschaft nach
Handelserleichterungen im livländischen Emporium Riga. Der von Karl XI. 1676
eingeführte Rigaer Oktroizoll, ein bis 1691 gültiger Niedrigzoll für Waren, die über
die Grenze bei Pskov eingeführt wurden, ließ die russischen Exporte auf dieser Route
dann in der Tat unverzüglich hochschnellen. 65 Aber sowie sich in der Person des
russland- und persienkundigen niederländischen Offiziers Ludvig Fabritius 1677 die
nächste Möglichkeit für einen weiteren schwedischen Vorstoß in Sachen persischer
Transithandel durch Russland ergab, griff Karl XI. zu. Nach zähen Verhandlungen
mit Schah, Zar und Armeniern erließ er am 23. September 1687 ein Oktroi für die
Armenische Handelskompagnie, und 1690 kam der Rohseideverkehr auf der Moskau-Novgorod-Narva-Route nach Amsterdam tatsächlich in Gang. Bis zum Beginn
des großen Nordischen Krieges 1700 fungierte Russland nun für ein Jahrzehnt in
der Tat als „Magazin der Handlung zwischen Asien und Europa“. 66 Von größerer
Bedeutung als die Realien dieses Warenverkehrs war jedoch die Übernahme der
61
62
63
64
O. A.: Oförgripeliget project på huadh sätt krigh emott Ryßland ståår at föra, f. 320 r.
Lillienhoff: Oförgripelige relation til dhet höglåfvelige konungzl. commerciae-collegium, S. 202.
Ebd.
Lillienhoff-Kommerzkollegium, Moskau, 21. Juni 1674. In: RAS, Kommerskollegium, E VI a,
vol. 345, f. 200 v.
65 Kotilaine, J. T.: Riga’s Trade with its Muscovite Hinterland in the Seventeenth Century. In: Journal of
Baltic Studies 30 (1999), S. 129–161; Troebst, Stefan: Stockholm und Riga als „Handelsconcurrentinnen“ Archangel’sks? Zum merkantilen Hintergrund schwedischer Großmachtpolitik 1650–1700.
In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 48 (1993), S. 259–294, hier S. 274–294.
66 Troebst: Die Kaspi-Volga-Ostseeroute, S. 164–176.
Russland als „Magazin der Handlung zwischen Asien und Europa“?
85
Persienkomponente des schwedischen „Derivationsprogramms“ durch den neuen Zaren Peter I. Neben seiner merkantil begründeten expansiven Ostseepolitik betrieb er
mit ähnlicher Intensität im Kaukasus-Kaspi-Raum eine Expansionspolitik, die auf
die Kontrolle des gesamten Produktionsgebiets für persische Rohseide zielte. Zwar
scheiterte auch er an dem Versuch, „Rußland zum Mittler des Handels zwischen
Asien und Europa zu erheben“, wie Walther Mediger in Anlehnung an Lillienhoff
formuliert hat, doch wurden im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts kontinuierlich
ca. 10 % der jährlichen Ausfuhr persischer Rohseide über die jetzt vollständig russisch kontrollierte Kaspi-Volga-Ostseeroute abgewickelt. Das von Krone, Reichsrat
und Handelsexperten Schwedens so viele Jahrzehnte ventilierte und immer wieder
in Angriff genommene Projekt einer „Derivation“ des Ost-West-Handels in die baltisches Provinzen des Ostseereiches war also mitnichten bloß „a favourite pipedream
of Swedish statesmen“ (Michael Roberts), sondern – so das Ergebnis der neueren
Forschung von Artur Attman bis Jarmo T. Kotilaine – vollauf realitätstauglich.
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Balcanica
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„Hochverehrter Meister und Genosse!“
Karl Kautsky und die sozialistische Bewegung
in Bulgarien (1887–1934)
[1990]
Der Kenntnisstand zu Karl Kautskys Verbindungen nach Südosteuropa hat 1986
eine deutliche Verbesserung erfahren, und dies durch das Erscheinen einer umfangreichen Edition von Kautskys Korrespondenz mit südosteuropäischen Sozialisten 1
sowie durch einen längeren Artikel über die Verbindung Kautskys mit dem bulgarischen Sozialisten Janko Sakăzov aus der Feder des italienischen Bulgarienhistorikers
Armando Pitassio. 2 Beide Publikationen machen deutlich, dass Kautskys Blick auf
den Balkan ein gänzlich anderer war als derjenige von Karl Marx und vor allem von
Friedrich Engels. 3 Die gegenwartsbezogenen weltpolitischen Analysen von Engels,
nicht minder diejenigen von Marx, kreisten bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts hinein vor allem um das von ihnen als Hort der Reaktion ausgemachte
zaristische Russland und dessen unter panslavisch-orthodoxem Vorzeichen betriebene Orient- bzw. Europapolitik. Dies führte sie gleichsam zwangsläufig zu einer
negativen Beurteilung der politischen Rolle der neuen orthodoxen Nationalstaaten
Griechenland und Rumänien, vor allem aber der neuen südslavischen Staaten Montenegro, Serbien, Bulgarien und Ostrumelien. „Nun können Sie mich fragen“, so
Engels 1882 an Kautsky, „ob ich denn gar keine Sympathie habe für die kleinen slawischen Völker und Volkstrümmer [. . . ]? In der Tat, verdammt wenig.“ 4 Und weiter:
„Erst wenn durch den Zusammenbruch des Zarentums die nationalen Bestrebungen
1
2
3
4
Karl Kautsky und die Sozialdemokratie Südosteuropas. Korrespondenz 1883–1938, hrsg. v. Georges
Haupt, Janos Jemnitz u. Leo van Rossum, Frankfurt /M., New York, NY, 1986 (= Quellen und Studien
zur Sozialgeschichte, Bd. 5) (im Folgenden: Korrespondenz). In einem hier wiedergegebenen Brief
an Kautsky vom 8. Oktober 1909 verwendete der bulgarische Sozialist Georgi Kirkov die Anrede
„Hochverehrter Meister und Genosse!“ (Dok. Nr. 24, S. 118).
Armando Pitassio, „Janko Sakazov e Karl Kautsky. Un socialista balcanico di fronte al papa rosso“,
Annali del Dipartimento di Studi dell’Europa Orientale. Sezione storico-politico IV–V (1982–1983)
[Napoli 1986], S. 269–327.
France Klopčič, „Friedrich Engels und Karl Marx über die ‚geschichtslosen‘ slawischen Nationen
1847–1895“, in: Internationale Tagung der Historiker der Arbeiterbewegung. Sonderkonferenz „Marxismus und Geschichtswissenschaft“. Linz, 6. bis 9. Jänner 1983, bearb. v. Brigitte Galanda, Wien
1984, S. 217–249, sowie für die Jahrhundertmitte die monographieartige Untersuchung von Roman
Rosdolsky, „Friedrich Engels und das Problem der ‚Geschichtslosen Völker‘ (Die Nationalitätenfrage
in der Revolution 1848/49 im Lichte der ‚Neuen Rheinischen Zeitung‘)“, Archiv für Sozialgeschichte
(1964), S. 87–276. Der Aufsatz von Donko Dočev, „Fridrih Engels za Bălgarija i bălgarite“, Istoričeski pregled 44 (1988), H. 10. S. 66–76, geht trotz seines Titels auf die hier interessierenden
Zusammenhänge nicht ein.
Engels an Karl Kautsky in Zürich, London, 7. Februar 1882, Dok. Nr. 57, in: Karl Marx, Friedrich
Engels, Werke (im Folgenden MEW), Bd. 35, Berlin (Ost) 1973, S. 269–273, hier S. 272.
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Balcanica
dieser Völkerknirpse von der Verquickung mit panslawistischen Weltherrschaftstendenzen befreit sind, erst dann können wir sie frei gewähren lassen.“ 5 Und an Eduard
Bernstein schrieb Engels im gleichen Jahr:
Haben Sie übrigens so viel Sympathie mit den Naturvölkchen, wie Sie wollen [. . . ], aber
Handlanger des Zarentums sind und bleiben sie [. . . ]. Und wenn aus dem Aufstand dieser
Burschen ein Weltkrieg zu entbrennen droht, der uns unsre ganze revolutionäre Situation
verdirbt, so müssen sie und ihr Recht auf Viehraub den Interessen des europäischen Proletariat ohne Gnade geopfert werden. 6
Trotz dieser politischen Begründung schimmert in vielen Äußerungen Engels’ eine
höchst unpolitische Aversion gegen „alle diese interessanten Natiönchen“ 7 bzw. „die
lausigen Balkanvölker“ 8 durch. Dies gilt zuvörderst und in ganz besonderem Maße
für Bulgarien und die Bulgaren. Bei der Begründung seiner diesbezüglichen Aversion
führte der eine der beiden Gründerväter des Marxismus Argumente an, die ob ihrer
Simplizität, ja Primitivität, nur schwer mit seinem übrigen Œuvre in Verbindung zu
bringen sind. Die Lektüre der Sammlung bulgarischer Volkslieder von Alphonse de
Lamartine entlockte ihm in dem obengenannten Brief an Kautsky den Ausruf „Wo in
der Welt finden Sie ein solches Sauvolk wieder?“ 9 Im selben Brief wird jedoch deutlich, was das Gegenstück von Engels’ Antipathie gegen die Bulgaren war, nämlich
die gleichsam zwangsläufig aus seiner Russophobie resultierende Sympathie für das
Osmanische Reich. Denn weiter heißt es in dem Brief:
Allerdings räumen die biedern Bulgaren jetzt in Bulgarien und Ostrumelien mit den Türken
rasch auf, indem sie sie totschlagen, vertreiben und ihnen die Häuser überm Kopf anzünden.
Wären die Türken ebenso verfahren statt ihnen mehr Selbstregierung und weniger Steuern
zu lassen als sie jetzt haben, so wäre die ganze Bulgarenfrage aus der Welt. 10
Dabei handelte es sich mitnichten um situationsbedingte, einmalige Ausrutscher,
sondern um einen basso continuo in Engels’ Briefen und Schriften der achtziger
Jahre. 1885 etwa ist in einem Brief an August Bebel von „elenden Trümmerstücken
ehemaliger Nationen“, nämlich „Serben, Bulgaren, Griechen und anderem Räubergesindel“, bzw. von „Zwergstämmen“, die Rede, die „sich einander die Luft nicht
gönnen, die sie einatmen, und sich untereinander die gierigen Hälse abschneiden“. 11
Zwar soll Engels einer vagen Quelle zufolge in den neunziger Jahren eine gemäßigtere Haltung gegenüber Bulgarien eingenommen haben, ja 1893, zwei Jahre vor
5
6
Ibid.
Engels an Eduard Bernstein in Zürich, London, 22.–25. Februar 1882, ibid., Dok. Nr. 60, S. 278–285,
hier S. 281–282.
7 Ibid., S. 279
8 Engels an August Bebel in Berlin, London, 17. November 1885, MEW, Bd. 36, Berlin (Ost) 1967,
S. 391–391, hier S. 391.
9 Engels an Eduard Bernstein in Zürich, London, 22.–25. Februar 1882, MEW, Bd. 35, Berlin (Ost)
1973, S. 269–273, hier S. 282.
10 Ibid.
11 Engels an August Bebel in Berlin, London, 17. November 1885, MEW, Bd. 36, Berlin (Ost) 1967,
S. 390–391, hier S. 390.
„Hochverehrter Meister und Genosse!“
91
seinem Tode, noch mit dem Erlernen der bulgarischen Sprache begonnen haben 12,
doch blieben seine obengenannten Ansichten bis weit in die neunziger Jahre hinein
Gemeingut in der deutschen Sozialdemokratie. Aus dem Jahre 1897 stammt Wilhelm Liebknechts bekanntes Wort von der „albernen Sentimentalität, die – um mich
in Marx’ Worten auszudrücken – in jedem Hammeldieb, der mit Türken in Streit
gerät, eine, unterdrückte Nationalität erblickt und bemitleidet [. . . ].“ 13
Vor diesem Hintergrund also sind die gänzlich neuen Analysen der politischen
Verhältnisse in Ost- und Südosteuropa zu sehen, die von führenden SPD-Mitgliedern wie Rosa Luxemburg, Eduard Bernstein, Hermann Wendel und vor allem Karl
Kautsky gegen den massiven Widerstand der sozialdemokratischen „Orientspezialisten“ mit Wilhelm Liebknecht an der Spitze im Laufe der neunziger Jahre angestellt
wurden. 14 Mit dem Beginn des neuen Jahrhunderts war dann dieser Wandel vollzogen. In seinem Aufsatz „Die Slaven und die Revolution“ von 1902 schrieb Kautsky:
„Heute scheint es, daß die Slaven nicht nur in die Reihen der revolutionären Nationen
eingetreten sind, sondern daß das Schwergewicht des revolutionären Denkens und
Handelns immer mehr zu den Slaven rückt.“ 15 Eines der großen Verdienste Kautskys,
so sahen es die Sozialisten Bulgariens, war die durch ihn erfolgte Rehabilitierung der
slavischsprachigen Nationen, darunter natürlich auch die ihrer eigenen. Aus der Perspektive der Sozialisten in Südosteuropa, ja eigentlich derjenigen in ganz Europa,
war die Sozialdemokratische Partei Deutschlands unter den seit 1889 in der Zweiten
Internationale zusammengeschlossenen sozialistischen Parteien Europas unbestritten die „Führungspartei“ bzw. parti guide, wie Georges Haupt so treffend formuliert
12 Joseph Rothschild, The Communist Party of Bulgaria. Origins and Development, 1883–1936, New
York, NY, 1959, S. 206–208, unter Berufung auf den schwer zugänglichen Artikel „Dva pis’ma Fridricha Engel’sa k Bolgaram“, Letopisi marksizma (Leningrad) I (1926), S. 73–77.
13 Wilhelm Liebknecht, „Kreta und die Sozialdemokratie“, Vorwärts, 14. Jg. Nr. 58 v. 10. März 1897,
S. 1–2, hier S. 1 S. hierzu die Antwort von Eduard Bernstein, „Kreta und die russische Gefahr“, Die
Neue Zeit 15 (1896–1897), Bd. 2, Nr. 27, S. 10–20. Ähnlich hatte sich W. Liebknecht bereits in seiner
Broschüre Zur Orientalischen Frage oder soll Europa kosakisch werden?, o. O. 1878, geäußert.
14 Vgl. etwa die aufschlussreiche Polemik R. Luxemburgs gegen Vorwärts-Chefredakteur W. Liebknecht, der sie „aus der orientalischen Frage ausgewiesen [. . . ] hat“, in: Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1, Erster Halbbd.: 1893 bis 1905, Berlin (Ost) 1974, S. 57–68 („Die nationalen
Kämpfe in der Türkei und die Sozialdemokratie“) und S. 69–73 („Zur Orientpolitik des ‚Vorwärts‘“
[Zitat auf S. 69]). Zu H. Wendel s. Roswitha Bauer, Hermann Wendel als Südosteuropapublizist, Neuried 1985; und den ausgezeichneten Überblick „Die Zweite Internationale und die nationale Frage“
bei Antje Helmstaedt, Die Kommunistische Balkanföderation im Rahmen der sowjetrussischen Balkanpolitik zu Beginn der zwanziger Jahre, Phil .Diss. Freie Universität Berlin, 2 Halbbde., Berlin
(West) 1978, S. 126–149. – Bernsteins Ansichten in Bezug auf Südosteuropa im Allgemeinen und
auf den zentralbalkanischen Konfliktknoten der Makedonischen Frage sind m. W. noch nirgends zusammenhängend dargestellt worden. Vgl. dazu Eduard Bernstein, „Zur macedonischen Frage I.“,
Vorwärts, 20. Jg., Nr. 50 v. 28. Februar 1903, S. 1.; ders., „Zur macedonischen Frage II (Schluß)“,
ibid., Nr. 52 v. 3. März 1903, S. 1; sowie als Auslöser die Zuschrift ibid., Nr. 47 v. 25. Februar 1903).
15 Karl Kautsky, „Die Slaven und die Revolution“, März-Festschrift, Wien 1902 (Erschienen erstmals
in Iskra Nr. 18 v. 10. März 1902).
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Balcanica
und wohl begründet hat. 16 Die SPD übte vor allem in Bezug auf die sozialistischen
Parteien in Bulgarien eine gewaltige Anziehungskraft und Vorbildfunktion aus. Der
wichtigste Transmissionsriemen hierbei war die Person Karl Kautskys, das wichtigste Medium das von diesem redigierte theoretische Organ der SPD, Die Neue Zeit.
Diese Wochenschrift, die Kautsky von 1883 bis 1917 in alleiniger Verantwortung
herausgab, stellte zugleich das übernationale Diskussionsforum des Internationalen
Sozialistischen Büros, also der ständigen Vertretung der Zweiten Internationale, dar.
Und Kautsky war es auch, der Bulgaren und anderen Südosteuropäern die Spalten
der Neuen Zeit in großzügiger Weise als Forum für Diskussion und Selbstdarstellung
zur Verfügung stellte.
Karl Kautsky (1854–1938) war ein Intellektueller bürgerlicher Herkunft, dem innerhalb der deutschen Sozialdemokratie das „Deutungsmonopol für den Marxismus“
und damit die Funktion des „Chefideologen“ zukam. 17 Der Umstand, dass Kautsky
den Prototyp des „Parteiintellektuellen“ schlechthin darstellte, bietet möglicherweise
die Erklärung für die Affinität, die namhafte bulgarische Sozialisten ihm gegenüber
an den Tag legten. Denn die bulgarischen sozialistischen Parteien waren ja im Kern
bis weit nach der Jahrhundertwende Zusammenschlüsse von Intellektuellen, da die
Industrialisierung im Lande und damit auch das Entstehen einer Arbeiterschaft nur
langsam und stockend voranging. In diesem Zusammenhang sei das aus südosteuropäischer Perspektive zweite große Verdienst Kautskys erwähnt, nämlich seine Rolle
als Vermittler Marx’schen Denkens. „Durch seine Erläuterungen“, so der serbische
Sozialist Živko Topalović, „und nicht aus den Originalquellen haben die Gründer der
modernen sozialistischen Bewegung in allen Balkanstaaten den Marxismus kennengelernt.“ 18
Das bereits erwähnte Abgehobensein der bulgarischen Sozialisten von der mikroskopisch kleinen Arbeiterschaft wird gemeinhin als Grund für Sektierertum und
ständige Spaltungen angesehen. Zwar vereinigten sich die beiden 1891 und 1892
gegründeten sozialdemokratischen bulgarischen Parteien 1894 zur Bulgarischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, doch führten seit 1899 schwelende Differenzen
über Fragen der Bündnispolitik 1903 zur neuerlichen, diesmal endgültigen Spaltung
16 Georges Haupt, „‚Führungspartei‘? Die Ausstrahlung der deutschen Sozialdemokratie auf den Südosten Europas zur Zeit der Zweiten Internationale“, Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz
zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (im Folgenden: IWK) 15 (1979), S. 1–30.
17 Dieter Schuster, „Kautsky“, in: Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende
Enzyklopädie, Bd. III. Ideologie bis Leistung, Freiburg, Basel, Wien 1969, Spp. 596–609; Marek
Waldenberg, Wzlot i upadek Karola Kautskyego. Studium z historii myśli społeczniej i polityczniej, 2 Bde., Kraków 1972; sowie Massimo L. Salvadori, Sozialismus und Demokratie. Karl Kautsky
1880–1938, Stuttgart 1982. Zum aktuellen Stand der Kautsky-Forschung vgl. Ursula Ratz, „Perspektiven über Karl Kautsky. Neuerscheinungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung anläßlich
des 50. Todestages des ‚Chefideologen‘“, Neue politische Literatur 33 (1988), S. 7–24, und Inge
Marßolek, „‚Karl Kautskys Bedeutung in der Geschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung‘. Ein
Tagungsbericht“, IWK 25 (1989), S. 96–103.
18 Živko Topalović, „Mein geistiger Vater“, in: Ein Leben für den Sozialismus. Erinnerungen an Karl
Kautsky, hrsg. v. Benedikt Kautsky, Hannover 1964, S. 76.
„Hochverehrter Meister und Genosse!“
93
in sogenannte „enge“ und „breite Sozialisten“. Die Spaltung stand dabei in keinem
Zusammenhang mit der zeitgleichen Spaltung der russischen Sozialdemokratie in
Bol’ševiki und Men’ševiki, denn dort zerstritt man sich über die Frage der Parteiorganisation – zentralistisch oder nicht –, nicht über Bündnisfragen. Folglich gab es
auch keine wie auch immer geartete ideologische Affinität zwischen bulgarischen
„engen Sozialisten“ und russischen Bol’ševiki bzw. zwischen bulgarischen „breiten
Sozialisten“ und russischen Men’ševiki. 19 Die bulgarischen Sozialisten beider Couleur betrachteten die SPD als ihr Identifikationsobjekt, orientierten sich also weder
an Vladimir I. Lenin noch an Julij O. Martov. Dimităr Blagoev, der Führer der Engen,
wies 1910 diesbezügliche Behauptungen Lev D. Trockijs explizit zurück:
Unsere Partei entwickelte und entwickelt sich nicht unter Einfluß der russischen Partei,
sondern unter Einfluß der deutschen. Nicht die [bol’ševistische Parteizeitung] Iskra, sondern die Neue Zeit und die deutschen sozialistischen Gedanken bilden einen, lebendigen
Begriff’ für sie. 20
Natürlich ist es auch kein Zufall, dass Blagoev das 1897 gegründete theoretische Organ seiner Partei in Anlehnung an sein Vorbild Kautsky Novo vreme, „Neue Zeit“,
nannte – ein Name, den das theoretische Organ der Bulgarischen Kommunistischen
Partei noch heute trägt.
In Bulgarien galt Kautsky als einziger legitimer Erbe bzw. Verwalter des Erbes
von Marx und Engels, und daher war er der mit Abstand am häufigsten ins Bulgarische übersetzte sozialistische Autor. Zwischen 1880 und 1916 erschienen auf
Bulgarisch 51 Broschüren und Bücher von Kautsky, während Marx selbst nur 21-mal
und Engels 17-mal übersetzt wurden. 21 Hinzu kam eine große Zahl von KautskyÜbersetzungen in Form von Aufsätzen in der sozialistischen Presse. 22 Bulgarien
war, wie Georges Haupt schreibt, hinsichtlich der sozialistischen Publikationstätigkeit ein „Sonderfall“: „Bulgarien steht weit an der Spitze [. . . ]: Hier gehören die
sozialistischen Publikationen, die sich durch eine große Vielfalt auszeichnen, zur
Volkskultur.“ 23 Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang auch, dass
fast jeder im öffentlichen Leben des Landes Tätige, egal welcher politischer Richtung, irgendwann in seinem Leben einmal als Sozialist begonnen hat, der Sozialismus
19 Vg. hierzu Leo van Rossum, „Einleitung“, in: Korrespondenz, S. 13–58, hier S. 52 und bes. Anm. 135.
20 Dimităr Blagoev, „Statijata na dr. Trocki“, Rabotničeski vestnik v. 7. September 1910 (Zit. nach van
Rossum, „Einleitung“, S. 18). Gemeint ist ein Artikel Lev D. Trockijs, in dem er unter anderem auf
die Geschichte der bulgarischen Engen einging und der später auch auf Deutsch veröffentlicht wurde:
N. Trotzky, „In den Balkanländern“, Der Kampf 4 (1910–1911), Nr. 2. v. 1. 11. 1910, S. 68–74. – Zu
den Beziehungen der bulgarischen Sozialisten zur Zweiten Internationale 1889–1912 s. die detaillierten annotierten bibliographischen Beiträge von Živka Kăneva-Damjanova in Izvestija na instituta
po istorija na BKP 47 (1987), S. 297–321; 58 (1987), S. 251–289; und 59 (1988), S. 236–270.
21 G. Haupt, „‚Führungspartei‘“?, Tab. 5, S. 20.
22 Els Wagenaar, „Bibliographie der Arbeiten K. Kautsky, veröffentlicht in Südosteuropa“, Korrespondenz, S. 572–602; Le Mouvement ouvrier bulgare. Publications socialistes bulgares 1882–1918.
Essai bibliographique, hrsg. v. Georges Haupt [et al.]. Paris 1984.
23 G. Haupt, „‚Führungspartei‘“?, S. 16.
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hier als eine Art unvermeidliche – und somit entschuldbare – Kinderkrankheit auf
der politischen Karriereleiter zu betrachten ist, woraus folgt, dass die große Mehrzahl der Angehörigen der politischen Eliten des Landes mehr oder weniger enge
Bekanntschaft mit den Schriften Kautskys gemacht hat.
Wie überragend und alles dominierend der politische, ideologische und vor allem
persönliche Einfluss von Kautsky auf sämtliche Spektren der sozialistischen Bewegung Bulgariens – und zwar ungeachtet ihrer Spaltungen – gewesen ist, mag ein
Beispiel erläutern: Auf der 10. Sitzung des Internationalen Sozialistischen Büros am
11. Oktober 1908 in Brüssel kam es über die Frage der Zulassung der britischen
Labour Party zur Zweiten Internationale zu einer im Grunde geringfügigen Meinungsverschiedenheit zwischen Kautsky und Lenin, im Zuge derer sich der Vertreter
der bulgarischen Engen, Stefan Avramov, der Meinung Lenins anschloss. Bezeichnend war die Reaktion Blagoevs, der Avramov brieflich Folgendes vorhielt:
Begreifst Du eigentlich, was Du getan hast? Wie hast Du Dich so hinreißen lassen können,
daß Du mit Lenin gegen Kautsky gestimmt hast? Wer bist Du denn, im Vergleich zu Kautsky? Ich habe Dich immer als einen jungen talentierten Menschen gekannt, bescheiden und
eifrig. Jetzt sieht man das Resultat. Du denkst genau wie alle Andern unserer jungen Garde, die nach Europa gingen: Du bildest Dir ein, daß Du es selbst mit Kautsky aufnehmen
kannst. 24
Und Avramov selbst schrieb ein Jahr später in einem Brief:
Sie haben gesehen, daß ich im Oktober 1908 gegen mich selber als orthodoxen Marxisten
gesprochen und gestimmt habe! Gegen Kautsky! Vielleicht bin ich verrückt – ich weiß es
nicht! 25
Allerdings wäre es falsch anzunehmen, der Einfluss Kautskys als Vertreter des „faktischen sozialdemokratischen Imperialismus in der Zweiten Internationale“ (Hans
Mommsen 26) sei konstant und allgegenwärtig gewesen. Zwar wurden Schriften und
Person Kautskys von beiden verfeindeten sozialistischen Parteien Bulgariens als Bibel und Argumentsteinbruch bzw. Klageinstanz ständig benutzt, doch suchte sich
jede Seite nur die für sie passenden Versatzstücke heraus. Und natürlich sah man mit
dem Sinken von Kautskys Stern im Laufe des Ersten Weltkriegs den „hochverehrten
Meister und Genossen“ in zunehmend realistischerem Licht.
Die Themen, die die Auseinandersetzungen zwischen Engen und Breiten nach
der Spaltung von 1903 vornehmlich bestimmten und bei denen sich beide Seiten
ständig auf Kautsky als Kronzeugen beriefen, waren zum einen die Agrarfrage, die
zugleich die Frage nach der Haltung gegenüber dem sich 1899 formierenden Bulgarischen Nationalen Bauernbund beinhaltete, sowie die nationale Frage, hier vor
24 Ico Samuilov, „Desetata sesija na Meždunarodnoto socialističesko bjuro i partijata na tesnite socialisti“, Naučni trudove na Visšata partijna škola „Stanke Dimitrov“ pri CK na BKP. Otdel istorija 38
(1969), S. 343–378, hier S. 374.
25 Ibid.
26 Hans Mommsen, „Zum Problem der vergleichenden Behandlung nationaler Arbeiterbewegungen am
Beispiel Ost- und Südostmitteleuropas [sic!]“, IWK 15 (1979), S. 31–34, hier S. 33.
„Hochverehrter Meister und Genosse!“
95
allem das makedonische Problem. 1899 hatte Kautsky sein voluminöses Buch Die
Agrarfrage 27 veröffentlicht, welches Janko Sakăzov, der spätere Führer der Breiten
und Vertraute Kautskys, mit einer Mischung aus Enttäuschung und Optimismus als
ein Werk bezeichnete, „welches nicht gerade für unsere Verhältnisse geschrieben ist,
aber wo wir das Bild unserer Zukunft erblicken können.“ 28 Im selben Jahr schrieb
Kautsky ein Vorwort zu der von Sakăzov initiierten bulgarischen Übersetzung der
Agrarfrage 29, wo er diesem wichtige Argumente lieferte. Zwar seien die meisten seiner anhand der deutschen bzw. preußischen Verhältnisse gewonnenen Erkenntnisse in
diesem Buch nicht auf andere, zumal unterentwickelte Länder übertragbar, so Kautsky, doch müsse „der Schutz der Landbevölkerung vor Militarismus und vor dem
Steuersystem“ ein Anliegen der Sozialisten aller Länder sein. 30 Und in denjenigen
unterentwickelten Ländern, in denen das zahlenmäßig schwache städtische Proletariat und die mit ihm verbündete Intelligenzija „genügend stark sind, um eine kräftige
Sozialdemokratie – oder auch nur eine Demokratie – zu bilden, kann man daran denken, um den Kern dieses politischen und sozialen Forschrittheeres herum die Bauern
als Hilfstruppen zu gruppieren.“ 31 Die Frage eines Bündnisses mit dem sich politisch organisierenden Bauerntum bildete den Hauptstreitpunkt in der bulgarischen
sozialistischen Partei seit 1899 und führte direkt in die Spaltung von 1903. 32 Der mit
dem Schlagwort „gemeinsame Sache“ (obšto delo), nämlich mit den Bauern, aber
auch mit Handwerkern, Industriellen und Kaufleuten, operierende Parteiflügel um
Sakăzov konnte sich bei seiner Forderung nach Zusammenarbeit aller sogenannten
„produktiven Kräfte“ nun also explizit auf Kautsky berufen. 33 Die Engen hingegen bemühten sich, diesen Vorteil der Breiten durch andere Mittel wettzumachen:
„Die ‚Schirokite‘“, also die Breiten, „sind eine kleinbürgerliche Partei von Strebern,
Demagogen und Übermenschen“, schrieb das Führungsmitglied der Engen, Georgi
Kirkov, an Kautsky nach Berlin 34, und Blagoev berichtete ihm gar, diese seien „eine
im vulgärsten Sinne [sich] als radikal gebärdende kleinbürgerliche Gruppe von Intelligenten.“ 35
27 Karl Kautsky, Die Agrarfrage. Eine Übersicht über die Tendenzen der modernen Landwirtschaft und
die Agrarpolitik der Sozialdemokratie, Stuttgart 1899.
28 J. Sakazov an K. Kautsky, Sofija, 12. Februar 1899, Korrespondenz, Dok. Nr. 5, S. 85–88, hier S. 87.
29 Karl Kaucki, „Pregovor kam bălgarskoto izdanie“, in: ders., Zemedelčeskata politika na socialnata
demokracija, Sofija 1900, S. 7–10 (dt. Rückübers. in Korrespondenz, Anhang A, S. 615–617).
30 Ibid., S. 615.
31 Ibid., S. 617.
32 Vgl. hierzu Armando Pitassio, „La socialdemocrazia Bulgara e la questione agraria (1883–1904)“,
Annali della facolta di scienze politiche (Perugia) 18 (1981–1982), S. 35–52 (= Materiali di storia,
Bd. 6), sowie Frederick Chary, „Agrarians, Radicals, Socialists, and the Bulgarian Peasantry: 1899–
1905“, The Peasantry of Eastern Europe, vol. I: Roots of Rural Transformation, ed. by Ivan Volgyes,
New York, NY u. a.] 1979, S. 35–55, hier bes. S. 38–42.
33 1900 gründete J. Sakăzov die gleichnamige Zeitung Obšto delo, von der sich auch die Bezeichnung
obštodelci als Synonym für Breite ableitete. Vgl. dazu Pitassio, „Janko Sakazov“, S. 274–294.
34 G. Kirkov an K. Kautsky, Sofija, 5. November 1909, Korrespondenz, Dok. Nr. 26, S. 121.
35 D. Blagoev an K. Kautsky, Sofija, 8./21. Februar 1910, Korrespondenz, Dok. Nr. 29, S. 127–129, hier
S. 127.
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Balcanica
Doch auch die Engen hatten Gelegenheit, sich gegenüber den Breiten auf Kautsky
zu berufen. 1908 hatte dieser auf Anraten Blagoevs einen Artikel über „Die nationalen Aufgaben der Sozialisten unter den Balkanslawen“ veröffentlicht 36, der zum
Auslöser der sozialistischen Diskussion über eine Balkanföderation werden sollte.
Kautsky leitete seine Gedanken mit einer Analyse der Situation und der Aufgaben
der südosteuropäischen sozialdemokratischen Parteien ein, und ging dann zum eigentlichen Problem über:
Die Lage der Sozialisten in einem ökonomisch unterentwickelten Lande, in dem der proletarische Klassenkampf noch eine geringe Rolle spielt, ist keine einfache. Natürlich müssen
sie hier wie überall die Interessen des Proletariats in erster Linie aufs energischste vertreten.
Aber ist diese Klasse nur in embryonalem Zustande vorhanden, dann besteht die Aufgabe
der Sozialisten mehr darin, ihre künftigen, als ihre augenblicklichen Interessen zu verfechten; weniger darin, den Klassenkampf zu führen, als darin, den Boden für ihn vorzubereiten.
Dazu gehört auch das Streben nach voller Unabhängigkeit der Nation. Ohne solche Unabhängigkeit kann der proletarische Klassenkampf nicht seine volle Kraft entfalten. [. . . ] Es
gibt nur einen Weg, die bulgarische Nation vollständig zu einigen, die Bulgaren Mazedoniens mit ihren Brüdern zu vereinigen, ohne äußere Hilfe für Bulgarien und ohne ewiges
Zerwürfnis mit Serben, Griechen, Türken, und das ist die Vereinigung aller Nationen der
Balkanhalbinsel in einer Föderativrepublik. 37
Dem hielt Sakăzov im Namen der Breiten, deren patriotische Kehrtwende von 1915
sich hier bereits andeutete, entgegen, die Idee einer Balkanföderation sei „eine Fata
Morgana“ 38, die dringend der Revision bedürfe. 39 Überdies sei sie überflüssig, denn
[d]ie tatsächliche Entwicklung in Südosteuropa untergräbt alle diese Rassenfiktionen und
nationalistischen Ideologien und macht Platz einer anderen, sozialistischen Staatsidee, deren Formen noch nicht zu bestimmen sind, deren Inhalt aber die Annäherung und die
Verbrüderung aller Völker auch im Südosten Europas sein wird. 40
Mit anderen Worten: Die nahende sozialistische Weltrevolution mache eine demokratische Balkanföderation überflüssig. Dem widersprach unter Berufung auf Kautsky
und in dessen Organ Die Neue Zeit Blagoevs Mitarbeiter Christo Kabakčiev:
Solange aber die Politik der Balkanstaaten eine dynastische bleibt, solange die Bourgeoisien dieser Staaten in chauvinistischem Nationalismus und Militarismus ihr Heil suchen,
kann es auf dem Balkan nicht zu Ruhe, Frieden und Unabhängigkeit kommen. Zu deren Er-
36 Karl Kautsky, „Die nationalen Aufgaben der Sozialisten unter den Balkanslawen“, Der Kampf, 2. Jg.,
Nr. 3 v. 1. Dezember 1908, S. 105–110 (hier zit. nach dem Wiederabdruck in Korrespondenz, Anhang C, S. 621–626).
37 Ibid., S. 621–622.
38 Janko Sakasoff, „Neoslawismus, Balkanföderalismus und Sozialdemokratie“, Der Kampf 4. Jg.,
Nr. 5 v. 1. Februar 1911, S. 209–214, hier S. 212.
39 Ibid., S. 214.
40 Ibid.
„Hochverehrter Meister und Genosse!“
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reichung führt nur ein Weg, jener, den das klassenbewußte Proletariat des Balkans betreten
will, der Weg der demokratischen Föderation der Balkannationen. 41
Mit anderen Worten: Kautsky optierte für die Bildung von ethnisch weitgehend homogenen Nationalstaaten, die sich in einem zweiten Schritt zu einem Bundesstaat
formieren sollten, wobei seiner Meinung nach die osmanische Region Makedonien
künftig dem sich kurz zuvor als unabhängig von der Hohen Pforte erklärten und seit
1885 um Ostrumelien erweiterten Bulgarien zugeschlagen werden sollte – eine Ansicht, welche zwar die große Mehrheit der politischen Klasse dieses Fürstentums
(bzw. jetzt: Königreichs) einschließlich der Engsozialisten, nicht hingegen die Breitsozialisten teilte.
Zwar fiel die erhöhte Interaktivität zwischen Kautsky und bulgarischen Sozialisten unterschiedlicher Couleur in den Zeitraum 1899–1915, doch ist ein erster
Kontakt bereits für das Jahr 1887 nachgewiesen. Damals schrieb Spiro Gulabčev,
der Gründer der genuin bulgarischen Siromachomilstvo-Ideologie, ein Konglomerat aus Sozialismus und Anarchismus, das dann vom Marxismus verdrängt wurde,
an Kautsky, um Die Neue Zeit zu abonnieren. 42 Das Jahr 1890 war dann der Beginn einer langjährigen Freundschaft zwischen Kautsky und Sakăzov, welche bis
zum Beginn der 1930er-Jahre anhielt. Erste Trübungen erfuhr diese Freundschaft,
wie gesagt, im Zuge der Debatte über die Balkanföderation ab 1908. 43 In dieser Zeit
löste der besagte Kirkov Sakăzov in seiner Funktion als Kautskys Hauptinformant
in und über Bulgarien ab. Aber auch die Engen gingen bald zu Kautsky auf Distanz.
Im Juli 1915 übte ihr Führer Blagoev offen Kritik an ihm, indem er ihm angesichts
des Weltkriegs Tatenlosigkeit vorwarf. 44 Kurz vor dem endgültigen Bruch der Engen mit Kautsky im Sommer 1917 schrieb ihm Kirkov einen Brief, in welchem es
in später Selbsterkenntnis hieß: „Es scheint, daß unsere Vorstellungen – die Vorstellungen der Sozialdemokraten der kleineren noch unterentwickelten Länder – von der
Sozialdemokratie Deutschlands sehr übertrieben waren [. . . ].“ 45
Während die 1919 gegründete, aus den Engen hervorgegangene Bulgarische
Kommunistische Partei Kautsky nicht mehr zu ihren Autoritäten rechnete, verbes-
41 Christo Kabaktschieff, „Fürstenbund oder Balkanrepublik?“, Die Neue Zeit 31 (1912–1913), Bd. I,
Nr. 9, S. 311–320, hier S. 313.
42 S. hierzu Stefan Troebst, „Anarchisten aus Bulgarien in der makedonischen national-revolutionären
Bewegung (1896–1912)“, 1300 Jahre Bulgarien. Studien aus der Bundesrepublik Deutschland und
Berlin-West zum I. Internationalen Bulgaristik-Kongreß Sofia 1981, hrgs. v. Wolfgang Gesemann et
al. Bd. I, Neuried 1981, S. 93–114, hier S. 97 u. 109.
43 Vgl. dazu Janko Sakăzovs Beitrag „Die Bedeutung der Lebensarbeit Karl Kautskys für die Entwicklung des Sozialismus in Bulgarien“, in: Karl Kautsky, dem Wahrer und Mehrer der Marx’schen Lehre
zum 70ten Geburtstage. Ein Sonderheft von Die Gesellschaft zu Karl Kautskys 70. Geburtstag, Berlin
1932 [recte: 1924] (Reprint Frankfurt /M. 1968), S. 110–113, wo es auf S. 112 heißt, „eine geradezu
feindliche Entfremdung gegenüber dem warm geliebten und bei uns allgemein verehrten Vorkämpfer
des europäischen Sozialismus“ habe sich bei einigen bulgarische Sozialisten breitgemacht.
44 G. Haupt, „‚Führungspartei‘“?, S. 30.
45 G. Kirkov an K. Kautsky, Sofija, 14. April 1917, Korrespondenz, Dok. Nr. 55, S. 171–172, hier S. 172.
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Balcanica
serte sich das Verhältnis von Sakăzovs Sozialdemokratischer Partei zu ihm neuerlich
zunehmend. 1922 schrieb ihm Sakăzov:
Sie können jetzt ruhig aufatmen nach so vielen Verleumdungen und Mißverständnissen. Sie
waren und Sie sind im Rechte. Man soll Sie nur lesen und verstehen lernen. [. . . ] Ihr Buch
[= Die Proletarische Revolution und ihr Programm, Stuttgart 1922] ist die Antwort, die
man von Ihnen von der ganzen soz. Welt erwartet hatte. 46
Zehn Jahre später jedoch, im Zuge der nationalsozialistischen Bedrohung in Deutschland, gingen die Ansichten zwischen Kautsky und den bulgarischen Sozialdemokraten wieder stark auseinander. Kautsky war gegen jede Zusammenarbeit mit der
Kommunistischen Partei, während Sakăzov wie zuvor auf „gemeinsame Sache“ bzw.
jetzt: Volksfront drängte. 47
Der letzte Briefwechsel Kautskys mit einem Bulgaren ist derjenige mit dem Makedonierfunktionär und Rechtsaußen der bulgarischen sozialdemokratischen Partei,
Petăr Džidrov 48, aus dem Winter 1933/1934, und er ist in gewisser Weise symptomatisch für Kautskys politische Entwicklung. Džidrov wandte sich an Kautsky mit der
Erwartung,
daß Sie werter Genosse Kautzky [sic!], im Stande sein werden die Idee für eine unparteiische Regierung bei den jetzigen Verhältnissen in Bulgarien und bei der herrschenden
ökonomischen Krise aufklären zu können und uns den Weg (den wirklichen Weg) zur
Transformation der Demokratie – wenn das möglich ist – zu zeigen. 49
Genau drei Monate vor dem Staatsstreich vom 19. Mai 1934 in Bulgarien, der dann
eine solche Regierung an die Macht brachte, antwortete Kautsky: Es ließe sich gegen
eine „Regierung, die nicht aus Parteihäuptern gebildet wird, sondern aus Fachleuten und Bureaukraten, die von den Parteien unabhängig sind [. . . ], principiell sicher
nichts einwenden“. 50 Das Symptomatische an dieser Antwort wie überhaupt am
Briefwechsel Kautskys mit bulgarischen Sozialisten ist, dass am Anfang, 1887, der
linksextreme, ja anarchistisch denkende Gulabčev stand, dann „bürokratische Sozialisten“ wie Sakăzov und Kirkov die Hauptkorrespondenzpartner waren, um schließlich von einem autoritär gesinnten Nationalisten wie Džidrov, der nur mit Mühe mit
46 J. Sakazov an K. Kautsky, Sofija, 16. Dezember 1922, Korrespondenz, Dok. Nr. 59, S. 177–178, hier
S. 177.
47 A. Pitassio, „Janko Sakazov“, S. 32.
48 Zur Person P. Džidrovs s. Korrespondenz, S. 193–194, zu seinen makedonienpolitischen Ansichten Petăr Džidrov, Problemăt za Makedonija, Sofija 1930, und ders., Edinstvoto v makedonskoto
dviženie, Sofija 1931, sowie zu seinen makedonienpolitischen Aktivitäten Stefan Troebst, Mussolini,
Makedonien und die Mächte 1922–1930: Die „Innere Makedonische Revolutionäre Organisation“ in
der Südosteuropapolitik des faschistischen Italien, Köln, Wien 1987, S. 106.
49 P. Džidrov an K. Kautsky, Sofija, 6. Dezember 1933, Korrespondenz, Dok. Nr. 75, S. 190–193, hier
S. 193.
50 K. Kautsky an P. Džidrov, Wien, 20. Februar 1934, Korrespondenz, Dok. Nr. 78, S. 199–200, hier
S. 199. Vgl. auch K. Kautsky an P. Džidrov, Wien, 31. Dezember 1933, Korrespondenz, Dok. Nr. 76,
S. 194–195, sowie P. Džidrov an K. Kautsky, Sofija, 3. Februar 1934, Korrespondenz, Dok. Nr. 77,
S. 196–198.
„Hochverehrter Meister und Genosse!“
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sozialdemokratischen Grundsätzen in Verbindung gebracht werden kann, abgelöst
zu werden. Der Einfluss des „roten Papstes“ Karl Kautsky, wie ihn in Anlehnung
an den zeitgenössischen Sprachgebrauch der polnische Historiker Marek Waldenberg genannt hat 51, auf die sozialistischen Bewegungen in Bulgarien hat nach seiner
Entlassung als Herausgeber der Neuen Zeit am 28. September 1917 und seit dem
Beginn einer anderen „neuen Zeit“ nur wenige Wochen später, der bol’ševistischen
Revolution in Russland, nicht mehr existiert. Die engsozialistischen Schüler Kautskys in Bulgarien wandten sich nun einem anderen „Lehrer“, nämlich Lenin, zu,
während die Breiten für ca. 15 Jahre mehr an Posten und Pfründen als am Marxismus
und seinem mittlerweile zweifelnden Verkünder Kautsky interessiert waren. Dies ist
auch der Grund dafür, dass der Name Karl Kautsky heute in Bulgarien selbst in der
Geschichtswissenschaft in Vergessenheit zu geraten droht 52, wäre da nicht der Parteihistoriker Dobrin Mičev, der mehrfach einen Leitartikel aus Blagoevs Parteizeitung
Rabotničeski vestnik vom Oktober 1914 zitiert hat, in dem es heißt:
Wie die deutsche Sozialdemokratie unserer Partei, die sich stets an der gewaltigen Erfahrung und an dem großen Beispiel dieser mächtigsten sozialdemokratischen Partei der Welt
orientiert hat, als Vorbild gedient hat, so ist auch der namhafte Theoretiker der deutschen
und internationalen Sozialdemokratie, Karl Kautsky, unser bester Lehrer gewesen. 53
51 Marek Waldenberg. Il papa rosso. Karl Kautsky, Roma 1980.
52 Vgl. etwa das Standardwerk über die Beziehungen der bulgarischen Sozialisten zur SPD von Marija
Marinova, Bălgarskite marksisti i germanskoto rabotničesko dviženie 1900–1912, Sofija 1979; dies.,
„Bălgarskite marksisti i germanskoto socialdemokratičeskot dviženie prez 1903–1912 g.“, Istoričeski
pregled 24 (1968), H. 3, S. 52–57.
53 Rabotničeski vestnik Nr. 150 v. 19. Oktober 1914, zit. bei Dobrin Mičev, Georgi Dimitrov i rabotničeskoto dviženie v Germanija, Sofija 1984, S. 24. Vgl. auch ders., „Georgi Dimitrov und die
deutsche Sozialdemokratie (bis 1919)“, Bulgarian Historical Review 4 (1976), H. 1, S. 3–24, hier
S. 5.
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Makedonien als Lebensthema
Henry Noël Brailsford (1873–1958)
[2015]
Am 18. Juli 1913 schlossen die Gegner im Interallianz- bzw. Zweiten Balkankrieg,
also das unterlegene Bulgarien auf der einen und die siegreichen Nachbarn Rumänien, Serbien, Griechenland und das Osmanische Reich auf der anderen Seite,
einen Waffenstillstand. Unmittelbar danach beschloss die Leitung des 1910 von dem
US-amerikanischen Industriellen und Philanthropen Andrew Carnegie gegründeten
Carnegie Endowment for International Peace in New York die Entsendung einer internationalen Kommission auf den Kriegsschauplatz zur Untersuchung von Gründen
und Verlauf der beiden Balkankriege von 1912/1913 und 1913. Insonderheit sollte die
Kommission Massaker und Grausamkeiten, welche Kombattanten an Nicht-Kombattanten, d. h. an der Zivilbevölkerung begangen hatten, untersuchen, die Schuldigen
identifizieren sowie den wirtschaftlichen Schaden kalkulieren, welchen die Kriege
bewirkt hatten. Eine solche Kommission war sowohl für die Stiftung eine Premiere
als überhaupt die erste Unternehmung dieser Art einer Nicht-Regierungsorganisation weltweit. Ziel der „Carnegie men“ war dabei zum einen, das Endowment im
globalen Maßstab, vor allem aber im transatlantischen Bereich auf die Karte der
internationalen Beziehungen zu setzen. Und zum anderen sollte der US-amerikanischen Außenpolitik ein Professionalisierungsschub versetzt werden. 1 Beide Ziele
wurden nur sehr bedingt erreicht. Dies lag vor allem daran, dass der Bericht der
Kommission über ihre Vor-Ort-Recherchen im August und September 1913 in Serbien, Griechenland, dem Osmanischen Reich und Bulgarien nur mit großer zeitlicher
Verzögerung, im Mai 2014, erschien 2 und daher seiner potentielle Wirkung von der
Juli-Krise und dem Beginn des Ersten Weltkriegs weitgehend erstickt wurde. Hinzu
kam der Umstand, dass es sich bei dem Bericht um ein schwer lesbares Konglomerat
stark unterschiedlicher Kapitel und Dokumentenanhängen handelte.
Die personelle Zusammensetzung der achtköpfigen Kommission geht zum einen
auf ein Schneeballsystem persönlicher Bekanntschaften des konservativen Philosophen, späteren Friedensnobelpreisträgers und damaligen Präsidenten von Columbia
University und Carnegie Endowment, Nicholas Murray Butler, sowie des Leiters
1
2
Rausch, Helke: Professionalisierung als diplomatische Strategie: Das US-amerikanische Carnegie
Endowment in Europa vor 1945. In: Löhr, Isabella, Matthias Middell, Hannes Siegrist (Hrsg.): Kultur und Beruf in Europa. Stuttgart: F. Steiner, 2012, S. 217–226. Siehe auch Dies.: Internationales
Recht und Verständigungs-Internationalismus unter Druck: Politische Profile der Carnegie Men im
Umfeld des Balkanberichts von 1914. In: Comparativ 24 (2014), H. 6, S. 25–51.
Carnegie Endowment for International Peace: Report of the International Commission to Inquire into
the Causes and Conduct of the Balkan Wars. Washington, DC: Carnegie Endowment for International
Peace, 1914 (im Folgenden zitiert als Report).
Makedonien als Lebensthema
101
des Pariser Carnegie-Büros, des Diplomaten Baron Paul d’Estournelles de Constant,
zurück. 3 Zum anderen gaben persönliche Umstände der von beiden Eingeladenen
den Ausschlag, da etliche aus gesundheitlichen und anderen Gründen ihre Mitwirkung an der Kommission generell absagten oder aber an der geplanten Reise auf
den Balkan nicht teilnehmen konnten bzw. wollten. So war etwa der „special correspondent“ des Carnegie Endowment in Deutschland und Butler-Vertraute Professor
Wilhelm Paszkowski von der Berliner Universität sowohl an der Mitwirkung in
der Kommission wie an der Reiseteilnahme verhindert, schlug aber den Marburger Staats- und Völkerrechtler Walter Schücking vor. Ebenso sagte Francis Hirst,
Herausgeber des Londoner Economist, zwar seine Mitwirkung an der Kommission,
nicht aber seine Beteiligung an der Balkanreise zu, verwies jedoch diesbezüglich auf
seinen Journalistenkollegen Henry Noël Brailsford. Der gleichfalls absagende St. Petersburger Soziologe Maksim M. Kovalevskij regte erfolgreich an, den russischen
Historiker, Journalisten und Politiker Pavel N. Miljukov als Kommissionsmitglied
zu berufen. Ähnlich verhielt es sich mit dem französischen Balkanexperten Victor
Bérard, der als Ersatz den Lyoner Politiker Justin Godart vorschlug, desgleichen mit
dem sprachkundigen US-Amerikaner Pr. Price, der den in der Hilfe für armenische
und syrische Flüchtlinge aus dem Osmanischen Reich engagierten Pazifisten und
Juristen Samuel Dutton von der Columbia University in New York an seiner Statt
empfahl. 4
Das Ergebnis war eine in mehrfacher Hinsicht heterogene Gruppe was Sprachund Regionalkenntnisse, aber auch politische Einstellung und ideologische Ausrichtung betraf. Eine Folge davon war, dass die Kommissionsmitglieder nach beendeter
Kommissionsarbeit zwar, wie im Falle Godarts, Duttons und Schückings, weiterhin
Kontakt zum Carnegie Endowment, nicht aber untereinander hielten. Der Umstand,
dass die Biographien der Mehrheit der die engere Kommission bildenden Mitglieder, welche 1913 zu Fact-finding-Zwecken nach Belgrad, Thessaloniki, Istanbul und
Sofija reisten, also Godart, Miljukov, Brailsford und Dutton, als gut bis sehr gut erforscht gelten können 5, lässt diesen Schluss zu. In besonderem Umfang gilt dieser
bemerkenswerte Forschungsstand für die überaus gründliche wie kritische Biogra3
4
5
Mitglieder der Kommission waren d’Estournelles de Constant (Vorsitz), Francis Hirst, Walter
Schücking, Justin Godart, Henry N. Brailsford, Pavel N. Miljukov, Samuel Dutton und Joseph Redlich. Vgl. Akhund, Nadine: The Two Carnegie Reports: From the Balkan Expedition of 1913 to the
Albanian Trip of 1921. A Comparative Approach. In: Balkanologie. Revue d’études pluridisciplinaires 14 (2012), H. 1–2 (URL http://balkanologie.revues.org/2365, letzter Zugriff: 04. 10. 2016).
Ebd.
Vgl. zu Godart Wieviorka, Annette (dir.): Justin Godart. Un homme dans son siècle (1871–1956).
Paris: CNRS Éditions, 2004, und Bilange, François: Justin Godart. La Plaisante Sagesse Lyonnaise.
Lyon: Éditions Lyonnaises d’art et d’histoire, 2006; zu Brailsford Leventhal, F. M.: The Last Dissenter. H. N. Brailsford and His World. Oxford: Clarendon Press, 1985; und zu Miljukov Riha, Thomas:
A Russian European. Paul Miliukov in Russian Politics. Notre Dame, IN: University of Notre Dame
Press, 1969, Kirschke Stockdale, Melissa: Paul Miliukov and the Quest for a Liberal Russia 1880–
1918. Ithaca, NY: Cornell University Press, 1996, und P. N. Miljukov: Istorik, politik, diplomat. Materialy meždunarodnoj naučnoj konferencii, Moskva, 26–27 mart 1999 g. [P. N. Miljukov: Historiker,
Politiker, Diplomat. Materialien einer internationalen wissenschaftlichen Konferenz, Moskau, 26.–
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102
Balcanica
phie von Fred Leventhal über H. N. Brailsford aus dem Jahr 1985, die auch und
gerade dessen Balkaninteresse sowie seine Aufenthalte dort zwischen 1897 und 1951
umfassend berücksichtigt. 6
Hinzu kommt, dass Brailsford – gleich Miljukov – bis heute ein „Markenname“
in der Region ist. Nicht zufällig ist sein 1906 in London erschienenes Buch Macedonia. Its Races and Their Future, mit dem er sich international als MakedonienExperte etablierte, im Juni 2013, also über einhundert Jahre später, in Sofija, der
Hauptstadt Bulgariens, in bulgarischer Übersetzung glamourös präsentiert worden. 7
Dies vor allem deshalb, weil Brailsford 1906 die ostsüdslawisch sprechende christlich-orthodoxe Bevölkerungsmehrheit des osmanischen Makedonien als „Bulgaren“
klassifizierte. Von selbst versteht sich, dass die in späteren Jahrzehnten erfolgte
Wandlung Brailsfords von einem in der Makedonischen Frage pro-bulgarischen Saulus zu einem pro-makedonischen Paulus bei dieser Gelegenheit explizit unerwähnt
blieb. Denn im bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg gelangte er zu der Überzeugung,
bei den orthodoxen Slavophonen Vardar-Makedoniens handle es sich um eine eigenständige südslawische Nation der „Makedonier“. Eben dieser Deutungswechsel
macht Brailsford bis heute zu einem schwierigen Autor für Geschichtswissenschaft
und historisch interessierte Öffentlichkeit in Sofija wie in Skopje. Zu betonen ist
dabei allerdings, dass Brailsfords eigentliche Aufmerksamkeit nicht der indifferenten und häufig fluktuierenden ethnischen Zugehörigkeit der Bewohner der Region
galt, sondern vielmehr den Möglichkeiten zur Lösung des spät- und post-osmanischen Konfliktknotens Makedonien. Dabei changierten, wie noch zu zeigen sein
wird, seine Sympathien nicht nur zwischen der Hohen Pforte und dem Fürstentum Bulgarien, sondern auch zwischen autochthonen und austro-serbischen Modellen.
Sein Lebensthema Makedonien war Brailsford mitnichten bereits an der Wiege
gesungen worden. Der in Yorkshire aufgewachsene und in Schottland zur Schule
gegangene Sohn eines Methodistenpredigers profilierte sich nach Versuchen als klassischer Philologe und Romancier zunächst als Linksaußen der Labour Party sowie
als überaus einflussreicher Journalist mit einem Schwerpunkt auf dem Commonwealth, seinen Kolonien und seinen Beziehungen zu den anderen Großmächten. Wie
viele junge Briten im 19. Jahrhundert war er hochgradig graecophil und meldete sich
1897, im Alter von 24 Jahren, ungeachtet des Fehlens jeglicher militärischer Erfahrung freiwillig zur britischen Philhellenic Legion, die auf Seiten des Königreichs
Griechenland in den Krieg gegen das Osmanische Reich eingriff. Bei Larissa leicht
6
7
27. März 1999]. Moskva: ROSSPĖN, 2000. Vgl. speziell auch Bohn, Thomas: Wissenschaftliche
Expedition und politische Reise: Bulgarien in der Balkankonzeption P. M. Miljukovs. In: Österreichische Osthefte 34 (1992), S. 312–333, sowie ders.: Geschichte und Politik.Makedonien im Kalkül
des russischen Historikers und Dumaabgeordneten Pavel N. Miljukov. In: Comparativ 24 (2014),
H. 6, S. 52–67. Allerdings ist zu Leben und Werk Duttons wenig bekannt.
Leventhal: The Last Dissenter.
Brejlsfărd, Chenri Noel: Makedonija. Nejnite narodi i tjachnoto bădešte [Makedonien. Seine Völker
und ihre Zukunft]. Prevod ot anglijski Dimităr Bečev. Sofija: Institut „Bălgarija – Makedonija“, 2013.
Makedonien als Lebensthema
103
verletzt und tief frustriert von der Disziplinlosigkeit und dem fehlenden Heldenmut
seiner griechischen Ko-Kombattanten kehrte er indes bald nach Großbritannien zurück. Sein Biograph Leventhal schreibt dazu:
Seven weeks in Greece had shattered his ideals, leaving a permanent distaste for the excesses of patriotism and the brutalities of war. 8
Brailsfords griechisches Abenteuer hatte aber noch eine weitere Folge. Denn im
Krisenjahr 1903 schickte ihn C. P. Scott, der Herausgeber des Manchester Guardian, seines kurzen, aber heftigen Balkanabenteuers wegen als Korrespondent in die
osmanische Krisenregion Makedonien, wo er zwischen April und Juli gemeinsam
mit seiner Frau Jane Städte wie Monastır (heute Bitola), Kalkandelen (heute Tetovo), und Üsküb (heute Skopje) sowie zahlreiche Dörfer der Region bereiste. 9 Kaum
zurück in London brach der Aufstand der Inneren Makedonisch-Thrakischen Revolutionären Organisation vom St.-Elias-Tag (Ilinden) gegen die Hohe Pforte aus 10,
und die Brailsfords kehrten im Oktober 1903, d. h. unmittelbar nach der Niederschlagung des Aufstandes durch reguläre und irreguläre osmanische Truppen, in
das jetzt kriegszerstörte Makedonien zurück – diesmal allerdings nicht zum Zwecke der Berichterstattung, sondern in humanitärer Mission als regionale Vertreter
im Vilayet Monastır des neu gegründeten Londoner Macedonian Relief Committee.
Henry Brailsfords Aufgabe war es, Hilfsgüter in entlegene Dörfer zu bringen, während Jane Brailsford in Ochrid eine Krankenstation betrieb. Hier steckte sie sich mit
Typhus an, was im April 1904 die Rückkehr der Brailsfords nach Großbritannien erzwang. 11 Nun begann Brailsford die Arbeit an seinem besagten Makedonien-Buch,
das Anfang 1906 erschien und neben einer „Ethnographical Map of Macedonia“,
welche die Region als primär bulgarisch besiedelt auswies, sowie Fotografien der
aktuellen Kriegszerstörungen von Dörfern, Kirchen und Infrastruktur vor allem konkrete Politikempfehlungen enthielt. 12 Der türkische Makedonien-Historiker Fikret
Adanır hat diese wie folgt zusammengefasst:
Entschieden wendet sich der Verf. gegen eine Teilung Makedoniens zwischen Österreich
und Rußland oder zwischen den Balkanstaaten, da keiner der letzteren in der Lage wäre, die
anderen Nationalitäten gerecht zu behandeln, und plädiert für das Verbleiben des Landes
beim Osman. Reich unter einer wirksamen internationalen Kontrolle. Darüber, wie diese
8 Ebd., S. 32.
9 Ebd., S. 46–48.
10 Zum Aufstand vgl. Adanır, Fikret: Die Makedonische Frage. Ihre Entstehung und Entwicklung bis
1908. Wiesbaden: Franz Steiner Verlag, 1979, S. 160–199; Perry, Duncan M.: The Politics of Terror.
The Macedonian Liberation Movements, 1893–1903. Durham, NC: Duke University Press, 1988,
S. 107–142; und die zeitzeugenbasierte Untersuchung von Brown, Keith: Loyal unto Death. Trust
and Terror in Revolutionary Macedonia. Bloomington, IN, Indianapolis, IN: Indiana University Press,
2013.
11 Leventhal: The Last Dissenter, S. 49–50.
12 Brailsford, H. N.: Macedonia. Its Races and Their Future. London: Methuen, 1906 (Reprint New
York: Arno Press and New York Times, 1971).
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Balcanica
beschaffen sein müßte, arbeitet er in zehn Punkten genaue Vorschläge aus. Abschließend
schlägt er eine Teilung der europ. Türkei in drei Verwaltungsgebiete: Makedonien, Albanien und Thrakien vor. 13
In den Folgejahren machte Brailsford Karriere in der Labour Party, der er 1907 beitrat, während Jane Brailsford eine führende Stellung in der Sufragetten-Bewegung
einnahm. Parallel dazu war er weiterhin im 1903 gegründeten Balkan Committee
tätig, einer einflussreichen pro-bulgarischen Lobbyorganisation britischer Politiker.
Aber auch wenn Brailsford die Bewohner des osmanischen Makedonien mehrheitlich
für Bulgaren hielt, favorisierte er im Unterschied zu den meisten anderen KomiteeMitglieder keinen Anschluss der Region an das Fürstentum Bulgarien, sondern kulturelle Autonomie unter einer idealerweise liberalisierten Herrschaft des Sultans.
Entsprechend positiv war seine anfängliche Reaktion auf die Jungtürkische Revolution von 1908. Ein neuerliches Angebot des Macedonian Relief Committee von
1911, als regionaler Vertreter in Makedonien zu fungieren, lehnte er jedoch unter
Verweis auf die Gesundheit seiner Frau ab. 14
Im Sommer 1912 entwickelte Brailsford in einer Reihe von Zeitungsartikeln Szenarien für die Zukunft der neuerlich krisenhaften zentralbalkanischen Region. Drei
Entwicklungen hielt er für denkbar sowie jeweils für akzeptabel, nämlich erstens
„some qualified form of Home Rule“, also Territorialautonomie für Makedonien
und Albanien innerhalb des Osmanischen Reiches. Zweitens eine Aufteilung des osmanischen Restbestandes in Europa unter den Nachbarstaaten Bulgarien, Serbien
und Griechenland. Und drittens den Ausbau Österreich-Ungarns zu einer Dreiermonarchie unter Einbeziehung der habsburgischen und serbischen Slaven wie auch
Makedoniens, da dessen Bevölkerung „undoubtedly Slav“ sei. 15
Der Beginn des Ersten Balkankrieges im Oktober 1912 machte diese Szenarien
gegenstandslos. Brailsford berichtete von London so eingehend und lebhaft über den
Kriegsverlauf, dass sein Lesepublikum ihn im Brennpunkt des Geschehens vermutete. Dabei prognostizierte er frühzeitig, dass sich die siegreiche Balkanfronde gegen
das Osmanische Reich bald über Grenzziehungsfragen zerstreiten würde. Und bereits
während des Interallianzkriegs, also des Zweiten Balkankrieges, sagte er voraus, dass
ein Bulgarien von Serbien und Griechenland aufoktroyierter Friedensvertrag weitere
militärische Konflikte zwischen den Bulgaren und ihren Nachbarn nach sich ziehen
werde. 16
Mit anderen Worten: Im Zeitraum 1903 bis 1913 hatte sich Brailsford als führender britischer Balkankenner profiliert und daher war es seinem Biographen Leventhal
zufolge „perhaps inevitable that he would be selected as one of the two British
13 [Adanır, Fikret:] 1531. Brailsford, H[enry] N[oël]: Macedonia. Its races and their future. In: Bernath, Mathias, Karl Nehring (Hrsg.): Historische Bücherkunde Südosteuropa. Bd. II. Neuzeit: Teil 1.
Osmanisches Reich, Makedonien, Albanien. München: R. Oldenbourg, 1988, S. 335.
14 Leventhal: The Last Dissenter, S. 98–100.
15 Ebd., S. 102–103.
16 Ebd., S. 104.
Makedonien als Lebensthema
105
representatives on the Commission, established by the Carnegie Endowment for International Peace in 1913, to inquire into the causes and conduct of the two Balkan
Wars.“ 17 Es waren allerdings zwei gänzlich unterschiedliche Gründe, die Brailsford
zur umgehenden Annahme der Einladung durch d’Estournelles de Constant bewogen: Zum einen hatte er seit 1904 weder vom Sultan noch von der jungtürkischen
Führung die von ihm dringlich beantragte Einreiseerlaubnis für die Europäische Türkei mehr erhalten und war entsprechend froh, jetzt erneut dorthin reisen zu können,
und zum anderen hatte er sich im Mai 1913 von seiner Frau Jane getrennt, wenngleich
nur temporär.
Brailsford brach gemeinsam mit den drei anderen Mitgliedern, nämlich Godart,
Miljukov und Dutton, am 20. August 1913 in Richtung Wien und Belgrad auf. 18
Während die serbische Reserviertheit bezüglich einer Kooperation mit der Kommission ausschließlich mit der Teilnahme des „bulgarophilen“ russischen Kommissionsmitglieds Miljukov, der 1897/1898 an der Universität Sofija Geschichte gelehrt
und 1898 an einer Expedition bulgarischer Archäologen ins osmanische Makedonien teilgenommen hatte, begründet wurde, geriet in Saloniki vor allem Brailsford
wegen „Bulgarophilie“ ins Visier der Regierung in Athen und der Verwaltung der
seit dem Vorjahr griechischen Stadt. 19 Ein Besuch der nahegelegenen kriegsverheerten Kleinstadt Kukuš/Kilkis wurde ihm zweimal untersagt. 20 Kommissionsleiter
d’Estournelles de Constant nahm ihn in seiner Einführung zum Carnegie-Bericht von
1914 gegen die griechischen Vorwürfe in Schutz:
Brailsford [. . . ] had been frankly partisan, but for whom? For the Greeks. He took up arms
for them and fought in their ranks, the true disciple of Lord Byron and of Gladstone; and
in spite of this fact today Brailsford is held to be an enemy of Greece. Why? Because,
passionately loving and admiring the Greeks, he has denounced the errors that bid fair to
injure them, with all the heat and vigor of a friend and of a companion in arms. This did
17 Ebd., S. 105.
18 Eine systematische Darstellung der Kommissionsaktivitäten von Sommer bis Herbst 1913 samt textkritischer Analyse des Kommissionsberichts existiert nicht. Vgl. überblicksartig Ilčev, Ivan: Die
Carnegie-Mission von 1913: Ausgangslage, Durchführung und internationale Reaktionen. In: Comparativ 24 (2014), H. 6, S. 105–125; Boeckh, Katrin: Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg.
Kleinstaatenpolitik und ethnische Selbstbestimmung auf dem Balkan. München: R. Oldenbourg,
1996, S. 371–376; .und Akhund: The Two Carnegie Reports. Zur Rezeption des Kommissionsberichts in Bulgarien, Frankreich und im Osmanische Reich vgl. Ilčev: Die Carnegie-Mission von 1913,
sowie Adamiak, Patrick J.: Perceiving the Balkan Wars: Western and Ottoman Commentaries on the
1914 Carnegie Endowment’s Balkan Wars Inquiry. In: Yavuz, M. Hakan, Isa Blumi (eds): War and
Nationalism. The Balkan Wars, 1912–1913, and Their Sociopolitical Implications. Salt Lake City:
The University of Utah Press, 2013, S. 474–495.
19 Siehe dazu Skordos, Adamantios: Zum Scheitern verurteilt: Die Carnegie-Mission in Griechenland.
In: Comparativ 24 (2014), H. 6, S. 79–104.
20 D’Etournelles de Constant [, Paul Henri]: Introduction. In: Carnegie Endowment for International
Peace: Report, S. 1–19, hier S. 5–10. Ivan Ilčev zufolge gelang es Brailsford dennoch, nach Kukuš/Kilkis zu reisen. Vgl. Ilčev: Die Carnegie-Mission von 1913, S. 115, sowie etliche Fotografien
des Berichtsbandes von Orten von Massenmorden und ethnischen Säuberungen, an denen die Möglichkeit von nicht überwachten Kontakten mit zivilen Opfern des Krieges bestand.
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Balcanica
not seem to be a sufficient motive for demanding his resignation. As we could not condemn
Brailsford for being at one and the same time, both the friend and the enemy of Greece, we
kept him, and have been very fortunate in doing so. 21
Dank seiner griechischen und südslawischen Sprachkenntnisse war Brailsford bezüglich der Feldforschung, welche die Kommissionsmitglieder mittels Interviews
mit Flüchtlingen aus Makedonien in Bulgarien sowie mit Militärpersonal, Geistlichen, Lehrern, Dorfbewohnern, Ortsvorstehern und vielen anderen in Vardar- und
Ägäisch-Makedonien unternahm, deren wichtigstes Mitglied. Gemeinsam mit Miljukov sprach Brailsford in Saloniki mit dem Führer der bulgarischen Sozialisten dort,
Dimităr Vlachov, desgleichen mit dem Vorsitzenden der dortigen jüdisch-sephardischen Sozialistischen Arbeiterföderation, Avraam Benaroya 22, dito in Sofija mit dem
bulgarischen Außenminister Nikola Genadiev, mit dem bulgarischen MakedonienEthnographen Jordan Ivanov und sogar mit König Ferdinand I. von Sachsen-KoburgKoháry. 23 Dolmetscher waren dabei nicht vonnöten, da Brailsford sowohl Bulgarisch
wie Deutsch sprach.
In Bulgarien wurden die Kommissionsmitglieder am 13. September mit großem
Bahnhof empfangen. Da die Regierung sich vom Kommissionsbericht eine für Bulgarien positive Wirkung versprach, gewährte sie weitreichende politische wie logistische Unterstützung, so etwa die Bereitstellung von Fahrzeugen zum Besuch
entlegener Flüchtlingslager. 24 Auf einer im Bericht abgedruckten Fotografie, welche
die Kommissionsmitglieder Miljukov und Brailsford im Gespräch mit Flüchtlingen
aus Makedonien in Samokov bei Sofija zeigt, sind überdies bulgarische Offiziere zu
erkennen. 25
Wenn George F. Kennans Aussage in seiner Einführung zum Reprint des Kommissionsberichts von 1993 zutrifft, dann war Brailsford der Autor des Kapitels II, das
mit „The War and the Noncombatant Population“ überschrieben sowie mit einem umfangreichen Anlagenteil ausgestattet ist. 26 Entgegen den griechischen Befangenheitsvorwürfen gegen ihn beschrieb Brailsford hier in einem umfangreichen Abschnitt
21 D’Etournelles de Constant: Introduction, S. 7.
22 Vlahov, Dimitar: Memoari. Skopje: NIP „Nova Makedonija“, 1970, S. 183–184. Nach wenigen Tagen
allerdings wurden Brailsford und Miljukov vom griechischen Gouverneur Thessalonikis der Stadt
verwiesen. Vgl. Ilčev: Die Carnegie-Mission von 1913, S. 115.
23 Balkan War Report Will Shock World. Prof. Dutton, a Member of Carnegie Commission, Says the
Worst Has Not Been Told. Studied Loss of Allies. With an Englishman, a Russian, and a Frenchman,
He Investigated All Causes and Effects. In: New York Times vom 14. Oktober 1913.
24 Ilčev: Die Carnegie-Mission von 1913, S. 116–117.
25 Carnegie Endowment for International Peace: Report, S. 153.
26 Kennan, George F.: Introduction. The Balkan Crises: 1913 and 1993. In: Carnegie Endowment for International Peace: The Other Balkans Wars. A 1913 Carnegie Endowment Inquiry in Retrospect with
a New Introduction and Reflections by George F. Kennan. Washington, DC: Carnegie Endowment for
International Peace, 1993, S. 3–16, hier S. 8. Kennan zufolge war Miljukov Autor der Kapitel I (The
Origin of the Two Balkan Wars), III (Bulgarians, Turks, and Servians), IV (The War and the Nationalities) und V (The War and International Law), wohingegen Godart Kapitel VI (Economic Results of
the War) und Dutton Kapitel VII (The Moral and Social Consequences of the Wars and the Outlook
for the Future of Macedonia) beisteuerten. – Maria Todorova ist nicht zuzustimmen, wenn sie dem
Makedonien als Lebensthema
107
über „The Conduct of the Bulgarians in the Second War“ detailliert Massaker der bulgarischen Armee in der Kleinstadt Doxato (bulg. Doksat), gelegen zwischen Drama
und Kavalla, sowie im Regionalzentrum Serres (bulg. Sjar) nordöstlich von Saloniki 27 und belegte das mit zahlreichen Zeugenaussagen, Fotos und Dokumenten im
Anhang. 28 Dem Kapitel nachgestellt ist eine Schlussbemerkung, die sowohl Brailsfords Perzeption des Balkans als auch sein Berufsethos als investigativer Journalist
samt seiner moralischen Weltsicht widerspiegelt:
In bringing this painful chapter to a conclusion, we desire to remind the reader that it
presents only a partial and abstract picture of the war. It brings together in a continuous
perspective the sufferings of the noncombatant populations of Macedonia and Thrace at the
hands of armies flushed with victory or embittered by defeat. To base upon it any moral
judgment would be to show an uncritical and unhistorical spirit. An estimate of the moral
qualities of the Balkan peoples under the strain of war must also take account of their
courage, endurance, and devotion. If a heightened national sentiment helps to explain these
excesses, it also inspired the bravery that won victory and the steadiness that sustained defeat. The moralist who seeks to understand the brutality to which these pages bear witness,
must reflect that all the Balkan races have grown up amid Turkish models of warfare. Folksongs, history and oral tradition in the Balkan uniformly speak of war as a process which
includes rape and pillage, devastation and massacre. In Macedonia all this was not a distant
memory but a recent experience. The new and modern feature of these wars was that for the
first time in Balkan annals an effort, however imperfect, was made by some of the combatants and by some of the civil officials, to respect an European ideal of humanity. The only
moral which we should care to draw from these events is that war under exceptional conditions produced something worse than its normal results. The extreme barbarity of some
episodes was a local circumstance which has its root in Balkan history. But the main fact is
that war suspended the restraints of civil life, inflamed the passions that slumber in time of
peace, destroyed the natural kindliness between neighbors, and set in its place the will to
injure. That is everywhere the essence of war. 29
Ungeachtet seiner kritischen Haltung gegenüber der politischen Elite Bulgariens und
den Kriegsverbrechen der bulgarischen Armee in den Balkankriegen optierte Brailsford auch nach 1913 für einen Anschluss Makedoniens an Bulgarien, und damit nicht
Carnegie Endowment 1997 den Vorwurf machte, man hätte besser eine weitere Kommission auf den
Balkan entsenden sollen als lediglich den Bericht von 1914 nachzudrucken. Denn die Stiftung hat
(gemeinsam mit dem Aspen Institute Berlin) 1995 eine ebensolche Kommission gegründet, welche
die Region intensiv bereiste und 1996 einen detaillierten Bericht mit konkreten Politikempfehlungen vorlegte. Vgl. Todorova, Maria: Imagining the Balkans. New York, Oxford: Oxford University
Press, 1997, S. 4, und Tindemans, Leo u. a.: Unfinished Peace. Report of the International Commission on the Balkans. Washington, DC: Carnegie Endowment for International Peace, 1996. Zu
einer deutschen Übersetzung siehe Aspen Institute Berlin und Carnegie Endowment for International
Peace (Hrsg.): Der trügerische Frieden. Bericht der Internationalen Balkan-Kommission. Reinbek bei
Hamburg: Rowohlt, 1997.
27 Carnegie Endowment for International Peace: Report, Chapter II, S. 71–108, hier S. 78–95.
28 Ebd., Appendix B, Documents Relating to Chapter II, S. 285–325, hier S. 285–297.
29 Carnegie Endowment for International Peace: Report, S. 108.
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Balcanica
an Serbien und /oder Griechenland. 1915 appellierte er gar an die britische Regierung, Bulgarien die Angliederung Makedoniens anzubieten, um einen Beitritt Sofijas
zu den Mittelmächten zu verhindern. 30 Ja selbst nach dem Kriegseintritt dieses Landes auf Seiten des Osmanischen Reiches, Österreich-Ungarns und Deutschlands im
Ersten Weltkrieg sah er in einer Inkorporation Makedoniens in Bulgarien die Lösung
der Makedonischen Frage und warb dafür im Vorfeld der Pariser Friedenskonferenz
von 1919. 31 Überdies ventilierte er damals die Idee einer Neuauflage der CarnegieBalkankommission, der neben ihm, Miljukov und Hirst der bulgarophile Unterhausabgeordnete Edward Noel Buxton sowie weitere Mitglieder des Londoner Balkan
Committee angehören sollten. Dazu kam es indes nicht. 32
In der fieberhaften journalistischen und publizistischen Tätigkeit Henry Brailsfords in der Zwischenkriegszeit, welche die Veröffentlichung von einem Dutzend
Bücher einschloss, spielte der Balkan keine prominente Rolle – im Gegensatz zur
Sowjetunion, Deutschland, Indien, Voltaire, dem Völkerbund oder dem Spanischen
Bürgerkrieg. Ob seine Sympathien für einen Anschluss Makedoniens an Bulgarien
fortbestanden oder ob seine Zustimmung zu einem autonomen Makedonien innerhalb einer südslawischen Föderation, wie sie im und nach dem Zweiten Weltkrieg
manifest wurde, sich bereits vor dem Krieg abzeichnete, ist nicht bekannt. Die Aussage „Brailsford is too purely Macedonian in his reputation“, welche der langjährige
Vorsitzende des Balkan Committee, Edward Boyle, im März 1940 in einem Privatbrief an den Komitee-Präsidenten und Brailsfords Labour-Genossen Buxton machte,
gibt keinen Aufschluss darüber, ist sie doch zu lakonisch bzw. vieldeutig. 33
Allerdings geht aus einem Artikel von Moša Pijade, dem Chefideologen der kommunistischen Tito-Partisanen im besetzten und annektierten Jugoslawien des Zweiten Weltkriegs, veröffentlicht am 15. Mai 1944 im Parteiorgan Nova Jugoslavija,
hervor, dass Brailsford kurz zuvor in der BBC die Entscheidung des jugoslawischen
Partisanenparlaments AVNOJ in Jajce vom November 1943 zur Gründung einer makedonische Teilrepublik in einem föderativen Jugoslawien begrüßt hatte:
Thus a Norwegian [sic!] publicist, Brailsford, a connoisseur of Macedonians, speaking over
the London radio, said [. . . ] ‚For me, who knows Macedonia well, the promise of Tito and
his comrades, is the best guarantee that independent Macedonia will go as a member into
the South Slav Federation, that is the sole way to assure victory and real peace.‘ 34
30
31
32
33
Leventhal: The Last Dissenter, S. 140–141.
Ebd., S. 143–144.
Ilčev: Die Carnegie-Mission von 1913, S. 125.
Faksimile eines Briefes von Edward Boyle an Edward Noel Buxton, London, 8. März 1940. In: Ilčev,
Ivan (red.): Balkanskijat komitet v London (1903–1946) [Das Balkan Committee in London (1903–
1946)]. Sofija: Universitetsko izdatelstvo „Sv. Kliment Ochridski“, 2003, S. 509–510, hier S. 510.
Vgl. zur britischen Sicht auf Makedonien auch Livanios, Dimitris: The Macedonian Question. Britain and the Southern Balkans, 1939–1949. Oxford: Oxford University Press, 2008, und Čepreganov,
Todor, Teon Džingo (red.): Velika Britanija i Makedonija. Dokumenti (1918–1940) [Großbritannien
und Makedonien. Dokumente (1918–1940)]. Skopje: Institut za nacionalna istorija, 2011.
34 Hier zitiert nach Palmer, Stephen J., Robert R. King: Yugoslav Communism and the Macedonian
Question. Hamden, CT: The Shoe String Press, 1971, S. 110.
Makedonien als Lebensthema
109
Auf Einladung Titos unternahm der fast 80-jährige Brailsford im Winter 1950/1951
mit seiner zweiten Frau Eva-Maria, einer aus NS-Deutschland nach London geflohenen jüdischen Sozialistin, eine zweimonatige Reise nach Jugoslawien, die ihn auch
an seine ehemaligen Wirkungsstätten in der neuen jugoslawischen Teilrepublik Makedonien führte. Hier war der dogmatische Ministerpräsident Lazar Koliševski sein
großzügiger Gastgeber, dem er mit Elogen im Manchester Guardian und anderen britischen Periodika dafür dankte. So pries er unter der Überschrift „New Jugoslavia –
Macedonian Renaissance“ noch im Januar 1951 im New Statesman die kommunistische Modernisierungspolitik samt forcierter Industrialisierung 35 und war überwältigt
von dem Umstand, dass er in Skopje, das er erstmals 1903 als malariaverseuchtes
Armenhaus eines osmanischen Vilayets kennengelernt hatte, einer Aufführung von
Mozarts Oper „Die Entführung aus dem Serail“ beiwohnte. 36 Eva-Maria Brailsford
geb. Perlmann berichtete vor ihrem Tod 1988 Fred Leventhal überdies von einem
makedonischen Déjà-vu-Erlebnis ihres Gatten der besonderen Art:
In one village to which [in 1903 – S. T.] he had travelled by mule, carrying food and blankets, an old woman who recognized him declared that everything was fine now since the
new regime was giving the people electricity. 37
Infolge der Strapazen dieser Reise erlitt Brailsford nach seiner Rückkehr nach London einen gesundheitlichen Zusammenbruch, von dem er sich bis zu seinem Tode
1958 nicht mehr erholte.
Unter den Mitgliedern der Carnegie-Kommission von 1913 war Brailsford zweifelsohne derjenige mit den breitesten Sprach-, Regional- und Vorkenntnissen, hatte
er sich doch bereits seit einem Jahrzehnt intensiv mit der Lage im osmanischen Makedonien und mit der Makedonischen Frage befasst. Aber er war auch derjenige der
Kommissionäre, der nach Abschluss des Berichts am kontinuierlichsten das Thema
Makedonien weiter verfolgt hat, zumindest bis zum Beginn der Zwischenkriegszeit.
Dass er im Zweiten Weltkrieg und danach, jetzt bereits in hohem Alter, noch einmal darauf zurückkam, belegt sein anhaltendes Interesse an der Region augenfällig.
Seine euphorische Kontrastierung des „modernen“ Makedonien im „neuen“, ihm zufolge sozialistischen, de facto aber bis in die 1950er-Jahre hinein noch dezidiert
stalinistischen Jugoslawien Titos mit den spätosmanischen Verhältnissen dort mag
blauäugig gewesen sein; die von ihm beschriebenen dramatischen Veränderungen in
Wirtschaft und Gesellschaft jedoch sind ebenso realitätsnah wie in ihrem positiven
35 Brailsford, H. N.: New Jugoslavia – Macedonian Renaissance. In: The New Statesman 41 (13 January 1951), 31. Vgl. auch Ders.: Macedonia Revisited. I – The Revolution in Kossovo, In: Manchester
Guardian (14 March 1951); II – A Textile Centre. Ebd. (17 March 1951); III – Its Intellectual Life.
Ebd. (21 March 1951).
36 Leventhal: The Last Dissenter, S. 294–295. Die Malariasümpfe südöstlich von Skopje wurden erst
Ende der 1930er-Jahren trockengelegt. Vgl. Zylberman, Patrick: Mosquitos and the Komitadjis: Malaria and Borders in Macedonia (1919–1938). In: Borowoy, Iris, Wolf D. Gruner (eds.): Facing Illness
in Troubled Times. Health in Europe in the Interwar Years 1918–1939. Frankfurt /M. u. a.: Peter
Lang, 2005, S. 304–343.
37 Leventhal: The Last Dissenter, S. 295.
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Balcanica
Gehalt, zumindest was Gesundheits- und Bildungswesen betrifft, begründet. Diese
als „very British“ zu charakterisierende Kombination bezüglich eines lebenslangen
Interesses an der Balkanregion hatte er mit etlichen seiner gleichfalls politisch oder
journalistisch bzw. diplomatisch oder literarisch tätigen Londoner Zeitgenossen gemein. 38 Bis heute, so kann mit Fug und Recht konstatiert werden, lesen sich Henry
Noël Brailsfords Publikationen der Jahre 1903 bis 1951 zu Makedonien mit Gewinn,
wie überdies sein Beitrag zu Arbeit und Bericht der Carnegie-Kommission von 1913
ebenso sachlich wie substantiell ist.
38 Zu nennen sind hier etwa die Schriftstellerin und Gesellschaftsdame Rebecca West (1892–1983),
der schriftstellernde Diplomat David Footman (1895–1983), der Journalist Joseph S. Swire (1903–
1978), der Kriminalschriftsteller Eric Ambler (1909–1998) oder der Offizier und Politiker Julian
Amery (1919–1996). Vgl. Hammond, Andrew: British Literature and the Balkans. Themes and Contexts. Amsterdam, New York, NY: Rodopi, 2010, und Goldsworthy, Vesna: Inventing Ruritania. The
Imperialism of Imagination. New Haven, CT, London: Yale University Press, 1998.
Zwischen offizieller Außenpolitik und
geheimer „Paralleldiplomatie“
Italienische Versuche zur Errichtung von Bündnissystemen in
Südosteuropa unter Benito Mussolini und Dino Grandi (1922–1932)
[1983]
Holm Sundhaussen hat mit Blick auf die Rolle der Kleinen Entente als destabilisierendem Faktor in den Internationalen Beziehungen im Südosteuropa der Zwischenkriegszeit 1 deutlich gemacht, dass in der Formulierung des Themas der diesjährigen
Hochschulwoche der Südosteuropa-Gesellschaft „Friedenssicherung in Südosteuropa: Föderationspläne und Allianzen seit dem Beginn der nationalen Eigenständigkeit“ eine unzutreffende, wenn nicht gar unzulässige Gleichsetzung steckt: Allianzen – wie etwa die Kleine Entente – tragen keineswegs an sich, also durch ihre bloße
Existenz, zur Sicherung des Friedens bei; auch dann nicht, wenn sie ausdrücklich
als Defensivbündnis gemeint sind. Oft ist das Gegenteil der Fall. Dies gilt in besonderem Maße für die von der faschistischen Diplomatie projektierten italienischsüdosteuropäischen Bündnissysteme, die – hätten sie reale Bedeutung gewonnen –
nicht nur das Gleichgewicht im Balkan-Donau-Raum empfindlich gestört, sondern
auch in absehbarer Frist den Status quo dort verändert hätten. Dass dies wohl kaum
mit friedlichen Mitteln geschehen wäre, bedarf keiner gesonderten Erwähnung. Die
von Italien geplanten Allianzen sollten der Verwirklichung eindeutig expansiver und
revisionistischer Ziele dienen, denen die Kleine Entente und vor allem der jugoslawische Staat im Wege standen.
Anders als erwartet, führte die Machtübernahme der Faschisten mit dem „Marsch
auf Rom“ Ende Oktober 1922 in Italien nicht zu einer abrupten Kehrtwendung in
der Außen- und Südosteuropapolitik. Die von den liberalen Nachkriegskabinetten
vorgezeichneten Grundlinien dienten auch Mussolini, der bis 1929 neben sechs anderen Ressorts zugleich das des Außenministers versah, als Richtschnur. Dies galt
insbesondere für das Verhältnis zu Italiens wichtigstem politischen Partner in Südosteuropa, zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen beziehungsweise Jugoslawien. Als „schwächste Großmacht und stärkster Kleinstaat Europas“ verfolgte
auch das faschistische Italien in Richtung Südost anfänglich einen kooperativen,
ausgleichenden Kurs, und dies trotz bestehender Differenzen über die italienischjugoslawische Grenzziehung und vor allem in der Frage der Stadt Fiume beziehungsweise Rijeka.
1
Sundhaussen, Holm: Die Rolle der Kleinen Entente bei der Stabilisierung und Destabilisierung des
Friedens im Donau-Balkan-Raum. In: Friedenssicherung in Südosteuropa. Föderationspläne und Allianzen seit dem Beginn der nationalen Eigenstaatlichkeit. Hrsg. v. Mathias Bernath u. Karl Nehring.
München 1985, S. 139–153.
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112
Balcanica
Erst im Sommer 1923 klangen die ersten genuin faschistischen Töne in der italienischen Balkanpolitik an, als Mussolini die Bombardierung der griechischen Insel
Korfu anordnete. Das internationale Echo auf diese Aktion, besonders das Eingreifen des britisch-französisch dominierten Völkerbundes, hatte allerdings einen stark
retardierenden Einfluss auf den „Duce“ und seine außenpolitischen Mitarbeiter. Für
mehrere Jahre blieb Korfu eine untypische Episode. Unmittelbar nach der KorfuKrise schlug die italienische Außenpolitik wieder den traditionellen Kurs ein, was
mit dem Abschluss des „Paktes von Rom“, einem italienisch-jugoslawischen Freundschaftsvertrag im Januar 1924 ganz deutlich wurde. Noch im März 1924 ließ daher
König Aleksandar von Jugoslawien an Mussolini die Aufforderung ergehen, Italien
möge sich an die Spitze der Kleinen Entente stellen. Überhaupt stand diese Allianz, zumal in den ersten Jahren ihres Bestehens, in dem Ruf, ein Werkzeug der
italienischen Außenpolitik – „une machine italienne“ – zu sein. 2 Im Zuge der durch
den Mord an dem italienischen Sozialistenführer Matteotti im Juni 1924 ausgelösten
schweren innenpolitischen Krise kam es zu einer Verlangsamung des Prozesses der
Faschisierung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in Italien. Das faschistische Regime war auf Monate hinaus sowohl in seiner Innen- wie in der Außenpolitik nahezu
paralysiert.
Bevor die Sprache auf die mit der Jahreswende 1924/1925 einsetzende dynamischere Phase in der Südosteuropapolitik Roms kommt, vorab einige Anmerkungen
zur Stellung außenpolitischer Themen in der gesamten Politik des Faschismus. Als
einziges Ministerium war der Palazzo Chigi, das italienische Außenministerium, in
der ersten Dekade nach dem „Marsch auf Rom“ kaum von den Faschisierungsbestrebungen des Partito Nazionale Fascista erfasst worden. Bis ins Jahr 1926 hinein
stellte die alte Garde italienischer Vorkriegsdiplomaten die Weichen der italienischen
Außenpolitik und erst allmählich rückten jüngere Karrierediplomaten und gemäßigte Faschisten nach. Aber noch in den dreißiger Jahren saßen Nicht-Faschisten
auf Schlüsselpositionen des Palazzo Chigi. Mit ein Grund hierfür war sicherlich
das lediglich sporadische und insgesamt geringe Interesse, welches der „Duce“ der
Außenpolitik entgegenbrachte. Die Innenpolitik erforderte seine gesamte Aufmerksamkeit und daher war er an außenpolitischen Themen nur im Hinblick auf ihre
innenpolitische, vor allem propagandistische Verwertbarkeit interessiert. Seine öffentlich gemachten Äußerungen zur Außenpolitik waren daher auch in erster Linie
für das italienische, nicht für das internationale Publikum bestimmt. Seinem Nachfolger im Amte des Außenministers, dem faschistischen ras von Bologna, Dino Grandi,
gegenüber stellte er klar, dass dieser ihm außenpolitisch den Rücken für seine innenpolitischen Vorhaben freizuhalten habe. Trotz seiner rabiaten Reden betrachtete man
im Ausland, vor allem in Großbritannien und in den USA, den „Duce“ und seine
Außenpolitik als berechenbar und insgesamt vernünftig, auch wenn Diplomaten, wie
der langjährige britische Botschafter in Rom, Ronald Graham, der Ansicht waren, die
Politik des Palazzo Chigi ähnele mehr „einer Amateuraufführung“ als einer profes-
2
Sforza, Carlo: L’Italia dal 1914 al 1944 quale io la vidi. Roma 1944, S. 102.
Zwischen offizieller Außenpolitik und geheimer „Paralleldiplomatie“
113
sionellen Veranstaltung. 3 Dies letztere Urteil war maßgeblich dadurch bestimmt, dass
die offizielle Außenpolitik oft gänzlich unkoordiniert mit der von Mussolini mittels
persönlicher Emissäre – zumeist Parteimitglieder, Journalisten, Militärs u. a. – betriebenen geheimen „Paralleldiplomatie“ vonstattenging. Mehr als einmal knirschte es
daher im Getriebe der italienischen Außenpolitik und mitunter kam es gar zu schweren Interessenkollisionen.
Das Ende des Jahres 1924 brachte nicht nur die Überwindung der Folgen der
Matteotti-Krise, sondern auch eine Reihe anderer einschneidender Veränderungen
der innen- und außenpolitischen Situation Italiens. Entscheidend zur Wiedergewinnung der außenpolitischen Handlungsfreiheit der italienischen Regierung trug die so
genannte „quota novanta“, die Stabilisierung der Lira mit amerikanischer Hilfe durch
drastische Aufwertung gegenüber dem britischen Pfund zum Kurs von 92:1 bei. Zugleich hatte aber diese Stabilisierung negative Folgen für die stark exportorientierte
italienische Wirtschaft, was Überlegungen zur Schaffung einer gegen Konkurrenz gesicherten italienischen Schutzzone – etwa in Ost- und Südosteuropa – begünstigte. Im
internationalen Rahmen wirkte sich die Rückkehr der britischen Konservativen an die
Macht vorteilhaft für Italien aus. Stanley Baldwin sowie vor allem sein Außenminister Austen Chamberlain hegten den Plan, Italien als Gegengewicht zur destruktiven
französischen Deutschland- und Osteuropa-Politik zu benutzen. Anstelle des französischen Cordon Sanitaire, gebildet aus der Kleinen Entente und Polen, wollten sie
mit italienischer Hilfe ein System regionaler Bündnisse unter einem Kondominium
der drei Westmächte in Ost- und Südosteuropa installieren. Zugleich war Frankreich aufgrund der verheerenden Folgen der Krise seiner Staatsfinanzen in seiner
außenpolitischen Bewegungsfreiheit, zumal in Südosteuropa, stark eingeschränkt.
All diese Umstände ermöglichten es Italien, erstmals als Großmacht in Europa aufzutreten. Die politische Gegenleistung für eine italienische Unterstützung der britischen
Europapläne sahen der „Duce“ und seine außenpolitischen Mitarbeiter eben in Südosteuropa, welches sie am liebsten als „Jagdsperrgebiet“ (riserva di caccia) ganz
allein italienischem Einfluss vorbehalten sehen wollten. 4 Die internationalen Voraussetzungen für dieses Vorhaben schienen günstig zu sein: Das durch den Zerfall des
Osmanischen Reiches, der Habsburger wie der Zaren-Monarchie in dieser Region
entstandene und von Frankreich nur dürftig ausgefüllte Machtvakuum bot vielversprechende Expansionsmöglichkeiten.
Obwohl die italienische Außenpolitik zu Beginn des Jahres 1925 gleichsam in den
Startlöchern in Richtung Südosteuropa stand, musste doch dieser Start noch einmal
verschoben werden. Grund hierfür war das britische Projekt eines internationalen
Abkommens zur Sicherung der französischen Ostgrenze, wie es im Oktober 1925
dann in Locarno geschlossen wurde. Die Aufwertung Italiens zur Garantiemacht
3
4
Botschafter Ronald Graham an den Permanent Under-Secretary des Foreign Office, William Tyrrell,
Rom, 3. Februar 1928. In: Documents on British Foreign Policy, Serie 1A, Bd. IV. London 1971,
Dok.-Nr. 128, S. 237–239, hier S. 238 (C978/804/21).
Carocci, Giampiero: La politica estera dell’Italia fascista (1925–1928). Bari 1969, S. 13 f.
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114
Balcanica
des deutsch-französischen Ausgleichs verzögerte ein direktes Engagement im Balkan-Donau-Raum. Allerdings bot die von Großbritannien geförderte Ausweitung der
Locarno-Verträge zu einem so genannten Balkan-Locarno bereits Gelegenheit zur
Konstruktion eines pro-italienischen Bündnissystems in Südosteuropa.
Die Verhandlungen über ein Balkan-Locarno Ende 1925/Anfang 1926 stellten
eine verdeckte französisch-italienische Auseinandersetzung um die Vorherrschaft im
Südosten dar, die indes von keiner Seite eindeutig entschieden werden konnte. Die
Initiative zu diesem ersten, über bilaterale Abkommen hinausgehenden Bündnisprojekt Italiens ging von den beiden Mitgliedsstaaten der Kleinen Entente Jugoslawien
und Tschechoslowakei aus. Im Palazzo Chigi merkte man jedoch bald, dass diese
Verhandlungen zumindest jugoslawischerseits lediglich deshalb geführt wurden, um
den eigenen Preis gegenüber Frankreich in die Höhe zu treiben. Als dann klar wurde,
dass weder Jugoslawien allein noch die Kleine Entente als Ganze bereit waren, die
französische Hegemonie gegen eine italienische einzutauschen, sondern an einem
dreiseitigen, Italien und Frankreich einschließenden Abkommen interessiert waren,
brach Italien die Gespräche ab. Dies hatte die endgültige Orientierung Jugoslawiens
auf Frankreich zur Folge und im März 1926 wurde der Plan eines jugoslawisch-französischen Paktes bekannt gegeben. Die Fronten in Südosteuropa hatten sich damit
geklärt, aber ein Balkan-Locarno war unmöglich geworden. Ein analoger Vertragsabschluss mit den beiden einzigen Italien verbliebenen Locarno-Partnern, Ungarn
und Bulgarien, wäre aufgrund des mangelnden politischen Einflusses dieser Staaten
wertlos gewesen.
Mit dem Beginn des Jahres 1926, allgemein als anno napoleonico der italienischen Außenpolitik bezeichnet, gewann diese noch deutlicher an Dynamik. Jetzt
stand nicht mehr ein auf Ausgleich zwischen Sieger- und Verlierermächten in Südosteuropa zielendes pro-italienisches Bündnis im Vordergrund, sondern ein Zusammenschluss von Staaten mit prononciert antijugoslawischer Zielsetzung. Dies erklärt
auch, dass die italienische Südosteuropapolitik immer aggressivere Züge annahm.
Bereits im Sommer 1925 war ein geheimes militärisches Abkommen mit Albanien
geschlossen worden und im Oktober 1926 hatte der „Duce“ gar seinem Generalstabschef die Teilmobilmachung gegen Jugoslawien befohlen. Bis ins Jahr 1926 hinein
hatten Mussolini und seine Strategen einen Plan zur militärischen Zerschlagung des
Rivalen an der Adria und im Balkan-Donau-Raum griffbereit in der Schublade, den
sie mehrmals hervorholten, im Endeffekt aber aus Furcht vor der französischen Reaktion jedes Mal wieder zurücklegten.
Im Frühjahr 1926, als klar geworden war, dass ein italienisches Balkan-Locarno
gescheitert war, gewann die Südosteuropapolitik des Palazzo Chigi dennoch Auftrieb, und dies dadurch, dass das Foreign Office zu weitreichender Unterstützung
Italiens gegen Frankreich entschlossen war. Dies war auf die Ankündigung des französisch-jugoslawischen Paktes zurückzuführen gewesen. Mit britischer Rückendeckung machte sich Italien jetzt an die Verwirklichung eines weiteren ehrgeizigen
Planes: Frankreich sollte dadurch aus Südosteuropa verdrängt werden, dass sein
Instrument, die Kleine Entente, unbrauchbar gemacht werden würde. Dies sollte
einerseits durch das Herausbrechen Rumäniens aus diesem Bündnis sowie ande-
Zwischen offizieller Außenpolitik und geheimer „Paralleldiplomatie“
115
rerseits durch die Einbindung dieses Staates in eine Viererallianz mit Italien und
den südosteuropäischen Verliererstaaten Ungarn und Bulgarien geschehen. Jugoslawien, Frankreichs Vorposten im Südosten, sollte also gleichzeitig von West und Ost
in die italienische Zange genommen werden. Zum offensichtlichen und inzwischen
auch erklärten Ziel der italienischen Politik war es geworden, Jugoslawien einzukreisen und gleichsam sturmreif zu machen. Zunächst schien die Verwirklichung des
italienischen Viererprojekts verdächtig leicht zu sein: Im September 1926 schloss
die rumänische Regierung Averescu mit Italien einen Freundschaftsvertrag. Doch
bald zeigte sich, dass Rumänien nicht bereit war, sich über dieses bilaterale Abkommen hinaus enger an Italien anzulehnen. Selbst die bessarabische Karte, von
Mussolini ins Spiel gebracht, stach im Spiel um Rumänien nicht. Zugleich aber hatte
der „Duce“ die zwischen Rumänien und dessen potentiellen ungarischen und bulgarischen Bündnispartnern bestehenden Probleme – Stichworte: Siebenbürgen und
die Dobrudža – nicht in seine Rechnung mit einbezogen. Wie wenig durchdacht der
italienische Plan der Viererallianz war, zeigte auch die Reaktion Ungarns und Bulgariens: Ungarn, durch die italienischen Avancen an Rumänien irritiert, suchte jetzt die
Annäherung an den Nachbarstaat, mit dem es die geringsten territorialen Konflikte
hatte, also an Jugoslawien; und auch die bulgarische Regierung legte alarmierende
jugoslawienfreundliche Tendenzen an den Tag. Nur mit Mühe konnten die professionellen Diplomaten im Palazzo Chigi den von ihrem Dienstherrn angerichteten
politischen Schaden in Südosteuropa wiedergutmachen. Der Seitenwechsel Ungarns
wurde durch den italienisch-ungarischen Pakt vom April 1927 abgewendet, die bulgarisch-jugoslawische Annäherung wurde mit der Hilfe der terroristischen IrredentaOrganisation IMRO zunichte gemacht.
Der gegen Jugoslawien gerichtete I. Tirana-Pakt zwischen Italien und Albanien
vom November 1926, vor allem aber der Pakt mit Ungarn, führten deutlich vor Augen, dass die Stoßrichtung der italienischen Südosteuropapolitik jetzt nicht mehr nur
auf Jugoslawien, sondern auf die Kleine Entente als Ganzes zielte. Hierdurch veränderten sich aber auch die internationalen Vorzeichen dieser Politik: Frankreich fasste
trotz fundamentaler Differenzen finanzieller Art den Abschluss des angekündigten
Freundschaftsvertrages mit Jugoslawien ernsthaft ins Auge und im Foreign Office
begann man, sich über die Zuspitzung des italienisch-jugoslawischen und italienischfranzösischen Gegensatzes sowie über die zielstrebige italienische Vorgehensweise
in Albanien Sorgen zu machen.
Bevor die Politik der Einkreisung Jugoslawiens mit Hilfe eines von Italien inspirierten Bündnisses subversiver Organisationen und revisionistischer Staaten in den
Jahren 1927 bis 1929 thematisiert werden soll, einige Bemerkungen zum letzten diplomatischen Bündnisprojekt des Palazzo Chigi in Südosteuropa, einer aus Italien,
Griechenland und der Türkei gebildeten Dreierallianz, wie es besonders 1928 ventiliert worden ist. Zunächst schien sich auch hier ein italienischer Erfolg abzuzeichnen:
Im Mai und September 1928 schlossen sowohl die Türkei wie auch Griechenland bilaterale Abkommen mit Italien; die griechisch-türkischen Gegensätze erwiesen sich
indes als zu groß, als dass die italienische Diplomatie sie hätte überwinden können.
Probleme der Grenzrevision, der Entschädigung der kleinasiatischen griechischen
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Balcanica
Flüchtlinge und anderes standen hierbei im Vordergrund. Dass dennoch im Herbst
1930 ein griechisch-türkischer Pakt geschlossen wurde, war bereits nicht mehr auf
italienische Initiative zurückzuführen, eher im Gegenteil: Nun begann eine Entwicklung in Südosteuropa ihren Anfang zu nehmen, die den Interessen Italiens diametral
entgegenlief. Die südosteuropäischen Machtgruppierungen, also die Kleine EntenteStaaten Jugoslawien und Rumänien im Norden, und die neue griechisch-türkische
Kombination im Süden näherten sich einander so weit an, dass sie 1934 den Balkanpakt schlossen.
Die Gründe für das um die Jahreswende 1926/1927 zu beobachtende Anwachsen der Dynamik der italienischen Südosteuropapolitik, besonders das Bestreben,
den jugoslawischen Staat von außen einzukreisen und von innen zu zerrütten, sind
ebenso vielfältig wie in ihrer Gänze schwer durchschaubar. Ein wesentlicher Grund
war sicherlich die Verlockung, die vom innenpolitisch gänzlich desolaten Zustand
des SHS-Gebildes ausging; von Ende 1926 bis Ende 1928 taumelten die schnell
wechselnden jugoslawischen Regierungen von einer Krise in die andere, was zur
außenpolitischen Manövrierunfähigkeit des jugoslawischen Staates führte. Der italienische Anfangserfolg in Albanien hatte hierzu wesentlich beigetragen. Dieser Erfolg
hatte seinerseits Mussolini in seinem antijugoslawischen Kurs ermuntert, ebenso wie
sein Treffen mit Austen Chamberlain in Livorno Anfang Oktober 1926, auf dem ihm
der britische Konservative weitreichende Zugeständnisse im Hinblick auf Südosteuropa gemacht hatte.
Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Grund war eher innenpolitischer Natur:
Ähnlich wie die russischen Bol’ševiki in der ersten Dekade ihrer Macht fühlten sich
auch die Faschisten außenpolitisch isoliert und belagert von den Internationalen der
Kommunisten, Sozialisten, Katholiken, Freimaurer und plutokratischen Demokratien. Hinzu kam die aus k.u.k.-Tagen herrührende Furcht vor einer deutschen und
slawischen Übermacht. Die beiden letzteren Feindbilder schienen in Form eines
Anschlusses Österreichs an Deutschland, der eine unmittelbare Bedrohung der italienischen Nordgrenze bedeutet hätte, und in einer freimaurerisch-plutokratischen
slawischen Barriere im Osten reale Gestalt anzunehmen bzw. angenommen zu haben. Der geostrategische und politische Effekt des 1926 angekündigten, im November 1927 dann geschlossenen jugoslawisch-französischen Bündnisses kann hierbei
nicht überschätzt werden. In den Jahren 1926 bis 1928 spielte die faschistische Führung also nicht nur ihrerseits mit dem Gedanken einer militärischen Aktion gegen
Jugoslawien, sondern hegte mehrfach ganz konkrete Besorgnis, zu einem Zweifrontenkrieg gegen Jugoslawien und Frankreich gezwungen zu werden. Daher ist die
italienische Jugoslawienpolitik jener Jahre treffend als „Symbiose von Angst und
Aggression“ bezeichnet worden. 5
Mag die italienische Politik der Schaffung von Bündnissen in Südosteuropa 1925
und 1926 auch als wenig realistisch und insgesamt mangelhaft geplant erscheinen, so
5
Burgwyn, H. James: Il revisionismo fascista. La sfida di Mussolini alle grandi potenze nei Balcani e
sul Danubio 1925–1933. Milano 1979, S. 144.
Zwischen offizieller Außenpolitik und geheimer „Paralleldiplomatie“
117
drängt sich doch der Verdacht auf, dass sowohl der I. Tirana-Pakt wie auch der italienisch-ungarische Freundschaftsvertrag nicht nur Fragmente größerer, nicht zustande
gekommener Kombinationen, sondern zugleich Bausteine eines durchdachten, aber
nicht auf den ersten Blick erkennbaren neuen italienischen Konzeptes gewesen waren. Dieses Konzept sei im Folgenden kurz skizziert. Ziel war es, nicht durch ein
System verbündeter Staaten den jugoslawischen Einfluss zu beschneiden, sondern
mittels einer Kombination offizieller und illegaler Faktoren den jugoslawischen Staat
zu untergraben. Wichtigste Komponenten, sozusagen Brückenköpfe dieser Politik,
waren zunächst Albanien und Bulgarien, zwei Staaten, von denen aus die mit Italien
liierte makedonische Untergrundorganisation IMRO gegen Jugoslawien aktiv wurde.
Diese albanisch-makedonisch-bulgarische Achse zielte auf die Achillesferse des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen, welche im Kern ja immer noch ein
Königreich der Serben war, nämlich auf Makedonien, das serbische Tor nach Saloniki. Im September 1927 war die Konstruktion dieser Achse abgeschlossen. Sie
funktionierte bis ins Jahr 1928, wurde aber dann weitgehend unbrauchbar, da sowohl innerhalb Bulgariens wie auch innerhalb der IMRO Entwicklungen eintraten,
die den italienischen Interessen zuwiderliefen. Sukzessive wurde daher diese Achse
durch ein paralleles Gebilde im Norden, bestehend aus dem ungarischen Staat, der
kroatischen Unabhängigkeitsbewegung, vor allem Ustaša, sowie aus Italien selbst beziehungsweise aus der Provinz Venezia Giulia mit der Hauptstadt Triest ergänzt und
ersetzt. Genau wie die IMRO besaß nun auch die Ustaša zwei Operationsbasen, von
denen aus sie Einfälle und Attentate in Jugoslawien unternehmen konnte. Von 1929
an übernahm diese julisch-kroatisch-ungarische Achse zunehmend die Funktion der
geschwächten albanisch-makedonisch-bulgarischen Koalition.
Selbstverständlich handelte es sich bei diesen beiden Achsen nicht um offizielle
Bündnissysteme und wohl auch deshalb funktionierten sie besser als alle anderen
Kombinationen der italienischen Diplomatie. Letztere war indessen nur zum Teil
am Zustandekommen und an der Tätigkeit dieser beiden Achsen beteiligt; dies war
weitgehend Verdienst und Aufgabe Mussolinis sowie seines Nachfolgers Grandi. Allerdings barg diese Form der Geheimdiplomatie auch große Risiken: Die illegalen
Organisationen waren unberechenbar und nur schwer zu steuern und der internationale Schaden, der aus dem Bekanntwerden dieser Mesalliancen des „Duce“ entstehen
konnte, war beträchtlich.
Die Unterstützung subversiver Organisationen in Südosteuropa war im Übrigen kein neues Moment in der italienischen Außenpolitik; Kontakte zu fast allen
Gruppierungen im balkanischen nationalrevolutionären Spektrum hatte es vor dem
„Marsch auf Rom“ auch schon gegeben. Und 1924, als die sowjetische Außenpolitik
den Versuch der Errichtung einer Einheitsfront verschiedener dieser Gruppierungen unternahm, hatten führende Vertreter der Mussolini’schen „Paralleldiplomatie“
bereits einmal ein umfassendes Programm zur Koordination der Aktivitäten einzelner pro-italienischer Gruppen und Fraktionen vorgelegt. Geplant war ein „Geheimes
Balkan-Donau-Komitee“ als Dachorganisation aller antisowjetischer, antijugoslawischer revisionistischer Faktoren, darunter auch Ungarn, Bulgarien und Albanien.
Zielgruppen waren damals wie auch 1927 an erster Stelle die Makedonier, weiter
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Balcanica
Kroaten, montenegrinische Föderalisten, das Komitee der Kosovo-Albaner, der nach
1923 nach Jugoslawien emigrierte linke Flügel der bulgarischen Bauernpartei, aber
auch Organisationen und Parteien in Griechenland und Rumänien.
Im Frühjahr 1927 wurden all diese Verbindungen, die mehr oder weniger unkoordiniert teils von der Partei, teils vom Palazzo Chigi und teils vom „Duce“ persönlich
gehalten wurden, auf eine neue politische Grundlage gestellt. In einem Schreiben
an den italienischen Botschafter in Bukarest zur Frage einer italienischen Unterstützung für die politische Organisation der aus Jugoslawien nach Rumänien emigrierten
makedonischen Aromunen skizzierte Mussolini am 28. Juni 1927 den neuen italienischen Kurs:
Der Standpunkt der K[öniglichen] Regierung [Italiens] gegenüber diesem wie auch gegenüber anderen nationalen Brandherden, die in einem geeigneten Moment in einer dem auf
dem Balkan bestehenden Status quo zuwiderlaufenden Art und Weise geschürt werden können und die daher Ursache für eine Schwächung und eine Zersplitterung der Stärke jener
etablierten Mächte bilden können, die kleineren Nationen Schaden zufügen, ist folgender:
1. Eine günstige Gelegenheit, einem Staat, der unser Gegner sein könnte, in einem geeigneten Moment Ungelegenheiten zu bereiten, kann man nicht ungenutzt vorübergehen lassen.
2. Eine solche Gelegenheit muss daher umsichtig genutzt werden.
3. Ein leicht entstehendes Missverständnis muss man indessen unbedingt vermeiden, und
zwar jenes, dass die K[önigliche] Regierung bei der angelegentlichen Beschäftigung mit
einer solchen Gelegenheit versucht sein könnte, diese zur Unzeit explodieren zu sehen.
4. Die unzeitgemäße Explosion eines isolierten oder gar aller Brandherde gleichzeitig
würde bloß deren blutige Unterdrückung zur Folge haben und wäre nichts als ein sinnloses
Opfer.
5. Eine Explosion zur richtigen Zeit, und zwar innerhalb eines Zeitraums, in dem eine Phase
großer militärischer Operationen (von wem auch immer sie ausgehen mögen) gegen einen
Unterdrückerstaat anbricht, würde hingegen einen nützlichen Beitrag darstellen, und alle
Kräfte müssten allein auf diesen Moment hin am Leben gehalten werden.
6. Um solche Kräfte auch in der Stillhalteperiode, die äußerst lang sein kann, aufrecht zu
erhalten, bedarf es des Vorhandenseins hartnäckig und vorsichtig operierender Organisationen, denen aber bloße Sympathiekundgebungen ganz offensichtlich nicht genügen würden.
7. Die K[önigliche] Regierung ist bereit, solchen Organisationen ‚nicht nur mit bloßen
Sympathieerklärungen‘ zu helfen, allerdings unter der Bedingung, dass alle in den obigen
Punkten genannten Forderungen zur grundsätzlichen Lebensnorm dieser Organisationen
werden, das heißt, dass die K[önigliche] Regierung bereit ist, die Existenz von Organisationen zu unterstützen, die kämpferisch gesinnt sind, ausreichend Mittel und Wege in der
Hinterhand haben, aber mucksmäuschenstill Gewehr bei Fuß stehen und erst dann von der
statischen in die dynamische Phase übergehen, wenn das fragliche Objekt von allen Seiten
gleichzeitig sowohl von äußeren wie von inneren Kräften angegriffen wird [Hervorhebungen im Original – S. T.]. 6
6
Telex Nr. 232843 von Außenminister Benito Mussolini an Botschafter Carlo Durazzo, Rom,
Zwischen offizieller Außenpolitik und geheimer „Paralleldiplomatie“
119
Bereits wenige Monate später gab der „Duce“ das Signal zum Übergang von der „statischen in die dynamische Phase“, als die IMRO mit einer Serie von Bombenattentaten und Anschlägen auf führende Militärs eine Art Bürgerkrieg im jugoslawischen
Teil Makedoniens, dem so genannten „Südserbien“, auslöste.
Als im Juli 1929 der „Duce“ den Palazzo Chigi mehr oder weniger desillusioniert verließ, traten die Verbindungen zu den illegalen Bewegungen Südosteuropas in
den Hintergrund. Zwar hielt auch Dino Grandi Kontakt zur IMRO und vor allem zur
Ustaša, aber auf diskreterer Basis, da man die guten Verbindungen nach London nicht
durch diese Art von Geheimpolitik gefährden wollte. Jetzt war also wieder eine „statische Phase“ angebrochen. Erst ab 1932, nachdem der „Duce“ erneut Außenminister
geworden war, reaktivierte man die Drähte zum südosteuropäischen Untergrund wieder. 1932 unternahm die Ustaša von italienischem Territorium aus einen Einfall nach
Jugoslawien und 1933 bemühte sich der Chef des Kosovo-Komitees, Hasan Bey
Prishtina, gar, ein ungarisch-makedonisch-kroatisch-kosovoalbanisches Bündnis unter italienischer Ägide zustande zu bringen. 1934 schließlich musste man auch in
Rom einsehen, dass Risiken und Erfolge der „Paralleldiplomatie“ mit den subversiven Bewegungen in keinerlei Verhältnis mehr standen. In einer kroatisch-ungarischmakedonischen Kooperation wurden zwar der jugoslawische Diktator und König sowie der französische Außenminister ermordet, doch warf dieses Komplott dunkle
Schatten auf die italienische Regierung. Nur die besondere politische Konstellation
im Europa des Jahres 1934 ließ Großbritannien und Frankreich vor einer deutlichen
Anklage Italiens Abstand nehmen.
Der Umstand, dass Italien fast nur noch mit Hilfe von Untergrundbewegungen
in Südosteuropa aktiv werden konnte, zeigte deutlich die Schwäche des italienischen Einflusses in dieser Region. Bereits die Weltwirtschaftskrise, die ein Erstarken
des deutschen Einflusses in Südosteuropa mit sich brachte, hatte die italienischen
Positionen dort gefährdet. Ebenfalls zu Beginn der dreißiger Jahre setzte eine weitreichende Umorientierung der italienischen Außenpolitik weg vom Balkan-DonauRaum und hin zu Interessen in Libyen und Äthiopien ein. Zur Erreichung kolonialer
Ziele war aber eine gesicherte Adria-Flanke unabdingbare Voraussetzung. Von 1932
an suchte Italien daher die Wiederannäherung an Frankreich, was zur Entspannung
des Verhältnisses zur Kleinen Entente beitrug. Ihren organisatorischen Ausdruck
fand diese Umorientierung im Juli 1932 in der Entlassung des gemäßigte Faschisten
Dino Grandi und in der Einsetzung von Leuten wie Fulvio Suvich im Palazzo Chigi,
die die koordiniert wirtschaftlich-politische der rein politischen Aktion vorzogen.
Trotz südosteuropäischer Rückschläge wie dem Organisationspakt der Kleinen Entente 1933 und dem Balkanpakt 1934 konnte die italienische Diplomatie jetzt ihren
ersten realen, dauerhaften politischen Bündniserfolg in dieser Region verzeichnen.
Bezeichnenderweise war dieses italienisch-österreichisch-ungarische Bündnis eher
ein Wirtschaftspakt denn eine Offensivallianz mit revisionistischer Zielsetzung.
28. Juni 1927. In: I documenti diplomatici italiani, Serie VII, Bd. 4. Rom 1962, Dok.-Nr. 302, S. 294–
295.
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Balcanica
Was waren die Gründe für das Scheitern der verschiedenen italienischen Bündniskombinationen in Südosteuropa in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre? Da
wären zunächst etliche politische Gründe anzuführen:
– Mussolini, Grandi und die anderen Strategen der italienischen Südosteuropapolitik
unterschätzten die Kohärenz der Kleinen Entente sowie die Stabilität der Verbindungen zwischen dieser und Frankreich.
– Sie unterschätzten weiter die Kluft zwischen den in der Kleinen Entente organisierten Siegerstaaten und den südosteuropäischen Verlierern Ungarn und Bulgarien.
– Schließlich unterschätzten sie die Entschlossenheit der auf isolationistisch-kolonialpolitischem Kurs steuernden konservativen britischen Regierung, Südosteuropa
nicht noch einmal zu einem gefährlichen Krisenherd der Politik der Großmächte
werden zu lassen.
– Vollends jegliches Gespür hatte der Palazzo Chigi bei der Einschätzung des zwischen den einzelnen südosteuropäischen Staaten angehäuften bilateralen Konfliktpotentials von Grenzstreitigkeiten, territorialen Ansprüchen u. a. vermissen lassen.
Dies hatten die Beispiele Ungarn /Rumänien und Bulgarien /Rumänien sowie Griechenland /Türkei 1928 ganz deutlich gezeigt.
– Hinzu kam schließlich, dass die italienische Regierung keinen konsequenten Kurs
in Fragen der internationalen Politik gegenüber Südosteuropa steuerte: Zwar unterstützte man in Rom etwa die bulgarische Regierung gegen die Angriffe durch
die Nachbarstaaten, nicht aber, wenn z. B. in Genf Fragen der bulgarischen Reparationen verhandelt wurden. In solchen Fällen hielt man in Rom lediglich die Hand
auf und gab sich noch unnachgiebiger als Großbritannien oder gar Frankreich.
Ein weiterer Grund für das Versagen der italienischen Südosteuropapolitik lag in deren mangelnder, um nicht zu sagen: fehlender ökonomischen Untermauerung. Man
könnte sogar so weit gehen und behaupten, dass die italienische Wirtschaftspolitik
in Südosteuropa die verschiedenen Bündniskombinationen der italienischen Diplomatie unmöglich machte. Ein Beispiel: Jugoslawien, ein Land, das auf den Export
von Rohstoffen wie Erz und vor allem Holz, von Schlachtvieh und Fleisch, aber
auch von anderen agrarischen Produkten wie Getreide angewiesen war, wickelte ein
gutes Viertel seines Exportes mit Italien ab, war also an seinen politischen Gegner
wirtschaftlich gebunden. Nicht so Bulgarien, eng mit Italien liiert, das aber in wirtschaftlicher Hinsicht von Italien so gut wie nichts zu erwarten hatte, im Gegenteil:
Italien verfocht seine eigenen wirtschaftlichen Anliegen in Bulgarien mit besonderer
Härte und Unnachgiebigkeit. Die Tschechoslowakei und Griechenland wären zwei
weitere Extrembeispiele. Hinzu kam, dass auch auf Sektoren, die durch neue Technologien den italienischen Bedarf an Rohstoffen steigerten, wie etwa die Entdeckung
der Produktion von Viskose, einer aus Zellstoff bzw. Holz hergestellten künstlichen
Faser – eine italienische Erfindung! –, einseitig Länder wie Jugoslawien begünstigt
wurden. Mit anderen Worten: Vom Außenhandel mit Italien profitierten die politischen Gegner, während die tatsächlichen und potentiellen Partner leer ausgingen.
Die einzige Ausnahme hierbei war Albanien, gleichzeitig das einzige Land in Süd-
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121
osteuropa, in dem der Palazzo Chigi im Verbund mit anderen Ministerien und der
Privatwirtschaft eine systematische Wirtschaftspolitik betrieb. Nicht zufällig war Albanien vom I. Tirana-Pakt an völlig von Italien abhängig.
Es wäre allerdings nicht richtig zu meinen, der „Duce“ und ein Teil seiner Mitarbeiter hätten diese Probleme nicht erkannt. Ihnen war durchaus klar, dass Italien in wirtschaftlicher Hinsicht gegenüber den Westmächten, aber auch gegenüber
Deutschland dadurch benachteiligt war, dass die Aufnahmefähigkeit seines Marktes
begrenzt war. Doch ausgehend vom Interesse des Landes, Rohstoffe zu importieren
und Fertigwaren zu exportieren, verband man den Plan der Errichtung eines italienischen „Jagdsperrgebiets“ in Südosteuropa mit dem der Errichtung eines italienischen
Wirtschaftsraumes dort. Dieser Plan funktionierte nur zum Teil, etwa auf dem Gebiet
der Viskoseproduktion, und dies nicht nur, weil weder die italienischen Banken noch
die Privatwirtschaft noch das Finanzministerium Interesse an Auslandsinvestitionen
und Kapitalexport hatten, sondern auch weil im Palazzo Chigi eine starke Fraktion
gegen derartige Pläne opponierte. Dino Grandi selbst meinte noch als Unterstaatssekretär 1929, als Frankreich einen wirtschaftspolitischen Vorstoß nach Südosteuropa
plante, Überlegungen zu einem stärkeren wirtschaftlichen Engagement Italiens dort
seien „dummes Geschwätz“, da „unrealistische Träume“: „Der italienischen Wirtschaft kann im gegenwärtigen Moment keine einzige Lira entzogen werden.“ 7
Die Folgen der Weltwirtschaftskrise und vor allem des verstärkten wirtschaftlichen Vordringens Frankreichs und Deutschlands in den Balkan-Donau-Raum zwangen jedoch auch Italien zu einem ähnlichen Vorgehen. Im Mai 1930 entwarf Staatsrat
Iginio Brocchi das Projekt eines Wirtschaftblockes, gebildet aus Italien, Österreich
und Ungarn, wie es dann 1934 erfolgreich in die Tat umgesetzt wurde.
Die italienischen Versuche zur Errichtung von Bündnissystemen in Südosteuropa,
deren Ziel die Vormacht in diesem Gebiet sowie die Revision der Pariser Verträge von
1919 war, waren also so lange erfolglos gewesen, bis man sich in Rom zu einer koordinierten politisch-wirtschaftlichen Aktion entschloss. Die Anfangserfolge dieser
Aktion fielen jedoch bereits in eine Periode, in der Italien ein übermächtiger Konkurrent, und zwar sowohl auf politischem wie auch auf wirtschaftlichem Gebiet in
Südosteuropa erwachsen war, dem es nichts Substantielles entgegenzusetzen hatte:
das „Dritte Reich“.
7
Handschriftliche Randbemerkung von Unterstaatssekretär Dino Grandi auf einer Mitteilung des Büros III der Generaldirektion für Europa und die Levante des italienischen Außenministeriums an
Außenminister Benito Mussolini. Rom, Januar 1929. In: I documenti diplomatici italiani, Serie VII,
Bd. 7. Rom 1970, Dok.-Nr. 229, S. 251–252, hier S. 252.
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The Internal Macedonian
Revolutionary Organization and Bulgarian
Revisionism, 1923 – 1944
[2013]
Vision turned into politics:
The Bulgarian syndrome of San Stefano
It was a German Federal chancellor who once dryly remarked “If you have visions,
go and see a doctor!” 1 In applying this advice to the political elites of Bulgaria, one
would expect them spending significant parts of their life in the doctor’s waiting
room. This comment rings true because from the founding of the Principality of Bulgaria at the Congress of Berlin of 1878 until the country’s accession to the European
Union in 2007 it was a vision that decisively shaped Bulgaria’s foreign policy for almost 130 years. What is meant here is, of course, the Preliminary Russian-Ottoman
Peace Treaty of March 3, 1878, signed in the village of San Stefano near Istanbul. At
San Stefano, the victorious Tsar had forced upon the Sultan a Greater Bulgaria reaching from the Danube to the Aegean Sea and from the Black Sea to Lake Okhrid. This
geopolitical design, however, never became a political reality. Instead, a few months
later, at the Congress of Berlin, Greater Bulgaria was replaced by a threefold setup:
(a) Macedonia and Thrace along with Saloniki remained integral parts of the Ottoman
Empire; (b) Plovdiv was made the capital of an autonomous Ottoman province called
Eastern Rumelia; and (c) a Principality of Bulgaria under the suzerainty of the Sublime Porte was founded to the south of the Danube with Veliko Turnovo and then
Sofia as its capital.
The Treaty of Berlin of July 1878 came as a deep disappointment to the leaders
of the Bulgarian national movement who after a year of provisional Russian administration had just started working in their new capacities as cabinet ministers,
army officers, state servants and so on. The political elite of the new principality
soon turned the new state into a tool to ‘regain’ the territories ‘lost’ in Berlin, first
of all Macedonia and Thrace. The first step towards a realization of what was by
now called ‘San Stefano Bulgaria’ through a revision of Berlin was the ‘reunification’ of Bulgaria with Eastern Rumelia in 1885. The second step was the setting up
of a movement for the liberation of still Ottoman Macedonia, consisting of an Internal Macedonian and Adrianopolitan i. e., Thracian) Revolutionary Organization
(IMARO) founded in 1893 and in 1895 of a Supreme Macedonian and Adriano-
1
Wolfgang Schäuble, “90. Geburtstag: Helmut Schmidt berauscht mit seiner Nüchternheit”. Die Welt,
December 22, 2008 (URL http://www.welt.de/politik/article2916542/Helmut-Schmidt-berauschtmit-seiner-Nuechternheit.html, letzter Zugriff: 04. 10. 2016).
The Internal Macedonian Revolutionary Organization
123
politian Committee (SMAC) loyal to Sofia and fighting also for an Anschluss of
Macedonia to Bulgaria. The third step then was the military occupation of Northern Macedonia, also called Vardar Macedonia, and Western Thrace in World War I.
When Bulgarian troops had to withdraw from these territories in 1918 and the Paris
Peace Conference restored Vardar Macedonia to Serbia respectively to the new Serbian-dominated Kingdom of the Serbs, Croats and Slovenes (SHS), renamed in 1929
into Yugoslavia, as well as Western Thrace to Greece a significant change took place
in Bulgaria’s San Stefano programme: For two decades to come not military force
but ‘peaceful revisionism’ was applied to reach the aim of a ‘return’ of Macedonia
and Thrace to ‘mother Bulgaria’. However, the formerly anti-Ottoman Macedonian
movement reorganized itself in 1919 on Bulgarian territory in the form of the Internal
Macedonian Revolutionary Organization (IMRO). Its main enemy was from now on
the SHS State resp. Yugoslavia, but up to 1923 also the Bulgarian government led by
Aleksandur Stamboliiski, the founder of the country’s peasant party, was hostile to
the organization. When Stamboliiski was overthrown by the bourgeois opposition in
1923 IMRO took revenge by mutilating and killing him.
It was the Ribbentrop-Molotov Pact of 1939 which once again turned the Bulgarian San Stefano vision into diplomatic initiatives and military alliances – a strategy
that ultimately resulted in ‘regaining’ Vardar Macedonia and Western Thrace. The
years of 1941 to 1944 brought a ‘re-enactment’ of what had happened from 1915
to 1918: In the wake of the attack of the German armed forces the Bulgarian army
occupied almost the same formerly Serbian resp. Yugoslav and Greek territories for
a second time. 2 Once more, the vision of San Stefano was realized to a considerable
degree. And when the Paris Peace Treaty with Bulgaria of 1946 brought another revision of the revision, the vision still lingered on while acquiring various forms: First
in the late 1940s, a federation of Bulgaria and Tito’s Yugoslavia (with Macedonia
as a link between the two) was envisioned. Then, after the Tito-Stalin split of 1948,
another military occupation of Vardar Macedonia in the wake of a Soviet attack on
Yugoslavia was hoped for. And finally, in 1991 the hope arose within Bulgaria that
newly independent Macedonia would strive for a voluntary ‘reunification’.
None of these hopes, however, came true: Today, Bulgaria and Macedonia are
neighboring, but separate states, and the ‘special relationship’ between them claimed
by the Bulgarians is denied by most citizens of Macedonia. Also, Aegean Macedonia and Western Thrace remained parts of Greece, another neighbor of Bulgaria
and nowadays its partner in the EU and NATO. Today, territorial revisionism, be it
by peaceful means or by force, is no longer part of Bulgaria’s foreign policy – yet
nevertheless the specter of San Stefano still haunts the Bulgarians, in particular their
intellectual, cultural, clerical and even political elites. Therefore, what is described in
the following parts can only partly be labeled ‘history’ and ‘memory’ – for Bulgarian
2
Björn Opfer, Im Schatten des Krieges. Besatzung oder Anschluss – Befreiung oder Unterdrückung?
Eine komparative Untersuchung über die bulgarische Herrschaft in Vardar-Makedonien 1915–1918
und 1941–1944 (Münster, 2005).
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124
Balcanica
society and politics these topics still belong to categories of ‘reality’ and ‘present’.
Three intertwined developments will be covered:
First, two phases of Bulgarian revisionism in the interwar period – a ‘peaceful’
one up to 1939 followed by one of tacit support of the Third Reich in 1940/1941;
Second, two differing phases in which the degree of influence of IMRO on Bulgarian foreign policy varied – before 1934 it was strong while from 1934 to 1941 it
was still there, yet much weaker;
And third, Bulgaria and IMRO in the German orbit 1941–1944.
Well into the 1930s the two terms cum concepts (‘Bulgarian’/‘Bulgaria’ and
‘Macedonian’/‘Macedonia’) did not exclude each other, to the contrary: In historical and political terms, Macedonia was perceived as a part of Bulgaria, and in
ethnic and linguistic terms Macedonians were part of the Bulgarian ethnos, if not
nation. Whether at that time a Macedonian called himself either ‘Macedonian’, ‘Bulgarian’, ‘Bulgaro-Macedonian’ or ‘Macedonian Bulgarian’ he basically meant the
same thing: a Christian-Orthodox speaker of the Eastern variety of Southern Slav
languages – and he implied that all members of this group should live in one state
called Bulgaria. The concept of a separate Macedonian state was a product of the late
1920s and favored by just a small group within the Macedonian movement. The idea
that next to the Bulgarian nation a Macedonian nation existed with its own identity,
language, literature, history and so on was of an even more recent nature. This concept was conceived in the 1930s and put into practice by Tito’s partisans at the end
of World War II.
‘Peaceful revisionism’: Official Bulgarian foreign policy
in the interwar period
In between 1912 and 1918, Bulgaria fought three wars, of which it won one – the
First Balkan War –, but lost the two others – the Second Balkan War and World
War I. Still, its territory increased by ten percent. Nevertheless, the Peace Treaty
with Bulgaria of Neuilly of 1919 was perceived by the elites and the inhabitants
of the country as a ‘national catastrophe’. The main reason for this was the fact that
Vardar Macedonia which from 1915 to 1918 was occupied respectively ‘liberated’ by
Bulgarian troops and administered by Sofia became a part of the neighboring SHS
Kingdom. Furthermore, Western Thrace, also under Bulgarian occupation, as well as
Aegean Macedonia became a part of Greece after World War I. And finally, Southern
Dobruja was lost to Romania, and the Western Outlands around the towns of Pirot,
Bosilegrad and Tsaribrod to Yugoslavia. Pirin Macedonia and the Rhodope Region,
however, remained within Bulgaria.
Bulgarian revisionism after Neuilly had two faces – an official one of a ‘peaceful’
revisionist strategy aiming at a return of the ‘lost Bulgarian lands’, and an unofficial one represented by a number of semi-legal paramilitary nationalist movements
based on Bulgarian territory and operating in coordination with the Bulgarian King,
the army, and /or the government. The most influential ones were those from Mace-
The Internal Macedonian Revolutionary Organization
125
donia, first among them IMRO. 3 National-revolutionaries from now Greek Thrace
set up an Internal Thracian Revolutionary Organization (ITRO) as did the ones from
Southern Dobruja, now in Romania (Internal Dobrujan Revolutionary Organization –
IDRO), and from the Western Outlands in Yugoslavia (Revolutionary Organization
for the Liberation of the Western Outlands “Vurtop”). 4
Official Bulgarian revisionism only formally strove for the ‘return’ of Vardar
Macedonia, Aegean Macedonia, Western Thrace, Southern Dobruja and the Western Outlands – although in political rhetoric this aim was upheld consistently. In fact,
all Bulgarian interwar governments excluded the use of military force against one or
more of their neighbors but hoped for a change in the international situation in their
own favor. Four principles functioned as guidelines in Bulgaria’s foreign policy well
into the 1930s:
First, the most important international factor for Bulgaria was the League of Nations;
Second, Bulgaria pursued a policy of equidistance to Great Britain, France and Italy while
not reactivating historical and cultural ties with Weimar Germany and Soviet Russia;
Third, Bulgaria strictly obeyed the military and financial obligations of the Treaty of
Neuilly;
And fourth, Bulgaria kept an equidistance also to her four neighbors, i. e., Turkey, Greece,
Yugoslavia and Romania. 5
Although Sofia did not always stick closely to these principles – e. g., cultivated a
special relationship with Mussolini’s ‘new’ Italy – the policy of ‘peaceful revisionism’ was highly successful: The League of Nations reduced Bulgaria’s reparation
load substantially, granted two large loans, abolished the Inter-Allied Military Control Commission for Bulgaria and even intervened swiftly in Sofia’s favor when in
1925 the Greek army crossed into Bulgarian territory. Yet by 1936, the League of
3
4
5
Kostadin Paleshutski, Makedonskoto osvoboditelno dvizhenie sled Purvata svetovna voina (1918–
1924) (Sofia, 1993); idem, Makedonskoto osvoboditelnoto dvizhenie 1924–1934 (Sofia, 1998);
Spyridon Sfetas, Makedonien und interbalkanische Beziehungen 1920–1924 (München, 1992);
Zoran Todorovski, Vnatreshnata Makedonska Revolutsionerna Organizatsiia 1924–1934 (Skopje,
1997); Ivan Katardzhiev, Makedoniia sproti Vtorata svetska voina (Skopje, 1999); idem: Makedoniia
megu Balkanskite i Vtorata svetska voina (Skopje, 2000) (= Istoriia na makedonskiot narod, vol. 4);
Aleksandur Grebenarov, Legalni i taini organizatsii na makedonskite bezhantsi v Bulgaria (1918–
1947), (Sofia, 2006).
Dobrin Michev et al. (eds.): Natsionalno-osvoboditelnoto dvizhenie na makedonskite i trakiiskite
bulgari. T. IV: Osvoboditelnite borbi sled Purvata svetovna voina 1919–1944 (Sofia, 2006); Staiko
Trifonov, Bulgarskoto natsionalnoosvoboditelnoto dvizhenie v Trakiia 1919–1934 (Sofia, 1988);
Petur Todorov, Osvoboditelnite borbi na Dobrudzha. Dobrudzhanskata revoliutsionna organizatsiia
1925–1940 (Sofia, 1992); Metodi Petrov, “Vurtop” – revoliutsionna organizatsiia za osvobozhdenie
na Zapadnite pokrainini (Sofia, 2003.)
Iltscho Dimitrov, Bulgarien in der europäischen Politik zwischen den beiden Weltkriegen (Vorläufige
Schlussfolgerungen), in Bulgarische Sprache, Literatur und Geschichte, ed., Wolfgang Gesemann
(Neuried bei München, 1980), 203–225; Elżbieta Znamierowska-Rakk, Sprawa Tracji Zachodniej w
polityce bułgarskiej (1919–1947 (Warsaw, 1991).
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126
Balcanica
Nations had virtually disintegrated. Simultaneously, in 1934 the country’s four neighbors had signed a Balkan Pact which completely encircled Bulgaria – a development
which forced Bulgarian diplomacy to seek an alliance with one of its neighbors. It
turned out that Yugoslavia was willing to make an offer, notwithstanding Bulgaria’s
aspirations on Vardar Macedonia. Parallelly, the emergence of King Boris III of Saxony-Coburg-Gotha as Bulgaria’s strong man from 1935 on led to an intensification
between Sofia and now National-Socialist Berlin.
Still, for several years Bulgaria had great difficulties in re-orienting itself between
Fascist Italy and the Third Reich on the one hand, and the Western Powers as well as
the Soviet Union on the other. It was the German-Soviet Pact of 1939 which put an
end to this difficult situation: Now the two powers which mattered most for Bulgaria
and the Bulgarians were allies, and Sofia’s ‘peaceful revisionism’ acquired a different
quality. It is in this context that the famous bon mot by King Boris III has to be understood: “My army is pro-German, my wife is Italian, my people are pro-Russian. I’m
the only pro-Bulgarian in this country.” 6 In 1940, the new Bulgarian government of
the pro-German Bogdan Filov joined Hungary and the Soviet Union in pressing the
Third Reich for territorial concessions at the expense of Romania. And in the Treaty
of Craiova of September 7, 1940, Romania had to cede Southern Dobruja to Bulgaria.
Still, however, Bulgaria pursued a policy of formal neutrality between Nazi Germany
and Great Britain. This situation changed in late 1940 when Hitler insisted on preparing his attack on Greece and Yugoslavia – “Unternehmen ‘Marita’” – from Bulgarian
soil. On March 1, 1941, Bulgaria signed the German-Italian-Japanese Tripartite Pact,
on March 2, German troops entered Bulgaria, and on 6 April, the Wehrmacht invaded
Greece and Yugoslavia from Bulgarian territory. After the successful German military operations in the Balkans, Bulgaria was awarded with formerly Yugoslav Vardar
Macedonia and with formerly Greek Western Thrace – without a single shot from a
Bulgarian gun fired. Sofia’s ‘peaceful revisionism’ had achieved two major aims in
the direction of realizing the vision of San Stefano. 7
Militant revisionism: Informal Bulgarian
interwar Balkan policy
The unofficial face of Bulgarian revisionism was shaped by legal, semi-legal, illegal
and even terrorist emigré organizations, first of all by IMRO, but also by ITRO, IDRO
and “Vurtop”, and, particularly, operating on and from Bulgarian territory against
the neighboring states Yugoslavia and Romania, to a lesser degree Greece. In contemporary Bulgarian terminology, these organizations were described as neotgovorni
faktori – that is literally political forces which could not be held responsible for what
6
7
Marshall Lee Miller, Bulgaria during the Second World War (Stanford, CA, 1975), 1.
Hans-Joachim Hoppe, Bulgarien – Hitlers eigenwilliger Verbündeter. Eine Fallstudie zur nationalsozialistischen Südosteuropapolitik (Stuttgart, 1979).
The Internal Macedonian Revolutionary Organization
127
they did since they were beyond the reach of state organs. The most powerful of
these formations was the IMRO – founded in 1893 in Ottoman Saloniki, reorganized
in 1919 in Sofia, flourishing up to 1934 in Bulgaria, temporarily in disgrace there until 1941, resurrected under Croat and German protection till 1944 and disbanded and
eliminated by Bulgarian and Yugoslav Communists in 1946. In particular, between
1919 and 1934, IMRO possessed not only ‘a state within a state’ – the Southwestern
Bulgarian district of Petrich, also called Pirin Macedonia, bordering on Yugoslavia
and Greece – but functioned temporarily as ‘a state above the state’. 8 More often
than not this organization forced the King, the parties, individual politicians, army
officers, judges, journalists and others to do what it demanded from them – irrespective of the national interest of Bulgaria. In fact, in between 1923 and 1934, at
various occasions the Bulgarian state as such and its entire foreign policy towards
Yugoslavia were virtually taken hostage by IMRO. Prime Minister Andrei Lyapchev,
himself of Macedonian origin and in office from 1926 to 1931, openly confessed
that IMRO and its ally Italy forced their will upon his government: No rapprochement with Yugoslavia, no efficient control of the Bulgarian-Yugoslav border, and no
giving in to British and French demands for narrowing the operational freedom of
IMRO within Bulgaria. While Lyapchev, like other conservative, liberal and rightist
Bulgarian politicians, in principle sympathized with the IMRO, in everyday politics
and diplomacy he opposed it. In doing so, he got under severe pressure not only from
the organization itself but also from its sympathizers in his own government as well
as in the military, the court and the church. The same was true for his predecessor
of the years 1923 to 1926, Aleksandur Tsankov, as well as for his successors up to
1934, Aleksandur Malinov and Nikola Mushanov.
Up to 1929, IMRO’s declared aim was a ‘reunification’ of all Macedonian territories with the Bulgarian state; from 1933 on, however, IMRO’s revised aim was
the founding of ‘a free and independent Macedonia’ as ‘a second Bulgarian state in
the Balkans’. IMRO’s Central Committee was able to mobilize some 5,000 fighters
plus terrorist cells within Bulgaria as well as a tight logistical network of supporters in Yugoslav Macedonia and Albania plus training camps in Hungary and Italy.
Up to 1927, in spring and summer of each year, a mobile IMRO state consisting
of 1,000 to 2,000 uniformed fighters operated in the Vardar region and engaged in
open field battles with Yugoslav army, other security forces, and Serbian counterinsurgents. In addition, IMRO had permanent structures in most of Europe’s capitals
and major cities run by its diplomatic unit, the Foreign Representation. In interwar
Europe, IMRO was unique in any respect. The Croat Ustasha or the Ukrainian terrorists in Poland had set up much smaller and less professional structures, and they
were much more dependent on revisionist sponsor states like Italy, Hungary, Austria,
or Germany. Founded in 1929, ‘Ustasha-Croatian Revolutionary Movement’ led by
Gustav Perčec and Ante Pavelić remained an exile organization with very little backing in Yugoslavia itself. Like the Ukrainian Military Organization (UVO), founded in
8
Dimitur Tyulekov, Obrecheno rodolyubie. VMRO v Pirinsko 1919–1934 (Blagoevgrad, 2001).
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128
Balcanica
1920, and its successor of 1929, the Organization of Ukrainian Nationalists (OUN),
in Poland, Ustasha managed never to control a territory as IMRO did in the Petrich
region or set up a mobile and temporary state like IMRO in Yugoslav Macedonia. 9
Also unlike Ustasha, UVO and OUN, IMRO could rely on a fiscal system of its own
in Bulgaria (including several banks), on a highly lucrative tobacco monopoly and on
the revenues from the production and distribution of opium, the basis for heroin. 10
While connections between IMRO and Ustasha were close from the beginning and
resulted in intense cooperation in the 1930s and early 40s, no contacts to UVO or
OUN are known of.
IMRO, however, suffered from two serious weaknesses. First of all, serious differences of opinion occurred in its Central Committee after the assassination of its
charismatic member Todor Aleksandrov in 1924. One faction led by General Aleksandur Protogerov opted for a continuation of the tactics of full-fledged partisan
warfare while another one led by Ivan Mikhailov favoured individual terrorist acts.
After Mikhailov had Protogerov murdered in 1928, the organization split into two
factions – a strong Mikhailovist wing and a weaker Protogerovist one led by Pero
Shandanov. From 1928 to 1934, both factions engaged into bloody infighting and
mass-fratricide. IMRO’s second weakness was its poor diplomatic performance: Attempts at strategic alliances with Germany and the Soviet Union failed in 1923 and
1924 respectively, and a formal agreement with Mussolini’s Italy in 1927 proved to
be a disappointment not only in terms of financial subsidies and supply of military
equipment but even harmful in terms of the Central Committee’s authority among
the rank and file. 11 By 1934, IMRO’s strength and prestige had decreased to such
a degree that the organizers of a coup d’état in Sofia, namely the Military League
and the pro-Yugoslav political group ‘Zveno’, succeeded in destroying the organization’s stronghold in the Pirin region. IMRO was disbanded by the Bulgarian army
within days and its leader Ivan Mikhailov sentenced to death. He managed, however, to flee to Turkey where Kemal Atatürk granted him political asylum. 12 It was
the Marseille Murder of October 1934 which partly restored IMRO’s international
9
Stefan Troebst, “Nationalismus und Gewalt im Osteuropa der Zwischenkriegszeit. Terroristische Separatismen im Vergleich”, Bulgarian Historical Review 24 (1996), no. 2, 25–55.
10 Stefan Troebst, Mussolini, Makedonien und die Mächte 1922–1930. Die “Innere Makedonische Revolutionäre Organisation” in der Südosteuropapolitik des faschistischen Italien (Köln, Wien, 1987),
88–128.
11 Ilcho Dimitrov, Bulgaro-italianski politicheski otnosheniia 1922–1943 (Sofia, 1976); Troebst, Mussolini, Makedonien und die Mächte.
12 Stefan Troebst, “Vanche Michajlov – teroristut-byurokrat” Kultura [Sofia], no. 4 (2576), 5 February
2010, 10–11 (URL http://www.kultura.bg/bg/article/view/16572, letzter Zugriff: 04. 10. 2016) [German original in this volume]; idem: Ivan Mihajlov im türkischen und polnischen Exil 1934–1939/40;
idem, “Fragmente zur politischen Biographie des Chefs der ‘Inneren Makedonischen Revolutionären
Organisation’”, Südost-Forschungen 46 (1987), 139–196. This as well as other articles by the author
cited here are reprinted in idem, Das makedonische Jahrhundert. Von den Anfängen nationalrevolutionärer Bewegung zum Abkommen von Ohrid 1893–2001 (München, 2007).
The Internal Macedonian Revolutionary Organization
129
prestige. In close cooperation with Pavelić’s Ustasha, Mikhailov’s top hitman Vlado
Chernozemski succeeded in assassinating the Yugoslav King Aleksandar I Karadjordjević and the French foreign minister Louis Barthou.
Revision achieved – and lost again:
Bulgaria and IMRO in World War II
In the early 1940s, IMRO experienced a revival due to the founding of the Independent State of Croatia (NDH) as well as the Bulgarian occupation of Vardar Macedonia
and parts of Aegean Macedonia. Pavelić, now the Poglavnik (leader) of Ustasha
Croatia, was a long-standing active supporter of the Macedonian cause and a personal friend of Mikhailov. 13 Having moved in 1938 from Turkey to Poland, in 1939
to Germany, and in 1940 to Hungary, in 1941 Mikhailov settled in Zagreb where
he functioned as personal foreign policy adviser to Pavelić. From Zagreb, Mikhailov
reorganised the remnants of IMRO’s structures in Bulgaria and directed the establishment of new structures in what was now Bulgarian-occupied Vardar Macedonia. The
reports of Bulgarian ambassador to Zagreb Yordan Mechkarov published in Sofia in
2004 demonstrate Mikhailov’s influence on the Ustasha government. 14
In April 1941, Bulgaria’s pro-German government of Bogdan Filov was awarded
with Greek and Yugoslav territories. In 1942, occupied Aegean and Vardar Macedonia were formally annexed to Bulgaria and turned into provinces governed directly
from Sofia. Among the newly nominated mayors, judges, military commanders, police officers, teachers, and others were many IMRO members and activists. 15 The
close interaction between the organization and Bulgaria’s political, military, administrative, intellectual and other elites which had been weakened in 1934 was now
re-established. This was the reason for the King and the government to try to solve
the issue of Mikhailov: On several occasions, the King’s emissaries tried to convince Mikhailov to return to Sofia where he not only would be granted amnesty but
awarded with a high-level governmental position in Vardar Macedonia. However,
Mikhailov refused and stayed on with Pavelić in Zagreb. Thus, from April 1941 on,
when Bulgarian troops entered Yugoslav Macedonia alongside the Wehrmacht, up
to September 1944, when they were forced to withdraw from there in the wake of
the Red Army’s march on Sofia, relations between official Bulgaria and the IMRO
leadership remained close yet tense. The King always suspected that the Mikhailov
13 Bogdan Krizman, Pavelić i Ustaše (Zagreb, 1978); idem, Pavelić izmed̄u Hitlera i Mussolinija (Zagreb, 1980); idem: Pavelić i Treći Rajh, 2 vols. (Zagreb, 1983); idem, Pavelić u bjekstvu (Zagreb,
1986).
14 Milena Todorakova (ed.), Bulgariia i Nezavisimata Khurvatska Durzhava (1941–1944). Diplomaticheski dokumenti (Sofia, 2004); Nada Kisić-Kolanović (ed.): Poslanstvo NDH u Sofiji. Diplomatski
izveštai 1941–1945, 2 vols. (Zagreb, 2003). See also eadem (ed.): Zagreb – Sofija. Prijatelstvo po
mjeri ratnog vremena 1941–1945 (Zagreb, 2003).
15 Opfer, Im Schatten des Krieges.
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Balcanica
would turn against Bulgaria and set up a Macedonian state with German help. This
was indeed Mikhailov’s political aim but he soon came to realize that (a) Berlin had
no immediate interest in this scheme and (b) the majority of his followers in Bulgaria
proper and in annexed Vardar Macedonia favored the actual ‘reunification’ with Bulgaria over the vague prospect of Macedonian independence. So in 1941, 1942 and
most of 1943 the situation remained as it was.
However, things changed considerably when in September 1943 Italy dropped
out of the war and retreated from the Balkans. Now Berlin relied on IMRO in the
administration of formerly Italian-occupied Northern Greece. In the fall of 1943,
the SS took over from the Italians an irregular pro-IMRO military formation called
Okhrana (Defense) and operating in the Greek districts of Kastoria, Florina, Pella
and Edessa. In coordination with Mikhailov in Zagreb, Okhrana commander-in-chief
Atanas Kalchev set up a unit of 500 men which participated in German anti-partisan
raids during the winter of 1943/44. In doing so Kalchev made it clear to the Germans
that Okhrana was part of IMRO and now fighting for an independent Macedonian
state, no longer for ‘reunification’ with Bulgaria. 16 During the spring and summer of
1944, IMRO and the SS then reorganized Okhrana into a regular military unit called
Third Macedonian Brigade with a planned strength of 12,000 men. In fact, however, it
consisted just of two battalions of 250 men each, initially under Kalchev’s command,
who was later replaced by IMRO member and officer of the Bulgarian Air force
Georgi (Gyosho) Dimchev. He and some 50 other IMRO members functioning as the
Okhrana’s officer corps chose Edessa as headquarters. They hoped for a state-like
Macedonian structure of governance in Northern Greece under German occupation.
When the German Army Group E evacuated Greece in September 1944, Okhrana
was dissolved. While its officers moved to Skopje and Sofia, the rank and file joined
the Slavic units of the Greek pro-Communist partisan army of ELAS where they
fought until the end of the Greek Civil War in 1949 under the name of SNOF (Slavic
National Liberation Front).
In the summer of 1944, with the Red Army advancing swiftly into the Balkans
and the German retreat from Greece and Yugoslavia thus in sight, Mikhailov even
became a potential ally for Hitler’s Balkan policy: On August 29, 1944, German foreign minister Joachim von Ribbentrop proposed to Hitler a contingency plan for the
proclamation of a Macedonian puppet-state with Mikhailov as head. This should secure the German army’s withdrawal from the Balkans and open up the possibility for
British diplomatic recognition of the new state which then would prevent the Red
Army from advancing into Macedonia. On September 1, Hitler issued a ‘Fuehrerbefehl’ ordering the SS, the Wehrmacht and the German legations in Zagreb and Sofia
to carry out Ribbentrop’s proposal immediately. On September 5, Mikhailov arrived
from Zagreb via Sofia in Skopje. After two days of consultations with his followers,
he declined the German offer. With Germans and Bulgarians retreating, the British
16 Stefan Troebst, “I drasi tis ‘Ochrana’ stous nomous Kastorias, Florinas kai Pellas, 1943–1944”, in:
I Ellada 1936–44. Diktatoria – katochi – antistasi. Praktika tou diethnous istorikou synedriu, Hagen
Fleischer and Nikos Svoronos (eds.), (Athens, 1989), 258–261.
The Internal Macedonian Revolutionary Organization
131
and the Soviets advancing, his own lieutenants defecting and the Communist partisans of Tito as well as the regional non-Communist partisan movement of Metodiia
Andonov-Chento gaining the upper hand Mikhailov had realized that by now it was
too late. 17
On September 6, the Soviet Union declared war on Bulgaria, and three days later
the Red Army crossed into the country. By that time the Bulgarian authorities and
military had already evacuated Vardar Macedonia. (With Soviet consent, Western
Thrace was held until October 20.) On November 12, 1944, the German army left
Skopje: Bulgaria’s territorial gains were now lost and Mikhailov sought shelter in the
Austrian Alps. In 1945 due to a Yugoslav warrant he was said to have moved temporarily to Franco’s Spain, finally reappearing in Italy in 1948. Although he never
was granted an US entry visa, he succeeded in re-organizing from his Italian exile
the Macedonian Political (from 1952 on: Patriotic) Organization of Northern America (MPO) into an efficient legal successor organization of IMRO in the United States
and Canada. In the mid-1980s, he re-established clandestine relations with Bulgaria
under Todor Zhivkov in order to form a united front against the Yugoslav project of
a Macedonian nation, and in 1990, after sixty years in exile, Mikhailov died in Rome
peacefully at the age of 94. His former followers in Communist Bulgaria and Tito’s
Yugoslavia suffered a different fate: In Bulgaria, the Protogerovist (Shandanovist)
wing of IMRO had formed an alliance with the Communist Party already during
World War II, and after 1944 many of its members got positions in the new Committee for State Security. This enabled them to clamp hard down on their Mikhailovist
rivals in 1946. Several leaders were executed, the rank and file tried and imprisoned.
And in Communist Yugoslavia attempts at a reorganization of Mikhailovist structures
ended also in execution grounds and forced labour camps.
Legacies: IMRO in today’s Bulgarian and Macedonian politics
The interaction between IMRO and Bulgarian revisionism was intense. The organization tried to push the Bulgarian government away from the policy of a ‘peaceful
revisionism’ toward a policy of militant revisionism in order to ‘liberate’ Macedonia. By 1941, when Bulgaria got its second chance to occupy the Vardar region,
IMRO under Mikhailov’s leadership had changed its program: Now it was no longer
‘reunification’ of Macedonia with Bulgaria, but the establishment of a ‘free and independent Macedonia’. When Berlin finally terminated the support for Sofia in 1944
and turned to Mikhailov, the military situation in the Balkans had changed to the
advantage of the partisans and the Red Army.
17 Stefan Troebst, “‘Führerbefehl!’ – Adolf Hitler und die Proklamation eines unabhängigen Makedonien (September 1944)”, Osteuropa 52 (2002), 491–501. Cf. also Marjan Dimitriievski, Makedoniia vo antifašistička vojna (1944–1945) (Skopje: Menora, 1995); idem (ed.): Tretiot Rajh i Makedoniia 1941–1945 (Skopje, 1995.)
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Balcanica
There is, however, a postscript: In 1989, both in Bulgaria and in Macedonia,
political movements were set up under the label of IMRO. Yet while the revived
organization in Sofia – IMRO-Union of Macedonian Brotherhoods (VMRO-SMD)
since 1996 IMRO-Bulgarian National Party (VMRO-BNP) – is Greater Bulgarianoriented and decidedly anti-Macedonianist, IMRO-Democratic Party for Macedonian National Unity (VMRO-DPMNE) in Skopje favours a ‘re’-unification of Vardar
Macedonia with Aegean and Pirin Macedonia and is despite its Macedonian nationalism sympathetic to neighboring Bulgaria. Nikola Gruevski, the current Prime
Minister of Macedonia, as well as Macedonia’s president Gorgi Ivanov are members
of that party. And Bozhidar Dimitrov, director of the National Historical Museum
of Bulgaria and until 2010 cabinet minister in the current Bulgarian government in
charge of Bulgarians abroad, in a book called The Ten Lies of Macedonism holds that
today’s Macedonians are in fact Bulgarians, that there is no such thing as a Macedonian nation, and that the Macedonian language is just a dialect of the Bulgarian
literary language. 18 Although Dimitrov stops short of advocating an Anschluss of
Macedonia to Bulgaria, he makes it clear that in his view Macedonian statehood is
not more than a regrettable accident in the contemporary history of the Balkans. The
immense popularity of Dimitrov’s TV programs on Bulgarian history points to the
fact that a considerable part of Bulgarians share his views. So it seems that in Bulgaria the vision of San Stefano is still lingering on while in Macedonia political actors
still dream of Mikhailov’s Greater Macedonia.
18 Bozhidar Dimitrov, The Ten Lies of Macedonism (Sofia, 2003).
Gustav Weigand,
Deutschland und Makedonien
[2005]
Der von 1893 bis 1930 an der Universität Leipzig lehrende Ostromanist und Balkanlinguist Gustav Weigand (1860–1930) war nicht nur ein umtriebiger Hochschullehrer, der neben seinem Lehrstuhl eine ganze Reihe inner- wie außeruniversitärer
Institute gründete, sondern zugleich ein kaisertreues und deutschnationales zoon politikon. Besonders deutlich wird dies bezüglich seines intensiven Interesses an der
zentralbalkanischen Region Makedonien im Ersten Weltkrieg und in den zwanziger
Jahren. 1917 war es dem Berliner Geographen Albrecht Penck gelungen, von Wilhelm II. 50.000 Goldmark zur Bildung einer „Makedonischen Landeskommission“
(Malako) zu erhalten. „Die Okkupation von Mazedonien durch deutsche Truppen“,
so Penck am 7. Mai 1917 in einem Brief an Weigand, „soll benutzt werden, um
möglichst viel Material zur Kenntnis des Landes zu gewinnen.“ Der spätere Begründer einer „nationalen Erdkunde“ hielt dabei Weigand für „die einzige Persönlichkeit [. . . ], welche objektives Licht breiten könnte über das bunte Völkerbild“.
Weigand machte sich umgehend auf den Weg ins bulgarisch besetzte Niš, wo er mit
deutschen und bulgarischen Stellen die Arbeit der Malako koordinierte. Ein Teilergebnis seiner eigenen Feldforschung ist sein 1919 abgeschlossenes und 1924 im
Leipziger Verlag Friedrich Brandstätter erschienenes Buch Ethnographie von Makedonien. Geschichtlich-nationaler, sprachlich-statistischer Teil. (Es gehört zu den
Besonderheiten der das „Zeitalter der Extreme“ nicht unmaßgeblich prägenden Makedonischen Frage, dass diese Broschüre 1981 im Sofijoter Partizdat, dem Verlag der
Kommunistischen Partei Bulgariens, als Faksimile nachgedruckt wurde.) Am Ende
dieses Buches findet sich zum einen ein vehementer Protest gegen „das Verbrechen
von Neuilly“, d. h. die Pariser Nachkriegsregelung bezüglich Bulgariens und Makedoniens, sowie gegen „die zentralistische, chauvinistische Belgrader Regierung
unter Leitung von [Nikola] Paschitsch“. Zum anderen plädiert Weigand hier für ein
politisch-territoriales Programm, das zeitgleich die von Bulgarien aus gegen das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen agierende Guerilla samt Terrorgruppen
der Inneren Makedonischen Revolutionären Organisation (IMRO) vertrat: Vardar-,
Ägäisch- und Pirin-Makedonien sollten zu einem „freien Makedonien“ zusammengefasst und in Gestalt eines zweiten bulgarischen (und daher bulgarischsprachigen)
Staates konstituiert werden: „Das“, so Weigand, „wäre die einzige gerechte und
vernünftige, weil mögliche Lösung des makedonischen Problems, nach dem die
Makedonier mit allen Kräften streben.“ Unter dem Ethnonym „Makedonier“ verstand Weigand – wiederum analog zur IMRO – sämtliche Bewohner der Großregion
Makedonien, nicht hingegen eine eigenständige ethnische Gruppe. Unter den so verstandenen Makedoniern bildeten in seiner Sicht die Bulgaren die Mehrheit, Türken,
Albaner („Albanesen“), Griechen, Aromunen („Wlacho-Megleniten“), sephardische
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Juden („Spanjolen“), Roma („Zigeuner“), Serben, Pomaken (Muslime bulgarischer
Zunge), Armenier und Tscherkessen jeweils Minderheiten. Höchstwahrscheinlich
hat Weigand in seiner Zeit in Makedonien die Führer der IMRO, Hauptmann Todor
Aleksandrov und Generalleutnant Aleksandŭr Protogerov, denen Wilhelm II. 1916
in Niš eigenhändig eiserne Kreuze an die Brust heftete, persönlich kennengelernt.
Jedenfalls ist seitdem der Name Weigand bis heute ein Markenname in Bulgarien.
Seine Sympathien für eine Revision des Systems von Versailles im Allgemeinen
und für die Gründung eines makedonischen Staates gemäß dem Programm der militant-terroristischen IMRO im Besonderen vertrat Weigand auch in der Weimarer
Öffentlichkeit. So war er der Hauptredner auf der Gründungskonferenz der IMROFrontorganisation „Bund der makedonischen Studentenvereine im Ausland“, die vom
5. bis 8. Januar 1925 im Leipziger Hotel „Deutsches Haus“ stattfand und vom „Makedonischen Akademischen Verein Leipzig“ organisiert wurde. Wie bereits in seinem
im Vorjahr erschienenen genannten Makedonien-Buch verwendete Weigand auch bei
dieser Gelegenheit die IMRO-Parole „Freiheit oder Tod!“, was den Leipziger Polizeipräsidenten zu einem kritischen Bericht an das Auswärtige Amt veranlasste. Als
Reaktion auf eine Protestkundgebung griechischer Studenten der Universität Leipzig
gegen den Gründungskongress und Weigands Auftritt hielt dieser in Anwesenheit des
Rektors und der Kongressteilnehmer spontan einen zweiten Vortrag, in welchem er
die Pariser Nachkriegsregelung geißelte und deren Revision forderte. Dieser Vortrag
löste erneut heftige Proteste aus, diesmal vor allem der griechischen und jugoslawischen Presse, die unisono die Vermutung äußerten, der IMRO sei es gelungen,
die deutsche Politik auf ihre Seite zu ziehen. Eine nicht ganz unbegründete Vermutung, denn im Frühjahr 1923 hatte es in der Tat Geheimgespräche zwischen dem
Auswärtigen Amt und dem ZK der IMRO gegeben, wobei die letztgenannte eine
„Parallelaktion“ von IMRO und Reichswehr im serbischen Teil Makedoniens und im
polnischen Teil Oberschlesiens anregte. Mit dem Amtsantritt Gustav Stresemanns
als Reichskanzler und Außenminister im Sommer 1923 wurden diese Kontakte umgehend eingestellt.
Der Leipziger Gründungskongress vom Januar 1925 richtete abschließend einen
Aufruf „An die akademische Jugend der ganzen Welt!“, in dem er unter Verweis
auf Weigand um Unterstützung der makedonischen Sache warb. Wie die Polizeidirektion Wien dem österreichischen Bundeskanzleramt berichtete, befanden sich
unter den 313 „studentischen“ Delegierten des Leipziger Gründungskongresses etliche wegen Mordes und anderer Kapitalverbrechen gesuchte makedonische Guerillakämpfer, die von der IMRO aus dem jugoslawisch-bulgarischen Kampfgebiet
vorübergehend in die universitären Schonräume Mittel- und Westeuropas geschickt
worden waren.
Der besagte „Bund der makedonischen Studentenvereine im Ausland“ stand übrigens unter der Kontrolle des ZK-Mitglieds der IMRO Ivan Michajlov. Michajlov
hatte 1924 die Ermordung von ZK-Chef Aleksandrov organisiert und sollte 1928
auch für das erfolgreiche Attentat auf ZK-Mitglied Protogerov verantwortlich zeichnen. In seinen Memoiren nennt der 1990 in Italien friedlich verstorbene Michajlov
Weigand mehrfach als Freund der IMRO.
Gustav Weigand, Deutschland und Makedonien
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Nun könnte man natürlich vermuten, dass der Leipziger Romanistikprofessor in
seinem Elfenbeinturm keine Kenntnis von den kriminellen Verstrickungen seiner makedonischen Studierenden besaß. Das indes ist in hohem Maße unwahrscheinlich.
Denn die Tagespresse der Weimarer Republik war voll von glorifizierenden Artikeln
über den damals so genannten „makedonischen Freiheitskampf“. So las man etwa
am 9. Oktober 1924 in den liberalen Münchner Neuesten Nachrichten:
Wir Deutsche, die wir selbst gutes, kerndeutsches Land unter feindlicher Macht haben,
können die mazedonische Freiheitsbewegung, die gegen viel brutalere Vergewaltigung seit
Jahren vergeblich ankämpft und verblutet, mit innerstem Mitgefühl verstehen. Hier wird ein
Kampf auf Leben und Tod geführt, nicht von zuchtlosen Banden, sondern von Männern, die
ihr Leben für des Vaterlands Befreiung einsetzen. Eindringlinge nisten sich im Lande ein,
verjagen das seßhafte Volk hinaus in die Welt und zwingen den gemarterten Rest, das abzuschwören, was jedem Volk das Heiligste ist. Tiefer wie in jedem anderen Volk wurzelt in
diesem die Idee der Freiheit; für sie bringen sie alle Opfer bis zum Tod. Es ist ein Volk von
Brüdern trotz der verschiedensten Stammeszugehörigkeit. Wir dürfen einem solchen Volk,
das durch sein Verhalten der größten Hochachtung wert ist, die moralische Unterstützung
nicht versagen.
Das traf ziemlich genau den Weiheton, den die deutsche Presse von ganz rechts
bis hin zur KPD bezüglich der makedonischen Bewegung anschlug. Noch expliziter äußerte sich der Bremer Kaffeeröster und Flugzeugbauer Ludwig Roselius, der
im Weltkrieg das Bindeglied zwischen Berlin und der IMRO war und der gleichfalls
zu Weigands Bekannten aus makedonischen Tagen zählen könnte. Roselius schrieb
ebenfalls 1924 in einem Nachruf auf den im Auftrag seines eigenen Mitarbeiters
Michajlov ermordeten IMRO-Chef Aleksandrov:
Dort oben in den mazedonischen Bergen haben sich Reste in der Völkerwanderung streifender Germanen niedergelassen. In den freien, weiten Bergen, in denen nachts der Himmel
sich zu den Menschen herabsenkt, konnte das Gefühl für wahre Freiheit, die Mitgift der
nordischen Heimat, niemals sterben. Die 2000 Jahre konnten wohl die Völker der Flußtäler
und Niederungen, in denen es ostwärts und westwärts wogte, verändern, wechseln, auslöschen. Die Asen-Söhne in den Bergen hielten der alten Sitte treue Wacht. Was macht die
Änderung der Sprache, die Vermischung mit Töchtern fremder Völker? Das Heldenblut der
Väter feiert immer wieder den Triumph seiner Kraft und schafft einen Menschentypus, wie
er in Leonardo da Vinci und Giovanni Segantini verkörpert worden ist.
Damit ist der intellektuelle Kosmos, in dem sich Weigand außerhalb seiner philologischen Interessen bewegte, relativ exakt umrissen. Dass es sich bei der deutschen
Heroisierung der makedonischen Bewegung, zumal nach 1918, um eine politische
Projektion handelte, lag dabei auf der Hand. Unter der Überschrift „Mazedoniens
Freiheitskampf“ schrieb etwa am 21. März 1930, in Weigands Todesjahr, die Rheinisch-Westfälische Zeitung, die IMRO-Kämpfer seien „Männer [, die] wissen, wie
man Europa zu behandeln hat“, Männer also, die sich nicht wie „Pazifisten und Paneuropäer“ (ergänze: in Berlin) dem Diktat „Europas“ fügten, wobei „Europa“ dabei
für den „Westen“ in Form von Weltkriegsentente, Pariser Friedenskonferenz und Völkerbund stand. „Wenn die Großmächte haben wollen“, so Weigand 1924, „daß auf
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dem Balkan, dem Wetterwinkel Europas, dauernd Ruhe herrschen soll“, dann müßten „die Verträge von Neuilly, St. Germain und besonders der von Versailles [. . . ]
abgeändert werden, das erfordert die Gerechtigkeit.“ Die Richtung dieser Änderung
skizzierte er dabei wie folgt:
Ein autonomes Makedonien zwischen Bistritza und Drin im Westen und Mesta in Osten,
bis zum Schargebirge und Karadag (also Skopska Crna Gora) im Norden würde die glücklichste Lösung sein für die Zufriedenheit und das Wohlergehen der Makedonier und für die
Vermeidung von blutigen Aufständen in der Zukunft.
Was der Professor aus Leipzig nicht erwähnte, war, dass in seiner Sicht wie in derjenigen der IMRO Michajlovs dieses Gemeinwesen von einer diktatorisch herrschenden
gewalttätigen vormaligen Untergrundorganisation regiert werden sollte. Ein Demokrat war Weigand also nicht, nicht einmal ein Vernunftrepublikaner.
Der (bulgaro-)makedonische Terrorbürokrat
Ivan Michajlov (1896 – 1990)
Eine biographische Skizze
[2010]
Ivan „Vančo“ Michajlov (1896–1990) war von 1928 bis 1944 de facto alleiniger
Chef der in Bulgarien ansässigen terroristischen Inneren Makedonischen Revolutionären Organisation (IMRO), Verbündeter Mussolinis, Hitlers und des kroatischen
Ustaša-Staates, politischer Asylant in der Türkei, Polen, Österreich und Italien sowie
Auftraggeber zahlreicher politischer Morde. Dennoch blieb er nach 1945 nicht nur
unbehelligt, sondern ist heute außerhalb Bulgariens, Makedoniens und den anderen
Nachfolgstaaten Jugoslawiens weitgehend unbekannt.
Unter den nationalrevolutionären, eine Revision der Versailler Nachkriegsordnung anstrebenden Guerrillaformationen des Europas der Zwischenkriegszeit war
die IMRO mit Abstand die schlagkräftigste. Ihr Nahziel war der Anschluss der
1918 jugoslawisch gewordenen Region Vardar-Makedonien an Bulgarien, ihr Fernziel die Vereinigung sämtlicher Teile der historischen Landschaft Makedonien zu
einem Großmakedonien mit Solun (Thessaloniki) als Hauptstadt. Von bulgarischem
und albanischem Territorium aus bekämpfte die IMRO den neuen jugoslawischen
Staat, indem sie in jedem Frühjahr mehr als eintausend ihrer uniformierten Kämpfer
über die Grenze schickte. Im Südwesten Bulgariens, im Pirin-Gebirge, errichtete sie
mit zähneknirschender Billigung der Regierungen in Sofia von 1922 an einen Staat
im Staate mit separatem Steuer- und Justizwesen, eigenen Medien und Banken sowie
einer eigenen Fraktion im bulgarischen Parlament. Ihr umfangreicher diplomatischer
Apparat kooperierte mit der Türkei und Ungarn, warb für die „makedonische Sache“
in den USA, Großbritannien und der Schweiz, schloss gar Bündnisse mit der neuen
Sowjetunion und dem faschistischen Italien. Lediglich die Weimarer Republik verweigerte eine Zusammenarbeit, auch wenn etliche deutsche Politiker, Professoren,
Diplomaten, Unternehmer und Journalisten glühende Sympathisanten der Organisation waren.
1927 kam es über der Frage der Taktik zu einem Schisma in der Führung der
IMRO: Der personalintensive Guerrillakampf wurde jetzt durch die terroristische
Taktik des Ansetzens von Dreier- und Fünfergruppen auf führende Repräsentanten Jugoslawiens, von Selbstmordattentätern auf Vertreter der neuen europäischen
Nachkriegsordnung und von Auftragsmördern auf Dissidenten in den eigenen Reihen
ersetzt. 1928 zerbrach die Organisation über diesem internen Konflikt in zwei sich
erbittert bekämpfende Flügel. Treibende Kraft dieser neuen Entwicklungen war Ivan
Michajlov alias „Radko Dejanov“, der 1925 für den im Jahr zuvor ermordeten charismatischen IMRO-Führer Todor Aleksandrov in das dreiköpfige Zentralkomitee der
Organisation aufgerückt war. Der Volksschullehrer und Offizier Aleksandrov, von
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Wilhelm II. 1916 mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet, hatte die 1893 gegründete,
damals für die Autonomie Makedoniens unter dem Sultan kämpfende Organisation
nach dem Ersten Weltkrieg gemeinsam mit dem bulgarischen General Aleksandăr
Protogerov reorganisiert und auf den Kurs eines Anschlusses Makedoniens an Bulgarien gebracht. Michajlov nutzte seine Vertrauensstellung als Sekretär Aleksandrovs,
um nach einem Mordkomplott gegen diesen dessen ZK-Sitz zu übernehmen. 1928
ordnete Michajlov dann den Mord an seinem ZK-Kollegen Protogerov an, installierte in der Folge zwei seiner engsten Vertrauten im Leitungsgremium und erlangte
so die Kontrolle über die Organisation. Allerdings leisteten die Anhänger Protogerovs erbitterten Widerstand. Dies führte zu einem jahrelangen innerorganisatorischen
Brudermord, dem mehrere tausend IMRO-Aktivisten beider rivalisierenden Flügel
zum Opfer fielen. Bis heute bezeichnet im Bulgarischen der Begriff makedonska rabota – „etwas auf makedonische Art und Weise erledigen“ – ein besonders grausames
und blutiges Vorgehen.
1929 initiierte Michajlov eine strategische Wende der IMRO weg vom Ziel eines
Anschlusses Makedoniens an Bulgarien und hin zu demjenigen der Gründung eines
„freien und unabhängigen Makedonien“ als „zweitem bulgarischen Staat auf dem
Balkan“. 1933 wurde der neue Kurs dann zur Organisationsdoktrin. Die Michajlov
zufolge aus „makedonischen Bulgaren“ bestehende Titularnation des zu gründenden
Staates definierte er dabei als eine „bulgaro-makedonische“, die in ethnokultureller
wie sprachlicher Hinsicht bulgarisch, in regionaler hingegen makedonisch sei. Damit
machte er sich die der IMRO gegenüber zuvor mehrheitlich positiv eingestellte politische Elite Bulgariens zum Feind. Die Folge war, dass eine sich 1934 in Sofia an
die Macht putschende Militär- und Intellektuellengruppierung die bulgarische Armee
gegen die IMRO-Hochburg im Südwesten des Landes in Marsch setzte. Binnen weniger Tage wurden die Strukturen der Organisation zerschlagen, ihre Führungsspitze
interniert und die Mitglieder ihres Zentralkomitees zum Tode verurteilt. Dem überrumpelten Michajlov gelang es im Unterschied zum übrigen IMRO-Leitungskader,
sich mehrere Monate lang im Lande zu verstecken und im September 1934 über die
Grenze in die benachbarte Türkei zu fliehen. Mustafa Kemal Atatürk, der aus Makedonien gebürtige Staatschef der neuen Türkei, gewährte Michajlov politisches Asyl –
wohl um ihn gegebenenfalls gegen eine südslawische Hegemonie auf dem Balkan in
Form einer Allianz Jugoslawiens mit Bulgarien instrumentalisieren zu können.
Unmittelbar nach Michajlovs Flucht in die Türkei gelang der IMRO ihr größter
terroristischer Coup: das Attentat von Marseille vom 9. Oktober 1934, dem der jugoslawische König Aleksandar I. Kardjordjević und der französische Außenminister
Louis Barthou zum Opfer fielen. Der Einsatz des erprobten IMRO-Attentäters Vlado
Černozemski, genannt „der Chauffeur“, ging auf die enge antijugoslawische Kooperation Michajlovs mit der kroatischen Ustaša-Bewegung Ante Pavelićs zurück. Pavelić, der eigentliche Initiator des Attentatsplans, schätzte den Professionalitätsgrad
seiner eigenen Leute realistisch, d. h. niedrig, ein und bat entsprechend Michajlov
um kollegiale Hilfe. Nachdem gleich drei kroatischen Scharfschützen auf der Marseiller Hafenpromenade die Nerven versagt hatten, erledigte Černozemski den ihm
von Michajlov erteilten Auftrag in bewährter Weise. Es war dann eben das Atten-
Der (bulgaro-)makedonische Terrorbürokrat Ivan Michajlov
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tat von Marseille, welches den Völkerbund zu dem Versuch veranlasste, mittels der
Genfer Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Terrorismus die Staatengemeinschaft zu einem konzertierten Vorgehen gegen terroristische Vereinigungen zu
bewegen und die Bekämpfung von Terrorismus völkerrechtlich zu verankern.
Bemerkenswert ist, dass der abgebrochene Jurastudent Michajlov persönlich über
keine Erfahrung im Guerillakampf verfügte, ja das „Innere“ Makedoniens (daher das
„I“ im Organisationsnamen), also die Kampfzone in Jugoslawien, nicht einmal betreten hatte. Dieses Manko, das sich auf seine Stellung in einer ganz auf Heldenund Märtyrerkult ausgerichteten Organisation negativ auswirkte, suchte er durch die
Eheschließung mit einer erfolgreichen IMRO-Terroristin auszugleichen: 1926 heiratete er Menča Kărničeva, die 1925 im Wiener Burgtheater während einer Aufführung
von Ibsens „Peer Gynt“ ein von Michajlov persönlich angeordnetes spektakuläres
Attentat auf den makedonischen Exilpolitiker Todor Panica durchgeführt hatte. Aus
gesundheitlichen Gründen entließ die österreichische Justiz die verurteilte Mörderin
Kărničeva bereits nach anderthalb Jahren Haft.
Während der vier Jahre im türkischen Exil, in denen Michajlov und Kărničeva
zunächst im Norden Anatoliens, dann auf der Insel Büyük Ada nahe Istanbul interniert waren, versuchten beide, ein Visum für die USA zu erhalten, wo die IMRO in
Gestalt der Macedonian Political Organizations in the United States and Canada
mit Hauptsitz in Fort Wayne im US-Bundesstaat Indiana über ein dichtes Unterstützernetz verfügte. Auch die Schweiz, Rumänien und Großbritannien, ja selbst das
vormals mit der IMRO verbündete Italien Mussolinis, wollten das Terroristenpaar
nicht aufnehmen. Erst 1938 gestattete Polen beiden die Einreise – unter der Auflage, sich jeglicher politischer Tätigkeit zu enthalten. Die Erteilung eines Visums
für Michajlov und Frau ging auf die persönliche Initiative des polnischen Gesandten in Sofia, Adam Tarnowski, zurück, der im Ersten Weltkrieg bereits ÖsterreichUngarn dort diplomatisch vertreten und mit der IMRO eng kooperiert hatte. Obwohl
Warschau aufgrund heftigen Protests Belgrads das Visum annullierte, verbrachten
die türkischen Behörden das Ehepaar Michajlov auf das im Hafen von Izmir ankernde polnische Handelsschiff „Lewant“. Nach einer längeren Odyssee durch das
Mittelmeer lief das Schiff am 23. September 1938 schließlich mit seinen beiden unwillkommenen Passagieren in Gdynia (Gdingen) ein.
Obwohl Michajlov zunächst in einer entlegenen Region Polens, dann in der Nähe
Warschaus untergebracht wurde, konnte er, wie zuvor von der Türkei aus, engen
Kontakt zu seinen Anhängern in Bulgarien und Nordamerika halten. Nach dem
Einmarsch der Wehrmacht in Warschau offenbarten sich Michajlov und seine gut
Deutsch sprechende Frau im Herbst 1939 der Gestapo, welche das Ehepaar zu einem unbekannten Zeitpunkt ins Reich verbrachte. Dort nahmen sie vorübergehenden
Wohnsitz in Berlin-Neukölln – in unmittelbarer Nachbarschaft zu Pavelić und seiner
Entourage. Zu welchen NS-deutschen Stellen Michajlov vom Neuköllner Rollbergviertel aus Kontakt hielt, ist nicht bekannt; die archivalische Hinterlassenschaft des
Dritten Reiches enthält dazu kaum Informationen. Im Frühjahr 1940 soll Michajlov
nach Budapest übersiedelt sein und dort sowohl mit Berlin als auch mit Rom über
die Möglichkeit der Gründung eines makedonischen Staates im Zuge der vom Dritten
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Reich wie dem faschistischen Italien betriebenen territorialen Neuordnung Südosteuropas verhandelt haben. Sein Einfluss auf die Reststrukturen der IMRO in Bulgarien
verringerte sich allerdings deutlich nach der neuerlichen Besetzung Vardar-Makedoniens durch bulgarische Truppen im April 1941 samt Aufbau einer bulgarischen Zivilverwaltung dort. Die Mehrheit der Michajlov-Anhänger begrüßte diesen de factoAnschluss der Region am oberen Vardar als „Wiedervereinigung“ Makedoniens mit
der „Mutter Bulgarien“ und übernahm Funktionen im besetzten Gebiet. Michajlov,
der unbeirrt am Ziel eines „freien und unabhängigen Makedonien“ festhielt, nahm im
Mai 1941 bereitwillig eine Einladung seines langjährigen Bündnispartners Pavelić
an, der mittlerweile zum Oberhaupt („Poglavnik“) des deutsch-italienischen Marionettenstaates Kroatien avanciert war, zur Übersiedelung nach Zagreb an. Bis 1944
fungierte Michajlov als wichtigster außen- und militärpolitischer Berater von kroatischer Regierung und Ustaša, gar als rechte Hand Pavelićs, wie etwa die Berichte
japanischer, ungarischer und bulgarischer Diplomaten belegen.
Vom Zagreber Tuškanac-Hügel aus hielt Michajlov weiterhin engen Kontakt mit
Rom und Berlin. Mit der italienischen Heeresleitung vereinbarte er im Frühjahr 1943
die Aufstellung von IMRO-Verbänden zur Unterstützung der italienischen Besatzungstruppen in Nordgriechenland. Im Oktober 1943, unmittelbar nach dem Rückzug Italiens vom Balkan, sagte Michajlov in Verhandlungen mit dem Reichsführer SS
Heinrich Himmler die Aufstellung einer 12.000 Mann starken IMRO-Schutztruppe
(„Ochrana“) im deutsch besetzten griechischen Teil Makedoniens zu. Deren Aufbau
ging indes schleppend vonstatten und erreichte die angestrebte Stärke nicht. Auch
Michajlovs Angebot an Pavelić, eine schlagkräftige IMRO-Söldnerarmee zur Bekämpfung der serbischen, muslimischen und kommunistischen Partisanenformationen im kroatischen Landesteil Bosnien aufzustellen, konnte nicht realisiert werden.
König Boris III. von Bulgarien sowie Regierung und Armeeführung des Landes
sahen Michajlovs Zagreber Aktivitäten mit Sorge, da man befürchtete, dass er mit
seinem Plan der Gründung eines „freien und unabhängigen Makedonien“ in Berlin doch noch Erfolg haben könnte. Um ihn unter Kontrolle zu bringen, wurde das
Todesurteil gegen ihn aufgehoben und ihm die Rückkehr nach Bulgarien samt der
Übernahme eines Amtes im 1942 annektierten Vardar-Makedonien angeboten. Zur
Überraschung Sofias wie seiner eigenen Anhänger lehnte Michajlov dies kategorisch
ab. Partiell positiver fiel seine Reaktion auf ein Angebot des deutschen Außenminister Joachim von Ribbentrop aus, Staatschef eines unabhängigen Makedonien unter
der Ägide des Dritten Reiches zu werden. Am 1. September 1944 hatte Hitler einen
„Führerbefehl“ zur sofortigen Ausrufung eines solchen staatlichen Gebildes erlassen. Im Zuge des raschen Vorstoßes der Roten Armee auf den Balkan sollte damit
der Rückzug der deutschen Heeresgruppe E aus Griechenland abgesichert werden.
Michajlov behielt sich vor, seine endgültige Entscheidung zum deutschen Angebot erst nach einer Inspektionsreise nach Bulgarien und Makedonien zu treffen.
Am 3. September 1944 brachte ihn ein deutsches Militärflugzeug von Zagreb nach
Sofia, wo er mit seinen dort verbliebenen Anhängern die Lage beriet. Am 5. September telegrafierte Michajlovs Verbindungsmann zur SS, der Chef des Amtes VI im
Reichssicherheitshauptamt, SS-Brigadeführer Walter Schellenberg, an Ribbentrop:
Der (bulgaro-)makedonische Terrorbürokrat Ivan Michajlov
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„In einigen Besprechungen soll Michailoff heute und morgen noch versuchen, zu retten
was zu retten ist. Situation scheint aber aussichtslos. Auch Michailoff steht auf diesem
Standpunkt, nachdem er sich selbst von dem Stand der Dinge hat überzeugen können.“
Die selbigentags erfolgte Kriegserklärung der UdSSR an Bulgarien, der dadurch unmittelbar bevorstehende Einmarsch sowjetischer Truppen in das Balkanland und damit deren
Vorrücken bis an die deutsche Hauptverbindungslinie im Vardar-Tal führte zu einer dramatischen Zuspitzung der militärischen Lage. Ribbentrop drängte folglich gegenüber dem
deutschen Gesandten in Sofia, SA-Obergruppenführer Adolf Heinz Beckerle: „Der Führer hat heute erneut angeordnet, dass die Ausrufung der Selbständigkeit Mazedoniens jetzt
ohne weitere Verzögerung erfolgen soll.“
Ebenfalls am 5. September reiste Michajlov von der bulgarischen Hauptstadt ins
makedonische Skopje, wo er am 6. September eine Reihe von Besprechungen mit
IMRO-Aktivisten und örtlichen Honoratioren, aber auch mit Vertretern der kommunistischen Partisanen und der bürgerlichen anti-bulgarischen Widerstandsbewegung
abhielt. Am Abend teilte er seine Entscheidung mit, welche das deutsche Generalkonsulat Skopje umgehend an die Botschaft Sofia kommunizierte:
„Komitee hat sich durch Vantscho Michailov kategorisch geweigert, nach eingehender Prüfung unter den gegebenen Umständen Unabhängigkeitserklärung Mazedoniens auszurufen.
Als Begründung führte Michailov insbesondere an: 1. Fehlt Anhängerschaft, die bereit sei,
die Unabhängigkeit zu vertreten und sie durchzusetzen. 2. Unaufhaltsame fortschreitende
Demoralisierung gesamter Bevölkerung.“
Während Hitler, Himmler und Ribbentrop über Michajlovs Weigerung wütend waren,
nahm die Wehrmachtsführung die Verwaltung des jetzt von bulgarischen Besatzungstruppen entblößten Makedonien selbst in die Hand. Am 12. November 1944 verließen
dann die letzten deutschen Einheiten Skopje in Richtung Prishtina, am Folgetag marschierten die Partisanen ein.
Michajlov wurde mit seiner Frau und etlichen Getreuen von der SS aus Skopje
nach Wien evakuiert und im Frühjahr 1945 nach Alt-Aussee im steirischen Salzkammergut gebracht. Im Unterschied zu den hier zahlreich anwesenden NS-Größen
wurde er weder von den US-amerikanischen Truppen, die am 9. Mai 1945 das Städtchen erreichten, noch von der anschließend errichteten britischen Militärverwaltung
behelligt – auch nicht als das neue Jugoslawien Josip Broz-Titos ein Auslieferungsgesuch stellte. Wo Michajlov und seine Frau die ersten Nachkriegsjahre verbrachten,
ist unbekannt. Vorübergehend soll er sich im Spanien Francos aufgehalten haben.
1948 konnte er dann seinen Wohnsitz in Italien nehmen, das er in den folgenden
42 Jahren nur noch zu Kuraufenthalten in Österreich und in der Bundesrepublik verließ. Seit 1958 lebte er als „Professor Giovanni aus Ungarn“ getarnt im römischen
Stadtteil Montesacro, in der Via Ponza 6/7. Protegiert wurde er von seinem langjährigen Bekannten Angelo Roncalli, der von 1925 bis 1934 Apostolischer Visitator für
Bulgarien, wo Michajlov damals lebte, dann bis 1939 Apostolischer Legat in Michajlovs Asylland Türkei war und 1958 als Johannes XXIII. zum Papst gewählt wurde.
Anders als Pavelić und zahlreiche weitere Ustaša-Führer nutzte Michajlov seine guten Verbindungen zum Vatikan jedoch nicht, um sich über die „Rattenlinie“ nach
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Südamerika in Sicherheit zu bringen – wohl weil er sich in Rom außerhalb jeglicher
Gefahr wähnte.
Während die Reste des Michajlov-Flügels der IMRO in Bulgarien 1946 von
der kommunistischen Geheimpolizei liquidiert wurden, machten die mit der Bulgarischen Kommunistischen Partei verbündeten Protogerov-Anhänger Karrieren in
Regierung und Staatssicherheit der Volksrepublik Bulgarien. Auch in der neuen
jugoslawischen Teilrepublik Makedonien wurden die Reorganisationsversuche der
Michajlov-Getreuen von der dortigen Geheimpolizei bald erstickt. „Michajlovist“
war von nun an sowohl in Bulgarien als auch in Jugoslawien ein im Wortsinne lebensgefährliches Etikett. Dennoch ordnete der langjährige bulgarische Staats- und
Parteichef Todor Živkov 1978 eine klandestine Kontaktaufnahme zu Michajlov in
seinem italienischen Exil an. Grund war die sich zuspitzende bulgarisch-jugoslawische Kontroverse um Makedonien, genauer: die Frage, ob es eine makedonische
Nation gibt, wie von Belgrad und Skopje postuliert, oder ob die Bevölkerungsmehrheit Makedoniens Bulgaren sind, so der Standpunkt Sofias. Da Michajlov in
dieser Angelegenheit die bulgarische Sicht teilte, galt er Živkov als wichtiger potentieller Verbündeter vor allem in der bulgarischen und makedonischen Diaspora
Nordamerikas und Ozeaniens. Und Michajlov sah im kommunistischen Bulgarien
einen möglichen Partner gegen Tito und dessen Projekt einer eigenständigen makedonischen Nation samt Nationalsprache, Nationalliteratur und Nationalkirche.
Befragt, ob die zahlreichen von ihm in Auftrag gegebenen Morde sein Gewissen
belasteten, antwortete der betagte Michajlov, dass er solche Aufträge nur in einigen
wenigen gravierenden Fällen von Hochverrat oder Veruntreuung von Organisationsgeldern sowie jeweils auf der Grundlage von juristisch korrekten Todesurteilen
durch die IMRO-Gerichtsbarkeit getan habe. „Ich musste sogar Todesurteile meiner
eigenen Freunde unterschreiben“, äußerte er selbstmitleidig im Gespräch mit dem
bulgarischen Vatikanoffiziellen Giorgio Eldarov. Im Übrigen sei die IMRO eine „souveräne staatliche Struktur gewesen“ und habe „wie andere Staaten auch gehandelt“.
Dass die Zahl der Todesurteile vergleichsweise hoch war, war Michajlov zufolge vor
allem auf den Umstand zurückzuführen, „dass die Organisation über keine eigenen
Gefängnisse zur Unterbringung von Verurteilten verfügte“.
Nach dem Epochenjahr 1989 entstanden sowohl in Bulgarien als auch im ab 1991
unabhängigen Makedonien politische Parteien, die sich als Nachfolgeorganisationen
der IMRO betrachteten und auch als solche bezeichneten. Im jetzt demokratischen
Bulgarien wurde Michajlov zu einem nationalen Heroen, was in Gestalt einer martialischen Büste im Stadtzentrum Sofia augenfällig wird. Doch auch in der neuen
Republik Makedonien wurde der im makedonischen Štip 1896 Geborene ungeachtet
seiner Ansichten in der nationalen Frage teilrehabilitiert. 2000 nahmen etliche Abgeordnete des makedonischen Parlaments an einem Gedenkgottesdienst für den IMROSelbstmordattentäter Černozemski teil, der 1934 im Auftrag Michajlovs in Marseille
so erfolgreich gewesen war. Und 2002 wurde im Stadtzentrum von Skopje eine Gedenktafel für eine weitere IMRO-Selbstmordattentäterin, Mara Buneva, enthüllt, die
1928 ebenfalls auf Anweisung Michajlovs zunächst einen hochrangigen Belgrader
Beamten und dann sich selbst erschossen hatte.
Der (bulgaro-)makedonische Terrorbürokrat Ivan Michajlov
143
Dass Michajlov, der am 5. September 1990 im biblischen Alter von 94 Jahren in
seinem italienischen Exil friedlich verstarb, dutzende, gar hunderte politische Morde
angeordnet hat, wird heute in Bulgarien und Makedonien gezielt verdrängt. Dass
die Türkei, Polen, Ungarn, Kroatien und Österreich, mutmaßlich auch Spanien, den
wegen Terrorismus steckbrieflich Gesuchten gedeckt und geschützt haben, ist dort
heute unbekannt. Und in Italien wie Deutschland ist der Komplize Mussolinis und
Hitlers gänzlich vergessen. Lediglich indirekt ist die Erinnerung an Michajlov und
seine Mordtaten bewahrt – in der internationalen Anti-Terrorismus-Gesetzgebung.
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Silesia balcanica
Die Ankunft von Griechen, Makedoniern und Bosnien-Polen
in Niederschlesien 1946 bis 1950
[2010]
In seinem seinerzeit heftige politische Diskussionen auslösenden Roman Eleni aus
dem Jahr 1983 schreibt der US-griechische Schriftsteller Nicholas Gage über Zgorzelec, den seit 1945 polnischen Ostteil von Görlitz, dieser „war fast verlassen, bis
griechische Exilierte dort angesiedelt wurden, um die Fabriken wieder in Schwung
zu bringen.“ 1 Und der britische Polen-Historiker Norman Davies berichtet in seiner Geschichte Breslaus vom Fall des ebenfalls in Zgorzelec lebenden Makedoniers
aus Griechenland Petro Damovsky, der 1950 von der polnischen Staatssicherheit unter falschen Anschuldigungen als „titoistischer Provokateur“ und „makedonischer
Nationalist“ verhaftet und verurteilt wurde. 2 Wie es kam, dass es Griechen vom Peloponnes und Makedonier aus dem Epirus an die Neiße verschlagen hat und warum
etliche von ihnen bis heute hier leben, soll im Folgenden mittels einiger Schlaglichter
erhellt werden. 3
„Chairetizmous apo tin Tsechoslovakia“ – „Willkommen in der Tschechoslowakei“ – heißt es in griechischer Sprache auf einer tschechoslowakischen Postkarte aus
den sechziger Jahren, auf der Ansichten der Städte Ostrava (Mährisch Ostrau), Krnov
(Jägerndorf), Brno (Brünn) und Praha (Prag) abgebildet sind. 4 Gedruckt wurde sie,
damit die in der ČSSR lebenden Griechen ihre in Polen, der DDR und Ungarn, aber
auch in Griechenland selbst lebenden Verwandten zum Urlaubmachen in Böhmen
und Mähren animieren sollten. Griechen lebten damals vor allem in Mährisch-Schlesien, in Jeseník (Freiwaldau), Žamberk (Senftenberg) und dem genannten Krnov, also
in den vormals mehrheitlich deutsch besiedelten Grenzgebieten der damaligen ČSR,
auf Deutsch auch als Sudetenland bekannt. 5
1
2
3
4
5
Gage, Nicholas: Eleni. New York 1983, zit. nach der deutschen Übersetzung von Gisela Stege: Gage:
Eleni. München 1987, S. 486.
Davies, Norman /Moorehouse, Roger: Microcosm. Portrait of a Central European City. London 2002,
zit. nach der deutschen Übersetzung von Thomas Bertram: Davies /Moorehouse: Die Blume Europas.
Breslau – Wrocław – Vratislavia. Die Geschichte einer mitteleuropäischen Stadt. München 2002,
S. 567.
Dieser Beitrag stützt sich auf den zusammen mit Anna Tutaj verfassten Aufsatz „Zerstrittene Gäste.
Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in Polen 1948–1988“. In: Bömelburg, Hans-Joachim /
Troebst, Stefan (Hrsg.): Zwangsmigrationen in Nordosteuropa im 20. Jahrhundert. Lüneburg 2006
(Themenheft von Nordost-Archiv. Zeitschrift für Regionalgeschichte 14 (2005)), S. 193–225.
Konečný, Karel: Řecké a makedonské děti v Sobotíně [Griechische und makedonische Kiner in Sobotina]. In: Severní Morava 74 (1997), S. 45–57, hier S. 46.
Hradečný, Pavel: Die griechische Diaspora in der Tschechischen Republik. Die Entstehung und
Anfangsentwicklung 1948–1956. In: Konstantinou, Evangelos (Hrsg.): Griechische Migration in Eu-
Silesia balcanica
145
Die Bezeichnung „Griechen“ steht dabei als Sammelbegriff für „griechische
Staatsbürger“ bzw. genauer für „ehemalige griechische Staatsbürger“, denn es handelte sich um Flüchtlinge aus Griechenland, die das Land im Zuge des Griechischen
Bürgerkriegs der Jahre 1946 bis 1949 fluchtartig verlassen hatten. In der Regel geschah dies zu Fuß über die Grenzen nach Albanien, Jugoslawien und Bulgarien. In
den Jahren 1948 und 1950 wurden die in albanischen und bulgarischen Flüchtlingslagern Lebenden mittels Bahntransporten auf die Volksdemokratien aufgeteilt, also
auf Rumänien, Ungarn, die ČSSR und Polen, des Weiteren auf die Sowjetische Besatzungszone Deutschland (SBZ) bzw. DDR und auf die Sowjetunion, hier auf die
Usbekische SSR. Fast allen Flüchtlingen war nach dem Verlassen Griechenlands
von den dortigen Behörden die Staatsangehörigkeit aberkannt worden, das heißt,
sie kamen als Staatenlose in Mitteleuropa an. Auch waren viele von ihnen, möglicherweise die Hälfte, in ethnisch-sprachlicher Hinsicht keine Griechen, sondern
Makedonier, also Südslawen. Des Weiteren gab es romanischsprachige Vlachen bzw.
Aromunen, albanischsprachige Çam und muslimische Pomaken unter ihnen 6. Circa
28.000 Flüchtlinge waren minderjährig, darunter viele unbegleitete Kinder, die teils
mit, teils ohne Zustimmung ihrer Eltern außer Landes gebracht worden waren. 7
Siedlungsschwerpunkte von Griechen und Makedoniern waren neben MährischSchlesien und dem nördlichen Böhmen das jetzt polnische Niederschlesien sowie
das Land Sachsen in der SBZ bzw. dann in der DDR, hier vor allem das Elbtal bei
6
7
ropa. Geschichte und Gegenwart. Frankfurt (Main), Bern, Oxford u. a. 2000, S. 95–117. Vgl. auch
ders.: Řecká komunita v Československu. Její vznik a počáteční vývoj [Die griechische Gemeinschaft in der Tschechoslowakei. Ihre Entstehung und anfängliche Entwicklung] (1948–1954). Praha
2000.
Kirjazovski, Risto: Makedonskata politička emigracija od Egejskiot del na Makedonija vo Istočnoevropskite zemji po Vtorata svetska vojna [Die makedonische politische Emigration aus dem ägäischen
Teil Makedoniens in den Staaten Osteuropas nach dem Zweiten Weltkrieg]. Skopje 1989; Boeschoten, Riki van: „Unity and Brotherhood“? Macedonian Political Refugees in Eastern Europe. In:
Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas 5 (2003), S. 189–202; Troebst, Stefan: Vogel
des Südens, Vogel des Nordens. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. September 2003; Lagaris, Theodoros: Griechische Flüchtlinge in Ost- und Südosteuropa seit dem Bürgerkrieg 1946–1949.
In: Bade, Klaus J./Emmer, Pieter C./Lucassen, Leo u. a. (Hrsg.): Enzyklopädie Migration in Europa.
Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Paderborn 22008, S. 608–661.
Zu den Flüchtlingskindern aus dem Griechischen Bürgerkrieg siehe vor allem Bærentzen, Lars: The
„Paidomazoma“ and the Queen’s Camps. In: ders./Iatrides, John O./Smith, Ole (Hrsg.): Studies in
the History of the Greek Civil War 1945–1949. Copenhagen 1987, S. 127–157; Lagani, Eirini: To
„paidomazoma“ kai oi ellino-gioukoslavikes scheseis [Die „Knabenlese“ und der griechisch-jugoslawische Konflikt] 1949–1953. Athens 1996; Boeschoten, Riki van: The Impossible Return. Coping
with Separation and the Reconstruction of Memory in the Wake of the Civil War. In: Mazower, Mark
(Hrsg.): After the War Was Over: Reconstructing the Family, Nation, and State in Greece 1943–1960.
Princeton 2000, S. 122–144; Brown, Keith S.: Macedonia’s Child-Grandfathers. The Transnational
Politics of Memory, Exile and Return 1948–1998. Washington D. C. 2003; Troebst, Stefan: Evacuation to a Cold Country. Child Refugees from the Greek Civil War in the German Democratic Republic
1949–1989. In: Nationalities Papers 32 (2004), S. 675–691; ders.: „Grieche ohne Heimat“ – Hellenische Bürgerkriegsflüchtlinge in der DDR 1949–1989. In: Totalitarismus und Demokratie 2 (2005),
S. 245–271.
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146
Balcanica
Dresden und Radebeul sowie Leipzig. In Polen gab es insgesamt 15.000 Bürgerkriegsflüchtlinge, darunter je zur Hälfte Griechen und Makedonier. 8 In der ČSSR
dürfte in etwa dieselbe Zahl mit derselben Verteilung angekommen sein, wohingegen in der SBZ und der DDR lediglich 1128 Flüchtlinge, sämtlich minderjährig und
fast ausschließlich Griechen, untergebracht wurden. Wer die Verteilung der Flüchtlinge beschloss und durchführte oder wie sie vor sich ging, ist nicht eindeutig zu
bestimmen. Offenkundig geschah dies im Hauptquartier der griechischen Exil-KP in
Budapest in Abstimmung mit sowjetischen Stellen.
Der Transport der Flüchtlinge aus Albanien und Bulgarien nach Mitteleuropa erfolgte teils per Schiff durch Mittelmeer, Atlantik und Ostsee in polnische Häfen und
von dort aus weiter ins Landesinnere, teils per Zug in Sammeltransporten über Ungarn. Die in die SBZ/DDR gebrachten griechischen Kinder kamen in zwei Zügen aus
Budapest via Prag im August 1949 und im August 1950 in Bad Schandau an. 9 Ganz
8
9
Grundlegend zu Polen neuerdings Fleming, Michael: Greek ‘heroes’ in the Polish People’s Republic and the geopolitics of the Cold War 1948–1956. In: Nationalities Papers 36 (2008), S. 375–
397. Außerdem: Nakovski, Petre: Makedonski deca vo Polska (1948–1968). Politološka studija.
[Makedonische Kinder in Polen (1948–1968). Eine politologische Studie.] Skopje 1987; Wojecki,
Mieczsław: Uchodźcy polityczni z Grecji w Polsce [Politische Flüchtlinge aus Griechenland in Polen] 1948–1975. Jelenia Góra 1989; ders.: Ludność grecko-macedońska na Dolnym Ślasku
˛
[Die
griechische und makedonische Bevölkerung in Niederschlesien]. In: Ślaski
˛ Kwartalnik Historyczny
„Sobótka“ (1980), S. 83–96; ders.: Ludność grecko-macedońska w Polsce [Die griechisch-makedonische Bevölkerung in Polen]. In: Czasopismo geograficzne 46 (1975), S. 313–314; ders.: Osadnictwo
ludności greckiej na ziemi lubuskiej [Die Ansiedlung griechischer Bevölkerung um Zielona Góra].
In: Przeglad
˛ lubuski 7 (1977), S. 22–31; ders.: Adaptacja i stabilizacja ludnosci grecko-macedonskiej
na ziemiach zachodnich i polnocnych [Adaption und Stabilisierung der griechisch-makedonischen
Bevölkerung in den West- und Nordgebieten]. In: Studia i materialy. Wyzsza Szkola Pedagogiczna w
Zielonej Gorze (1982), Nr. 4, S. 119–129; ders.: Środowisko uchodźców greckich w Świdnicy [Das
Milieu der griechischen Flüchtlinge in Schweidnitz]. In: Rocznik Świdnicki (1987), S. 74–99; ders.:
Zwiazki
˛ serdeczne. Polacy i Grecy [Herzliche Beziehungen. Polen und Griechen]. Wolsztyn 1999;
sowie Knopek, Jacek: O osadnictwie Greków i Macedończyków na Ziemiach Odzyskanych po II
wojnie światowej [Über die Ansiedlung von Griechen und Makedoniern in den wiedergewonnenen Gebieten nach dem Zweiten Weltkrieg]. In: Chodubski, Andrzej (Hrsg.): Przemiany społeczne,
kwestie narodowościowe i polonijne. Toruń 1994, S. 145–152; Terzudis, Christos: Trzydziestolecie
pobytu uchodźców politycznych z Grecji i działalność ich zwiazku
˛
im. Nikosa Belojannisa. Wybrane problemy. [Der 30. Jahrestag des Aufenthalts der politischen Flüchtlinge aus Griechenland
und die Tätigkeit ihres Nikos-Belojannis-Bundes. Ausgewählte Probleme.] In: Rocznik Dolnoślaski
˛
7 (1980), S. 231–251; Fiedor, Karol: Dzieci macedońskie w Polsce [Makedonische Kinder in Polen] 1948–1968. Manuskript. O. D., Glówna Komisja Badania Zbrodni, Instytut Pami˛eci Narodowej
[Hauptkommission zur Erforschung von Kriegsverbrechen, Institut für Nationales Gedenken], Abt.
Wrocław; und Pudło, Kazimierz: Grecy i Macedończycy w Polsce 1948–1993. Imigracja, przemiany, zanikanie grupy. [Griechen und Makedonier in Polen 1948–1993. Immigration, Veränderungen,
Schwinden der Gruppe] In: Sprawy Narodowościowe 4 (1995), S. 133–151; ders.: Uchodźcy polityczni z Grecji w Polsce [Politische Flüchtlinge aus Griechenland in Polen] (1948–1995). In: Kurcz,
Zbigniew (Hrsg.): Mniejszości narodowe w Polsce. Wrocław 1997, S. 149–152.
Troebst, Stefan: Die „Griechenlandkinder-Aktion“ 1949/50. Die SED und die Aufnahme minderjähriger Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in der SBZ/DDR. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 52 (2004), S. 717–736 [und im vorliegenden Band]; ders.: Von Epirus ins Elbtal. In:
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Juli 2004.
Silesia balcanica
147
ähnlich die Transporte nach Polen, über den Seeweg von Juli 1949 bis Januar 1950,
danach im Juli und August 1950 per Zug. 10
Eine Spätfolge dieser beiden Transportwege sind die späteren Siedlungsschwerpunkte von Griechen und Makedoniern in Polen. Das sind zum einen die Regionen
um die Hafenstädte Gdańsk (Danzig) und Gdynia (Gdingen) sowie um Szczecin
(Stettin), zum anderen Niederschlesien mit den beiden größten Agglomerationen
von Griechen und Makedoniern, nämlich Zgorzelec und Wrocław (Breslau). Innerhalb der Woiwodschaft Wrocław, heute Dolny Ślask,
˛ waren zusätzlich zu den beiden
Städten auch deren Umland Siedlungsschwerpunkte, darunter das gesamte Neißetal bis Bogatynia. Das hat seinen administrativ-politischen Grund darin, dass bis
zum Sommer 1950 in Polen zwei große Auffanglager für Bürgerkriegsflüchtlinge aus
Griechenland bestanden, und zwar Police (Pölitz) bei Szczecin und eben der Ostteil
von Görlitz, das heute polnische Zgorzelec.
Ganz Zgorzelec war ein riesiges Flüchtlingslager sowie zugleich der Standort eines „Staatlichen Erziehungszentrums“ (Państwowy Ośrodek Wychowawczy, POW)
für Kinder und Jugendliche aus Griechenland – mit Untergliederungen wie Grundschule, Lyzeum, Internat usw. 11 Die Griechen nannten Zgorzelec damals „Paidopolis“ – „Kinderstadt“ –, die Makedonier entsprechend „Detski grad“. Die Kindertransporte aus Griechenland waren von Beginn an nach Niederschlesien gelenkt und
wegen der ausreichend großen Zimmer- und Bettenzahl in Kurorten untergebracht
worden. Überall dort wurden seit 1949 POW-Zentren geschaffen.
Der Heimalltag war für die durch Krieg, Flucht, Vertreibung, Unterernährung
und die monatelange Reise traumatisierten und mehrheitlich unter schweren Krankheiten leidenden Flüchtlingskinder bei allen Beschränkungen etwas fundamental
Neues im positiven Sinne: Drei Voll- und zwei Zwischenmahlzeiten am Tag, medizinische Versorgung, pädagogische Betreuung, Heizung, Bettwäsche und Badewannen, vor allem aber den Unterricht in ihrer Muttersprache empfanden sie als
bislang ungekannte Erfahrung. In vielen autobiographischen Berichten bedeutet der
Tag ihrer Ankunft in den niederschlesischen Kurorten einen Wendepunkt im eigenen Leben. Der Tag, an dem sie die monatelang getragenen, zerschlissenen, verschmutzten und verlausten Lumpen endgültig ablegen durften und neue Kleidung
erhielten. Der Alltag in den Internaten war aber auch von zeitbedingten Konflikten
geprägt: Während griechische Parteioffizielle, Lehrer und Erzieher auf dem spezi-
10 Vgl. zum Seeweg die Karte „Kierunki napływu emigrantów greckich do Polski w latach 1949–1950“
[Richtungen des Zustroms griechischer Emigranten nach Polen in den Jahren 1949–1950] bei Wojecki, Mieczysław: Ludność grecka w Polsce Ludowej [Die griechische Bevölkerung in Volkspolen].
In: Przeglad
˛ Geograficzny 47 (1975), S. 763–767, hier S. 765; sowie zur Landroute die Karte von
Blagoja Markoski und Dimitra Karčicka „Evakuacija na decata i nivnoto prifak’anje vo istočnoevropskite zemji“ [Evakuierung der Kinder und ihre Aufnahme in den osteuropäischen Ländern] bei
Martinova-Buckova, Fana: I nie sme deca na majkata zemja . . . [Auch wir sind Kinder des Mutterlandes . . . ] Skopje 1998, S. 34.
11 Zu einer Karte der Lozierung der Flüchtlingsunterkünfte im Stadtgebiet von Zgorzelec siehe das
Kartenfaksimile „Państwowy Ośrodek Wychowaczy w Zgorzelcu“ [Staatliches Erziehungszentrum
in Zgorzelec] bei Nakovski: Makedonski deca, S. 106.
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Balcanica
fisch griechisch-nationalen Gehalt von Unterricht und Freizeit bestanden, suchten
die makedonischen Lehrer, Erzieher und älteren Mädchen (majki), die sich bereits
auf der Flucht mütterlich um die Kinder gekümmert hatten, die makedonisch-nationale Erziehung der slawischsprachigen Kinder zu gewährleisten. Die zuständigen
polnischen Parteifunktionäre, Verwaltungsbeamten und Pädagogen unterstützten sie
darin.
In Zgorzelec lebten zeitweilig bis zu 9000 griechische und makedonische Kinder
und Erwachsene. Denn seit Sommer 1949 wurden alle bereits in Polen befindlichen
Flüchtlinge aus Griechenland in Zgorzelec zusammengezogen und auch alle Neuankömmlinge dorthin geschickt. In das soeben gegründete POW-Zentrum wurden zwischen Dezember 1949 und Januar 1950 sämtliche niederschlesischen Kinderheime
sowie alle anderen für die Flüchtlinge zuständigen Einrichtungen Polens verlegt. 12
Von nun an befand sich dort der zentrale Sammelpunkt der Bürgerkriegsflüchtlinge, darunter 2675 Heimkinder und weitere 350 Kinder, die in Familien lebten.
Die Gründe für die Konzentration der Flüchtlinge 1949/1950 in Zgorzelec liegen
im Dunkeln. Denkbar, aber wenig wahrscheinlich ist ein Kalkül Warschaus, dass im
Zuge der laufenden Verhandlungen mit der neuen DDR eine Wiedervereinigung der
Stadthälften von Görlitz unter sowjetischer Ägide erwartet wurde. In einem solchen
für die polnische Seite ungünstigen Fall wäre man wenigstens die kostenintensiven,
streitsüchtigen Flüchtlinge vom Balkan losgeworden.
Im Sommer 1950 wurden dann Lager und POW-Zentrum wegen der bevorstehenden Übernahme der dortigen Kasernen durch das polnische Militär aufgelöst und
Erwachsene wie Minderjährige in der Folgezeit auf umliegende Städte und Agrarbetriebe der Region verteilt. Im niederschlesischen Fall waren das vor allem die industriellen Zentren Wrocław, Legnica (Liegnitz), Wałbrzych (Waldenburg) und andere.
Die Mehrheit der Kinder kam in ein neues POW-Zentrum in Police bei Szczecin, der
Rest in Heime Niederschlesiens. Ein substantieller Teil der Griechen und Makedonier blieb allerdings in Zgorzelec, wo etliche von ihnen heute noch leben.
Die Haltung Polens gegenüber den Bürgerkriegsflüchtlingen aus Griechenland
war von patronisierender Fürsorge bestimmt. Partei und Staat bemühten sich intensiv
um gute Bedingungen für deren Aufenthalt und stellten Mittel für einen Lebensstandard zur Verfügung, der deutlich über dem für Nachkriegspolen üblichen lag.
Die Privilegien der Makedonier und Griechen ließen gelegentlich Unmut bei der
örtlichen Bevölkerung aufkommen. Erhebliche Gelder flossen auch in Kultur, Bildung, Sprachunterricht und patriotische Erziehung. Die polnische Seite wies den
Flüchtlingen Wohnungen zu, garantierte über einen längeren Zeitraum kostenlose
Verpflegung, ärztliche Versorgung, Hilfe bei der Suche nach einem neuen Wohnsitz,
nach Arbeitsplätzen, bei Umschulungen sowie der Organisation des Lebens unter
den neuen Bedingungen. Kindern und Jugendlichen wurde eine kostenlose Schulbildung in der Muttersprache und Zugang zu allen Ebenen innerhalb des Schulwesens
unter Berücksichtigung von deren Präferenzen garantiert. Junge Emigranten, deren
12 Vgl. das Kartenfaksimile des POW-Zentrums Zgorzelec bei Nakovski: Makedonski deca, S. 106.
Silesia balcanica
149
Eltern außerhalb Polens lebten oder in Polen mittellos waren, erhielten Stipendien
oder Unterstützung. 13
Außerdem empfahl das polnische Bildungsministerium, für zukünftige Lehrer
griechischer und makedonischer Kinder Kurse zur Vorbereitung auf den Griechischunterricht als Muttersprache zu organisieren. Ab Herbst 1954 wurden zusätzliche Unterrichtsstunden in griechischer und makedonischer Sprache in den staatlichen Kinderheimen Wrocławs organisiert, in Zgorzelec zwei Griechischkurse für je 27 Schüler und vier Makedonischkurse für je 26 Schüler. Die Regierung betrachtete die
Bildungsmaßnahmen wohlwollend und übte geradezu Druck auf den „Bund der Politischen Flüchtlinge aus Griechenland“ aus, um Lehramtskandidaten zu gewinnen.
Angesichts fehlender qualifizierter Kräfte und niedriger Lehrergehälter war dies allerdings schwierig.
Gleichsam in Klammern sei eingefügt, dass zuvor, im Winter 1946/1947, auch
eine andere Gruppe vom Balkan in Niederschlesien angekommen war, nämlich
die sogenannten jugoslawischen bzw. bosnischen Polen, die sich vor allem in Bolesławiec (Bunzlau) ansiedelten. Dabei handelte es sich um circa 15.000 polnische
Katholiken, die um 1900 aus dem damals habsburgischen Galizien in die neue habsburgische Provinz Bosnien und Herzegowina ausgewandert waren und vor allem um
Banja Luka herum lebten. Als Katholiken wurden sie von der muslimischen wie orthodoxen Bevölkerung der Region als „Kroaten“ klassifiziert und deshalb nach dem
Zweiten Weltkrieg von ihren serbischen Nachbarn dermaßen drangsaliert, dass Warschau und Belgrad ihre Rücksiedlung vereinbarten. 14 Mit anderen Worten: „Silesia
balcanica“, das balkanische Schlesien, besteht nicht nur aus Griechen und Makedoniern, sondern auch aus ehemaligen Bewohnern Bosniens, denen sich im Zuge des
Bosnienkrieges der neunziger Jahre auch „richtige“ Bosnier, nämlich Kriegsflüchtlinge hinzugesellten. Und noch etwas ist hinzuzufügen, denn auch die Griechen der
Region bestehen bei näherer Betrachtung aus zwei unterschiedlichen Gruppen – aus
den Flüchtlingen der Jahre 1948 bis 1950, aber auch aus den Nachkommen griechischer Kriegsgefangener aus dem Ersten Weltkrieg. Denn von 1916 bis 1919 lebten
6500 griechische Soldaten in Görlitz, von denen sich circa 200 ganz hier niederließen. 15
Während die nach Polen gelangten Makedonier von 1958 an sukzessive nach Jugoslawien, vor allem in die südliche Teilrepublik Makedonien übersiedelten, konnten
13 Wojecki: Uchodźcy polityczni, S. 163–165.
14 Vgl. dazu den Überblick bei Kamberović, Husnija: Polnische Siedler in Bosnien und Herzegowina
seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. In: Bade: Enzyklopädie Migration, S. 889–890; ders.: Iseljavanje
Poljaka iz Bosne i Hercegovine 1946. godine [Die Aussiedlung der Polen aus Bosnien und Herzegowina im Jahr 1946]. In: Časopis za suvremenu povijest 30 (1988), S. 95–104; und Karaś, Julita:
Reemigranci z Jugosławii w Bolesławcu – pół wieku później [Die Remigration aus Jugoslawien nach
Bolesławiec – ein halbes Jahrhundert danach]. In: Sprawy Narodowośćiowe 12 (2003), S. 217–232.
15 Irmscher, Johannes: Griechen in Görlitz. Die Internierung des IV. griechischen Armeekorps 1916–
1918. Manuskript. O. O. 1993; Toubekis, Konstantinos: Görlitz, die Griechen und die geheime Kommission. Dokumentation über eine außergewöhnliche deutsch-griechische Begegnung. Sendung auf
3sat am 12. Oktober 2006, 21:30 Uhr.
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Balcanica
Griechen erst nach dem Ende der Obristendiktatur 1974 Anträge auf Rückkehr nach
Griechenland stellen. Die Aussicht auf Erfolg war allerdings gering, da sie keine griechische Staatsangehörigkeit mehr besaßen. Erst der Sieg von Andreas Papandreous
sozialistischer PASOK 1981 brachte eine Änderung, so dass jetzt auch die Griechen Polen in großer Zahl verließen. Dennoch blieb ein beträchtlicher Teil von ihnen
da, was mit den guten Bildungschancen zu tun hatte, die ihnen Polen bot. Etliche
einst analphabetische Bergbauern hatten Fach- und Hochschulausbildung erhalten
und waren auf qualifizierten Arbeitsstellen tätig. Dies galt auch und gerade für den
Kulturbereich. Die aus dem niederschlesischen Bielawa (Langenbielau) stammende
Schlagersängerin Eleni Tzoka (geb. Milopolu), bekannt als „Eleni“, der Warschauer
Opernsänger Paulos Raptis, der Slawist Kole Simiczijew aus Wrocław, der Maler
Stathis Jeropulos aus Łódź oder der Posener Lyriker Nikos Chadzinikolau sind hierfür gute Beispiele. 16
In diesem Zusammenhang ist ein Dokument interessant, das ein Historikerkollege aus Wrocław in einem dortigen Archiv gefunden hat. Es handelt sich um die
handschriftliche autobiographische Aussage eines 14-jährigen makedonischen Waisenjungen aus dem Jahr 1953, die typisch für viele Lebensläufe makedonischer und
griechischer Flüchtlingskinder ist:
Ich bin am 18. Dezember 1938 im Dorf Ezerec [griech. Petropoulaki] bei Kostur [griech.
Kastoria] in Makedonien geboren. Mein Vater hieß Nikola und meine Mutter Benka [. . . ]
Zuhause kümmerten sie sich um unseren eineinhalb Hektar großen Landbesitz. Ich habe
zwei Brüder und eine Schwester. Der Kleinste ist in Ungarn, der andere in Polen und meine
Schwester in der UdSSR. Ich bin Makedonier. Als ich fünf, sechs Jahre alt war, wurde
ich Schäfer. Im März 1948 ging ich als Emigrant nach Albanien. Nach einem neunmonatigen Aufenthalt reiste ich nach Rumänien. Im April 1949 kam ich in Polen an, in Solice
Zdrój [Bad Salzbrunn]. Hier begann ich erstmals in die Schule zu gehen. Ich kam in die
zweite Klasse. Jetzt bin ich in der siebten. [. . . ] Ich interessiere mich für den Beruf des
Ingenieurs. 17
Was aus diesem Jungen wurde, ist unbekannt. Über einen seiner Schicksals- und
Altersgenossen namens Stavros hat der US-amerikanische Griechenland-Ethnologe
Loring Danforth auf einer Tagung im Jahr 2003 berichtet: Der musikalisch wie
sprachlich hochbegabte Stavros erhielt während seiner Gymnasialzeit in Wrocław
Klavierunterricht und bereitete sich auf eine Ausbildung zum Konzertpianisten vor,
als sein in Griechenland lebender Vater Mitte der fünfziger Jahre seine Rückkehr in
16 Chadzinikolau, Ares: Polsko-greckie zwiazki
˛
społeczne, kulturalne i literackie w ciagu
˛ wieków
[Gesellschaftliche, kulturelle und literarische polnisch-griechische Verbindungen im Laufe der Jahrhunderte]. Poznań 2002, S. 59–61; Adrjański, Zbigniew: Kalejdoskop estradowy [Kaleidoskop der
Estrade] 1944–1989. Warszawa 2002, S. 129 und 375.
17 Pudlo, Kazimiež [Pudło, Kazimierz]: Nekoi refleksi za prestojot na decata od Egejska Makedonija vo
Polska [Einige Reflektionen zum Aufenthalt von Kindern aus Ägäisch-Makedonien in Polen] (1948–
1968). In: Glasnik na Institutot za nacionalna istorija [Skopje] 30 (1986), S. 193–209, hier S. 19
(Quelle: Życiorys, G. K. in: Archivum Kuratorium Oświaty i Wychowania we Wrocławiu, 15/1953,
S. 20).
Silesia balcanica
151
das heimische Gebirgsdorf erwirkte. In den folgenden zwanzig Jahren war Stavros
durchgängig das Objekt von Überwachung und zum Teil Misshandlung durch Polizei und Geheimdienst Griechenlands, da er als „Kommunist“ und „Slawenfreund“
verdächtigt wurde. Der Besuch eines polnischen Standes auf einer Industriemesse in
Thessaloniki trug ihm gar eine Gefängnisstrafe ein. Im Interview mit Danforth unterteilte Stavros sein Leben in zwei fundamental verschiedene Abschnitte: Die in jeder
Hinsicht aufregenden Jahre in Polen und die anschließenden bleiernen Jahrzehnte in
Griechenland. 18
Aber auch in Polen hatte das Leben der Bürgerkriegsflüchtlinge düstere Seiten.
Nach 1952 wurden 3000 von ihnen aus Niederschlesien in die Beskiden umgesiedelt,
wo in Krościenko bei Ustrzyki Dolne eine griechischsprachige LPG namens „Nea
Zoi“ (Neues Leben) gebildet wurde. Auch in den umliegenden Dörfern Liskowate,
Moczary, Jureczkowa, Wojtkowa, Graziowa
˛
und Trzcianiec wurden griechische und
makedonische LPG-Arbeiter angesiedelt. Es handelt sich dabei um eine schwer zugängliche und klimatisch schwierige Region, die kurz zuvor in menschenleerem Zustand von der Sowjetunion im Austausch gegen einen anderen Grenzstreifen an Polen
abgetreten worden war. 19 Die abgelegene LPG diente der stalinistischen Führung der
griechischen Exil-KP zugleich als Verbannungsort für missliebige Parteimitglieder,
darunter vor allem Makedonier. Dem makedonischen Historiker Risto Kirjazovski
zufolge wurden die Verbannten in „Brigaden der Abtrünnigen“ zur Zwangsarbeit im
Kanalbau eingesetzt. 20 Und dem Pariser Historiker griechischer Herkunft Ilios Yannakakis zufolge, selbst Bürgerkriegsflüchtling in der Tschechoslowakei und Funktionär der Kommunistischen Partei Griechenlands, war Krościenko „ein KolchoseLager, in dem vor allem slavo-mazedonische Oppositionelle gefangen gehalten wurden. Die kommunistische Partei [Griechenlands] hatte eine Sicherheitstruppe zur
Überwachung des Lagers aufgebaut. Die Bedingungen waren extrem: Vasilis Panos,
der an der Spitze dieser Sicherheitspolizei stand, gab zu, dass zur Hinrichtung der
Verurteilten keine Feuerwaffen eingesetzt wurden. Das Opfer wurde mit Stockschlägen schlichtweg zu Tode geprügelt.“ 21
18 Danforth, Loring: „We Crossed a Lot of Borders“: Refugee Children from the Greek Civil War Who
Returned to Greece. Ms. eines Vortrags auf dem internationalen Colloquium „The Child Refugees
from Greece in Eastern and Central Europe after World War II“. Joseph Károlyi Foundation, Fehérvárcsurgó, Ungarn, 3.–4. Oktober 2003.
19 Vgl. die Karte „Osadnictwo ludności greckiej i macedońskiej w Bieszczadach“ [Die Ansiedlung
griechischer und makedonischer Bevölkerung im Bieszczady-Gebirge] bei Wojecki: Uchodźcy polityczni, S. 52; Biernacka, Maria: Greek Refugees in the Bieszczady Mountains. Processes of Adaption
and Integration. In: Ethnologia Polonica 7 (1981), S. 35–45; dies.: Osady uchodźców greckich w
Bieszczadach [Siedlungen griechischer Flüchtlinge im Bieszczady-Gebirge]. In: Etnografia Polska
17 (1973), S. 83–93; Maryański, Andrzej: Mniejszość grecka w wojewódstwie Rzeszowskim [Die
griechische Minderheit in der Wojewodschaft Rzeszów]. In: Czasopismo geograficzne 33 (1962),
S. 362–363.
20 Kirjazovski: Makedonskata politička emigracija, S. 186 und 250.
21 Yannakakis, Ilios: Die griechischen Opfer des Kommunismus. In: Courtois, Stéphane /Galli, Berthold /Rullkötter, Bernd: Das Schwarzbuch des Kommunismus 2: Das schwere Erbe der Ideologie.
München /Zürich 2004, S. 447–468 und 521 f., hier S. 466.
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Balcanica
Dass die Makedonier unter den Flüchtlingen Ende der fünfziger Jahre massenhaft nach Jugoslawien übersiedelten, hatte in doppeltem Sinne politische Gründe:
Zum einen war es die griechische Exil-KP, die gegenüber den polnischen Behörden
als Sprecher aller Flüchtlinge auftrat – mit der Folge, dass die slawischsprachigen
Makedonier sich bei der Vergabe von Arbeitsstellen, Wohnungen, Studienplätzen
und anderem häufig benachteiligt fühlten. Zum anderen aber richtete sich die AntiTito-Kampagne der polnischen Kommunisten primär gegen die Makedonier unter
den Flüchtlingen. Der eingangs erwähnte, von Norman Davis genannte „Petro Damovsky“ aus Zgorzelec, dessen richtiger Name German Petrov Damovski lautete,
war ein solcher Fall. 22 Die Lage spitzte sich zu, als in der zweiten Hälfte der fünfziger
Jahre das Ansinnen der polnischen Makedonier auf Gründung einer eigenen Organisation analog zum seit 1953 existierenden „Bund der Politischen Flüchtlinge aus
Griechenland in Polen ‚Nikos Belojannis‘“ abgelehnt wurde. Im Ergebnis bildeten
Makedonier aus Zgorzelec, Wrocław und Legnica 1960 eine Untergrundorganisation, die sie „Egejska zora“ – „Morgenröte der Ägäis“ – nannten. 23 Sie „wird für
die Erziehung der makedonischen Jugend im Geiste des proletarischen und sozialistischen Internationalismus kämpfen“, hieß es in der Satzung, und weiter: „sie wird
für die makedonisch-nationale Bewusstwerdung der Jugend und allgemein der Makedonier in Polen kämpfen; sie wird für die Aufrechterhaltung der Autorität der
Volksrepublik Makedonien unter den Makedoniern kämpfen; sie wird einen unermüdlichen Kampf gegen die [griechischen] Chauvinisten, welche die ‚Megali Idea‘
propagieren, führen; sie wird für die Schaffung einer makedonischen kulturellen
Gesellschaft kämpfen, welche die makedonische Kultur unter den in Polen lebenden Makedoniern anleitet und entwickelt [. . . ]“ 24 Die Aktivitäten der „Morgenröte
der Ägäis“ bestanden primär in agitatorischer Arbeit wie dem Verteilen von Flugblättern und dem Kleben von Aufrufen. So zierte im März 1961 ein Appell etliche
Häuserwände von Zgorzelec, mit dem die Makedonier der Stadt in ihrer Muttersprache aufgerufen wurden, „den großgriechischen und großbulgarischen Chauvinismus
entschieden zu bekämpfen“. Der Aufruf endete mit der Parole: „Es lebe das makedonische Volk! Es lebe die Volksrepublik Makedonien, unser teures Vaterland! Es
lebe die Volksrepublik Polen! Es lebe die rechtmäßige Regierung des Kongo! Es
lebe das Werk Lumumbas!“ 25 Das war dann selbst den polnischen Kommunisten zu
22 Kirjazovski: Makedonskata politička emigracija, S. 236–243.
23 Martinova-Buckova: I nie, S. 62–63. Vgl. auch Vragoterov, Kostas: Hronologija od životot i dejnosta
na političkite emigranti od Egejskiot del na Makedonija vo NR Polska za godinite od 1950 do 1962
[Chronologie von Leben und Tätigkeit der politischen Emigranten aus dem ägäischen Teil Makedoniens in der VR Polen in den Jahren von 1950 bis 1962]. Manuskript. Skopje 1961, S. 162–165, zit.
nach Boeschoten: „Unity and Brotherhood“?, S. 199.
24 Arhiv na Makedonija, Skopje, fond br. 997, Sign. K-4/32: Programa na „E. Zora“, zit. nach Martinova-Buckova: I nie, S. 62.
25 Kirjazovski, Risto: Makedonski nacionalni institucii vo Egejskiot del na Makedonija (1941–1961)
[Makedonische nationale Institutionen im ägäischen Teil Makedoniens (1941–1961)]. Skopje 1987,
S. 255.
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153
internationalistisch, so dass die Organisation im Herbst 1961 aufgelöst und ihre Protagonisten nach Jugoslawien ausgewiesen wurden.
Im Zuge der Auswanderungs- bzw. Rückkehrwellen von Makedoniern in den
sechziger und von Griechen in den achtziger Jahren verringerte sich die Zahl der
Bürgerkriegsemigranten und ihrer Nachkommen in Polen von etwa 20.000 im Jahr
1958 auf rund 8.000 im Jahr 1981. Lediglich 850 waren es im Jahr 1995. Darunter
befanden sich 600 Griechen und 250 Makedonier, die mehrheitlich in Niederschlesien lebten. Das aktivste Zentrum von Griechen in Polen befindet sich in Zgorzelec –
dem Ort, der ihnen unmittelbar nach ihrer Ankunft Ende der vierziger Jahre zugewiesen wurde. 26 Seit 1998 finden dort wieder griechische Folklorefestivals statt, die
Außenstelle der „Gesellschaft der Griechen in Polen“ ist hier besonders aktiv. Es
war also kein Zufall, dass sich im Mai 2004 ausgerechnet in Zgorzelec eine „Griechen in Polen – in Geschichte, Wissenschaft, Kunst“ betitelte Konferenz erstmals
mit der Geschichte der Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in Niederschlesien
befasste. 27
26 Prosyniak, Kazimierz /Czarnecki, Ryszard: O Grecji i Grekach w Zgorzelcu [Über Griechenland und
die Griechen in Zgorzelec]. Zgorzelec 2007; Rusketos, Nikos: Ich werde immer für Griechenland in
Polen werben . . . /Zawsze b˛ed˛e propagował Grecj˛e w Polsce. In: Pfeiffer, Stella /Opiłowska, Elżbieta:
Görlitz – Zgorzelec. Zwei Seiten einer Stadt. Dwie strony miasta. Dresden 2005, S. 170–189.
27 Siehe das Tagungsprogramm „Grecy w Polsce – poprzez histori˛e, nauk˛e, sztuk˛e. Mniejszość grecka w
Polsce. Konferencija Kola Naukowego Stosunków Mi˛edzynarodowych, 29–30 marzec 2004“ [Griechen in Polen – in Geschichte, Wissenschaft, Kunst. Die griechische Minderheit in Polen. Konferenz
des Wissenschaftszirkels Internationale Beziehungen, 29. bis 30. März 2004].
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Chronologie einer gescheiterten Prävention
Vom Konflikt zum Krieg im Kosovo, 1989–1999
[1999]
Vom Beginn der Kriege im ehemaligen Jugoslawien 1991 an ist von diplomatischer
Seite häufig zu hören gewesen, der blutige Zerfall des Bundesstaates knapp zwei
Jahre nach der epochalen Wende in Osteuropa habe die internationale Gemeinschaft
gleichsam auf dem falschen Fuß erwischt: Die Instrumente Frühwarnung, präventive Diplomatie und Krisenmanagement seien sowohl auf der Ebene der Vereinten
Nationen wie der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE,
seit 1995: OSZE) erst im Entstehen begriffen, d. h. noch nicht einsatzbereit gewesen. Beim Beginn des Krieges im Kosovo 1998 konnte ein solches Argument nicht
vorgebracht werden: Zum einen war die Brisanz dieses stark asymmetrischen ethnopolitischen Konflikts um die Kontrolle über die knapp 11.000 Quadratkilometer
große Provinz im Südwesten der jugoslawischen Teilrepublik Serbien spätestens
seit März 1989 bekannt, als der damalige serbische Präsident Slobodan Milošević unter Bruch der Bundesverfassung das Statut über Territorialautonomie für das
Kosovo aufhob und die albanische Bevölkerungsmehrheit dort einer repressiven, besatzungsähnlichen Direktherrschaft Belgrads unterstellte. Die Folge waren schwere
Ausschreitungen zwischen Miliz und Albanern sowie die Gründung eines kosovoalbanischen „Schattenstaates“ 1. Zum anderen hatten Vertreter eben dieses Schattenstaates im Dezember 1991 der Haager Jugoslawienkonferenz der Europäischen
Gemeinschaft ihre Forderung nach diplomatischer Anerkennung analog zu den Teilrepubliken der zerfallenden jugoslawischen Föderation präsentiert. 2 Und schließlich
waren von 1992 an eine Reihe multilateraler Organisationen, darunter eben UN und
KSZE, mit Versuchen zur Entschärfung der Zeitbombe Kosovo befasst. 3 Genützt im
Sinne einer Transformation oder gar Lösung des Konflikts, nicht nur eines Hinausschiebens seiner gewaltförmigen Phase, hat dies bekanntlich nichts. Umso dringli-
1
2
3
Vgl. Marc Weller (Ed.): The Crisis in Kosovo, 1989–1999. London 1999. – Reneo Lukic, Allen
Lynch: Europe from the Balkan to the Urals. The Disintegration of Yugoslavia and the Soviet Union.
Oxford 1996, S. 144–173, sowie die Beiträge in dem Sammelband Ger Duijzings, Dušan Janjić,
Shkëlzen Maliqi (Hrsg.): Kosovo – Kosova: Confrontation or Coexistence. Nijmegen 1997.
Vgl. die deutsche Übersetzung des entsprechenden Briefes der „Regierung der Republik Kosova“ bei
Christine von Kohl, Wolfgang Libal: Kosovo: Gordischer Knoten des Balkans. Wien /Zürich 1992,
Anhang 1.
Fabian Schmidt: Has the Kosovo Crisis Been Internationalized?, in: Radio Free Europe /Radio Liberty Research Reports, 44/1993, S. 35–39. – Sophia Clément: Conflict Prevention in the Balkans:
Case Studies of Kosovo and the FRY of Macedonia. Paris 1997 (Chaillot Papers, 30). – Stefan
Troebst: Conflict in Kosovo: Causes and Cures. An Analytical Documentation, in: Hans-Georg
Ehrhart, Albrecht Schnabel (Eds.): The Southeast European Challenge: Ethnic Conflict and the International Response. Baden-Baden 1999, S. 85–116.
Chronologie einer gescheiterten Prävention
155
cher ist daher die Frage nach dem Warum hinter der gescheiterten Prävention vor
Beginn der ersten Runde des Kosovo-Kriegs im Februar 1998 und nach dem Fehlschlag des internationalen Krisenmanagements.
Diese Frage drängt sich auch deswegen auf, weil die Ausgangsbedingungen für
eine Verhütung des 1913 entstandenen und seit zehn Jahren eskalierenden Konflikts 4 zumindest in der ersten Hälfte der neunziger Jahre relativ günstig gewesen
waren. Zum einen hat die Staatengemeinschaft Frühwarnsignale durchaus registriert, darauf gar reagiert, und zum anderen sorgte eine der beiden Konfliktparteien,
nämlich die kosovoalbanische, dafür, dass der Konflikt unter der Gewaltschwelle
blieb. Denn im Unterschied zu anderen zentrifugalen Nationalbewegungen Osteuropas setzte die Führung der Kosovoalbaner nach den Rückschlägen von 1989 und
1991 bei der Durchsetzung ihres Anliegens nicht auf Gewalt, sondern im Gegenteil
auf Gewaltfreiheit. Dieses Anliegen – äußere Selbstbestimmung in Form staatlicher
Unabhängigkeit – hoffte man durch eine Internationalisierung des Konflikts zu erreichen. Mit anderen Worten: Das kosovoalbanische Kalkül zielte als Gegenleistung für
den Gewaltverzicht auf eine staatsrechtliche „Belohnung“ durch die Staatengemeinschaft in Form eines Protektorats als Übergangsstufe zur Unabhängigkeit. Während
die pazifistische Taktik von internationalen Organisationen und Großmächten mit
Wohlwollen zur Kenntnis genommen wurde, ignorierte man das politische Anliegen der Eigenstaatlichkeit. Aufgrund dieser einäugigen Wahrnehmung entstand bei
den meisten internationalen Akteuren der Eindruck, das Kosovo-Problem sei nicht
sonderlich dringend, zetteln doch Pazifisten in aller Regel keine Bürger- oder Staatenkriege an.
Zur Gewaltfreiheit kam ein zweites Moment hinzu, das die zunehmend mit
dem Krieg in Bosnien und Herzegowina präokkupierte internationale Gemeinschaft
gleichfalls als Entwarnung bezüglich Kosovo deutete. Dies war die verfassungsrechtliche und praktisch-politische Ausgestaltung dessen, was die Kosovoalbaner
„Republika Kosova“ nannten, einen „Staat im Staate“, der gleichsam im Halbschatten der offiziellen serbischen Strukturen existierte. Dieser „Parallelstaat“ gab sich
von 1990 an Verfassungsorgane wie Parlament, Präsident und Regierung, baute ein
eigenes Steuersystem, ein separates Schulwesen und ein privat organisiertes Gesundheitssystem auf. Hinzu kam eine vom Regime in Belgrad weitgehend geduldete breite
albanischsprachige Printmedienlandschaft, während Radio und Fernsehen in albani-
4
Zu Vorgeschichte und Verlauf vgl. Holm Sundhaussen: Kosovo: „Himmlisches Reich“ und irdischer
Kriegsschauplatz. Kontroversen über Recht, Unrecht und Gerechtigkeit, in: Südosteuropa 48 (1999)
(im Erscheinen). – Noel Malcolm: Kosovo: A Short History. London, New York, NY, 1998. – Miranda
Vickers: Between Serb and Albanian: A History of Kosovo. London, New York, NY, 1998. – Peter
Schubert: Zündstoff im Konfliktfeld des Balkan: Die albanische Frage. Baden-Baden 1997. – Robert
Elsie (Ed.): Kosovo: In the Heart of the Powder Keg, Boulder, CO, New York, NY, 1997. – Stefan
Troebst: Still Looking for an Answer to the „Albanian Question“, in: Transition, 4/1997, S. 24–27. –
Michel Roux: Les Albanais en Yougoslavie. Minorité nationale, territoire et développement. Paris
1992. – Marco Dogo, Kosovo: Albanesi e Serbi: le radici dei conflitto. Lungro di Cosenza 1992. –
und Jens Reuter: Die Albaner in Jugoslawien. München 1982.
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Balcanica
scher Sprache verboten blieben. 5 Dieses eigentümliche Nebeneinander zweier „Staaten“ auf ein und demselben Territorium, die kaum Berührungspunkte (und damit
wenige Reibungsflächen) aufwiesen sowie sich gegenseitig ignorierten (aber auch
tolerierten), wirkte auf Betrachter von außen „stabil und explosiv“ zugleich. 6 Entsprechend der politikwissenschaftlichen Erkenntnis, dass Entscheidungsträger, konfrontiert mit unterschiedlichen Entwicklungsszenarien, in aller Regel das günstigste
zugleich für das wahrscheinlichste halten 7, festigte sich in den Jahren kosovoalbanischer „Parallelstaatlichkeit“ auf internationaler Ebene die Ansicht, der KosovoKonflikt sei zumindest mittelfristig eingedämmt.
Frühe Vermittlungsversuche: Die KSZE und die
Genfer Jugoslawien-Konferenz
Unter den internationalen Organisationen war es im Krisenjahr 1991 die amorphe,
aus dem Kalten Krieg stammende und mitten in einem tiefgreifenden Umbruch steckende KSZE, die sich als erste des Themas Kosovo annahm. 8 Auf einem KSZEExpertentreffen über Nationale Minderheiten im Juli 1991 in Genf wurde Belgrad
seiner Kosovo-Politik wegen heftig kritisiert, und im Mai 1992 empfahl eine KSZEBerichterstattermission nach Kosovo die Entsendung von ständigen Beobachtern in
diese Krisenregion. Das auf dem KSZE-Gipfel im Juli 1992 angenommene Helsinki-II-Dokument sah die Einrichtung von KSZE-Beobachter- und Vermittlungsmissionen vor, und im August 1992 wurden die „KSZE-Langzeitmissionen nach Kosovo,
Sandžak und Vojvodina“ entsandt. 9 Ihre Aufgabe war die Herbeiführung eines Dialogs zwischen der kosovoalbanischen Bevölkerung und den serbischen Behörden
sowie die Dokumentierung von Menschenrechtsverletzungen. 10 Im September 1992
eröffnete die Mission ein Büro in Priština (alb. Prishtina), der Hauptstadt des Kosovo,
im Februar 1993 Außenstellen in Pe (Peja) und Prizren.
5
Denisa Kostovicova: Parallel Worlds: Response of Kosovo Albanians to Loss of Autonomy in Serbia,
1986–1996. Keele 1997 (Keele European Research Centre Research Papers: Southeast Europe Series, 2). – Fabian Schmidt: Kosovo: The Time Bomb That Has Not Gone Off, in: Radio Free Europe /
Radio Liberty Research Reports, 39/1993, S. 21–29. – Jens Reuter: Die politische Entwicklung in
Kosovo 1992/93. Andauernde serbische Repressionspolitik, in: Südosteuropa, 1–2/1994, S. 18–30.
6 Franklin De Vrieze: Kosovo: Stable and Explosive, in: Helsinki Monitor, 2/1995, S. 43–51.
7 Urs Leimbacher: Krisenmanagement – die Herausforderung der 90er Jahre, in: Europa-Archiv,
17/1993, S. 481–490.
8 Zu diesem Wandlungsprozess vgl. Victor-Yves Ghebali: L’OSCE dans l’Europe postcommuniste,
1990–1996. Vers une identité paneuropéen de sécurité. Buxelles 1996.
9 Zur Tätigkeit der KSZE im Kosovo in den Jahren 1992–1993 vgl. Stefan Troebst: Conflict in Kosovo: Failure of Prevention? An Analytical Documentation, 1992–1998. Flensburg 1998, S. 26–29
(ECMI Working Papers, 1) (URL http://www.ecmi.de/uploads/tx_lfpubdb/working_paper_1.pdf,
letzter Zugriff: 08. 10. 2016).
10 Fifteenth CSO Meeting, Prague, 13–14 August 1992, Decision on Missions of Long Duration, in:
Arie Bloed (Ed.): The Conference on Security and Co-operation in Europe. Analysis and Basic Documents, 1972–1993. The Hague, Boston, London 1993, S. 959.
Chronologie einer gescheiterten Prävention
157
Dass Belgrad der Entsendung der KSZE-Mission zustimmte, ging wesentlich
auf den im Juni 1992 gewählten neuen jugoslawischen Ministerpräsidenten Milan
Panić, einen nordamerikanischen Exilserben, zurück. Dieser, ein Opponent Miloševićs, verfolgte eine Politik des Ausgleichs im Kosovo und trat zu diesem Zweck
mit dem kurz zuvor gewählten „Präsidenten“ der Kosovoalbaner, Ibrahim Rugova,
in Kontakt. Im September 1992 schlug Panić eine Übereinkunft über die Wiedererrichtung des albanischen Bildungswesens im Kosovo vor, das im Zuge der Aufhebung der Autonomie 1989 weitgehend geschlossen worden war. Ziel dabei war
es, 270.000 albanischen Grundschülern, 60.000 Mittelschülern, 20.000 Studierenden und 20.000 Lehrern den Umzug aus den Kellern, Dachböden und Schuppen,
in denen das „parallele“ Bildungswesen des Kosovo stattfand, in ihre Schul- und
Universitätsgebäude zu ermöglichen. 11 Sowohl die KSZE-Mission unter ihrem norwegischen Leiter Tore Bøgh als auch die mit der Mission eng zusammenarbeitende
Genfer Konferenz über das Ehemalige Jugoslawien, das die Vereinten Nationen und
die Europäische Gemeinschaft im August 1992 eingesetzt hatten, machten sich nun
die Vermittlung eines solchen Abkommens zur Aufgabe. Dabei hoffte man auf einen
raschen Erfolg, der dann den Weg zu einer grundsätzlichen Regelung des KosovoProblems bahnen würde.
Dem bundesdeutschen Diplomaten Geert-Hinrich Ahrens, der die Working Group
on Ethnic and National Communities and Minorities der Genfer Jugoslawienkonferenz leitete, gelang es am 14. Oktober 1992, den jugoslawischen Erziehungsminister
und Vertreter der Kosovoalbaner zur Unterschrift unter eine Erklärung über die
„Rückkehr zu normalen Arbeitsbedingungen für Schulen und andere Bildungseinrichtungen“ im Kosovo zu bewegen. 12 Dies war der Auftakt zu einer Gesprächsserie, welche die Wiedereröffnung der albanischen Grund- und Mittelschulen zum
Ziel hatte. Die Verhaftung eines prominenten kosovoalbanischen Bildungspolitikers
durch die serbische· Miliz führte wenige Wochen später indes zum Abbruch des Dialogs, und die von Milošević betriebene Abwahl Panićs im Dezember 1992 bewirkte
eine rasche Klimaveränderung. Zwar wurden die Gespräche fortgesetzt, jetzt in Genf,
doch blieben sie ohne greifbares Ergebnis. Im Juni 1993 verweigerte Milošević eine
Verlängerung des Mandats der KSZE-Mission, so dass diese im Folgemonat das
Land verlassen musste. 13 Damit war sowohl die internationale Präsenz im Kosovo
11 International Helsinki Federation for Human Rights: Annual Report 1997: Human Rights Developments in 1996. Wien 1997, S. 295.
12 Report of the [United Nations] Secretary-General on the International Conference on the Former
Yugoslavia [11 November 1992], in: Bertie G. Ramcharan (Ed.): The International Conference on
the Former Yugoslavia- Official Papers. The Hague, London, Boston, 1997, S. 558. Vgl. auch Geert
Ahrens, Praktische Erfahrungen bei der ausländischen Vermittlung in Minderheitenkonflikten im
früheren Jugoslawien, in: Ekkehard Hetzke, Michael Donner (Hrsg.); Weltweite und europäische
Sicherheit im Spannungsfeld von Souveränität und Minderheitenschutz. Berlin, Bonn, Herford 1994,
S. 77–89, und Geert-Hinrich Ahrens: „Das Augenmaß auf dem Balkan nicht verlieren“: Die Albaner
im Kosovo und in Mazedonien, in: Das Parlament, 12. April 1996, S. 11.
13 CSCE Mission to Kosovo, Sandzak and Vojvodina: Special Report: Kosovo – Problems and Prospects. Belgrade, 29. 6. 1993; Auszug bei Troebst: Conflict in Kosovo, S. 27–28.
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als auch die Beschäftigung der KSZE mit diesem Problemknoten auf Jahre hinaus
unterbrochen. Von der Eröffnung eines Büros des United States Information Service
in Priština am 5. Juni 1996 abgesehen, dauerte es bis zum Juli 1998, bevor die Staatengemeinschaft wieder ständig vor Ort präsent war – nun in Gestalt der Kosovo Diplomatic Observer Mission (KDOM) von USA, Russländischer Föderation und EU.
Auch wenn der „Milošević-Faktor“ beim Scheitern dieser Vermittlungsinitiative
nicht zu unterschätzen ist, erscheint doch fraglich, ob das mit Souveränitäts- und
Statusfragen verknüpfte und somit besonders schwierige Reizthema Bildungswesen in der Tat ein vielversprechender und damit sinnvoller Ansatzpunkt gewesen ist.
Selbst Diplomaten wie der Ahrens-Nachfolger, Botschafter Martin Lutz, haben die
Vermutung geäußert, das exemplarische Aufgreifen eines anderen und graduell weniger aufgeladenen Problemkomplexes wie etwa derjenige des zwischen serbischem
Staat und albanischer Bevölkerung gleichfalls segregierten Gesundheitswesens hätte
rascher einen ersten Erfolg bringen und damit den erforderlichen Schub für einen
wirklichen Vermittlungsdurchbruch erzeugen können. 14
Mediation durch Nichtregierungsorganisationen 1996–1998
Der Kosovo-Konflikt unterschied sich von anderen Krisenherden nicht nur durch relativ frühe Präventionsversuche seitens diplomatischer Akteure, sondern auch durch
den verhältnismäßig hohen Grad an Koordinierung zwischen der Tätigkeit internationaler Organisationen und Nichtregierungsorganisationen. Dies gilt in besonderem
Maße für die Kosovo-Aktivitäten der katholische Laienorganisation Comunità di
Sant’Egidio aus Rom, die gleich KSZE und Genfer Jugoslawienkonferenz beim
Problemkomplex Bildungswesen ansetze. Ihrem Vorsitzenden Monsignore Vincenzo
Paglia gelang es am 1. September 1996, Milošević und Rugova zur Unterschrift unter
eine gemeinsam Erklärung über die „Normalisierung des Bildungssystems für albanischeKinder und Jugendliche im Kosovo“ zu bewegen. 15
Mit der Erklärung setzten beide Seiten eine paritätisch besetzte Kommission ein
und listeten in einem nicht veröffentlichten Anhang 24 Grundschulen, 66 Mittelschulen, sieben Oberschulen und 13 Fakultäten der 1990 geschlossenen albanischen
Universität Priština auf, die sämtlich wieder für albanische Schüler und Studierende
zu öffnen waren. Das positive Echo seitens internationaler Organisationen war so
groß, dass die Kosovo-Resolutionen von UN, OSZE, Europarat, EU, Kontaktgruppe,
14 Martin Lutz: How to implement the school agreement? Vortrag auf der Konferenz „Strategies and
Options for Kosovo“ der Bertelsmann Wissenschaftsstiftung und der Forschungsgruppe Europa in
Thessaloniki, 20.–21. 4. 1998.
15 Text bei Thanos Veremis, Evangelos Kofos (Eds.): Kosovo: Avoiding Another Balkan War. Athen
1998, S. 40–41?. – Vgl. auch die Analyse von Gordana Igrić: Education is the Key in Serb-Kosovar
Negotiations, in: Transition, 4/1997, S. 19–23. Zur außerordentlich öffentlichkeitsscheuen Comunità
di Sant’Egidio siehe Sergej Starcev: OON iz Trastevere: Mirotvorcy, kotorye prosty, kak golubi, no
ostorožny, kak zmei, in: Nezavisimaja gazeta, 27. 11. 1997, Beilage „NG-Religija“, S. 5.
Chronologie einer gescheiterten Prävention
159
WEU u. a. der Jahre 1997 und 1998 durchgängig auf dieses Dokument Bezug nahmen. Greifbare Ergebnisse brachte all dies jedoch nicht. Auch zwei unter Vermittlung der Comunità di Sant’Egidio zustande gekommene Sitzungen der vereinbarten
paritätischen Kommission im Oktober 1997 und Februar 1998 führten nicht zur Umsetzung der Vereinbarung. 16
Ebenfalls um Konfliktmediation mittels Schaffung von Dialogforen für Serben
und Kosovoalbaner bemüht waren das vom US Department of State unterstützte
Project on Ethnic Relations in Princeton, New Jersey, der European Action Council
for Peace in the Balkans in Amsterdam 17 sowie die Bertelsmann Wissenschaftsstiftung in Gütersloh, die in Zusammenarbeit mit der Forschungsgruppe Europa am
Zentrum für Angewandte Politikforschung der Universität München in den Jahren
1996 bis 1998 acht Dialogrunden mit Politikern, Journalisten, Wissenschaftlern und
Menschenrechtsaktivisten aus Belgrad und Priština abhielt. 18
„Die Vergessenen von Dayton“
Zum Zeitpunkt der Vermittlungsinitiative der Comunità di Sant’Egidio hatten sich
die Ausgangsbedingungen für eine konstruktive Bearbeitung des Kosovo-Konflikts
seitens Dritter bereits dramatisch verschlechtert. Grund war die Wirkung des Dayton-Abkommens vom November 1995, in dem das Kosovo-Problem aufgrund der
kategorischen Haltung Miloševićs ausgeklammert wurde. 19 Dies bewirkte eine Radikalisierung großer Teile vor allem der jüngeren Kosovoalbaner, die sich in einer
Abkehr von der pazifistischen Taktik Rugovas und in einer Hinwendung zu aggressiveren Aktionsformen wie einer Intifada-Taktik äußerte.
Zugleich trat vom Februar 1996 an eine „Kosovo-Befreiungsarmee“ (Ushtria Çlirimtare e Kosovës, UÇK) mit Anschlägen in Erscheinung. Allerdings dauerte es bis
zum September 1997, bevor die UÇK zu koordinierten Aktionen gegen die über-
16 Anna Husarska: Milosevic Shows His True Colors on Education Accord, in: International Herald
Tribune, 5.–6. 9. 1998, S. 8.
17 Zu den Politikempfehlungen dieser beiden Nichtregierungsorganisationen vgl. Troebst: Conflict in
Kosovo: Failure of Prevention?, S. 91–93.
18 Vgl. Josef Janning, Martin Brusis (Eds.): Exploring Futures for Kosovo: Kosovo Albanians and Serbs
in Dialogue-Project Report. München 1997 (Forschungsgruppe Europa, Arbeitspapier Nr. 4). – Matthias Rüb: Vertrauensbildung und Statusfragen. Vorschläge für eine Annäherung zwischen Serben
und Albaner im Streit um das Kosovo, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. 1. 1998, S. 12.
19 Fabian Schmidt: Teaching the Wrong Lesson in Kosovo, in: Transition, 14/1996, S. 37–39. Der damalige Politische Direktor im Auswärtigen Amt, Wolfgang Ischinger, berichtete am 4. November 1995
über ein Gespräch mit Milošević in Dayton, beim Thema Kosovo sei der serbische Präsident „regelrecht explodiert: Beim Kosovo handele es sich um ein ausschließlich inneres Problem seines Landes,
er lehne Internationalisierungsbestrebungen rundweg ab“. – Vgl. Auswärtiges Amt (Hrsg.): Deutsche
Außenpolitik 1995. Auf dem Weg zu einer Friedensregelung für Bosnien und Herzegowina. 53 Telegramme aus Dayton. Eine Dokumentation. Bonn 1998, S. 65.
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Balcanica
mächtigen serbischen Sicherheitskräfte in der Lage war. 20 Wie rasch dann allerdings
der Prozess der Mobilisierung, aber auch der Polarisierung unter den Kosovoalbanern voranschritt, wurde deutlich, als es im Folgemonat zur Massendemonstration
albanischer Studenten in Priština kam und sich im November die UÇK zum ersten
Mal in der Öffentlichkeit zeigte. Das Belgrader Regime reagierte darauf zunächst mit
Polizeieinsätzen und Schauprozessen, von Weihnachten 1997 an dann mit einer massiven Erhöhung der Präsenz der Armee Jugoslawiens (Vojska Jugoslavije) und von
Spezialpolizeieinheiten des serbischen Innenministeriums (Ministarstvo unustrašnjih
poslova Republike Srbije). 21
Ungeachtet der seit Dayton, vor allem aber seit dem Herbst 1997 sprunghaft
steigenden Spannung im Kosovo reagierte die Staatengemeinschaft in Gestalt internationaler Organisationen und Großmächte nahezu ausschließlich durch das gebetsmühlenartige Äußern „tiefer Besorgnis“ über eben diese Entwicklung. Dies galt
auch für dasjenige internationale Gremium, das seit der neuerlichen Eskalation zunehmend als Koordinationsstelle von NATO und Russländischer Föderation auftrat –
die Kontaktgruppe für das ehemalige Jugoslawien, bestehend aus den USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien sowie der Russländischen Föderation.
In ihrer ersten Erklärung zum Kosovo-Konflikt vom 24. September 1997 tat auch
dieses Gremium wenig mehr als zu „friedlichem Dialog“ aufzurufen, vor „jeglicher
Anwendung von Gewalt bei der Durchsetzung politischer Forderungen“ zu warnen
und eben seiner „tiefen Besorgnis über Spannungen im Kosovo“ Ausdruck zu verleihen. 22
Dasselbe galt für eine aus der Kontaktgruppe hervorgegangene Initiative der Außenminister Frankreichs und Deutschlands, Hubert Védrine und Klaus Kinkel, die
in einem Brief an Präsident Milošević vom 19. November 1997 diesen zu „einer
Verhandlungslösung“ aufriefen und ihm im Gegenzug „die Wiedergewährung von
Handelspräferenzen durch die Europäische Union“ in Aussicht stellten. 23 Und die
20 Zur UÇK vgl. Tim Judah: Inside the KLA, in: New York Review of Books, 10/1999, S. 1923. – Jens
Reuter: Wer ist die UÇK?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/1999, S. 281–284. –
Matthias Rüb: „Phönix aus der Asche“: Die UÇK: Von der Terrororganisation zur Bodentruppe der
Nato?, in: Thomas Schmid (Hrsg.): Krieg im Kosovo. Reinbek 1999, S. 47–62. – Tim Judah: Impasse
in Kosovo, in: New York Review of Books, 15/1998), S. 4–6. – Stefan Lipsius: Untergrundorganisationen im Kosovo. Ein Überblick, in: Südosteuropa, 1–2/1998, S. 75–82.
21 Vladimir Jovanović: Kosovo prioritet VJ, in: Naša borba, 13. 1. 1998, S. 2. – Ders.: „Adut“ za kasnije pregovore. Pripremali se ograničen udar na Drenicu?, in: Nedeljna naša borba, 31. 1./1. 2. 1998,
S. 2. – Zur Armee Jugoslawiens, zu den verschiedenen Spezialeinheiten der Sicherheitspolizei sowie zu den paramilitärischen Formationen vgl. die Homepage der Federation of American Scientists
(http://www.fas.org/irp/world/serbia, letzter Zugriff: 04. 10. 2016).
22 Statement on Kosovo of the Contact Group of Foreign Ministers. New York, 24 September 1997,
in: Heike Krüger (ed.): The Kosovo Conflict and International Law: An Analytical Documentation
1974–1999. Cambridge 2001, S. 121 (= Cambridge International Document Series, vol. 11).
23 Die Situation im Kosovo. Brief von Bundesaußenminister Klaus Kinkel und Außenminister Hubert
Védrine an den Präsidenten der Bundesrepublik Jugoslawien Slobodan Milošević. Frankfurt an der
Oder, 19. November 1997, in: Troebst (ed.): Conflict in Kosovo, S. 60–61.
Chronologie einer gescheiterten Prävention
161
EU echote im Dezember, Gewaltverzicht, „umfassender Dialog“ und „Respekt für
Menschen- und Bürgerrechte im Kosovo“ seien das Gebot der Stunde. 24
Wesentlich elaboriertere und pragmatischere Vorschläge, von der EU bereits im
Sommer des Krisenjahres 1997 bezüglich einer Deeskalation der Spannungen im
Kosovo in Auftrag gegeben bzw. selbst erstellt, hatten den Aufstieg aus Planungsgruppen und think tanks in die eigentlichen Entscheidungsebenen offensichtlich nicht
geschafft. Zu diesen Vorschlägen gehörte ein Drei-Stufen-Plan, den das von der
EU initiierte und finanzierte Conflict Prevention Network (CPN) am 30. Juni 1997
EU-intern vorstellte, sowie ein Fünf-Punkte-Konzept der Zentralen Planungsabteilung für Außenbeziehungen in der Generaldirektion IA der Kommission vom
17. September 1997. 25 Beide Empfehlungen sahen nachhaltige und behutsame Konfliktintervention in Form von vertrauensbildenden Maßnahmen und humanitärer
Hilfe vor, um den akuten Spannungszustand zu beenden. In weiteren Schritten sollte
das Zustandekommen direkter serbisch-kosovoalbanischer Gespräche über eine weitere Verbesserung der Lebensbedingungen in der Region gefördert werden, die dann
möglicherweise in regelrechte Verhandlungen über den künftigen Status der Provinz,
gar in eine internationale Konferenz einmünden könnten. Aus der Palette dieser Politikempfehlungen griff die Europäische Kommission lediglich den Vorschlag der
Eröffnung eines EU-Büros in Priština auf – ein Ansinnen, das in Belgrad auf demonstratives Desinteresse stieß. 26 Angesichts dieser Lethargie spricht der britische
Politikwissenschaftler Richard Caplan von einem „Vernachlässigungsmuster“ (pattern of neglect), das die Kosovo-Politik der Staatengemeinschaft bis ins Jahr 1998
hinein durchzogen habe. 27 Sämtliche staatlichen Akteure auf internationaler Bühne
betonten dabei die Notwendigkeit einer auf dem Dialogweg zu erzielenden Lösung,
bei der die Unverletzlichkeit der Grenzen der Bundesrepublik Jugoslawien zu respektieren seien. „Terrorismus“ – gemeint war die Tätigkeit der UÇK – wurde dabei vor
allem seitens der US-Politik verurteilt. 28 Als Verhandlungsziel wurde ein „verbesserter Status“ des Kosovo, etwa in Form einer „substantiellen Autonomie“, benannt. 29
24 New Transatlantic Agenda. Senior Level Group Report to the EU-U. S. Summit December 5, 1997,
in: Toward Transatlantic Partnership. Cooperation Project Report. Ed. by Transatlantic Policy Network. O. O., 1998, S. 55–56 (http://www.tpnonline.org/WP/wp-content/uploads/2013/09/Toward_
Transatlantic_Partnership_Cooperation_Project.pdf, letzter Zugriff: 09. 10. 2016).
25 [Marie-Janine Calic:] CPN Kosovo Policy Study: A Three-Step Approach to Conflict Prevention in
Kosovo. Brussels, 30 June 1997. – European Commission. Directorate General I A. Central Planning
Department for External Relations: EU Policy Concept for Kosovo. Brussels, 17 September 1997.
Auszüge bei Troebst: Conflict in Kosovo, S. 51–54.
26 Ein entsprechender Antrag wurde am 7. November 1997 förmlich gestellt und von einer EU-Delegation am 18. Februar 1998 in Priština wiederholt. – Vgl. o. A.: Delegacija Evropske Unije u Prištini,
in: Naša borba, 20. 2. 1998, S. 3.
27 Richard Caplan: International Diplomacy and the Crisis in Kosovo, in: International Affairs, 4/1998,
S. 745–761, hier S. 747.
28 Ismet Hajdari: SAD osudjuju i policijsku represiju i terorizam OAK, in: Naša borba, 23. 2. 1998, S. 1.
29 Marie-Janine Calic: Kosovo vor der Katastrophe?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik,
4/1998, S. 404–410, hier S. 409.
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Balcanica
Während die kosovoalbanische Seite zwar weiterhin auf äußerer Selbstbestimmung – sprich: Eigenstaatlichkeit – insistierte, aber dennoch Bereitschaft zu Verhandlungen über eine innere Selbstbestimmungslösung, etwa in Gestalt einer Reföderalisierung Rest-Jugoslawiens, signalisierte 30, versteifte sich die serbische Seite
auf den Status quo. Die Staatengemeinschaft ihrerseits konnte sich nicht zum Ausüben des nötigen Druckes auf Belgrad entschließen, um den so häufig angemahnten
Dialog zu initiieren. Von einem aktiven Versuch zur Lösung des Kosovo-Problems
kann daher eigentlich nicht gesprochen werden. „Concern is not a policy“, so eine
kosovoalbanische Stimme im Januar 1998 31 – Besorgnis ist kein politisches Konzept.
Internationales Krisenmanagement im Krieg:
März – August 1998
Im Februar 1998 war der Aufbau der jugoslawischen Truppenkonzentration im Kosovo abgeschlossen; Nun waren rund 20.000 Soldaten und Sonderpolizisten vor Ort,
denen einige tausend UÇK-Mitglieder gegenüberstanden. 32 Ein UÇK-Hinterhalt am
28. Februar, dem vier Polizisten zum Opfer fielen, bot dann den Anlass zu einem
massiven Einsatz von Armee und Sonderpolizei in der Region Drenica im Zentrum
des Kosovo. Während einer einwöchigen Serie von Massakern wurden 83 Albaner
getötet, darunter die Mehrzahl der Angehörigen zweier Clans, in deren Patriarchen
Belgrad die Führer der UÇK wähnte. 33
Die Reaktion der Kontaktgruppe auf den Beginn des Krieges fiel schwach aus:
Während die USA und Großbritannien auf eine rasche und harte Antwort drängten,
rieten Italien, Frankreich und die Russländische Föderation zur Zurückhaltung. Eine
umfängliche Erklärung der Kontaktgruppe vom 9. März 1998 geriet entsprechend
vage. 34 Auch distanzierte sich Moskau von der Androhung konkreter Maßnahmen
wie einem Moratorium bei Staatskrediten an Belgrad und der Ausstellung von Visa
30 Gazmend Pula: Kosova – Republic in a New (Con-)Federation Via Re-Federalization of Yugoslavia. General Considerations, Preconditions, Processes and Relevant Features, in: Südosteuropa, 3–
4/1997, S. 184–196. – Matthias Rüb: „Balkania“ statt „Kosova“? Ein Oppositionsmodell zur Lösung
der Krise auf dem Amselfeld, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. 3. 1998, S. 8.
31 International Helsinki Federation for Human Rights: Kosovo: Urgent Appeal For Courage, Leadership, and Cooperation. Belgrade, Pristine, Podgoriza, 21 January 1998 (http://www.ihf-hr.org, letzter
Zugriff: 04. 10. 2016).
32 International Crisis Group: Kosovo Spring. Bruxelles 1998, S. 71–72.
33 Zur ersten Runde des Kosovo-Kriegs vgl. Sinasi A. Rama: The Serb-Albanian War, and International Community’s Miscalculations, in: International Journal of Albanian Studies 2 (1998), S. 3–36. –
Stefan Troebst: The Kosovo War, Round One: 1998, in: Südosteuropa, 34/1999, S. 156–190. – William Hayden: The Kosovo Conflict and Forced Migration: The Strategie Use of Displacement and
the Obstacles to International Protection, in: Journal of Humanitarian Assistance 1999 (https://sites.
tufts.edu/jha/archives/133, letzter Zugriff: 09. 10. 2016).
34 Erklärung des Ministertreffens der Kontaktgruppe am 9. März 1998 in London zu Kosovo, in: Internationale Politik, 4/1998, S. 115–118.
Chronologie einer gescheiterten Prävention
163
für jugoslawische Politiker. In der Folgezeit schob die Kontaktgruppe dann selbst
das Inkrafttreten dieser zaghaften Schritte immer weiter hinaus. „Milosevic“, so der
Kommentar einer Nichtregierungsorganisation, „has succeeded in his effort to stare
down the Contact Group and parry its threat to impose new economic sanctions.“ 35
Immerhin verhängte der UN-Sicherheitsrat auf Vorschlag der Kontaktgruppe in seiner Resolution 1160 am 31. März 1998 ein Waffenembargo über die Bundesrepublik
Jugoslawiens einschließlich des Kosovo. 36
Während der Krieg zwischen der UÇK auf der einen und Armee wie Sonderpolizei auf der anderen Seite sich in den Westen des Kosovo, an die Grenze zu Albanien,
verlagerte, starteten die USA eine Verhandlungsoffensive, die am 15. Mai 1998 in einem Treffen zwischen Präsident Milošević und „Präsident“ Rugova resultierte. Was
als Auftakt zu wöchentlichen Konsultationen zwischen Belgrad und Priština gedacht
war, stellte sich indes als bloße Public Relations-Aktion des jugoslawischen Präsidenten heraus. 37
Eine jugoslawisch-serbische Offensive Ende Mai ebenfalls im Westen des Kosovo hatte nicht nur die Flucht von rund 50.000 Albanern, sondern auch die Aktivierung der bis dahin bezüglich des Kosovo-Konflikts überaus passiven NATO
zur Folge. Grund war die genannte Paralyse der Kontaktgruppe durch Moskau.
Am 15. Juni 1998 hielt das nordatlantische Bündnis in Sichtweite der Außengrenzen
des Kosovo das Manöver „Determined Falcon“ ab, an dem 83 Flugzeuge teilnahmen. 38 Der politische Effekt dieser Drohgebärde verpuffte indes aufgrund eines
Treffens Miloševićs mit dem russländischen Präsidenten Boris El’cin in Moskau
am Folgetag. In einer gemeinsamen Erklärung vom 16. Juni 1998 sprachen sich
beide Politiker für eine friedliche Lösung des Konflikts mittels Fortsetzung der direkten serbisch-kosovoalbanischen Gespräche, für die Rückkehr aller Flüchtlinge
sowie für freien Zugang sowohl humanitärer Organisationen als auch internationaler
Beobachter in das Kampfgebiet aus. 39 Allerdings wurde einzig diese letztgenannte
Ankündigung in die Tat umgesetzt: Am 6. Juli 1998 erhielt die erwähnte Kosovo Diplomatie Observer Mission, bestehend aus den in Belgrad akkreditierten Diplomaten
der USA, der Russländischen Föderation und der EU, Zugang zum Kampfgebiet.
Diese anfänglich aus 200 Mitgliedern bestehende Mission wuchs bis zum Jahresende auf 400 an, bevor sie in die von Oktober 1998 bis März 1999 vor Ort tätige
35 International Crisis Group: Inventory of a Windfall: Milosevic’s Gains from the Kosovo Dialogue.
Belgrade, 28 May 1998 (https://www.crisisgroup.org/europe-central-asia/balkans/serbia/inventorywindfall, letzter Zugriff: 09. 10. 2016).
36 Resolution 1160 (1998) des UN-Sicherheitsrats zur Lage im Kosovo vom 31. März 1998 (http://
www.un.org/depts/german/sr/sr_98/sr1160.pdf, letzter Zugriff: 09. 10. 2016). – Marie-Janine Calie:
Kosovo: Krieg oder Konfliktlösung?, in : Südosteuropa-Mitteilungen, 2/1998, S. 112–123.
37 International Crisis Group: Inventory of a Windfall.
38 Statement by NATO Secretary General, Dr. Javier Solana, on Exercise „Determined Falcon“, Press
Release (98)80, 15 June 1998 (http://www.nato.int/cps/en/natohq/news_25849.htm?selectedLocale=
en&mode=pressrelease, letzter Zugriff: 09. 10. 2016).
39 Zum Wortlaut vgl. Troebst: The Kosovo War, S. 175–176.
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Balcanica
Kosovo Verification Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa (OSCE KVM) integriert wurde. 40
Parallel zu diesen diplomatischen Schritten verordnete Präsident Milošević der
Armee und der Sonderpolizei temporäre Zurückhaltung. Dies bot der UÇK im Zeitraum von Mitte Juni bis Mitte Juli 1998 die Möglichkeit zum Ausbau ihrer Positionen
sowie zu regional begrenzten Gegenoffensiven. 41 Die Untergrundarmee, so hatte es
nun zumindest den Anschein, war zu einem ernstzunehmenden militärischen Faktor
geworden. Um nicht als „Luftwaffe der UÇK“ zu erscheinen, milderte die NATO daraufhin ihre Drohungen in Richtung Belgrad deutlich ab. Gemäß serbischem Kalkül
wurden mit der Passivierung der NATO, der Instrumentalisierung der Russländischen
Föderation und der Scheinblüte der UÇK die Bedingungen für die Vernichtung der
„Kosovo-Befreiungsarmee“ geschaffen. Dies geschah im Rahmen einer Großoffensive, die im Zeitraum Mitte Juli bis Mitte August stattfand. Dabei führte die serbische
Seite den Gnadenstoß für die UÇK außerordentlich behutsam aus, um die Staatengemeinschaft nicht zur Intervention zu provozieren – „A village a day keeps NATO
away“ war die Devise. 42 Mit dem Fall der UÇK-Hochburg Junik an der albanischen
Grenze am 15. August war die Operation abgeschlossen, und am 17. August mussten
die Reste der „Befreiungsarmee“ einem von der KDOM vermittelten Waffenstillstand für den Westen des Kosovo zustimmen. 43 In den folgenden sechs Wochen
zerschlugen Armee und Sonderpolizei kleinere UÇK-Widerstandsnester im ZentralKosovo, bevor sie sich in den ersten Oktobertagen in ihre Kasernen zurückzogen. Die
Initiative ging nun auf die Judikative über, die Verfahren gegen 1200 Kosovoalbaner wegen „terroristischer Aktionen“ eröffnete. 44 Bis Ende August waren dem Krieg
rund 1500 Kosovoalbaner sowie rund 100 Serben, darunter 40 Angehörige der Armee Jugoslawiens und der Truppen des Innenministeriums, zum Opfer gefallen. 45
Überdies waren bis zu 45.000 Häuser zerstört worden. Neben 200.000 innerhalb des
Kosovo vertriebenen Albanern waren nach UNHCR-Angaben 98.100 Kosovoalbaner
aus dem Kosovo geflohen. 46
40 Die Berichte des US-amerikanischen. Teils der KDOM sind auf der Webseite des US Department
of State zu finden (http://www.state.gov/www/regions/eur/98_kosovo_more.html, letzter Zugriff:
04. 10. 2016).
41 Vgl. International Crisis Group: Kosovo’s Long Hot Summer: Briefing on Military, Humanitarian
and Political Developments in Kosovo. Prishtina, 2 September 1998 (https://www.crisisgroup.org/
europe-central-asia/balkans/kosovo/kosovos-long-hot-summer, letzter Zugriff: 09. 10. 2016) und Troebst: The Kosovo War, S. 176–177.
42 Constanze Stelzenmüller: Zögernder Falke, in: Die Zeit, 15. 10. 1998, S. 7.
43 Troebst: The Kosovo War, S. 177–180.
44 Federal Republic of Yugoslavia: Human Rights Developments, in: Human Rights Watch World
Report 1999 (http://www.hrw.org/hrw/worldreport99/europe/yugoslavia.html, letzter Zugriff:
04. 10. 2016).
45 Fred Hiatt: Strang Talk About Kosovo Was Just Talk, in: International Herald Tribune, 1. September 1998, S. 8.
46 United Nations High Commissioner for Refugees: UN Inter-Agency Update on Kosovo Situation Re-
Chronologie einer gescheiterten Prävention
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Die UN-Sicherheitsratsresolution 1199
Zwar waren die militärischen Operationen im Wesentlichen bis Mitte August beendet, doch befanden sich unter den genannten 200.000 intern dislozierten Kosovoalbanern 50.000 in Wäldern und Bergen herumirrende Flüchtlinge. 47 Angesichts
eines sich abzeichnenden frühen Wintereinbruchs und einer drohenden humanitären
Katastrophe bewog das Schicksal dieser sogenannten „Waldmenschen“ die Staatengemeinschaft erstmals zur Ausübung massiven und koordinierten Drucks auf Belgrad. Am 23. September 1998 erließ der UN-Sicherheitsrat seine Resolution 1199,
in der mit der Stimme der Russländischen Föderation bei Enthaltung Chinas ein sofortiger Waffenstillstand im Kosovo, der umgehende Rückzug von jugoslawischer
Armee und serbischer Sonderpolizei, freier Zugang für humanitäre Organisationen
und volle Kooperation der Behörden mit dem UN-Kriegsverbrechertribunal in Den
Haag gefordert wurden. 48 Das nordatlantische Bündnis nahm diese Resolution zum
Anlass, am Folgetag eine Aktivierungswarnung für eine auf militärische Ziele beschränkte und phasenweise zu intensivierende Luftkriegsoperation zu erlassen. Ziel
dieser Warnung war es, Belgrad zur umgehenden Erfüllung der UN-Forderungen zu
veranlassen. 49
Angesichts des Ausbleibens einer jugoslawischen Reaktion auf diese Aktivierungswarnung drohte die NATO umgehend mit dem Erlass einer Aktivierungsanordnung, welche die Entscheidung über den Beginn des Luftkriegs dem Generalsekretär
übertragen hätte. Erster Schneefall am 28. September sowie das am gleichen Tag bekannt gewordene Massaker an 16 Albanern im Dorf Gornje Obrinje (Obri e Epërme)
in der Drenica-Region erhöhten die Entschlossenheit der internationalen Gemeinschaft zum Handeln.
Parallel zum Aufbau der Drohkulisse durch die NATO bemühte sich nun auch
wieder die Kontaktgruppe um eine diplomatische Lösung des Problems. Dabei wurde
auf einem Treffen in London am 2. Oktober 1998 der Plan einer zeitlich begrenzten trilateralen, d. h. serbisch-albanisch-internationalen Übergangsverwaltung für
das Kosovo angenommen, den der US-Diplomat Christopher Hill entworfen hatte.
Am 8. Oktober trafen die Außenminister der Kontaktgruppe mit dem Amtierenden Vorsitzenden der OSZE zusammen und beschlossen das weitere gemeinsame
diplomatische Vorgehen. Die Gruppe beauftragte den US-Sondervermittler Richard
Holbrooke, der jugoslawischen Seite einen sechsteiligen Forderungskatalog zu übermitteln, der Kern eines Abkommens mit Belgrad sein sollte. Dieser Katalog bestand
port. Period Covered: 14–20 October 1998, Prishtina, 22 October 1998, S. 4 (http://www.reliefweb.
int, letzter Zugriff: 04. 10. 2016).
47 Matthias Rüb: Im Kosovo sind ganze Landstriche entvölkert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
6. 10. 1998, S. 3.
48 Resolution 1199 des UN-Sicherheitsrates vom 23. September 1998 (Wortlaut), in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 12/1998, S. 1511–1514.
49 Statement by the NATO Secretary General following the ACTWARN decision, Press Statement, Vilamoura 24 Sept. 1998 (http://www.nato.int/docu/pr/1998/p980924e.htm, letzter Zugriff: 04. 10. 2016).
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Balcanica
aus den vier Elementen der Resolution 1199 sowie Forderungen nach Rückkehr aller Flüchtlinge an ihre Wohnorte und dem Beginn eines serbisch-albanischen Dialogs
über den Hill-Plan. Zugleich kam man überein, dass ein allfälliges Abkommen in eine
entsprechende UN-Sicherheitsratsresolution umzugießen sei. Als Überwachungsinstanz vor Ort wurde die OSZE vorgeschlagen.
Informeller Waffenstillstand:
Die Holbrooke-Miloševi ć-Absprache
Nach mehrtägigen Verhandlungen erhielt Holbrooke am 12. Oktober von Präsident
Milošević die Zusage auf Erfüllung der sechs Forderungen. Im Gegenzug machte der
Kontakgruppenvermittler drei zentrale Konzessionen: Erstens durfte Belgrad weiterhin 15.000 Mann seiner Armee sowie 10.000 Sicherheitspolizisten im Kosovo
stationieren; zweitens würde das in Form bilateraler Verträge der Bundesrepublik Jugoslawien mit NATO und OSZE zu regulierende internationale Überwachungsregime
für den informellen Waffenstillstand ein unbewaffnetes sein; und drittens schließlich sollte der geforderte serbisch-albanische Dialog über eine friedliche Lösung des
Konflikts ausschließlich bilateraler Natur sein, also ohne internationale Beteiligung
stattfinden. 50
Am 13. Oktober erschien der jugoslawische Präsident Milošević erstmals seit dem
Dayton-Abkommen von 1995 wieder im serbischen Fernsehen, um seine Landsleute
in vagen Formulierungen Über „die erzielten Übereinkünfte“, welche „die Gefahr
einer Militärintervention gegen unser Land ausschließen“, in Kenntnis zu setzen. 51
Die Aufgabe der Verkündung der Einzelheiten überließ er dem serbischen Präsidenten Milan Milutinović. Diesem oblag die Mitteilung, dass die Aufgabe der „vollständigen Überwachung der Situation in Kosovo-Metochien [. . . ] von einer OSZEMission ausgeführt“ werde. Zugleich teilte er Elemente des Hill-Plans für eine Übergangsverwaltung im Kosovo mit, wie etwa die Gründung einer „lokalen Polizei, die
repräsentativ für die örtliche Bevölkerung sein [. . . ] und von den Verwaltungsorganen des Kosovo koordiniert werden wird“. 52
Ebenfalls am 13. Oktober wandelte die NATO ihre Aktivierungswarnung in eine
Aktivierungsanordnung um. Ziel war es, die Umsetzung der von Belgrad nun eingegangenen Verpflichtung zu beschleunigen. Am 15. Oktober wurde in der jugoslawischen Hauptstadt das verabredete Abkommen über die Errichtung einer Luftverifizierungsmission der NATO über dem Kosovo (Operation „Eagle Eye“) durch
50 Matthias Rüb: Serbische Truppen ziehen aus dem Kosovo ab, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
28. 10. 1998, S. 1.
51 President Milosevic Announces Accord on Peaceful Solution, in: Yugoslav Daily Survey. Special
Issue, 13 October 1998.
52 Federal Ministry of Foreign Affairs: Serbian Government Endorses Accord Reached by President
Milosevic. Belgrade, 13 October 1998, in: Weller (ed.): The Crisis in Kosovo, S. 279.
Chronologie einer gescheiterten Prävention
167
den Chef des Generalstabes der Armee Jugoslawiens und den Oberkommandierenden der NATO in Europa unterzeichnet. Diesem Abkommen zufolge hatte die NATO
das Recht, mittels bemannter und unbemannter, auf jeden Fall aber unbewaffneter
Flugkörper das Kosovo aus der Luft zu überwachen. 53
Am Folgetag traf der Amtierende OSZE-Vorsitzende in Belgrad ein, um mit dem
jugoslawischen Außenminister eine Übereinkunft über die gleichfalls unbewaffnete
OSZE-Verifizierungsmission im Kosovo zu schließen. Um den Waffenstillstand flächendeckend überwachen zu können, sollte die bis zu 2000 Mann starke Mission
neben ihrer Zentrale in Pristina Koordinierungszentren in den Hauptorten sämtlicher
29 Kommunen des Kosovo sowie Außenposten in weiteren Städten und Gemeinden
eröffnen können. 54 Zum Leiter der Verifizierungsmission wurde am 17. Oktober der
balkanerfahrene US-amerikanische Diplomat William G. Walker ernannt.
Am 24. Oktober billigte der UN-Sicherheitsrat in seiner Resolution 1203 die Entsendung der beiden Verifizierungsmissionen von NATO und OSZE und erinnerte
die Regierung in Belgrad an ihre Verantwortung für die Sicherheit des Missionspersonals. Da dieser Schutz seitens der Kontaktgruppe und der OSZE als nicht
ausreichend 55 erachtet wurde, kündigte die NATO am 27. Oktober ihre Operation
„Joint Guarantor“ an. Dabei handelte es sich um die Entsendung einer bewaffneten
Eingreiftruppe nach Makedonien, welche die Mitglieder der OSZE-Verifizierungsmission im Notfall aus dem Kosovo „extrahieren“ sollte. Am 2. Dezember stimmte
die Regierung in Skopje der Stationierung dieser „Extraction Force“ (XFOR) in einer
Stärke von über 1500 Mann in der nordmakedonischen Stadt Kumanovo zu. Hier war
bereits am 26. November ein Zentrum für die Koordinierung der Kosovo-Verifizierungvon NATO und OSZE eingerichtet worden. 56
Die Führung der Kosovo-Albaner war weder an der Holbrooke-Milošević-Absprache noch an der Übereinkunft über die OSZE-Verifizierungsmission beteiligt
worden. Diese Tatsache sowie der Umstand, dass die Überwachung des Waffenstillstandes unbewaffnet geschehen sollte, und der Wortlaut etlicher Paragraphen
der Übereinkunft wurden von ihnen scharf kritisiert. Aus kosovoalbanischer Sicht
war zur Umsetzung jedweder Übergangslösung die Stationierung einer bewaffneten
NATO-Friedenstruppe im Kosovo zwingend erforderlich. 57
53 Statement to the Press by the Secretary General Following Decision on the ACTORD, NATO HQ,
13 Oct. 1998(http://www.nato.int/docu/speech/1998/s981013a.htm, letzter Zugriff: 09. 10. 2016).
54 Abkommen über die Kosovo-Verifizierungsmission zwischen der OSZE und der Bundesrepublik
Jugoslawien vom 16. Oktober 1998 (Wortlaut), in: Blätter für deutsche und internationale Politik,
12/1998, S. 1516–1518.
55 Resolution 1203 des UN-Sicherheitsrates vom 24. Oktober 1998 (Wortlaut), in: Blätter für deutsche
und internationale Politik, 12/1998, S. 1518–1520.
56 Troebst: The Kosovo War, S. 186–187.
57 Erich Rathfelder: Die Albaner im Kosovo sind enttäuscht, in: Die Tageszeitung, 15. Oktober 1998,
S. 10. – Serb Texture on Draft Document for OSCE Kosova Verification Mission, in: Kosova Daily
Report, #1582, 14 October 1998 (http://www.hri.org/news/balkans/kosova/1998/98-10-14.ksv.html,
letzter Zugriff: 09. 10. 2016).
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Gleichfalls auf Kritik seitens der kosovoalbanischen Führung stießen die verschiedenen Überarbeitungen des Entwurfs für eine trilaterale Interimsverwaltung für
das Kosovo, die der US-amerikanische Vermittler Hill in den Monaten Oktober bis
Dezember 1998 vorlegte. 58 Auch Belgrad verwarf die Hill-Vorschläge und unterbreitete statt dessen am 20. November einen eigenen Entwurf. Hierin wurde der Anteil
der Albaner an der Bevölkerung des Kosovo auf nur rund 50 Prozent veranschlagt –
eine Provokation aus Sicht der Kosovoalbaner. Am 3. Dezember schließlich lehnte
das jugoslawische Parlament jede weitere Vermittlung Hills mit der Begründung ab,
diese ziele auf „die Abtrennung von Kosovo und Metochien von Serbien“ und auf
„Angliederung an ein ‚Großalbanien‘“. 59 Damit waren die Bemühungen um eine
Verhandlungslösung festgefahren.
Der Waffenstillstand bröckelt
In den ersten acht Wochen des Waffenstillstandes kam es zu rund 170 leichten und
mittelschweren Verstößen, bei denen insgesamt rund 200 Menschen – in ihrer Mehrzahl Albaner – ihr Leben verloren. Am 14. Dezember ereignete sich erstmals ein
schwerer Zwischenfall, als 37 UÇK-Kämpfer beim Versuch des Grenzübertritts zwischen Albanien und dem Kosovo von jugoslawischen Grenztruppen getötet wurden.
Am selben Tag fielen sechs serbische Jugendliche in Peć einem Racheanschlag der
UÇK zum Opfer. 60
Die Spannung stieg weiter an, als die Armee Jugoslawiens am 21. Dezember
ein Manöver nahe Podujevo (Podujeva) im Osten des Kosovo ankündigte. Diese
Militärübung nahm an Heiligabend die Form eines Panzerangriffs auf albanische
Dörfer an, dem die Flucht von rund 5000 Albanern folgte. 61 Zwar gelang der OSZEVerifizierungsmission am 27. Dezember die Vermittlung eines regionalen Waffenstillstandes 62, doch entspannte sich die Lage nicht. Am 8. Januar nahm die UÇK
acht Soldaten der Armee Jugoslawiens gefangen, die sie aufgrund der Vermittlung
der OSZE-Mission allerdings wieder frei ließ. Dennoch wurden im Gegenzug am
15. Januar im Dorf Račak (Reçak) 45 albanische Zivilisten ermordet. Der OSZEMissionsleiter, der der serbischen Sicherheitspolizei die Schuld für dieses Massaker gab, wurde daraufhin zur persona non grata erklärt. Am 27. Januar kam es in
58 Troebst: The Kosovo War, S. 187–189.
59 Declaration by the Federal Assembly of the Federal Republic of Yugoslavia, Belgrade, 03 December 1998, in: Yugoslav Daily Survey – Special Issue, 3 December 1998.
60 Matthias Rüb: Holbrooke vermittelt wieder zwischen Serben und Albanern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. 12. 1998, S. 6.
61 Four Days of Clashes in Kosova, in: Radio Free Europe /Radio Liberty NewsLine, Southeastern Europe, 28 December 1998(http://reliefweb.int/report/serbia/four-days-clashes-kosova; letzter Zugriff:
09. 10. 2016).
62 Yugoslavia: OSCE Monitors Say Truce Restored in Kosovo, In Radio Free Europe /Radio Liberty
Features, 28. 12. 1998 (http://www.rferl.org/a/1090251.html, letzter Zugriff: 09. 10. 2016).
Chronologie einer gescheiterten Prävention
169
Rogovo (Rugova) zu einem neuerlichen Massaker an 20 Albanern. Mittlerweile waren erneut rund 45.000 Albaner innerhalb des Kosovo auf der Flucht. 63 Die OSZEVerifizierungsmission konnte die immer zahlreicher werdenden Waffenstillstandsverstöße nurmehr registrieren und berichten 64 – eindämmen konnte sie die Eskalation
nicht.
Von Rambouillet nach Paris
Die immer rascher voranschreitende Erosion des Waffenstillstands, das Scheitern der
Vermittlungsbemühungen Hills sowie vor allem die als Vorboten einer neuerlichen
Eskalation gedeuteten Massaker von Račak und Rogovo bewogen die Kontaktgruppe,
am 29. Januar 1999 eine neue Taktik gegenüber den Konfliktparteien einzuschlagen:
Mit Hinweis auf die in Kraft befindliche Aktivierungsanordnung der NATO wurden diese ins französische Schloss Rambouillet bei Paris zitiert, wo ihnen in einem
Dayton-ähnlichen Verhandlungsmarathon ein Vertrag über eine dreijährige trilaterale
Übergangsverwaltung für das Kosovo aufoktroyiert werden sollte. 65 Zwar nahm Belgrad die ultimative Einladung zu der in Rambouillet stattfindenden jugoslawischkosovoalbanischen Verhandlungsrunde vom 6. bis 23. Februar 1999 an, steigerte
aber bereits während des Intervalls vor der zweiten Verhandlungsrunde in Paris vom
15. bis 19. März die Frequenz und Intensität der Repression im Kosovo. 66
Die Zusammensetzung der serbischen Delegation und deren Verhandlungsführung in Rambouillet und Paris machten deutlich, dass Belgrad zu einer Regelung
auf der Basis des von Hili ausgearbeiteten Vertragsentwurfs bereit war. Entsprechend wurde die Kernfrage der praktischen Umsetzung und militärischen Absicherung des Abkommens gar nicht erst verhandelt. 67 Als am 18. März allein die
63 Rüb, „Phönix aus der Asche“, S. 60. – Report of the EU forensic expert team on the Racak incident,
17. 03. 1999 (https://www.phdn.org/archives/www.ess.uwe.ac.uk/Kosovo/Kosovo-Massacres2.htm,
letzter Zugriff: 09. 10. 2016).
64 Gjerqina Tuhina: Tenous Cease-Fire, in: Transitions, 21/1999, S. 12–13.
65 Contact Group Statement, London, 29 January 1999, in: Weller (ed.): The Crisis in Kosovo, S. 415–
416; Marie-Janine Calic: Vor dem Frieden in Kosovo? Ebenhausen 1999 (SWP-aktuell, No. 35, Februar 1999).
66 Vgl. KDOM Kosovo Updates vom 23. Februar sowie für den Zeitraum 10.–18. März 1999 (http://
www.state.gov/www/regions/eur, letzter Zugriff: 04. 10. 2016).
67 Marc Weller: The Rambouillet Conference on Kosovo, in: International Affairs, 2/1999, S. 163–
203. – Jens Reuter, Melpomeni Katsaropoulou: Die Konferenz von Rambouillet und die Folgen, in:
Südosteuropa, 3–4/1999, S. 146–155. – Zur innerdeutschen Kontroverse über den Vertragstext vgl.
Ulrich Schneckener: Der Vertragsentwurf von Rambouillet: Miloševićs verpaßte Chance, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. 4. 1999, S. 4. – Andreas Zumach: „80 Prozent unserer Vorstellungen
werden durchgepeitscht“. Die letzte Chance von Rambouillet und die Geheimdiplomatie um den
„Annex B“, in: Schmid (Hrsg.): Krieg im Kosovo, S. 63–81. – Gunter Hofmann: Wie Deutschland
in den Krieg geriet, in: Die Zeit, 12. 5. 1999, S. 17–20. – und Andreas Platthaus: Farbbücher. Offenheit in Kriegszeiten: Die Akten der deutschen Kosovo-Politik, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
14. 5. 1999, S. 44.
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170
Balcanica
kosovoalbanische Seite das „Vorläufige Abkommen für Frieden und Selbstverwaltung im Kosovo“ 68 unterzeichnete, die serbische jedoch die Unterschrift verweigerte, beschloss die NATO ihre Luftkriegsdrohung aus dem Vorjahr wahrzumachen.
Zu diesem Zweck war der Rückzug der auf rund 1400 Mitglieder angewachsenen
OSZE-Verifizierungsmission erforderlich, der am 19. und 20. März 1999 erfolgte.
Am 22. März wurde Holbrooke zu einem letzten Gespräch mit Präsident Milošević
nach Belgrad geschickt, das indes kein Ergebnis erbrachte. Die Holbrooke-Milošević-Absprache vom 2. Oktober war damit hinfällig. Entsprechend ordnete die NATO
am 23. März für den Folgetag ihre beschränkte Luftkriegsoperation in Form einer
Luftkriegsphasenkampagne (Operation „Allied Force“) an, wie sie seit dem 24. September 1998 mit dem Ziel der Umsetzung der UN-Sicherheitsratsresolution 1199
angedroht worden war und jetzt um die Forderung nach Annahme des Rambouillet-Vertrages erweitert wurde. 69 Zeitgleich erhöhten Armee, Sicherheitspolizei und
paramilitärische Formationen im Kosovo das Tempo von Austreibung und Tötung
der albanischen Bevölkerungsmehrheit. 70 Die Prävention des Konflikts war gescheitert.
Negativbilanz präventiver Diplomatie
War die Erfahrung diplomatischer Konfliktprävention während des Zerfalls Jugoslawiens 1991–1992 entmutigend, so ist sie im Falle des Kosovo-Konflikts niederschmetternd: Die frühzeitig unternommenen, aber zaghaften Versuche, eine Eskalation zu verhindern, blieben ebenso erfolglos wie die verspäteten und nur graduell
energischeren Bemühungen, während der „heißen Phase“ die Eskalationsspirale hinter die Gewaltschwelle zurückzudrehen. Die Folgen der verpassten Verhütung des
Kosovo-Konflikts tragen seitdem die Kosovoalbaner, von denen von Dezember 1998
bis Mitte Mai 1999 nach ersten Schätzungen rund 30.000 getötet 71 mehr als rund
960.000 über die Staatsgrenzen hinweg vertrieben und etwa 550.000 intern disloziert worden sind 72, desgleichen die anderen Bürger der jugoslawischen Teilrepublik
Serbien, von denen bis zu tausend im Zuge der NATO-Bombardements ums Leben
68 Interim Agreement on Peace and Self-Government in Kosovo, 23 February 1999, in: Weller (ed.): Crisis in Kosovo, S. 453–469. Zu einer deutschen Übersetzung vgl. Vorläufiges Abkommen für Frieden
und Selbstverwaltung im Kosovo, Rambouillet, 23. Februar 1999 (Auszüge), in: Blätter für deutsche
und internationale Politik, 5/1999, S. 611–630.
69 Press Statement by Dr. Javier Solana, Secretary General of NATO, Press Release (1999)040,
23 March 1999, in: Weller (ed.): Crisis in Kosovo, S. 495.
70 Mark Danner: Endgame in Kosovo, in: New York Review of Books, 8/1999, S. 8–11.
71 Matthias Rüb: 30 000 Albaner getötet. Männer vermißt. Bericht der Gesellschaft für bedrohte Völker,
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2. 6. 1999, S. 7.
72 Genozid im Kosovo. Eine Dokumentation der Gesellschaft für bedrohte Völker. Göttingen (Juni)
1999. – Matthias Rüb: Soll das Kosovo „ethnisch besenrein“ werden?, in: Frankfurter Allgemeine
Zeitung, 8. 5. 1999, S. 6.
Chronologie einer gescheiterten Prävention
171
gekommen sind, darunter 114 Sonderpolizisten und 462 Soldaten, 73 sowie – last but
not least – die Staatengemeinschaft, die zwar bis Ende Mai keine Todesopfer, jedoch
einen gravierenden Vertrauensverlust bezüglich ihrer Fähigkeit zu vorausblickender
Präventivdiplomatie, friedlicher Konfliktbearbeitung und entschlossenem Krisenmanagement zu verzeichnen hatte.
Wie im Falle des Krieges in Bosnien und Herzegowina der Jahre 1992–1995 hinkte auch im 1989 eskalierenden Konflikt um Kosovo sowie im 1998 ausgebrochenen
Kosovo-Krieg die aufgrund divergierender nationaler Interessen nur sehr schleppend erfolgende Willensbildung der internationalen Gemeinschaft dem Konflikt- und
Kriegsverlauf hinterher.
Im Unterschied zum bosnisch-herzegowinischen Fall aber kam es nicht zu einem
mehrjährigen „Triumph des fehlenden Willens“ (James Gow 74), sondern „lediglich“
zu einer um rund ein Jahr verspäteten Willensbildung. Erst als die Kontaktgruppe
dreizehn Monate nach dem Drenica-Massaker mit ihrem serbische und albanische
Interessen ausbalancierenden Rambouillet-Plan in Belgrad auf Granit biss, stimmten
die 19 NATO-Mitgliedstaaten für die militärische Option. Und erst seit der dadurch
beschleunigten Austreibung der Kosovo-Albaner durch das Belgrader Regime kam
die Staatengemeinschaft von ihrer Festlegung auf die Unveränderbarkeit der Grenzen
Rumpf-Jugoslawiens ab.
Bezüglich des künftigen Status der Provinz werden seitdem neben der Autonomie
innerhalb der Teilrepublik Serbien die Idee eines internationalen Protektorates, wie
sie die kosovoalbanische Führung schon seit 1991 als Vorstufe zur Eigenstaatlichkeit
gefordert hatte, desgleichen die Vorstellung einer Teilung der Provinz sowie eben
die staatliche Unabhängigkeit ventiliert. 75 Das Festhalten der Staatengemeinschaft
an den „Prinzipien der Souveränität und territorialen Integrität der Bundesrepublik
Jugoslawien“, wie in der Resolution der G-8-Außenminister vom 6. Mai 1999 und
in der UN-Resolution 1244 vom 10. Juni geschehen, ist daher bestenfalls temporär,
wenn nicht gar bloße Rhetorik. 76
Die ausschließliche Festlegung auf den Verbleib des Kosovo innerhalb Serbiens,
wie sie die Staatengemeinschaft 1991 vorgenommen hat, war zweifelsohne einer der
Fehler, welche die präventiv-diplomatischen Bemühungen am stärksten behindert
haben. Denn ein Offenlassen dieser Frage hätte gegenüber Belgrad als Druckmittel
bezüglich kooperativen Verhaltens, gegenüber den Kosovoalbanern als Anreiz dazu
gewirkt. Zugleich ist aber auch zu fragen, ob die vorrangige Behandlung eben der
73 Milosevic: Unser Militär hat der Welt gezeigt, wie man seine Nation verteidigen soll, in Frankfurter
Allgemeine Zeitung, 12. 6. 1999, S. 2.
74 James Gow: Triumph of the Lack of Will: International Diplomacy and the Yugoslav War. London
1997.
75 Zu den Optionen „1974 (Plus)“, „Kosova Republika“, „Balkania“, Teilung und Regionalisierung vgl.
Troebst: Conflict in Kosovo, S. 12–15.
76 Resolution 1244 (1999) Adopted by the UN-Security Council at its 4011th meeting on 10 June 1999.
Annex 1; Annex 2, pt. 5 (https://documents-dds-ny.un.org/doc/UNDOC/GEN/N99/172/89/PDF/
N9917289.pdf?OpenElement, letzter Zugriff: 04. 10. 2016).
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Balcanica
Statusfrage nicht an sich schon ein Missgriff gewesen ist, ob dieser Problemkomplex
nicht besser an das Ende statt an den Anfang der Agenda aus dem Weg zu räumender
Stolpersteine zu setzen gewesen wäre. Das Bemühen um eine Verbesserung der katastrophalen Menschenrechtssituation im Kosovo oder die Stabilisierung der seit 1996
zum Zerreißen gespannten Sicherheitslage wären solche vordringlich zu lösenden
Probleme gewesen.
Aber auch in der konkreten Konfliktbearbeitung wurden Fehler gemacht. Die
problematische Fokussierung erster Vermittlungsbemühungen von 1992 auf den notorisch konfliktträchtigen und daher keinen raschen Durchbruch versprechenden
Bildungsbereich wurde bereits genannt. Hinzuzusetzen sind die ohne Not erfolgte
ständige Beteuerung der territorialen Integrität der Bundesrepublik Jugoslawien sowie die Etikettierung des bewaffneten Widerstandes im Kosovo als „Terrorismus“.
Nicht zuletzt aufgrund des negativen Synergieeffektes dieser beiden letztgenannten
Fehler konnte das Regime in Belgrad relativ sicher sein, dass die als militärische
Operationen gegen die UCK porträtierten Rachemassaker in der Drenica-Region im
Frühjahr 1998 keine entschlossenen Gegenreaktionen der Staatengemeinschaft auslösen würden. Und auch das zögerliche Taktieren von Kontaktgruppe, EU, NATO und
den USA nach diesem Auftakt leistete dem Vorgehen von Armee und Sicherheitspolizei gegen die kosovoalbanische Zivilbevölkerung während der ersten Kriegsrunde
vom Frühjahr bis zum Spätsommer 1998 Vorschub.
Ähnliches traf für die zweite Kriegsrunde von 1999 mit ihren groß angelegten
Austreibungs- und Vernichtungsaktionen zu: Die erneut ohne zwingenden Grund
getroffene Festlegung der NATO auf Verzicht des Einsatzes von Bodenkampftruppen bot zum einen der Armee Jugoslawiens die Möglichkeit, auf ihre traditionelle
Militärdoktrin des Eingrabens und Abwartens zurückzugreifen, und gewährte zum
anderen der Sicherheitspolizei und ihren paramilitärischen Verstärkungen die Möglichkeit, das Austreibungstempo drastisch zu steigern. Die gravierende Fehleinschätzung des Gegners durch die NATO 77 wird auch am Festhalten des „bosnischen“
Konzepts der auf militärische Ziele „begrenzten Luftschläge“ (limited air strikes)
in Form einer zunächst nadelstichartigen und in ihrer Intensität nur sehr langsam gesteigerten „Phasenluftkampagne“ (phased air campaign) deutlich. Dadurch erhielten
Armee und Sonderpolizei im Kosovo genügend Zeit für die Massenaustreibungen.
Neben diesen offenkundigen Fehlleistungen liegen auch die Lehren aus Konflikt
und Krieg im Kosovo für künftiges präventives Handeln der Staatengemeinschaft offen zutage:
– Frühwarnung ohne umgehendes Handeln ist wirkungslos, führt doch ein Intervall
von zehn Jahren zwischen Alarm und Aktion, wie im Falle Kosovo, bei den Konfliktparteien in der Regel zu irreversiblen Frontverhärtungen.
77 Timothy Garton Ash: Kosovo and Beyond, in: The New York Review of Books, 24. 6. 1999, S. 4–7,
hier S. 7. – Vgl. dazu Vamık D. Volkan: Das Versagen der Diplomatie. Zur Psychoanalyse nationaler,
ethnischer und religiöser Konflikte. Gießen 1999, S. 95–96. – S. auch ebd., S. 84–95, eine Beschreibung des „gewählten Traumas“ (chosen trauma) des serbischen Nationalismus bezüglich Kosovo
sowie dessen Reaktivierung 1989.
Chronologie einer gescheiterten Prävention
173
– Gewaltfreiheit als Modus zur Austragung territorialer und interethnischer Konflikte darf seitens der internationalen Gemeinschaft nicht durch Passivität gleichsam bestraft werden, sondern ist im Gegenteil durch verstärkte Präventivdiplomatie und Konfliktbearbeitung, im Falle systematischer Menschenrechtsverletzungen
auch durch präventive militärische Intervention zu honorieren.
– Das Wortspiel von den interblocking institutions an Stelle von interlocking institutions hat weiterhin seine traurige Berechtigung. Selbst hoch angebundene Koordinierungsinstanzen wie die Kontaktgruppe sind zur Formulierung und Umsetzung
einer kohärenten Politik und damit zur Überwindung der Differenzen zwischen
„Russen“, „Europäern“ und „Amerikanern“ nur ausnahmsweise in der Lage.
– Seit dem Ende weltpolitischer Bipolarität sind staatliche Souveränität und Integrität der Grenzen nicht länger sakrosankte Kategorien internationaler Rechtsordnung, sondern können durch systematische Verletzung der Menschenrechte
eingeschränkt, gar verwirkt werden.
Ausblick
Um Vorhersagen darüber zu machen, wie der Kosovo-Knoten zu lösen sei, muss man
Tim Judah zufolge „entweder ein Lügner oder ein Dummkopf“ sein. 78 Dennoch stehen schon jetzt drei Punkte fest:
– Ein gewaltfreies multiethnisches Zusammenleben unter Einschluss von Albanern
und Serben ist im Kosovo künftig nicht vorstellbar, wie es dergleichen auch zuvor
nicht gegeben hat. Denn anders als im Falle Bosniens hat diese Region im „kurzen“ 20. Jahrhundert keine einzige Phase interethnischer Entspannung gekannt.
Vielmehr herrscht seit 1913 durchgängig ethnopolitische Hochspannung, die während der häufigen Perioden von Krieg, Besatzung und Fremdherrschaft in völliger
Entgrenzung der Kombattanten auf serbischer wie albanischer Seite in Massakern,
Austreibungen und verbrannter Erde resultierte.
– Die aus dem Kosovo nach Albanien, Makedonien, Montenegro und anderswohin vertriebenen Albaner können nur unter drei Bedingungen auf Dauer in ihre
Heimat zurückkehren: Erstens: Die Staatengemeinschaft muss umfassende und
nachhaltige Sicherheit auf dem gesamten Territorium der Provinz und entlang ihrer
Grenzen gewährleisten. Zweitens: Dieser Rückkehrprozess muss von massivem
internationalem finanziellem Engagement zum Wiederaufbau der zerstörten Region begleitet sein. Drittens: Mittelfristig muss die Perspektive einer Änderung
des staatsrechtlichen Status des Gebiets offenstehen.
– Die Stationierung einer internationalen Friedenstruppe und die Rückkehr der Kosovo-Albaner haben eine umfassende Migration der Kosovo-Serben und der übrigen Serben im Kosovo ins engere Serbien zur Folge. Zu groß sind das Bewusstsein
der eigenen Schuld sowie die Angst vor der Rache der Rückkehrer. Dieser Exodus
78 Judah: Inside the KLA, S. 22.
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174
Balcanica
wird vermutlich von der Auswanderung von Teilen regimenaher Minderheiten wie
Türken, Montenegriner, Roma, Ägypter, Gora-Muslimen u. a. begleitet sein.
Der Kosovo-Krieg war und ist eine Katastrophe für alle, die von ihm unmittelbar betroffen sind. Sein seit langem prognostizierter Ausbruch war zugleich eine
verheerende Niederlage für diejenigen multilateralen Organisationen, die sich die
Prävention von Konflikten auf ihre Fahnen geschrieben haben. Das gesamte Konzept
der Konfliktprävention, so die Lehre aus dem Kosovo-Krieg, ist neu zu überdenken:
Künftig muss Prävention früher, massiver, energischer, koordinierter und mit wesentlich größerem finanziellem, nötigenfalls auch militärischem Aufwand erfolgen.
Der Vorwurf des Alarmismus, des Übereifers, der Ressourcenvergeudung und der
Instrumentalisierung durch Konfliktparteien ist dabei zum einen in Kauf zu nehmen,
zum anderen muss ihm durch professionelle Öffentlichkeitsarbeit vorgebaut werden.
Konfliktprävention „im Stillen“, so die Lehre des Kosovo-Kriegs, erfüllt ab einer
bestimmten Eskalationsstufe ihren Zweck nicht. Vielmehr muss „pro-aktive“ Konfliktprävention als innovatives Instrument internationaler Politik neuerlich erheblich
gestärkt sowie umgehend ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit gerückt werden.
Vergangenheitsbewältigung auf Bulgarisch
Zum Umgang mit den Akten
der ehemaligen Staatssicherheit und zur strafrechtlichen Verfolgung
kommunistischer Staatsverbrechen
[2016]
„Stojo Petkanow, Sie werden vor dem Obersten Gericht dieses Landes der folgenden Vergehen
angeklagt. Erstens, Betrug in Verbindung mit offiziellen Dokumenten, gemäß Artikel 127 (3) des
Strafgesetzbuches. Zweitens, Amtsmißbrauch in Ihrer offiziellen Funktion, gemäß Artikel 212 (4)
des Strafgesetzbuches. Und drittens . . . “
[„Massenmord.“
„Völkermord.“
„Zerstörung des Landes.“]
„. . . Mißwirtschaft gemäß Artikel 332 (8) des Strafgesetzbuches.“
[„Mißwirtschaft!“
„Mißwirtschaft der Gefangenenlager.“
„Er hat die Leute nicht angemessen gefoltert.“
„Scheiße, Scheiße.“] 1
Zum politischen und juristischen Umgang mit dem Erbe des kommunistischen Regimes im Nach-„Wende“-Bulgarien vorab einige autobiographische Bemerkungen:
Im Zeitraum 1974 bis 1989 war ich mehrfach – circa 20 Mal – in der Volksrepublik
Bulgarien, darunter im akademischen Jahr 1976/1977 als Stipendiat des (West-)Deutschen Akademischen Austauschdienstes an der Historischen Fakultät der KlimentOhridski-Universität Sofia. Den zum Teil deutlichen Anzeichen einer Überwachung
durch das Komitee für Staatssicherheit im Innenministerium der Volksrepublik Bulgarien habe ich seinerzeit keine besondere Bedeutung beigemessen. Vorgeladen und
befragt, zugeführt und verhört, ausgewiesen oder gar inhaftiert wurde ich nie. 2 Al1
2
Julian Barnes: Das Stachelschwein. Aus dem Englischen von Stefan Howald und Ingrid HeinrichJost. Zürich 1992, S. 40. – Die Figur von „Stojo Petkanow“ steht bei Barnes für den langjährigen bulgarischen Partei- und Staatschef Todor Živkov. Noch vor dem Erscheinen des englischen Originals
(The Porcupine. London 1992) wurde eine bulgarische Übersetzung veröffentlicht: Džulian Barnes:
Bodlivo svinče. Sofia 1992.
Vgl. dazu „Antibălgarskata dejnost“ na edin zapadnogermanec. Intervju săs Štefan Tr’obst [Die „antibulgarische Tätigkeit“ eines Westdeutschen. Interview mit Stefan Troebst]. In: Deutsche Welle.
Bulgarisches Programm, 6. Januar 2016, URL: http://www.dw.com/bg/антибългарската-дейностна-един-западногерманец/a-18962749, letzter Zugriff: 04. 10. 2016, sowie die deutsche Kurzfassung: Freiwillig in Bulgarien? Er muss ein Spion sein. Interview mit dem deutschen Historiker Stefan
Troebst. In: Deutsche Welle vom 19. Januar 2016, URL: http://www.dw.com/de/freiwillig-in-bulgarien-er-muss-spion-sein/a-18988825, letzter Zugriff: 04. 10. 2016.
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Balcanica
lerdings konnte ich 1993 meiner vom Ministerium für Staatsicherheit der DDR angelegten Akte entnehmen, dass das MfS in den Jahren 1979 bis 1986 mit seinem
bulgarischen Pendant in regelmäßigem Austausch über mich stand. Dies deshalb,
weil man in Sofia gegen mich den Verdacht auf „antibulgarische Tätigkeit und antibulgarische wissenschaftliche und andere Publikationen“ hegte. 3
Im März 1997 erließ die bulgarische Nationalversammlung nach langem parlamentarischem Streit ein „Gesetz über den Zugang zu den Dokumenten der ehemaligen Staatssicherheit und der ehemaligen Spionageabteilung des Generalstabs“, das
mehrmals geändert wurde. 4 Aus diesem Grund habe ich im Februar 2000 den bulgarischen Botschafter in Deutschland brieflich gebeten, den in Sofia zuständigen
Stellen meinen Wunsch auf Einsicht in meine bulgarische Staatssicherheitsakte zu
übermitteln 5. Eine Antwort auf meinen Brief erhielt ich nicht, sondern stattdessen
eine E-Mail des mir flüchtig bekannten Bruders (!) des Botschafters:
I wanted to write you a message [. . . ] about your request from my brother [. . . ]. The things
stand like this: my brother does not like at all those people from the security services since
his student years. [. . . ] [H]e is unwilling to do anything related to the security services. I
would suggest to you to contact for the information that you need Krassimir Karakachanov.
I think he would be more in a position to help you. 6
3
4
5
6
Diese Formulierung findet sich in der Anlage „MdI der VRB [Ministerium des Innern der Volksrepublik Bulgarien], Übersetzung aus dem Russischen. STRENG GEHEIM!“ zu einem Brief von
Generalmajor Willi Damm an Generaloberst Mischa Wolf, Berlin, 5. Februar 1986 (X /1273/86 –
Re) in Antwort auf ein Schreiben der Hauptverwaltung Aufklärung IX des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR vom 12. Dezember 1985 (207 – bö/2512/85) bezüglich „Überprüfung der Sicherheitsorgane der VRB von TROEBST, Stefan“ (BStU ZA, MfS-Abt. X, Nr. 579, Bll. 279 und 280).
In dieser Anlage heißt es: „Seit Juli 1985 hat Troebst ein auf 5 Jahre befristetes Einreiseverbot für
die VRB wegen antibulgarischer Tätigkeit und antibulgarischer wissenschaftlicher und anderer Publikationen“. (Das Einreiseverbot wurde im Mai 1986 auf Intervention des damaligen Ministers für
Volksbildung Ilčo Dimitrov aufgehoben.) – Zur Kooperation des MfS mit seinem bulgarischen Gegenüber vgl. Christopher Nehring: Die Zusammenarbeit der bulgarischen Staatssicherheit mit dem
Ministerium für Staatssicherheit der DDR. In: Konrad Adenauer Stiftung. Auslandsbüro Bulgarien
(Hrsg.): Texte zum Kommunismus in Bulgarien, 18. Februar 2013, URL:http://www.kas.de/bulgarien/de/publications/33548/, letzter Zugriff: 04. 10. 2016; und Christian Domnitz: Kooperation und
Kontrolle. Die Arbeit der Stasi-Operativgruppen im sozialistischen Ausland. Göttingen 2016, hier
Kapitel 3, Die Operativgruppe in Bulgarien, S. 87–115.
Zakon za dostăp do dokumentite na bivšata Dăržavna sigurnost i bivšeto razuznavatelno upravlenie na
Generalnija štab [Gesetz über den Zugang zu den Dokumenten der ehemaligen Staatssicherheit und
der ehemaligen Spionageabteilung des Generalstabs]. In: Dăržaven vestnik [Staatsanzeiger] Nr. 24
vom 13. März 2001. – Zu den Wirkungen des Gesetzes vgl. Heinz Brahm: Bulgariens Umgang mit
der kommunistischen Vergangenheit. In: Gernot Erler /Johanna Deimel (Hrsg.): Bulgarien – Ein Jahr
nach dem Regierungswechsel. München 1998, S. 103–116.
Brief von Stefan Troebst an Botschafter Nikolaj Apostolov, Leipzig, 14. Februar 2000, S. 2. In: Archiv S. Troebst; Nachfrage in Brief von Stefan Troebst an Botschafter Nikolaj Apostolov, Leipzig,
23. März 2000. In: ebd.
E-Mail von Dr. Mario Apostolov an Stefan Troebst, 30. Mai 2000, 14:54 Uhr (Betreff: „Flensburg
et al.“) (Archiv S. Troebst). – Der bulgarische Historiker Krasimir Karakačanov hat 1990 die Partei
„Innere Makedonische Revolutionäre Organisation“ gegründet – so benannt nach einer zunächst antiosmanischen, dann anti-jugoslawischen terroristischen Organisation der Jahre 1893–1934/46 –, der
Vergangenheitsbewältigung auf Bulgarisch
177
Eine ebenso merkwürdige, aber für die damalige Zeit bezeichnende Antwort: Das
Thema war zum einen politisch heikel und zum anderen gab es ungeachtet des genannten Gesetzes keine klaren Regelungen zum Aktenzugang, schon gar nicht für
Ausländer. Ich habe daraufhin im Juni 2000 die Deutsche Botschaft Sofia gebeten,
den zuständigen bulgarischen Stellen meinen dringlichen Wunsch nach Einsichtnahme in
meine Akte [. . . ] zu übermitteln und auf eine amtliche schriftliche Reaktion zu drängen. 7
Eine Antwort habe ich auch darauf nicht erhalten. 2002 hob dann eine neue Regierung unter Simeon Sakskoburggotski, 1943 bis 1946 als Simeon II. von SachsenCoburg-Gotha auf dem bulgarischen Thron, das Gesetz von 1997, das noch 2001
vom Verfassungsgericht bestätigt worden war, ersatzlos auf. Die Folge war, dass in
den Jahren 2002 bis 2006 keinerlei Zugangsmöglichkeiten zu den Staatssicherheitsakten bestanden. 8
Im Frühjahr 2007 habe ich dann einen neuen Anlauf unternommen, da zum einen
das bulgarische Parlament am 6. Dezember 2006, also wenige Wochen vor dem
EU-Beitritt des Landes am 1. Januar 2007, ein neues „Gesetz über den Zugang zu den
Unterlagen der bulgarischen Staatssicherheit und der Nachrichtendienste der Bulgarischen Volksarmee, über die Aufdeckung dieser Unterlagen und über die Veröffentlichung der Zugehörigkeit von bulgarischen Bürgern zur bulgarischen Staatssicherheit
und zu den Nachrichtendiensten der Bulgarischen Volksarmee“ erlassen hatte. 9 Zum
anderen aber teilte im April 2007 der vormalige Generalsekretär des Komitees für
Staatssicherheit und seinerzeit Mitglied des Parteirates der regierenden Bulgarischen
Sozialistischen Partei (BSP), Oberst a. D. Cvjatko Cvetkov, bulgarischen Medien
mit, er sei im Zeitraum 1979 bis 1985 für meine Überwachung zuständig gewesen
und habe eine umfangreiche Akte über mich angelegt. 10 Daraufhin habe ich mich
unter Verweis auf diese Pressemeldungen bei der bulgarischen Botschafterin in Berlin im Mai 2007 brieflich danach erkundigt,
ob es eine gesetzliche Regelung für den Zugang von Bürgern der Europäischen Union zu
den Akten des KDS im MVR [Komitee für Staatssicherheit im Ministerium für innere An-
er bis heute vorsitzt und die de facto für den Anschluss der Republik Makedonien an das EU-Land
Bulgarien optiert. Er ist Abgeordneter der bulgarischen Nationalversammlung und hat 2011 für den
Posten des Staatspräsidenten kandidiert. 2005 wurde er vom bulgarischen Innenministerium als Informant „Ivan“ des Komitees für Staatssicherheit geoutet.
7 Brief von Stefan Troebst an die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Sofia, Leipzig,
13. Juni 2000, S. 1. In: Archiv S. Troebst.
8 Vgl. Klaus Schrameyer: Politiker im Dienst der Dienste. Das bulgarische Gesetz über die Stasi-Unterlagen. In: Europäische Rundschau 36 (2008), H. 2, S. 85–104, hier S. 86.
9 Zu einer deutschen Übersetzung des Gesetzes vgl. Klaus Schrameyer: Bulgarien: Das Gesetz über die
Unterlagen der Staatssicherheit vom 6. Dezember 2006. In: Jahrbuch für Ostrecht 49 (2008), S. 169–
197, hier S. 182–197.
10 DS razrabotvala nemskija răkovoditel na „Bataškija proekt“ [Die Staatssicherheit hat den deutschen
Leiter des „Batak-Projektes“ überwacht]. In: mediapool.bg vom 26. April 2007, URL: http://www.
mediapool.bg/ds-razrabotvala-nemskiya-rakovoditel-na-batashkiya-proekt-news128163.html, letzter Zugriff: 04. 10. 2016.
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gelegenheiten] gibt und – falls ja – wie diese aussieht bzw. ob im Zuge des mittlerweile
erfolgten EU-Beitritts der Republik Bulgarien in Bälde eine solche gesetzliche Regelung
zu erwarten ist. 11
Auch darauf blieb eine Antwort aus. Immerhin wurde mir von der Behörde der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) auf Anfrage ebenfalls im Mai 2007
mitgeteilt:
Der BStU ist kein Fall bekannt, bei dem ein deutscher Staatsbürger Akteneinsicht in Sofia erhalten hätte. Die Kontaktversuche der BStU zur Partnerinstitution in Sofia sind leider
bislang nicht wirklich erfolgreich. Es gab einen Besuch der Bulgaren vor rund 2 Jahren.
Unsere Nachfragen vom Ende 2006 wg. der geränderten Gesetzeslage sind aber bislang
nicht beantwortet worden. 12
Erneut habe ich die Sache ruhen lassen, bis ich im Juni 2013 Gelegenheit hatte, anlässlich einer Studienreise der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
nach Bulgarien dem Leiter der 2007 gegründeten neuen bulgarischen Behörde für die
Unterlagen der dortigen Staatssicherheit einen Antrag auf Akteneinsicht persönlich
zu überreichen. 13 Diese Behörde trägt die überlange Bezeichnung „Kommission der
Republik Bulgarien zur Offenlegung der Dokumente und zur Bekanntmachung der
Zugehörigkeit bulgarischer Staatsbürger zur Staatssicherheit und zu den Spionagediensten der Bulgarischen Volksarmee“. 14 Da ihre bulgarische Abkürzung aus nicht
weniger als 14 Buchstaben – KRDOPBGDSRSBNA – besteht, hat sie sich selbst die
Kurzbezeichnung KOMDOS (Komisija za dosietata = Kommission für die Akten)
gegeben. So praktisch diese Selbstbezeichnung ist, so pragmatisch handelte auch der
Kommissionsvorsitzende Emil Kostadinov: Ungefähr 15 Minuten, nachdem ich ihm
meinen Antrag in die Hand gedrückt hatte, legte er mir meine Akte mit der durchaus passenden Vorgangsbezeichnung „Makedonec“ (Makedonier 15) im Original vor.
11 Brief von Stefan Troebst an Botschafterin Dr. Meglena Plugčieva, Berlin 24. Mai 2007, S. 2. In:
Archiv S. Troebst.
12 E-Mail der Fachbereichsleiterin Politische Bildung bei der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Dr. Gabriele Camphausen, an Stefan Troebst, 9. Mai 2007, 10:07 Uhr (Betreff „Bulgarien“).
In: ebd.
13 Vgl. ein entsprechendes Foto der Übergabe bei Christo Christov: Za kakvo se interesuvat germancite of archivite na Dăržavna sigurnost [Wofür sich die Deutschen in den Archiven der Staatssicherheit interessieren]. In: Dăržavna sigurnost.com vom 13. Juni 2013, URL:http://desebg.com/
2011-01-06-11-45-23/1298-2013-06-28-13-58-12, letzter Zugriff: 04. 10. 2016.
14 Vgl. dazu die (englischsprachige) Website der Kommission (URL: http://www.comdos.bg/p/language/en/, letzter Zugriff: 04. 10. 2016) sowie die Übersicht: Die Kommission zur Offenlegung der
Dokumente und der Zugehörigkeit bulgarischer Bürger zur Staatssicherheit und zu den Nachrichtendiensten der Bulgarischen Volksarmee. Bulgarien. In: BStU (Hrsg.): Das „Europäische Netzwerk
der für die Geheimpolizeiakten zuständigen Behörden“. Ein Reader zu ihren gesetzlichen Grundlagen, Strukturen und Aufgaben.. Berlin 2010, S. 6–17, URL: https://www.bstu.bund.de/DE/BundesbeauftragterUndBehoerde/AufarbeitungImAusland/Download%20Reader.pdf?__blob=publicationFile, letzter Zugriff: 04. 10. 2016.
15 Ich habe von 1977 bis 1989 versucht, Zugang zu den Beständen bulgarischer Archive zu den im Zeitraum 1918 bis 1946 in Bulgarien tätigen legalen wie halblegalen makedonischen Organisationen zu
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Ich habe die 700 Seiten dann im Verlaufe mehrere Tage gelesen und anschließend in
gescannter Form auf einer CD erworben.
Mein Fall ist in gewisser Weise symptomatisch für den Umgang im
Nach-„Wende“-Bulgarien mit der papierenen Hinterlassenschaft der Parteidiktatur der Jahre 1944 bis 1989, vor allem mit den Akten der Staatssicherheit: Vor dem
1. Januar 2007, dem EU-Beitritt des Landes, haben die meisten der in rascher Folge
wechselnden Regierungen den Zugang zu diesen nach Möglichkeit versperrt oder
zumindest erschwert – auch über deren vollständige Vernichtung hat die bulgarische
Nationalversammlung mehrfach debattiert –, doch seitdem haben sämtliche Bürger
Bulgariens, der EU und anderer Staaten ungehinderte Akteneinsicht, und zwar in die
Originalakte, also nicht wie bei der BStU in die Kopie einer teilweise geschwärzten
Kopie. 16 Der erstaunliche bulgarische Sinnes- und Politikwandel von 2007 in Sachen
Staatssicherheitsakten geht natürlich auf eine Brüsseler Bedingung im Kontext des
EU-Beitritts zurück, an deren Zustandekommen die seinerzeitige grüne Europaabgeordnete Gisela Kallenbach aus Leipzig beträchtlichen Anteil hatte.
So professionell die Kommission also in einem politisch schwierigen und weiterhin korrupten Umfeld agiert und etliche Erfolge in Form erzwungener Rücktritte
von Politikern, die vormals Staatssicherheitsmitarbeiter waren, aufweisen kann, so
bescheiden sind doch weiterhin die Möglichkeiten einer strafrechtlichen Verfolgung
von kriminellen Taten durch das Personal des Komitees für Staatssicherheit. 17 Dies
bekommen – mit höchst bescheidenem Erfolg. Vgl. dazu Stefan Troebst: Mussolini, Makedonien und
die Mächte 1922–1930. Die „Innere Makedonische Revolutionäre Organisation“ in der Südosteuropapolitik des faschistischen Italien. Köln, Wien 1987, S. XVI, 533 f.
16 Was nicht heißt, dass nicht auch nach 2007 bulgarische Regierungen, Ministerien und andere Behörden versucht haben, Einfluss auf KOMDOS zu nehmen. Vgl. Martin Woker: Bulgariens Mühen
mit der Vergangenheit. Nur zögerliche Öffnung der Archive aus der kommunistischen Zeit. In:
Neue Zürcher Zeitung vom 31. Oktober 2007, URL: http://www.nzz.ch/bulgariens-muehen-mit-dervergangenheit-1.576686,letzter Zugriff: 04. 10. 2016; Vanya Eftimova: „Welcher normale Mensch
interessiert sich noch für die Geheimdienstakten“. In: Wirtschaftsblatt [Sofia] Nr. 11 vom November 2007, S. 6 (Beim Titel dieses Aufsatzes handelt es sich um ein Zitat des postkommunistischen
Ministerpräsidenten Sergej Stanišev); Diljina Lambreva: Geheimdienstakten und verfehlte Vergangenheitspolitik in Bulgarien. In: Südosteuropa-Mitteilungen 2007, H. 5–6, S. 71–85; Björn OpferKlinger: Die bulgarische Staatssicherheit vom Kalten Krieg bis zur gescheiterten Vergangenheitsbewältigung. In: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik 22 (2010),
H. 1–2, S. 90–111, hier S. 109–110; Maria Dermendzhieva: Die Akten der Staatssicherheit in Bulgarien und die Folgen ihrer verspäteten Öffnung. In: Südosteuropa-Mitteilungen 51 (2011), H. 5–
6, S. 73–80 sowie Christopher Nehring: Von Dossiers, Kommissionen und hochrangigen Agenten.
Das Erbe der bulgarischen Staatssicherheit 1989–2015. In: Halbjahresschrift für südosteuropäische
Geschichte, Literatur und Politik 27 (2015), H. 1–2, S. 31–52.
17 Vgl. Momchil Metodiev: Bulgaria. In: Lavinia Stan (Hrsg.): Transitional Justice in Eastern Europe
and the Former Soviet Union. Reckoning with the Communist Past. London /New York 2009, S. 152–
175; Ana Luleva: Transitional Justice and Memory Culture in Post-Socialist Bulgaria. In: Our Europe. Ethnography – Ethnology – Anthropology of Culture 2013, H. 2, S. 117–128, URL: http://
www.ptpn.poznan.pl/Wydawnictwo/czasopisma/our/OE-2013-117-128-Luleva.pdf, letzter Zugriff:
09. 10. 2016).
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gilt selbst für international so aufsehenerregende Verbrechen wie den berüchtigten
Regenschirmmord an dem Schriftsteller Georgi Markov in seinem Londoner Exil
oder den gleichartigen Mordanschlag auf den Exil-Journalisten Vladimir Kostov
in Frankreich, beide verübt 1978. 18 Das liegt nicht zuletzt daran, dass die politische Klasse des Landes, die 1990 aus einem lediglich generationellen Elitenwechsel,
keinem tatsächlichen hervorgegangen ist, eine informelle Mitarbeit bei der Staatssicherheit, desgleichen eine hauptamtliche, gar eine leitende, nicht als gravierendes
Manko auffasst. 19 In dieser Hinsicht mag bezeichnend sein, dass das renommierte
Sofioter Verlagshaus Ciela, das 2008 unter dem Titel Legitimitätsmaschine eine mustergültige Analyse über die Rolle der Staatssicherheit im kommunistischen Bulgarien
aus der Feder des Zeithistorikers Momčil Metodiev veröffentlicht hatte 20, 2013 eine
apologetische Kurze Geschichte der Staatssicherheit von 1907 bis 2013 eines als
Historiker dilettierenden ehemaligen Hauptabteilungsleiters der Staatssicherheit publizierte. Darin wird die Staatssicherheit der Jahre 1949 bis 1989 als Bindeglied
zwischen der politischen Polizei des Fürstentums bzw. später Königreiches Bulgarien vor 1944 und dem 1990 formierten Sicherheitsdienst des heutigen EU-Mitglieds
Bulgarien, also als ganz „normaler“ sowie primär von patriotischen Motiven beseelter Nachrichtendienst, porträtiert. 21
Neben einem relativ kleinen Teil der Medien und der Öffentlichkeit bezieht nur
der seit 2012 amtierende Staatspräsident Rosen Plevneliev klar Stellung in Sachen
Vereinbarkeit früherer Staatssicherheitstätigkeit mit gegenwärtigen politischen und
administrativen Funktionen. So hat er seit seinem Amtsantritt im Januar 2012 seine
Unterschrift unter sämtlichen Ernennungsurkunden zum Botschafter für solche bulgarischen Diplomaten verweigert, die Offiziere oder Zuträger der Staatssicherheit
gewesen waren. Im Gespräch mit der besagten Delegation der Bundesstiftung Aufarbeitung sagte Plevneliev im Sommer 2014:
18 Vgl. Christo Christov: Dăržavnata sigurnost sreštu bălgarskata emigracija [Die Staatssicherheit gegen die bulgarische Emigration]. Sofia 2000; Vladimir Kostov: The Bulgarian Umbrella. The Soviet
Direction and Operations of the Bulgarian Secret Service in Europe. New York 1988.
19 Vgl. Iskra Baeva: How Post-1989 Bulgarian Society Perceives the Role of the State Security. In: Maria Todorova /Augusta Dimou /Stefan Troebst (Hrsg.): Remembering Communism. Private and Public
Recollections of Lived Experience in Southeast Europe. Budapest /New York 2014, S. 367–383.
20 Momčil Metodiev: Mašina za legitimnost. Roljata na Dăržavna sigurnost v komunističeskata dăržava
[Legitimitätsmaschine. Die Rolle der Staatssicherheit im kommunistischen Staat]. Sofija 2008. Vgl.
auch ders.: Der bulgarische Staatssicherheitsdienst: Ursprung, Entwicklung, Vermächtnis. In: Konrad Adenauer Stiftung. Auslandsbüro Bulgarien (Hrsg.): Texte zum Kommunismus in Bulgarien,
3. Juni 2014, URL: http://www.kas.de/bulgarien/de/publications/38252/, letzter Zugriff: 04. 10. 2016.
Zu einer umfassenden und aktuellen Bibliographie zu Personal, Struktur und Funktionsweise der
bulgarischen Staatssicherheit vgl. ders./Marija Dermendžieva: Dăržavna sigurnost – predimstvo po
nasledstvo. Profesionalni biografii na vodešti oficeri [Staatssicherheit – ererbter Vorrang. Berufsbiographien der führenden Offiziere]. Sofia 2015, S. 933–999.
21 Vgl. Dimităr Ivanov: Kratka istorija na Dăržavna sigurnost 1907–2013 [Kurze Geschichte der Staatssicherheit 1907–2013]. Sofia 2013.
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In der einen Koalitionspartei der gegenwärtigen Regierung sind die Hälfte aller Minister
ehemalige Mitarbeiter der Staatssicherheit. In der anderen Koalitionspartei sind es alle. 22
Rückendeckung erhielt er dabei überraschenderweise vom Verfassungsgericht, das
im März 2012 eine Kehrwende weg von seiner bis dahin lustrationsfeindlichen
Rechtsprechung vollzog und den Präsidenten bei seinen Bemühungen um eine Säuberung des diplomatischen Dienstes von ehemaligen Stasi-Spitzeln unterstützte. 23
Das Ministerium für auswärtige Angelegenheiten bildet damit die Ausnahme von
der bulgarischen Regel.
Aber auch die strafrechtliche Verfolgung von Angehörigen anderer Teile des kommunistischen Repressionsapparates, also der Justiz, der Miliz, der Armee, der „roten
Barette“ – das sind Spezialtruppen des Innenministeriums – sowie der Verwaltungen
der circa 50 Zwangsarbeits- und Umerziehungslager, durch die eine geschätzte Viertelmillion Menschen gegangen ist, ist defizitär. Relativ zügig nach der politischen
„Wende“ von 1989 wurde immerhin die repressive Gesetzgebung aus der Stalinzeit
aufgehoben. Dies betraf Enteignungen und Zwangsumsiedlungen, jedoch zunächst
nicht die Willkürurteile des berüchtigten Volksgerichtshofs der Jahre 1944/1945 sowie die Opfer des kommunistischen Terrors in den ersten Tagen nach dem Einmarsch
der Roten Armee am 9. September 1944. 24 Eher symbolischen Charakter trugen
„De-Kommunisierungs-Gesetze“, so etwa das „Gesetz zur Erklärung des kommunistischen Regimes in Bulgariens als verbrecherisch“ vom Dezember 1992. 25
Ilija Trojanows aktueller Bestseller-Roman Macht und Widerstand liefert erschreckende Einblicke sowohl in die grausamen bulgarischen Lagerregime wie in das
Ausbleiben bzw. Scheitern einer juristischen Aufarbeitung nach 1989. 26 Während
die in den Lagern der Stalinzeit verübten Verbrechen nach bulgarischem Recht 1990
bereits verjährt waren, galt dies nicht für das, was im Frauen-Arbeitslager Skravena
sowie in einem Steinbruch bei Loveč, in dem Männer Zwangsarbeit leisten mussten,
geschah. Beide Lager waren von 1959 bis 1962 „in Betrieb“. Ebenfalls zu nennen
sind das Gefangenenbergwerk Kucijan in Pernik sowie vor allem das große Arbeits-
22 Gespräch Staatspräsident Rosen Plevnelievs mit der Delegation der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur am 24. Juni 2013 in seinem Sofijoter Amtssitz. Eigene Mitschrift. In: Archiv
S. Troebst.
23 Vgl. Klaus Schrameyer: Die Rechtssprechung des bulgarischen Verfassungsgerichts zum Stasi-Unterlagengesetzt. In: Osteuropa-Recht 58 (2012), H. 3, S. 54–66; ders.: Bulgariens Stasi-Diplomaten.
In: Europäische Rundschau 39 (2011), H. 1, S. 93–109.
24 Vgl. dazu Iskra Baeva /Evgenija Kalinova /Nikolaj Poppetrov: Die kommunistische Ära im kollektiven Gedächtnis der Bulgaren. In: Stefan Troebst (Hrsg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen im
Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven. Göttingen 2010, S. 405–
501, hier S. 422–426; Luleva: Transitional Justice, S. 119–122.
25 Vgl. Klaus Schrameyers: Das bulgarische Parlament erklärt das kommunistische Regime für verbrecherisch. In: Südosteuropa 49 (2000), S. 624–628. – In ebd., S. 626–628, findet sich eine deutsche
Übersetzung des Gesetzes.
26 Vgl. Ilija Trojanow: Macht und Widerstand. Roman. Frankfurt a. M. 2015; auch ders.: Die fingierte
Revolution. Bulgarien, eine exemplarische Geschichte. 2München 2006, S. 238–249 (Kapitel: Die
Macht kommt aus den Dossiers).
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und Umerziehungslager Belene auf der Donau-Insel Persin, in dem von 1949 bis
1953 und von 1956 bis 1959 Zwangsarbeiter einsaßen und das 1984 wiedereröffnet
wurde. 27
Ein ebenso paradigmatisches wie prominentes Beispiel strafrechtlicher Verfolgung à la bulgare ist der Fall des Parteichefs der Jahre 1954 bis 1989, Todor Živkov, der seit 1962 überdies Staatschef war. 28 Nachdem er am 10. November 1989
von seinen Politbürokollegen „mit Dank“ seiner Funktionen erhoben worden war,
wurde er bereits im Januar 1990 wegen „Anstiftung zu Rassismus und zu nationaler
Feindseligkeit“ – gemeint ist die gewaltsame Kampagne zur Namensänderung der
bulgarischen Türken um 1984/1985 und die Repression des Protestes der Zwangsumbenannten 1989 – angeklagt und in Untersuchungshaft genommen. Zu einem Prozess
kam es nicht, da das Oberste Gericht die Anklage wegen Unvollständigkeit nicht weniger als vier Mal an die Militärstaatsanwaltschaft zurückverwies, und dies, obwohl
über 400 Zeugen benannt worden waren. Im Februar 1991 wurde Živkov dann wegen unberechtigter Vergabe von Wohnungen, Autos und Geld der Prozess gemacht,
im Ergebnis dessen das Oberste Gericht ihn im September 1992 zu einer siebenjährigen Haftstrafe sowie zu einer hohen Geldstrafe verurteilte. Im Zuge der Revision
wurde das Urteil zwar im Januar 1994 zunächst bestätigt, doch im Februar 1996 aufgehoben. In der Zwischenzeit waren weitere Prozesse gegen Živkov, etwa angesichts
des Kollapses der bulgarischen Wirtschaft oder wegen seiner Mitschuld am Tod von
Lagerhäftlingen, im Sande verlaufen.
Insgesamt endete das juristische Vorgehen gegen Živkov, das maßgeblich seine
weiterregierenden ehemaligen Kollegen im Politikbüro der Bulgarischen Kommunistischen Partei – die sich jetzt Bulgarische Sozialistische Partei nannte – orchestrierten, in einem Fiasko. Der Plan, Živkov die Hauptschuld, gar die Alleinschuld
an systematischen Menschenrechtsverletzungen sowie an dem ökonomischen Desaster der Parteidiktatur zuzuschieben, scheiterte grandios. Der „Vandale aus Pravec“,
wie ihn nicht nur die politische Opposition, sondern auch seine früheren Genossen
unter Bezug auf seinen Geburtsort nannten, erwies sich zwar nicht als der gute Landesvater „Onkel Tošo“, zu dem er sich selbst stilisierte, aber doch als bauernschlauer
27 Vgl. zu Belene Ana Luleva: Commemorating the Communist Labour Camps: Is a New Memory
Culture Possible? In: Ana Luleva /Ivanka Perova /Slavia Barlieva (Hrsg.): Contested Heritage and
Identities in Post-Socialist Bulgaria. Sofia 2015, S. 60–89; Ivajlo Znepolski: Bez sleda? Lagerăt Belene 1949–1959 i sled tova . . . [Spurlos? Das Lager Belene 1949–1959 und danach]. Sofia 2009;
Daniela Koleva: Belene – mjasto na pamet? Antropologična anketa [Belene – ein Erinnerungsort?
Eine anthropologische Enquete]. Sofia 2010 (dort S. 28 Hinweise zur Memoirenliteratur); Tzvetan
Todorov: Au nom du peuple. Témoignages sur les camps communiste [Im Namen des Volkes. Zeugnisse über die kommunistischen Lager]. La Tour-d’Aignes 1992 sowie Iskra Baeva /Stefan Troebst
(Hrsg.): Vademecum Contemporary Bulgaria. A Guide to Archives, Research Institutions, Libraries,
Associations, Museums and Sites of Memory. Berlin, Sofia 2007, S. 77.
28 Vgl. zum Folgenden Iskra Baeva /Evgenija Kalinova /Nikolaj Poppetrov: Die kommunistische Ära im
kollektiven Gedächtnis der Bulgaren. In: Stefan Troebst (Hrsg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven. Göttingen 2010,
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und dialektisch geschulter Angeklagter, als veritables „Stachelschwein“, so wie ihn
der britische Erfolgsautor Julian Barnes in seinem sachkundigen Roman The Porcupine von 1992 porträtiert hat. 29 Denn Veruntreuung, Bereicherung und Bestechung
waren Živkov nicht nachzuweisen. Vielmehr stellte sich heraus, dass er persönlich
gänzlich mittellos, ja obdachlos war. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er daher
in der Wohnung seiner Enkelin, wo er am 5. August 1998 starb – nicht ohne zuvor
mehrere apologetische Memoirenbände veröffentlicht zu haben. Mit anderen Worten:
Živkovs Image im heutigen Bulgarien ist, wenn nicht makellos, so doch überwiegend
positiv. 30
Das Todor-Živkov-Museum neben seinem Geburtshaus in Pravec ist folglich
heute nicht nur Weihestätte bulgarischer Altkommunisten, sondern Anziehungspunkt
für in- und ausländische Touristen. In der dortigen Fotogalerie, die Živkov als Partner
der Großen der Welt zeigt, nimmt Helmut Schmidt einen Ehrenplatz ein. Nicht zufällig erklärte Živkovs ehemaliger Leibwächter Bojko Borisov (2009–2013 und erneut
seit 2014 Ministerpräsident Bulgariens) im November 2010 als Ministerpräsident im
bulgarischen Fernsehen:
Wenn wir nur ein Hundertstel dessen, was Todor Živkov für Bulgarien geschaffen und was
er in diesen Jahren zustande gebracht hat, zustande bringen und das ökonomische Potential
des damaligen Staates erreichen, wäre das ein gewaltiger Erfolg für jede Regierung. Die
Tatsache, dass ihn 20 Jahre nach seinem Fall von der Macht niemand vergessen hat, belegt,
dass viele Dinge erreicht worden sind. Seit 20 Jahren privatisieren wir lediglich das, was
damals geschaffen wurde. 31
Damit ist das Bild, das viele Bulgaren, auch jüngere, von der 35-jährigen Ära Živkov
haben, ziemlich präzise umrissen: Damals wurde, so diese Retrovision, ein rückständiges Agrarland in einen modernen Industrie- und Wohlfahrtsstaat transformiert –
durch einen volksnahen und fürsorglichen älteren Herrn. Und analog zur ernüchternden Formel nach der Staatsgründung von 1878 „Ot Tursko po-lošo!“ [Schlimmer als
unter den Türken!] war nach 1989, im Zuge der Erosion staatlicher Strukturen, der
dramatischen Senkung von Renten, des Zerfall des Gesundheitssystems, der Schließung unwirtschaftlicher Großkombinate und der Aufteilung der halbwegs profitablen
29 Barnes: The Porcupine; ders.: Das Stachelschwein.
30 Vgl. kritisch zur retrospektiven Verklärung der bulgarischen Kommunismusvariante: Michail Gruev /
Diana Miškova (Hrsg.): Bălgarskijat komunizăm. Debati i interpretacii [Der bulgarische Kommunismus. Debatten und Interpretationen]. Sofia 2013; Ana Luleva (Hrsg.): Bălgarskijat XX vek. Kolektivna pamet i nacionalna identičnost [Das bulgarische 20. Jahrhundert. Kollektives Gedächtnis und
nationale Identität]. Sofia 2013. – Zu einer kritischen Gesamtdarstellung der Geschichte der Volksrepublik Bulgarien vgl. Ivajlo Znepolski (Hrsg.): Istorija na Narodna Republika Bălgarija. Režimăt i
obštestvoto [Geschichte der Volksrepublik Bulgarien. Das Regime und die Gesellschaft]. Sofia 2009;
ders.: Bălgarskijat komunizăm. Sociokulturni čerti i vlastova traektorija [Der bulgarische Kommunismus. Soziokulturelle Züge und Trajekt der Macht]. Sofia 2008.
31 Zit. nach Opitite da se văzdigne Živkov edva li ne do vodešt bălgarski dăržavnik sa žalki. Intervju
s Mitko Novkov [Die Versuche, Živkov zum führenden bulgarischen Staatsmann zu machen, sind
erbärmlich. Interview mit Mitko Novkov]. In: svobodata.com vom 7. Dezember 2012, URL: http://
www.svobodata.com/page.php?pid=7490&rid=8, letzter Zugriff: 04. 10. 2016.
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Wirtschaftszweige unter ehemaligen Parteifunktionären und Staatssicherheitsoffizieren, die Variante „Ot Tošo po-lošo!“ [Schlimmer als unter Živkov!] populär. Die böse
Antwort auf die nur vermeintliche Scherzfrage „Was ist der Unterschied zwischen
unserer Regierung und der organisierten Kriminalität?“, nämlich: „Die organisierte
Kriminalität ist organisiert“, spiegelt die raue Wirklichkeit der Umbruchphase wider,
zu der über 200 politökonomisch motivierte Auftragsmorde gehören.
Eine gänzliche andere Wirkung auf die bulgarische Öffentlichkeit als Živkovs aalglattes Verhalten vor Gericht hatte indes ein Prozess, der zwar ebenfalls nur zu einem
Minimalergebnis führte, aber das Bild von der Herrschaft des als „gütigen Vaters“
(tata = „Papi“) Porträtierten zumindest partiell veränderte: 1992 wurde der ehemalige stellvertretende Innenminister Mirčo Spasov zusammen mit Kommandanten und
Kommandantinnen der beiden genannten Zwangsarbeitslager Loveč und Skravena
der 14-fachen vorsätzlichen Tötung von Insassen in den Jahren 1959 bis 1962 angeklagt. 32 In dem im Juni 1993 beginnenden Prozess forderte der Generalstaatsanwalt
die Todesstrafe für alle Angeklagten. Da jedoch der Hauptangeklagte Spasov kurz
nach Prozessbeginn starb, musste der Prozess neu aufgerollt werden. Dies gelang erst
nach sechs Jahren. Im Ergebnis wurden 1999 zwei der fünf Angeklagten, ein Aufseher und eine Lagerkommandantin, zu jeweils drei Jahren Haft verurteilt. Im Zuge
des Prozesses berichteten zahlreiche Zeugen vom unmenschlichen Lageralltag und
den brutalen Übergriffen von Lagerleitung und -personal. Die Kommunismus-Nostalgie im Lande, die durch die verheerende Wirtschaftskrise des Winters 1996/1997
massiven Auftrieb erhalten hatte 33, erfuhr dadurch zumindest temporär eine Abschwächung.
Gleichfalls nicht ohne Wirkung auf die bulgarische Öffentlichkeit, wenngleich
ebenfalls ohne umfassende strafrechtliche Konsequenzen, blieb die juristische Aufarbeitung des mit dem Euphemismus „Wiedergeburtsprozess“ belegten Staatsverbrechens an den bulgarischen Türken der 1980er-Jahre. 34 Zum einen wurden fast
allen von ihnen – circa 800.000 Personen – zwangsweise slawisch-christliche anstelle
ihrer arabisch-muslimischen Vor-, Vaters- und Familiennamen oktroyiert. Zum anderen wurden diejenigen, die dagegen Widerstand leisteten, zunächst administrativen,
dann juristischen, gar physischen Repressionen ausgesetzt – bis hin zu Zwangsumsiedlung, Ausweisung in die Türkei, Inhaftierung, Internierung in Belene, Prügel,
gar Tötung. Hinzu kam das brutale Vorgehen der Sicherheitsorgane gegen die türkische Protestwelle des Frühjahrs 1989, das mehrere Todesopfer kostete. Während
die Prozesse gegen die seinerzeit in Politbüro und Regierung dafür Verantwortlichen
32 Vgl. Baeva /Kalinova /Poppetrov: Die kommunistische Ära, S. 421–422.
33 Vgl. dazu Angelika Schrobsdorff: Grandhotel Bulgaria. Heimkehr in die Vergangenheit. München
1997.
34 Vgl. dazu Evgenia Kalinova: Remembering the „Revival Process“ in Post-1989 Bulgaria. In: Remembering Communism. Private and Public Recollections of Lived Experience in Southeast Europe.
Budapest /New York 2014, S. 567–593; Stefan Troebst: Bulgarien 1989: Gewaltarmer Regimewandel
in gewaltträchtigem Umfeld. In: Martin Sabrow (Hrsg.): 1989 und die Rolle der Gewalt. Göttingen
2012, S. 356–383.
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sämtlich keine Urteile erbrachten, wurden lediglich zwei Angestellte des Innenministeriums und zwei Zivilpersonen wegen eines einzelnen Mordes an einem Türken
verurteilt. 35
So ernüchternd die Bilanz der strafrechtlichen Verfolgung und historischen Aufarbeitung der Verbrechen des kommunistischen Regimes in Bulgarien auch ausfällt,
so klar muss doch der Umstand berücksichtigt werden, dass im ersten Jahrzehnt nach
der „Wende“ in Sofia die politische Couleur der Regierungen dort ständig gewechselt
hat. Was an sich ein Beleg für Demokratisierungstendenz ist, hat einen permanenten
Zickzackkurs gerade in diesem Punkt bewirkt: Wann immer die Postkommunisten
am Ruder waren, haben sie blockiert, wann immer die antikommunistische frühere
Opposition an der Macht war, hat sie versucht, hier etwas gesetzlich voranzubringen.
Dass der aus der Ära Živkov übernommene Justizapparat seinerseits massiv gebremst
hat, versteht sich von selbst.
Im Rückblick auf das Vierteljahrhundert seit dem Sturz Živkovs ist allerdings
zu konstatieren, dass das Problem der bulgarischen Gesellschaft aber nicht primär
die ausgebliebene strafrechtliche Verfolgung kommunistischer Staatsverbrechen, ja
nicht einmal die fehlende Aufarbeitung der Parteidiktatur einschließlich der Krake
Staatssicherheit als ihr „Schild und Schwert“ ist. Es ist vielmehr die Rehabilitierung eines in der Mehrheit der Gesellschaft verankerten Nationalismus, die eben
nicht erst 1989, unter sich jetzt demokratisierenden Bedingungen erfolgte, sondern die bereits unter Živkov in der Mitte der 1960er-Jahre begonnen hatte. Erste
Testballons waren ab 1967 die Kontroverse mit dem Nachbarstaat Jugoslawien um
die Geschichte Makedoniens und die ethnokulturelle Zugehörigkeit seiner Bevölkerungsmehrheit, genauer: der jugoslawischen Teilrepublik Makedonien, von 1971
an dann die zwangsweise Namensänderung der Pomaken im Rhodopen-Gebirge an
der Grenze zu Griechenland. Die Begründung war, dass diese Muslime bulgarischer
Zunge zu osmanischer Zeit unter staatlichem Zwang zum Islam hätten konvertieren
müssen – ein angeblich schreiendes historisches Unrecht, das jetzt, unter der weisen
Führung der Partei, glücklicherweise rückgängig gemacht wird. Es folgte die Massenkampagne zur Umbenennung der bulgarischen Türken 1984/1985, die mit einem
gigantischen Propagandafeldzug einherging. Dessen Botschaft war es, dass es sich
bei den Umzubenennenden nur vermeintlich um muslimische Türken, in Wirklichkeit aber um vormals christliche Bulgaren handelte, die in der frühen Neuzeit von
den Osmanen nicht nur – wie die Pomaken – zwangsislamisiert, sondern zugleich
sprachlich zwangstürkisiert worden seien. Die Rückgängigmachung der Zwangsumbenennung in den Jahren 1990 und 1991 hat dann zu einem chronischen Konflikt
zwischen Türken und Bulgaren in den östlichen Teilen des Landes geführt. 36 Und es
hat bis 2012 gedauert, bis das bulgarische Parlament die Umbenennungskampagne
von 1984/1985 als Unrecht bezeichnet und den durch Schüren einer Fluchthysterie
35 Vgl. Baeva /Kalinova /Poppetrov: Die kommunistische Ära, S. 419.
36 Vgl. Stefan Troebst: Nationalismus vs. Demokratie: Der Fall Bulgarien. In: Margareta Mommsen
(Hrsg.): Nationalismus in Osteuropa. Gefahrvolle Wege in die Demokratie. München 1992, S. 168–
186, 202 f.
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186
Balcanica
staatlich beförderten Massenexodus von circa 370.000 Türken im Sommer 1989 als
„eine Form der ethnischen Säuberung“ verurteilt hat. 37
Die Funktion des Nationalismus als Palliativ für die Schmerzen der Transformation in Bulgarien zeigt sich in jüngster Vergangenheit in aller Schärfe an der
Reaktion von Politik, Öffentlichkeit, Medien und nicht zuletzt der Geschichtswissenschaft auf solche Stimmen im Ausland, zunehmend aber auch im Inland, die den
Anteil Bulgariens am Holocaust thematisieren. 38 Dabei ist die Verhaftung, Deportation und Vernichtung in Treblinka der circa 12.000 Juden aus den von Bulgarien
zwischen 1941 und 1944 zunächst okkupierten, dann annektierten Gebieten Jugoslawiens und Griechenlands unter der Regie von bulgarischer Polizei, Armee und
Staatsbahn mittlerweile durchaus Bestandteil des Geschichtsbildes vieler Bulgaren.
Was indes auf strikte Ablehnung, ja aggressive Verweigerung stößt, ist die Revidierung des von Todor Živkov persönlich mitkonstruierten Mythos von der „Rettung“ der etwa 50.000 Juden Altbulgariens durch die kommunistische Partei bzw.
das bulgarische Volk. Živkov hatte sich diesbezüglich gegen Ende seiner Amtszeit
ernsthaft Chancen auf den Friedensnobelpreis ausgerechnet. 39 Der Verweis darauf,
dass das bulgarische Parlament zwischen 1941 und 1943 etliche Gesetze zur Verbannung der Juden aus Städten in Dörfer, zur Konfiszierung ihrer Immobilien und
ihres Vermögens sowie zur Einweisung in Zwangsarbeitslager beschlossen hat; dass
sich vor allem in Sofia und anderen Städten Bulgaren massenhaft Häuser, Wohnungen, Kunstwerke, Möbel, Hausrat und Autos ihrer verbannten jüdischen Nachbarn
aneigneten 40 – das zu thematisieren wird mit Ächtung geahndet. 41
Insofern ist die kollektive Reaktion auf dieses spezifische Unrecht vergleichbar
mit derjenigen auf die Forderungen der Opfer des kommunistischen Regimes nach
angemessener Entschädigung oder zumindest nach öffentlicher Anerkennung ihrer
Leiden. Sie gelten als aus der Zeit gefallene Störer – siehe die Figur des Konstantin
Scheitanow in Ilija Trojanows besagtem Roman Macht und Widerstand –, was auch
37 Michael Martens: Sofia verurteilt Vertreibungen. Erklärung zu Unrecht an Türken. In: Frankfurter
Allgemeine Zeitung vom 14. Januar 2012, S. 7.
38 So ist zwar eine einschlägige Edition bulgarischer Quellen in fast allen Buchläden des Landes zu
finden, doch gibt es keine öffentliche Debatte zum Thema. Vgl. Nadja Danova /Rumen Avramov
(Hrsg.): Deportiraneto na evreite ot Vardarska Makedonija, Belomorska Trakija i Pirot, mart 1943 g.
Dokumenti ot bălgarskite archivi [Die Deportation der Juden aus Vardar-Makedonien, Ägäisch-Thrakien und Pirot im März 1993. Dokumente aus den bulgarischen Archiven], 2 Bde. Sofia 2013; Nadja
Danova: Dălgata sjanka na minaloto [Der lange Schatten der Vergangenheit]. In: Liberalen Pregled
vom 27. August 2013, URL: http://www.librev.com/index.php/discussion-bulgaria-publisher/2155 –
2013-08-27-08-32-45, letzter Zugriff: 04. 10. 2016.
39 Vgl. Tzvetan Tzvetanov: Bulgarien – Meilenstein einer kontroversen Selbstfindung. In: Monika Flacke (Hrsg.): Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen, Bd. 1. Berlin 2004, S. 95–116,
hier S. 110.
40 Vgl. Rumen Avramov: „Spasenie“ i padenie. Mikroikonomika na dăržavnija antisemitizăm v Bălgarija 1940–1944 g. [„Rettung“ und Fall. Mikroökonomie des staatlichen Antisemitismus in Bulgarien
1940–1944]. Sofia 2012.
41 Vgl. Stefan Troebst: Rettung, Überleben oder Vernichtung? Geschichtspolitische Kontroversen über
Bulgarien und den Holocaust. In: Südosteuropa 59 (2011), H. 1, S. 97–127.
Vergangenheitsbewältigung auf Bulgarisch
187
erklärt, warum die Justiz des Landes jegliches Interesse an einer strafrechtlichen Verfolgung der Täter verloren zu haben scheint. Auf der Website „Transitional Justice
and Memory in the EU“ etwa sind unter „Bulgaria“ in der Rubrik „Jurisprudence“
ganze drei Gerichtsurteile aufgeführt. Diese sind dabei nicht von bulgarischen Gerichten, sondern vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gefällt worden.
In allen drei Fällen ging es um Rückerstattung um in den 1950er-Jahren konfisziertes Eigentum 42 – nicht hingegen um die strafrechtliche Verfolgung von Tätern des
kommunistischen Regimes in Bulgarien. Der bulgarischen Ethnologin Ana Luleva
ist daher Recht zugeben, wenn sie unlängst in einer Studie über „Transitional Justice
and Memory Culture in Post-Socialist Bulgaria“ geurteilt hat:
The conclusion about the justice of the transition, thus far, is that the Bulgarian experience
for establishing retributive justice has been unsuccessful, uncertain and inconsistent. As a
result, the trust of the citizens in democratic institutions – the court, the parliament, the
political elite – has been undermined. 43
Eine bittere Erkenntnis, und wohl auch eine zutreffende. Zwar hat das bulgarische
Parlament im September 2015 die Verjährungsfrist für kommunistische Staatsverbrechen aufgehoben 44, doch ob dies eine Neuaufnahme strafrechtlicher Verfolgung
nach sich ziehen wird, bleibt abzuwarten.
42 Vgl. Transitional Justice and Memory in the EU. Bulgaria: Jurisprudence, URL: http://www.proyectos.cchs.csic.es/transitionaljustice/content/bulgaria, letzter Zugriff: 04. 10. 2016.
43 Luleva: Transitional Justice, S. 127.
44 Parlamentăt premachna davnostta za prestăplenijata pri komunizma [Das Parlament hat die Verjährung von Verbrechen während des Kommunismus aufgehoben]. In: mediapool.bg vom 17. September 2015, URL: http://www.mediapool.bg/parlamentat-premahna-davnostta-za-prestapleniyata-prikomunizma-news239363.html, letzter Zugriff: 04. 10. 2016. – Allerdings hat die den Ministerpräsidenten stellende Partei GERB zwei Wochen später aus einem Gesetzesentwurf zur Schulbildung
die Bestimmung gestrichen, dass kommunistische Staatsverbrechen Gegenstand des Geschichtsunterrichts sein sollten. Vgl. GERB ne dopusna prestăplenijata na komunizma da se učat v učilište
[GERB lässt nicht zu, dass die Verbrechen des Kommunismus in der Schule gelehrt werden]. In:
ebd. vom 30. September 2015, URL: http://www.mediapool.bg/gerb-ne-dopusna-prestapleniyatana-komunizma-da-se-uchat-v-uchilishte-news239842.html, letzter Zugriff: 04. 10. 2016.
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Sovieto-Rossica
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Warum wurde Finnland nicht sowjetisiert?
[1998]
1991, im Jahr der Implosion der Sowjetunion, hat ein finnischer Diplomat dem Lebensgefühl seiner Landsleute Ausdruck in einem bildhaften Vergleich gegeben: Die
Finnen fühlten sich wie die Bewohner eines Einfamilienhauses, das Wand an Wand
mit einem einstürzenden Wolkenkratzer steht. 1 Damit sind die Grundtatsachen der
Beziehungen Finnlands zu seinem östlichen Nachbarn präzise benannt: unmittelbare geographische Nähe samt langer Grenze sowie ein eklatantes Machtgefälle.
Die Überlegenheit der russischen Seite vor allem im militärischen Bereich hatte zu
sowjetischen Zeiten klar messbare politische Konsequenzen, aber auch Teile der politischen Klasse der heutigen Russländischen Föderation sehen in den Beziehungen
zu Finnland ein ausgesprochen paternalistisches special relationship. Hinzu kommt
die historische Dimension, war doch Finnland von 1809 bis 1917 als russisches
Großfürstentum Teil des zarischen Vielvölkerreiches. Dies veranlasst großrussische
Nationalisten wie Vladimir Žirinovskij oder Aleksandr Ruckoj bis heute dazu, Finnland als „russische Erde“ zu apostrophieren, die baldmöglichst „heimzuholen“ ist. 2
Die Finnen haben darauf zum einen mit einer deutlichen Umorientierung nach
Westen reagiert, darunter ein überraschend eindeutiges Ja zum EU-Beitritt, zum
anderen aber mit dem Brechen zahlreicher politischer Tabus bezüglich der Beziehungen zum übermächtigen Nachbarn. Eine Vorreiterrolle kommt dabei der finnischen
Russlandhistoriographie zu, die schon zu Perestrojka-Zeiten die Parole „Über die
Russen darf man sprechen“ ausgab. 3 Das Hauptinteresse von historisch interessierter Öffentlichkeit und Geschichtsschreibung in Finnland gilt dabei der als „Jahre der
Gefahr“ bezeichneten dramatischen Dekade von der Zuordnung Finnlands zur sowjetischen Einflusssphäre durch den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 bis zum sowjetischfinnischen Beistandsvertrag und der politischen Ausschaltung der finnischen Kommunisten 1948. Und hier ist es wiederum die zentrale Frage nach den Gründen dafür,
1
2
3
Botschaftsrat Taisto Tolvanen vom finnischen Außenministerium gegenüber einer Gruppe von Studierenden des Osteuropa-Instituts und des Fachs Skandinavistik der Freien Universität Berlin am
9. Juli 1991 in Helsinki.
So Ruckoj in einem Interview mit dem Fernsehsender „Euronews“ am 15. September 1994. Siehe
auch die stilisierte Karte Russlands „in den Grenzen von 1900“ im Parteiwappen von Žirinovskijs
Liberal-Demokratischer Partei. Auch prominente Diplomaten wie Julij Kvizinskij und Jurij Derjabin, letzterer unter dem Pseudonym „Jurij Komissarov“ Sprachrohr Brežnev’scher Finnlandpolitik
und seit 1992 russländischer Botschafter in Helsinki(!), haben ähnlich altbekannte Töne angeschlagen. Vgl. dazu Julij Kwizinskij: Wir brauchen Atomwaffen! Warum sich Rußland bedroht fühlt –
und dazu viel mehr Grund hat als der Westen, in: Die Woche, 22. 9. 1995, S. 26; und Jörgen Detlefsen: Moskau wieder auf Einschüchterungskurs. Rußland will Souveränität Finnlands nur bedingt
respektieren. Botschafter warnt Helsinki, in: Der Tagesspiegel, 8. 3. 1995, S. 6.
Edgar Hösch: „Über die Russen darf man sprechen . . . “ Anmerkungen zu Neuerscheinungen der
finnischen Rußlandhistoriographie, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 36 (1988), S. 80–90.
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192
Sovieto-Rossica
dass dem eigenen Land sowohl das Schicksal der baltischen Staaten, also die Annexion, als auch dasjenige Ostmittel- und Südosteuropas, nämlich Systemtransformation unter informeller sowjetischer Herrschaft, erspart blieb. Denn Finnland konnte
nicht nur seine territoriale Integrität und seine Souveränität bewahren – beides mit
gewissen Einschränkungen –, sondern im Gegensatz zu den sogenannten Volksdemokratien Polen, ČSSR, Ungarn, Rumänien und Bulgarien auch seine demokratischen
Institutionen, seine marktwirtschaftliche Ordnung und sein Gesellschaftssystem erhalten.
Während bis Gorbačëvs Amtsantritt die finnischen Historiker die Frage nach dem
Grund für das Ausbleiben der Sowjetisierung Finnlands nicht offen stellen wollten und ihre parteigebundenen sowjetischen Kollegen sie nicht stellen durften, hat
auch die westliche Geschichtsschreibung nicht eben intensive Nachforschungen angestellt. 4 In den Standarddarstellungen zum Ost-West-Konflikt wird die sowjetische
Finnlandpolitik in aller Regel zum „Sonderfall“ deklariert 5 und als solcher ausgeklammert. Dieses noch immer nachwirkende Desinteresse der westlichen Forschung
über den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg ist also auch einer der Gründe dafür, dass die Geschichtswissenschaft Finnlands erst in den letzten Jahren mit der Klärung der Grundfragen im Verhältnis zur Sowjetunion begonnen hat. „Warum ließ man
uns in Ruhe, während alle anderen europäischen Nachbarn der UdSSR sowjetisiert
wurden?“, wurde in einem Aufsatz von 1994 zur sowjetischen Finnlandpolitik räsoniert, 6 und „Warum wurde das Land keine Volksdemokratie?“ 7 oder noch deutlicher:
„Warum kamen die Sowjetpanzer nicht nach Helsinki?“ 8 lauten die Überschriften
ähnlicher Arbeiten neueren Datums aus der Feder finnischer Historiker. Im Folgenden sollen die Ergebnisse dieser sowie gleichfalls neuerer russischer, deutscher und
anderer Untersuchungen danach abgeklopft werden, was die Prämissen und Leitlinien sowjetischer Politik gegenüber Finnland im fraglichen Jahrzehnt waren, welche
Ziele damit verfolgt wurden und wie diese sich verändert haben. Die historische For-
4
5
6
7
8
Zu Begriff und Inhalt von Sowjetisierung s. Michal Reiman: „Sowjetisierung“ und nationale Eigenart in Ostmittel- und Südosteuropa. Zu Problem und Forschungsstand, in: Hans Lemberg (Hrsg.):
Sowjetisches Modell und nationale Prägung. Kontinuität und Wandel in Ostmitteleuropa nach dem
Zweiten Weltkrieg. Marburg /L. 1991, S. 3–9.
So z. B. Geir Lundestad: The American Non-Policy Towards Eastern Europe 1943–1947. Universalism in an Area not of Essential Interest to the United States. Tromsø, Oslo, Bergen 1978, S. 285.
Jukka Nevakivi: A Decisive Armistice 1944–1947: Why Was Finland Not Sovietized?, in: Scandinavian Journal of History, 19 (1994), H.2, S. 91–15, hier S. 91. Zu einer finnischen Kurzfassung
vgl. ders.: Ratkaiseva välirauha 1944–1947: Miksi Suomea ei neuvostolaistettu?, in: Historiallinen
Aikakauskirja 1993, H. 3, S. 195–204. Hier behandelt der Verfasser anhand sowjetischen Primärquellenmaterials ein Thema, dem er sich bereits zehn Jahre zuvor zugewandt hatte. Vgl. ders.: Finland
och det kalla kriget, in: Den kolde krig og de nordiske lande. Rapporter til den XIX nordiske historikerkongres Odense 1984. Bind II. Red. Erling Ladewig Petersen. Odense 1984, S. 25–40, hier S. 38–
39.
Osmo Jussila: Suomen tie 1944–1948. Miksi siitä ci tullut kansandemokratiaa. Helsinki 1990. Hier
zit. nach der Besprechung von Tapani Paavonen in: Historisk Tidskrift för Finland, 77 (1992), S. 336–
339.
Nevakivi: A Decisive Armistice, S. 96.
Warum wurde Finnland nicht sowjetisiert?
193
schung hat dabei mit dem Problem des noch immer stark eingeschränkten Zugangs
zu den sowjetischen Primärquellen zu kämpfen. Mit der gewichtigen Ausnahme der
Papiere des Politbüromitglieds und führenden sowjetischen Finnlandpolitikers Andrej Ždanov stehen in Moskau die zentralen Aktenbestände des Außenministeriums,
des Politbüros und der Außenpolitischen Abteilung des ZK der KPdSU sowie des
persönlichen Apparates Stalins zum Thema nur partiell offen. 9
Was ein deutscher Russlandhistoriker vor einigen Jahren auf die sowjetische
Deutschlandpolitik gemünzt hat, muss daher weiterhin auch für die sowjetische
Finnlandpolitik gelten, dass nämlich „fast alle Aussagen [hierzu] indiziengestützte
Plausibilitätsschlüsse, die unter Irrtumsvorbehalt stehen“, sind. 10 Hauptquellenbasis
stellen daher noch immer westliche Archivalien, die Memoiren, Aufzeichnungen und
Tagebücher finnischer, westlicher und sowjetischer Politiker und Diplomaten sowie
jetzt zunehmend die Archivbestände von Behörden und politischen Parteien Finnlands dar, darunter das Parteiarchiv der finnischen Kommunisten. 11
Optionen sowjetischer Finnlandpolitik
Wie die sowjetische Außenpolitik insgesamt ist auch diejenige gegenüber Finnland unter den wechselnden internationalen Rahmenbedingungen – Isolation der
UdSSR bis 1939, dann Hitler-Stalin-Pakt, Anti-Hitler-Koalition und schließlich Kalter Krieg – von einer Reihe langfristig wirksamer Bestimmungsfaktoren geprägt
worden. 12 Die Außenpolitik der UdSSR war im Wesentlichen vom Primat der In-
9
Ebd., S. 114. Dieser Aufsatz J. Nevakivis basiert auf den ca. 3000 Blatt umfassenden Ždanov-Papieren im Russländischen Zentrum für die Aufbewahrung und Erforschung von Dokumenten zur
neueren Geschichte (RCChIDNI, fond 77, opis’ 3) in Moskau. Vgl. auch: ders.: Ždanov soumessa:
Miksi meita ei neuvostoliittolaistettu? Helsinki 1995. Denselben Quellenfundus benutzt hat Alfred
J. Rieber: Zhdanov in Finland. Pittsburgh, PA, 1995 (= The Carl Beck Papers in Russian & East
European Studies, 1107.
10 Bernd Bonwetsch: Deutschlandpolitische Alternativen der Sowjetunion 1949–1955, in: Deutsche
Studien, 24 (1986), S. 320–340, hier S. 326.
11 Zu dieser letztgenannten Quellengattung siehe Hermann Beyer-Thoma: Kommunisten und Sozialdemokraten in Finnland 1944–1948. München 1990, und Kimmo Rentola: Kenen joukossa seisot? –
Suomalainen kommunismi ja sota 1937–1945. Porvoo, Helsinki, Juva 1994, hier zitiert nach Kristina
Exner-Carls Besprechung in: Osteuropa, 5/1995, S. 484–485, hier S. 485. Zur Rolle der finnischen
Kommunisten in den Beziehungen zwischen Moskau und Helsinki vgl. auch ders.: Filialkontoret.
Fem fragment om FKP:s förhållande till Sovjetunionen 1937–1968, in: Historisk Tidskrift för Finland, 77 (1992), S. 609–630; und ders.: The Soviet Leadership and Finnish Communism, 1944–48,
in: .Jukka Nevakivi (Ed.): Finnish-Soviet Relations, 1944–1948. Helsinki 1994, S. 216 ff., sowie zuvor Tony Upton: Finland, in: Martin McCauley (Ed.): Communist Power in Europe, 1944–1949.
London 1977, S. 133–150.
12 Dazu noch immer grundlegend Dietrich Geyer: Von der Kriegskoalition zu Kalten Krieg, in: Ders.
(Hrsg.): Osteuropa-Handbuch Sowjetunion. Außenpolitik 1917–1955. Köln, Wien 1972. S. 343–
381. Zur neueren Literatur s. Vladislav Zubok /Constantine Pleshakov: The Soviet Union, in: David Reynolds (Ed.): The Origins of the Cold War in Europe. International Perspectives. New Haven /
CT, London 1994, S. 53–76.
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194
Sovieto-Rossica
nenpolitik geleitet: vor dem Krieg von den Notwendigkeiten der wirtschaftlichen
Modernisierung und des Auf- und Ausbaus der Parteiherrschaft, nach dem Krieg
vom Wiederaufbau des Landes und der gesellschaftlichen Redisziplinierung. Vor wie
nach dem Krieg bestimmten dabei sicherheitspolitische Überlegungen die Außenpolitik. Sicherheitspolitik im sowjetischen Sinne ließ dabei Überlappungen sowohl
mit einer traditionellen moskauischen Macht- und Hegemonialpolitik als auch mit
einer gleichfalls aggressiven, ideologisch motivierten und in der Komintern-Tradition stehenden Expansionslinie durchaus zu: Nicht nur Verteidigungsanstrengungen,
sondern auch offensive Maßnahmen wie Annexionen, strategische Gebietserweiterungen oder Truppenstationierungen in Nachbarstaaten wurden darunter subsumiert.
In den ersten Nachkriegsjahren konzentrierte sich dieses mitunter als übersteigert
bezeichnete sowjetische Sicherheitsinteresse auf die Schaffung einer breiten Einfluss- und Schutzzone jenseits der Staatsgrenzen, hier vor allem der europäischen.
Aufs engste damit verbunden war das Streben der sowjetischen Führung, von den
Verliererstaaten so umfangreiche Reparationsleistungen wie möglich für den eigenen Wiederaufbau zu erhalten. Vor diesem Hintergrund lassen sich für die kritische
Dekade 1939–1948 insgesamt vier Optionen sowjetischer Finnlandpolitik ausmachen:
Erstens der Anschluss Finnlands an die Sowjetunion in Form einer Finnischen
Sowjetrepublik – entsprechend der Einverleibung Estlands, Lettlands und Litauens
von 1940, das „baltische Modell“.
Zweitens die Errichtung eines nominell unabhängigen „Sowjetfinnlands“ unter
der Kontrolle einer gleichgeschalteten finnischen KP und mit der tätigen Mithilfe der
Roten Armee, sei es als Besatzungsmacht, sei es als Stationierungstruppe – entsprechend dem „volksdemokratischen Modell“ indirekter Herrschaft, wie es nach dem
Krieg in Ostmittel- und Südosteuropa Anwendung gefunden hat.
Drittens die Glacéhandschuhvariante zu eben diesem Modell, bei der die einheimischen Kommunisten ihren Klassengegnern die Macht ohne Beteiligung oder
Präsenz sowjetischer Truppen zu entwinden haben – das „tschechoslowakische Modell“ einer scheinlegal-parlamentarischen Machtübernahme.
Und viertens ein selbständiges, neutrales Finnland mit einem Mehrparteiensystem, jedoch eingeschränkter Souveränität in der Außen- und Verteidigungspolitik
und mit weitreichenden Sicherheitsgarantien für die Sowjetunion – das „finnische
Modell“, wie es sich 1948 dann durchgesetzt und bis 1991 funktioniert hat.
Aus sowjetischer Sicht nicht in Betracht kam eine Teilung Finnlands; dazu fehlte
ein geeigneter Teilungspartner. Und ebenfalls außer Frage stand für Moskau eine
Bindung Finnlands an eine andere Großmacht oder ein anderes Bündnis, desgleichen eine „Nordisierung“ Finnlands, also eine politische Anbindung an die drei bis
1949 sämtlich neutralen skandinavischen Staaten, hatte doch deren Neutralität aus
sowjetischer Sicht einen feindseligen Anstrich. Insofern wäre also die vierte, hier
als „finnisches Modell“ bezeichnete der oben genannten Optionen in Richtung auf
eine isolierte prosowjetische Teilneutralität zu präzisieren – eben das, was in Finnland die „Paasikivi-Kekkonen-Linie“ genannt wurde und wofür Richard Löwenthal
Warum wurde Finnland nicht sowjetisiert?
195
1966 den ursprünglich wertneutral gemeinten, von Franz-Josef-Strauß dann pejorativ
umgedeuteten Begriff der „Finnlandisierung“ geprägt hat. 13
Option Nr. 1: „Baltisches Modell“
Ein Blick auf die Beziehungen zwischen Moskau und Helsinki von 1939 bis 1948
zeigt, dass die vier Optionen sowjetischer Finnlandpolitik nicht nur hypothetischen
Charakter gehabt haben, sondern tatsächlich zur Anwendung gekommen sind. 14 Die
erste Option, also das „baltische Modell“ eines Anschlusses an die Sowjetunion, war
Leitlinie sowjetischer Finnlandpolitik vom Hitler-Stalin-Pakt bis zur Kriegswende
bei Stalingrad. Nachdem im Geheimen Zusatzprotokoll auch Finnland als zur sowjetischen Einflusssphäre zugehörig ausgewiesen worden war, verstärkte Moskau
seinen Druck auf Helsinki, um den Tausch eines Grenzstreifens auf der karelischen
Landenge und einiger Inseln im Finnischen Meerbusen gegen Teile Nordkareliens zu
erzwingen. Begründet wurde dies mit der Notwendigkeit der strategischen Sicherung
Leningrads.
Hatte die finnische Regierung Verhandlungen über dieses Thema seit 1938 strikt
abgelehnt, ging man unter dem Eindruck der deutsch-sowjetischen Teilung Polens
und der Einwilligung der Regierungen in Kaunas, Riga und Reval zum Abschluss
von Verteidigungsbündnissen mit Moskau darauf ein. Zwar machte die finnische
Seite einige territoriale Zugeständnisse, doch waren diese dem sowjetischen Verhandlungsführer Stalin nicht weitreichend genug. Die Folgen sind bekannt: Als
die finnischen Unterhändler am 10. November 1939 die Verhandlungen abbrachen,
blieb der Sowjetunion zur Gesichtswahrung nur noch die ultima ratio einer militärischen Lösung. Obwohl die vom Säuberungsterror geschwächte Rote Armee nur
bedingt einsatzfähig war, ordnete Stalin für den 30. November den Angriff örtlicher
Grenztruppen auf Finnland an. Dass das Kriegsziel nun nicht eine bloße Grenzkorrektur, sondern die militärische Niederwerfung des obstinaten Finnland und seine
Einverleibung war, wurde bereits am Tag nach dem Angriff deutlich. Der im sowjetischen Exil lebende finnische Kommunist und hohe Kominternfunktionär Otto Ville
Kuusinen rief im ersten eroberten Grenzort, dem karelischen Terijoki, eine sogenannte „Volksregierung der demokratischen Republik Finnland“ aus. Er verkündete
13 Siehe zum Begriff Timo Vihavainen: Krälade Finland i stoftet? Finland och Sovjetunionen under
efterkrigstiden. in: Historisk Tidskrift för Finland, 77 (1992), S. 629–639, sowie ders.: Kansakunte
rähmällään. Suomettumisen lyhyt historia. Helsinki 1991 samt Besprechung von Sune Jungar in:
Finsk tidskrift 1991, S. 229–230. S. auch Hans Mouritzen: Finlandization. Towards a General Theory
of Adaptive Politics. Aldershot 1988.
14 Tuomo Polvinen: Suomi kansainvälisessä politikasse. 3 Bde. Helsinki /Porvoo /Juva 1979–1981, sowie als englische Teilausgabe hiervon ders.: Between East and West. Finland in International Politics
1944–1947. Ed. and transl. by David G. Kirby and Peter Herring. Minneapolis, MN, 1986, und als
deutschen Auszug ders.: Zur „Vorgeschichte“ des finnisch-sowjetischen Vertrages über Freundschaft,
Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand während der Jahre 1944–1945, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. 30 (1982), S. 227–239.
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196
Sovieto-Rossica
ein kommunistisches Regierungsprogramm, forderte die finnische Bevölkerung zum
Sturz der Regierung in Helsinki auf und bat die Rote Armee im Namen der „Werktätigen“ Finnlands unverzüglich um „brüderliche Hilfe“. 15 Dass es sich bei all dem
nicht um ein eigenmächtiges Vorpreschen der politisch bereits bedeutungslosen kommunistischen Weltorganisation handelte, wurde wiederum einen Tag später deutlich:
Die Sowjetunion schloss mit der neuen Marionettenregierung einen förmlichen Beistands- und Freundschaftsvertrag ab. Hierin wurden die sowjetischen Forderungen
an Finnland vom Herbst 1939 erfüllt, während sich die Sowjetunion zur Abtretung
großer Teile Kareliens an das neue Finnland nach Kriegsende verpflichtete. Nach
dem Sieg der Roten Armee sollte die Terijoki-Regierung dann eine finnische Sowjetrepublik proklamieren, um sich anschließend der UdSSR anzugliedern. Bekanntlich
konnte diese Planung aufgrund des für Moskau überraschenden Kriegsverlaufs nicht
verwirklicht werden. Statt innerhalb weniger Tage die finnische Hauptstadt einzunehmen, so das eigentliche Kriegsziel 16, wurde die Rote Armee in einen verlustreichen Schnee- und Eiskrieg verwickelt. Im sowjetisch-finnischen Friedensvertrag
von Moskau vom 12. März 1940, der nicht zuletzt ein Fallenlassen der TerijokiRegierung seitens Stalins bedeutete, begnügte sich die UdSSR mit der Verpachtung
einer Flottenbasis und der Abtretung zweier finnischer Grenzgebiete. Finnland wurde
also nicht im Zuge einer Generalmobilmachung der Roten Armee zerschlagen und
besetzt. Und auch nach dem Friedensschluss übte die Sowjetunion zwar weiterhin
Druck auf das außenpolitisch in lebensbedrohliche Isolation geratene Land aus, unternahm aber zunächst keinen neuerlichen Versuch einer gewaltsamen Eingliederung
in seine mit Berlin abgesteckte Einflusssphäre. Die Gründe können zum einen in
den exorbitanten Verlusten der Roten Armee während der 105 Tage andauernden
Kampfhandlungen – 127.000 gefallene und 265.000 verwundete Rotarmisten 17 gegenüber 23.000 gefallenen und 44.000 verwundeten finnischen Soldaten 18 –, zum
15 Zur Terijoki-Regierung s. Osmo Jussila: Terijoen hallitus, 1939–40. Porvoo /Helsinki /Juva 1985, sowie Gerd R. Ueberschär: Die „Volksregierung Kuusinen“ der „Demokratischen Republik Finnland“
im Kalkül Stalins und Hitlers 1939/40. Ein Beitrag zur deutschen Haltung im sowjetisch-finnischen
Winterkrieg, in: Edgar Hösch (Hrsg.): Finnland-Studien [1]. Wiesbaden 1990, S. 228–247. Vgl. auch
die drei Literaturberichte von Hermann Beyer-Thoma in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 35
(19R7), S. 149–151; Kristina Exner: Der Winterkrieg und sein neuer Frühling. Zu den finnisch-sowjetischen Historikergesprächen. in: Osteuropa, 8/1990, S. 718–727;und Staffan Skott: Ryska forskare
omvärdera vinterkriget. in: Dagens nyheter, 3. 3. 1996, S. E 4.
16 S. dazu Bianka Pietrow-Ennker: Die Sowjetunion und der Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939–
1941. Ergebnisse einer internationalen Konferenz in Moskau, in: Osteuropa, 9/1995, S. 854–857,
hier S. 855.
17 Uroki vojny s Finljandiej. Neopublikovannyj doklad narkoma oborony SSSR K. E. Vorošilova na
plenume CK VKIP(b) 28 marta 1940 g. Predislovie Ju. A. Gor’kova, in: Novaja i novejšaja istorija,
4/1993, S. 100–122, hier S. 101.
18 M. I. Semirjaga: „Neznamenitaja vojna“. Razmyšlenija istorika o sovetsko-finljandskoj vojne 1939–
1940 godov, in: Ogonek, H. 22, 1989. Hier wurde die Zahl der auf sowjetischer Seite Gefallenen nur
mit 70.000, diejenigen der Verwundeten und Erfrorenen mit 176.000 angegeben.
Warum wurde Finnland nicht sowjetisiert?
197
anderen in einer bevorstehenden Intervention der Westmächte zugunsten Finnlands
gesucht werden. Damit wäre die UdSSR zwangsläufig zum Verbündeten Hitlers geworden und in dessen Krieg im Westen Europas hineingezogen worden.
Option Nr. 2: „Volksdemokratisches Modell“
Die Gründung einer neuen Karelo-Finnischen Sozialistischen Sowjetrepublik auf sowjetischem Territorium (mit dem genannten Kuusinen als Präsident), der auch die
von Finnland abgepressten Gebiete eingegliedert wurden, sowie vor allem die Annexion der baltischen Staaten im Sommer 1940 wurden in Helsinki als Vorboten eines
zweiten und diesmal finalen sowjetischen Griffs nach Finnland gedeutet. Aufgrund
der bereits erfolgten Besetzung Dänemarks und Norwegens durch die Wehrmacht
hätte die UdSSR diesmal keine westalliierte Expedition fürchten müssen. Und in
der Tat legten Äußerungen sowjetischer Politiker den Verdacht auf neuerliche Angriffspläne nahe. So erklärte der sowjetische Außenminister Vjačeslav Molotov seinem litauischen Amtskollegen am 30. Juni 1940:
Sie müssen in dem Maße Realisten sein, daß Sie verstehen, daß die kleinen Völker in Zukunft verschwinden werden. Ihr Litauen zusammen mit den anderen Baltischen Völkern,
Finnland mitgerechnet, wird in die glorreiche Familie der Sowjetvölker aufgenommen werden. 19
Als Molotov jedoch bei seinen ausführlichen Gesprächen mit Hitler am 12. und
13. November 1940 in Berlin auf grünes Licht für eine neuerliche Militäraktion gegen Finnland drängte, hatte sich das Blatt in Berlin bereits gewendet. Aus deutscher
Sicht war Finnland nun nicht länger ein beliebiges Land in der sowjetischen Einflusssphäre, sondern ein potentieller Verbündeter beim bereits beschlossenen Angriff auf
die Sowjetunion, ja eine wichtige Aufmarschbasis hierfür. Daher war Hitler nicht
bereit, der UdSSR freie Hand gegen Helsinki zu gewähren. 20
Beim „Unternehmen Barbarossa“ konnten dann deutsche Gruppen von finnischem Territorium aus angreifen, wobei sich die finnische Armee dem deutschen
Angriff anschloss. Die finnischen Operationen gegen die Sowjetunion wiesen allerdings etliche Unterschiede zum deutschen Vorgehen auf, bedingt durch das Steckenbleiben des deutschen Vorstoßes nach Südostkarelien im Winter 1941/1942. Finnland
führte den Krieg nun ausdrücklich als „eigenen“, „separaten“, ja als „stillen Krieg“
und verfolgte nur begrenzte Kriegsziele. Diese waren im Wesentlichen die Herstellung des Status quo ante von 1939, doch wurde die alte finnisch-sowjetische Grenze
nicht unerheblich überschritten. Finnische Truppen beteiligten sich aber nicht an den
19 Zit. nach Seppo Myllyniemi: Die baltische Krise 1938–1941. Stuttgart 1979, S. 126.
20 Andreas Hillgruber (Hrsg.): Staatsmänner und Diplomaten bei Hitler. Vertrauliche Aufzeichnungen
über die Unterredungen mit Vertretern des Auslandes 1939–1941. München 1969, Dok. Nr. 14 und
15, S. 165–193, sowie grundlegend Gerd R. Ueberschär Hitler und Finnland 1939–1941. Die deutschfinnischen Beziehungen während des Hitler-Stalin-Paktes. Wiesbaden 1978.
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Sovieto-Rossica
deutschen Operationen gegen Leningrad und gegen die lebenswichtige MurmanskBahn; auch kam es nur vereinzelt zu Besatzungsexzessen. Diese finnische Zurückhaltung war der Grund dafür, dass die USA dem sowjetischen Drängen nach einer
Kriegserklärung an Helsinki, anders als nach längerem Zögern Großbritannien, nicht
nachkamen. 21
Die latenten westalliierten Sympathien für Finnland bestimmten auch die Nachkriegsplanung der Anti-Hitler-Koalition vor der Stalingrader Kriegswende. Beim
Treffen der „Großen Drei“ Ende 1943 in Teheran machte Roosevelt deutlich, dass
die USA den Erhalt eines finnischen Staates mit den Sicherheitsinteressen der Sowjetunion durchaus für vereinbar hielten. Stalin schloss sich dem an und zeigte sich
gar zu einem Separatfrieden mit Helsinki bereit, bestand also nicht länger auf bedingungsloser Kapitulation, Es deutet einiges darauf hin, dass aus sowjetischer Sicht
Option 1 – „Einverleibung“ – nun zugunsten von Option 2 – „volksdemokratisches
Modell“ – aufgegeben wurde. Die Friedensfühler zwischen Moskau und Helsinki
nahmen allerdings erst konkrete Form an, nachdem die finnische Armee eine sowjetische Großoffensive auf der karelischen Landenge im Juli 1944 nur mit großer Mühe
hatte stoppen können. Jetzt war Helsinki zu ernsthaften Verhandlungen über einen
Waffenstillstand bereit. Diese Bereitschaft löste einen sofortigen Umschwung sowjetischer Militärplanung aus: Der bereits im Detail ausgearbeitete Plan einer Besetzung
Finnlands samt rigoroser flächendeckender Militärverwaltung wurde verworfen. 22
In den Waffenstillstandsverhandlungen, die die Sowjetunion im September 1944
in Moskau auch im Namen ihres britischen Verbündeten führte, steuerte Stalin gleich
zwei Ziele an: Zum einen sollte der Sekuritätsbedarf der UdSSR durch neuerliche
Gebietsabtretungen sowie den Erwerb der großen Flottenbasis Porkkala in unmittelbarer Nähe Helsinkis gestillt werden, und zum anderen sollte der äußerlich zu
erhaltende finnische Staat mit neuem, „volksdemokratischem“ Inhalt gefüllt werden. 23 Dass sich die sowjetische Seite dabei nicht wie andernorts in Europa unter
westalliiertem Druck und folglich in Zugzwang wähnte, lag nicht zuletzt an der
außerordentlichen Zurückhaltung der Angloamerikaner hinsichtlich der Einzelheiten des Waffenstillstandes. Diese Zurückhaltung war Moskau nicht nur auf oberster
Ebene versichert worden, sondern wurde auch von britischen Militärs sowie von amerikanischen Diplomaten in Helsinki deutlich demonstriert. Außenminister Anthony
Eden äußerte im August 1944 of the record:
Although we shall no doubt hope that Finland will be left some real degree of at least
cultural and commercial independence and a parliamentary regime, Russian influence will
21 R. Michael Berry: American Foreign Policy and the Finnish Exception. Ideological Preferences and
Wartime Realities, Helsinki, Jyväskylä 1987.
22 Rieber, Zhdanov in Finland, S. 18. Hier heißt es weiter: „For reasons that the archives do not make
dear, they [Stalin and Molotov] decided to abandon altogether the idea of occupying any Finnish
territoriy that was not to be annexed by the Soviel Union.“ (Ebd.)
23 Thede Pahn: The Finnish-Soviet Armistice Negotiations. Stockholm 1971. – Olli Vehviläinen: The
Finnish-Soviet Armistice – Talks of 1944, in: ’Tenho ’Takalo (Ed.): Finns and Hungarians between
East and West. Helsinki 1989, S. 179–187.
Warum wurde Finnland nicht sowjetisiert?
199
in any event be predominant in Finland and we shall not be able, nor would it serve any
important British interest to contest that influence. 24
Diese Ansicht überdauerte auch das Kriegsende. Im Sommer 1945 schrieb der britische Gesandte in Helsinki Francis M. Sheperd im selben Tenor an Außenminister
Eden:
She [= Finland] is definitely in the Russian defensive sphere and it is a matter for consideration whether, after a certain period, British interests in Finland would not invoke counter
measures by Soviet Russia which might not only nullify our own efforts but might even
have the opposite effect. 25
In Washington war man ganz ähnlicher Ansicht und ließ vom Sommer 1944 an die
finnische Seite mehrfach wissen, es liege nun ganz allein an ihr, das Verhältnis zum
übermächtigen Nachbarn im Osten auf eine neue Grundlage zu stellen. 26
Sowohl der Text des alliierten Waffenstillstandsabkommens mit Finnland vom
19. September 1944 27 als auch seine Auslegung durch die federführende Sowjetunion unterschieden sich daher wesentlich von den bereits geschlossenen Abkommen
mit den anderen ehemaligen Verbündeten Deutschlands, nämlich Italien und Rumänien, sowie von den späteren Verträgen mit Bulgarien und Ungarn. 28 Zwar sahen
alle Abkommen die Zahlung von Reparationen, die Demobilisierung und Abrüstung auf Friedensstärke, das Verbot „faschistischer“ Organisationen, die Aufhebung
„antikommunistischer“ Gesetze sowie die Einrichtung von alliierten Kontrollkommissionen zur Überwachung dieser Bestimmungen vor, doch gab es im finnischen
Fall erhebliche Abweichungen.
An erster Stelle ist hier die Tatsache zu nennen, dass Finnland im Unterschied
zu den genannten süd- und südosteuropäischen Feindstaaten nicht von alliierten
24 Zit. nach Polvinen, Between East and West, S. 283.
25 Mr. Sheperd (Helsinki) to Mr. Eden (Received 7 August) No. 114 [N 9908/356/56]. Confidential.
Helsinki, 24 July 1945, in: M. E. Pelly, H. J. Yasamee (Eds.): Documents on British Policy Overseas.
Series I. Vol. I: The Conference at Potsdam, July – August 1945. London 1984, Dok. Nr. 396, S. 865–
867, hier S. 867.
26 Polvinen, Between East and West, S. 285.
27 Appendix 1 bei Polvinen, Between East and West, S. 289–298.
28 Charles R. S. Harris: Allied Military Administration of Italy 1943–1945. London 1957; Bruno Arcidiacono: Le „précédent italien“ et les origines de la guerre froide. Les alliéés et l’occupation de l’ltalie
1943–1945. Bruxelles 1984; O. V. Serova: ltalija i antigitlerovskaja koalicija 1943–1945. Moskva
1973; Salvatore Sechi: Tra neutralismo ed equidistanza: la politica estera italiana verso l’URSS 1944–
1948, in: Storia contemporanea, 18 (1987), S. 655–712; Elisabeth Barker: Truce in the Balkans. London 1948; Bruno Arcidiacono: Gli alleati e l’armistizio della Romania: variazioni su un tema italiano
(settembre 1943 settembre 1944), in: Storia delle relazioni internazionali, 4 (1988), S. 317–354; Valeriu Dobrinescu: Der Waffenstillstand zwischen Rumänien und den Vereinten Nationen (Moskau,
12. 9. 1944), in: Südost-Forschungen, 45 (1986), S. 139–166; Stojan Pintev: SSSR, SAŠt i Velikobritanija i Moskovskoto primirie s Bălgarija (septemvri-oktomvri 1944 g.), in: Izvestija na Bălgarskoto
Istoričesko Družestvo, 32 (1978), S. 241–259; ders.: Great Britain and the Armistice with Bulgaria
(September-October 1944), in: Bulgarian Historical Review, 14 (1986), H. 1, S. 3–14; Stephen D.
Kertesz: Between Russia and the West. Hungary and the Illusions of Peacemaking 1945–1947. Notre
Dame /IN, London 1984.
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Sovieto-Rossica
Truppen besetzt wurde. Die Gründe waren primär militärischer Art. Die sowjetische
Großoffensive vom Juni 1944 in Karelien hatte zwar Geländegewinne gebracht, die
Macht der rund 60.0000 Mann starken finnischen Armee aber mitnichten gebrochen.
Einer militärischen Besetzung Finnlands hätte folglich eine zeitraubende und verlustreiche Eroberung vorausgehen müssen. Außerdem war im finnischen Lappland
die 220.000 Mann starke und unverbrauchte 20. deutsche Gebirgsarmee stationiert,
deren Vertreibung gleichfalls umfangreiche sowjetische Truppenverbände gebunden
hätte. 29 Da der interalliierte Wettlauf nach Berlin bereits im Gange war, wurde die
Aufgabe der Zurückdrängung bzw. Internierung der deutschen Truppen auf dem Territorium Finnlands im Waffenstillstandsabkommen der finnischen Armee auferlegt.
Die Rote Armee brauchte also weder Kampfverbände noch Besatzungstruppen bereitzustellen, sondern konnte im Gegenteil zwischen Juli und Dezember 1944 etwa
die Hälfte ihrer in Fennoskandien eingesetzten 55 Divisionen auf den zentraleuropäischen Hauptkriegsschauplatz transferieren. 30
Die militärisch bedingte Entscheidung Stalins zum Verzicht auf eine Besetzung
Finnlands hatte weitreichende politische und psychologische Folgen: Rotarmisten
waren in Finnland mit Ausnahme der Hauptstadt und Porkkala nicht „sichtbar“, gab
es doch keine Dorf-, Stadt-, Hafen- und anderen Militärkommandanturen, wie von
1944 an in Bulgarien und Rumänien, ab 1945 dann auch in Ungarn, Teilen Österreichs und der SBZ. Vor allem auf kommunaler und regionaler Ebene konnte die
UdSSR nicht unmittelbar in das politische Leben des Landes eingreifen. Eine Folge
war, dass die finnischen Kommunisten weit weniger selbstsicher agierten als diejenigen der anderen damaligen Satellitenstaaten. Die Abwesenheit sowjetischer Truppen
auf finnischem Territorium war also ein wesentlicher Unterschied, auch wenn aus
finnischer Sicht die Drohung einer nachträglichen Besetzung bis 1947 als akut empfunden und danach mitnichten als endgültig abgewendet betrachtet wurde.
Aber auch das alliierte Kontrollorgan für Finnland unterschied sich in einer ganzen Reihe von Punkten von seinen Gegenstücken in Süd- und Südosteuropa. Der
Präzedenzfall für Aufbau, Funktionsweise und Machtverteilung innerhalb der alliierten Kontrollkommissionen war 1943 Italien gewesen. 31 Hier dominierten die
29 Vgl. dazu Polvinen, Between East and West, S. 37–54.
30 Nevakivi, A Decisive Armistice, S. 114; Helmut Handzik: Politische Bedingungen sowjetischer
Truppenabzüge 1925–1958. Baden-Baden 1993, S. 279. – Zuvor hatte Stalin erwogen, die 1940
gegründete Karelo-Finnische Sowjetrepublik wieder aufzulösen, wohl als vertrauensbildende Geste
gegenüber Finnland, doch kam es dazu erst unter seinem Nachfolger Nikita Chruščëv 1956. Siehe
dazu T. Verigin: O planach likvidacii Karelo-Finskoj SSR v avguste 1944 g., in: Karely, Finny. Problemy ėtničeskoj istorii. Moskva 1992, S. 16–30 (= Rossijskaja akademija nauk. Institut ėtnologii i
antropologii. Materialy k serii narody i kul’tury. Vypusk XVI).
31 Vgl. Arcidiacono, Le „précédent italien“; ders.: La politique soviétique en ltalie. 1943–1945, in: Relations internationales, Nr. 45 (Frühjahr 1986), S. 35–49; Harris. Allied Military Administration of
Italy. – Wohl am besten untersucht ist der Fall der Alliierten Kontrollkommission für Bulgarien. S.
dazu Michael M. Boll: Reality and Illusion: The Allied Control Commission for Bulgaria as a Cause
of the Cold War, in: East European Quarterly, 17 (1984), S. 417–436; ders. (Ed.): The American Military Illusion in the Allied Control Commission for Bulgaria, 1944–1947. History and Transcripts.
Warum wurde Finnland nicht sowjetisiert?
201
beiden westlichen Hauptalliierten, wohingegen sich die sowjetische Abteilung in der
Kommission für Italien mit der Rolle eines – so die interalliierte Sprachregelung: –
„passive third observer“, eines bloßen Zuschauers also, bescheiden musste und auch
bereitwillig beschied. Dies geschah, wie sich zeigen sollte, in weiser Voraussicht: In
den südosteuropäischen Kontrollkommissionen konnte die UdSSR den Angloamerikanern so denselben marginalen Status zuweisen, den sie in der italienischen Kommission innehatte. Dies jedoch führte in Bukarest, Sofia und Budapest zu ständigen
interalliierten Querelen, zumal mit den britischen Vertretern, die auf das Prozentabkommen zwischen Stalin und Churchill pochten. Anders in Finnland, wo die USA
in der Kommission nicht vertreten waren, da Washington, wie gesagt, eine Kriegserklärung an Helsinki vermieden hatte, und wo die britische Seite sich ihrerseits
freiwillig auf bloßes Beobachten beschränkte. Die sowjetischen Kontrolloffiziere
im Helsinkier Hotel „Torni“ argwöhnten im finnischen Fall also kein klandestines
Einvernehmen zwischen westalliierten Vertretern und einheimischen Konservativen,
unternahmen folglich wesentlich weniger häufig präventive Interventionen in die Innenpolitik Finnlands als in diejenige der südosteuropäischen Verliererstaaten. 32
Von großer Bedeutung war weiter der Umstand, dass die Kontrollkommission für
Finnland im Unterschied zu den anderen Kommissionen keinerlei Zensurvollmachten besaß, sowie vor allem die Zusammensetzung der Kommissionsleitung. Während
die Führungsspitzen sowohl der sowjetischen Teile der übrigen Kontrollkommissionen wie der sowjetischen Militärverwaltungen in Europa fast ausschließlich aus
Berufsmilitärs bestanden, war dies im finnischen Fall anders: Chef der Kontrollkommission war hier ein berufsmäßiger Parteifunktionär, der bereits erwähnte Andrej A.
Ždanov, Politbüromitglied und mächtiger Gebiets- und Stadtparteichef von Leningrad. Ihm, der als Exekutor der Sowjetisierung des annektierten Estland 1940 bereits
einschlägige Erfahrung gesammelt hatte, war für seine neue Funktion in Helsinki
kurzerhand der Generalsrang verliehen worden.
Option Nr. 3: „Tschechoslowakisches Modell“
Die seit 1943 vorrangig verfolgte zweite Option sowjetischer Finnlandpolitik, also
die Einführung des „volksdemokratischen Modells“ mittels indirekten Drucks einer
Besatzungsverwaltung, war durch die Entscheidung zur Nicht-Besetzung des Landes
vom Sommer 1944 obsolet geworden. Stattdessen wurde nun die dritte der genannten
Optionen, also die Machtübernahme der finnischen Kommunisten ohne Hilfsstellung
New York, NY, 1985; Stojan Pintev: Načalna dejnost na Săjuznata kontrolna komisija v Bălgarija (oktomvri 1944 – januari 1945 g.), in: Istoričeski pregled, 35 (1979), H. 4–5, S. 196–204; und ders.: The
Outer Factor and the Political History of Bulgaria (1944–1947), in: Étudcs historiques, 14 (1990),
S. 204–219.
32 Zur Alliierten Kontrollkommission für Finnland vgl. Polvinen, Between East and West, S. 57–82, und
Tatyana Androsova: The Allied Control Commission in Finland, 1944–47: Zig-zags in the Tactical
Line, in: Jukka Nevakivi (Ed.): Finnish-Soviet Relations, 1944–48. Helsinki 1994, S. 44–67.
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Sovieto-Rossica
der Roten Armee, präferiert. Dabei erwies sich rasch, dass diese Partei den hochgesteckten sowjetischen Erwartungen in keiner Weise gerecht wurde. Vor allem Ždanov
hatte für die politisch unerfahrenen und aus seiner Sicht überängstlichen Kommunisten bald wenig mehr als Herablassung übrig. Denn obwohl sich die Kommunisten in
den ersten Nachkriegsparlamentswahlen vom März 1945 fast ein Viertel der Stimmen
und damit die Regierungsbeteiligung hatten sichern können, manövrierten sie sich
aufgrund innerer Zerrissenheit, taktischer Naivität und glückloser Personalpolitik in
den folgenden Jahren innenpolitisch ins Aus. 33 Anders als die übrigen osteuropäischen kommunistischen Parteien und einige westeuropäische erhielt die finnische
KP bezeichnenderweise keine Einladung zur Mitarbeit im 1947 gegründeten Kommunistischen Informationsbüro. 34 Ihre Staatsstreichagitation vom Februar 1948, als
in Prag die letzte nicht von Kommunisten dominierte Regierung Osteuropas gestürzt
wurde, musste die finnische KP bei den Wahlen vom Juli 1948 mit einer vernichtenden Niederlage und anschließenden 18 Oppositionsjahren büßen.
Während der Stern der Kommunisten Finnlands aus Moskauer Sicht also sank,
begann man die beiden großen Parteien der finnischen Sozialdemokratien und der
Agrarier mit anderen Augen zu betrachten. Die reibungsarme Zusammenarbeit der
Kontrollkommission mit der finnischen Regierung in den Jahren 1944 bis 1947
etliche 1946 von Stalin verfügte Verbesserungen der Waffenstillstandsklauseln zugunsten Finnlands sowie die wohlwollende sowjetische Haltung auf der Pariser Friedenskonferenz vom selben Jahr deuten darauf hin. Den entscheidenden Testfall stellte
dann im Krisen- und Wendejahr 1947 die Frage einer finnischen Teilnahme am Marshall-Plan dar: Nach kurzem Schwanken befolgte Staatspräsident Juha K. Paasikivi
die ultimative sowjetische „Empfehlung“ zur Ablehnung der amerikanischen Einladung. Gleichsam die Belohnung aus Moskau war im September die Ratifizierung
des mit Finnland am 10. Februar 1947 geschlossenen Friedensvertrages, was den
vollständigen Abzug der Kontrollkommission mit sich brachte. 35
33 So Nevakivi, A Decisive Armistice, S. 105. Siehe auch ausführlich Beyer-Thoma, Kommunisten und
Sozialdemokraten in Finnland.
34 G. M. Adibekov: Kominform i poslevoennaja Evropa 1947–1956 gg. Moskva 1994, S. 126–138.
35 Vgl. Mikko Majander: The Limits of Sovereignty. Finland and the Question or the Marshall Plan, in:
Scandinavian Journal of History, 19 (1994), H. 4, S. 309–326; Michail Narinsky: The Soviet Union,
Finland and the Marshall Plan, in: Nevakivi (Ed.): Finnish-Soviet Relations, 1944–1948, S. 80–99;
Alexei Filitov: The Peace Treaty of 1947 in the Soviet-Finnish Relations, ebd., S. 129–150; Maxim
Korobochkin: Soviet Policy Toward Finland and Norway, 1947–1949, in: Scandinavian Journal or
History, 20 (1995), H. 3, S. 186–207; sowie den Überblick bei Othmar Nikola Haberl: Die sowjetische Außenpolitik im Umbruchsjahr 1947, in: Othmar Nikola Haberl /Lutz Niethammer (Hrsg.): Der
Marshall-Plan und die europäische Linke. Frankfurt /M. 1986, S. 75–96.
Warum wurde Finnland nicht sowjetisiert?
203
Option Nr. 4: „Finnisches Modell“
Den eigentlichen Schlusspunkt Moskauer Sowjetisierungsabsichten gegenüber Finnland und damit die Absage an die Übertragung des „tschechoslowakischen Modells“
bildete der sowjetisch-finnische Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und
gegenseitigen Beistand vom 6. April 1948. 36 Anders als die sowjetischen Knebelverträge mit den Volksdemokratien enthielt dieser Vertrag keine allgemeine Beistandsverpflichtung und keine allgemeine außenpolitische Konsultationsklausel. Vielmehr
wurde hier erfolgreich Sicherheit gegen System- und Souveränitätserhalt gehandelt.
Erheblich verstärkt wurde der unmittelbare Effekt dieses die bilateralen Beziehungen der folgenden Jahrzehnte bestimmenden Dokuments durch zwei flankierende
Maßnahmen der sowjetischen Seite: Ende Mai 1948 mussten die finnischen Kommunisten auf Moskauer Weisung hin eine aus Protest gegen die Entlassung des einzigen
kommunistischen Ministers initiierte Streikwelle abbrechen; und am 3. Juni halbierte
Stalin die restlichen finnischen Kriegsreparationen bei gleichzeitiger Gewährung einer umfangreichen Devisenanleihe. Die „Jahre der Gefahr“ waren vorüber. 37
Gescheiterte Sowjetisierung oder planmäßige
Neutralisierung? Eine Zwischenbilanz
Zwar lassen sich die Optionen sowjetischer Finnlandpolitik von 1938 bis 1948 einschließlich ihrer zeitlichen Abfolge deutlich ausmachen, doch steckt hierin noch
nicht die ganze Antwort auf die im Titel gestellte Frage danach, warum Finnland
nicht sowjetisiert wurde. Nur vordergründig scheint eine solche Antwort leichtzufallen: Weil das Land nie von der Roten Armee besetzt wurde. Denn ohne die praktischpolitischen und psychologischen Effekte unmittelbarer sowjetischer Militärpräsenz
waren die in der Technik der Macht wenig erfahrenen finnischen Kommunisten nicht
in der Lage, Wahlterror auszuüben und ihre Gegner bis zur politischen Reglosigkeit einzuschüchtern. Und ebenfalls nicht schwerzufallen scheint eine Beantwortung
der sich zwangsläufig ergebenden Anschlussfrage danach, warum es nie zu einer
solchen Besetzung gekommen ist: 1939 weil die säuberungsgeschwächte Rote Armee zu einer raschen Niederwerfung Finnlands nicht in der Lage war; Anfang 1940
weil eine Fortsetzung des Winterkrieges die Gefahr eines Konflikts mit den Westalliierten barg; Ende 1940 weil der außenpolitische Partner Hitler strikt dagegen war;
1944 weil in der Endphase des Krieges gegen Deutschland gewichtige militärische
Gründe dagegen sprachen; und nach 1945 weil ein neuerlicher sowjetischer Finnlandfeldzug nicht nur die mittlerweile bekannten militärischen Risiken geborgen,
36 Appendix 2 bei Polvinen, Between East and West, S. 299–309. Zur russischen Fassung siehe Sovetsko-finljandskie otnosenija 1948–1983. Dogovor 1948 g. o družbe, sotrudničestve i vzaimnoj
pomošči v dejstvii. Dokumenty i materialy. Moskva 1983.
37 Anders indes K. Rentola, der von Entwarnung erst für den Koreakriegssommer 1950 sprechen will.
Vgl. Rentola: Filialkontoret, S. 613–614.
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Sovieto-Rossica
sondern zugleich den Norden Europas zu einem Brennpunkt des Kalten Krieges gemacht hätte. Dadurch wäre die sprichwörtlich antagonistische Kooperation mit den
westlichen Siegermächten zusätzlich belastet worden und hätte darüber hinaus unzweifelhaft Rückwirkungen auf die schwedische Neutralität gehabt. Dennoch kann
das „Rätsel“ der ausgebliebenen Sowjetisierung Finnlands (Jukka Nevakivi 38) nicht
als gelöst gelten. Denn eine der hier angerissenen zentralen Fragen ist noch immer
offen und müsste daher vorrangig an das sowjetische Primärquellenmaterial gerichtet
werden – warum es im Sommer 1944 ausschließlich die militärischen Sachzwänge
gewesen sind, die die sowjetische Finnlandpolitik bestimmten, warum also nicht
wie im zeitgleichen bulgarischen Fall und später in Ungarn ungeachtet der Priorität
einer Niederwerfung des Hauptkriegsgegners Deutschland das politisch so vielversprechende Zwangsmittel der Besetzung zur Anwendung kam. Denn es war dieser
Verzicht vom Sommer 1944, der sich, wie gezeigt, bald als eine nicht intendierte
Weichenstellung mit weitreichenden politischen Konsequenzen erwies. Die NichtPräsenz sowjetischer Truppen in Finnland bewirkte in Kombination mit der eklatanten Schwäche der finnischen Kommunisten und der anti-russischen wie sowjetisierungsfeindlichen Einstellung der großen Mehrheit der Finnen (einschließlich großer
Teile der Wählerklientel der KP), dass der politische Preis für eine Systemtransformation nach sowjetischem Vorbild außerordentlich hoch war. Dieser Preis hätte
zweifelsohne in einem neuerlichen Krieg gegen Finnland bestanden – mit schwer
berechenbaren internationalen Weiterungen. Dieses Wagnis einzugehen war die sowjetische Außenpolitik gemäß ihrem traditionell risikoscheuen Kalkül nicht bereit,
und deshalb kam Option Nr. 4 – die „Finnlandisierung“ bzw. besser: die Neutralisierung Finnlands 39 – zur Anwendung.
Die noch unbekannte Antwort auf die Frage nach der hinter der Entscheidung vom
Sommer 1944 stehenden Interessenabwägung könnte zugleich den Schlüssel zu einer
weiteren ungelösten Frage bieten, nämlich derjenigen, ob das Ausbleiben einer mit
Mitteln direkter Einflussnahme herbeigeführten Systemtransformation möglicherweise nicht das Ergebnis einer Art Betriebsunfall sowjetischer Hegemonialpolitik,
sondern viel eher das Resultat eines bewusst differenzierenden Vorgehens gewesen
war. Denn wie aus den Papieren des Kontrollkommissionsvorsitzenden Ždanov herauszulesen ist, hat Stalin in dem ihm eigenen Stil sporadischen und nicht selten
erratischen Eingreifens in zentrale Felder der Außenpolitik mit Blick auf Finnland
offensichtlich stark auf ein Einvernehmen mit dem ihm persönlich seit langem bekannten Paasikivi gesetzt. Paasikivi, der zwischen 1920 und 1948 mehrfach und über
lange Zeiträume der Verhandlungspartner Stalins gewesen war, galt in Moskau als
glaubwürdiger Exponent einer finnischen Neutralitätspolitik. Die „Paasikivi-Kekkonen-Linie“ einer sowohl die Interessen der Sowjetunion wie diejenigen Schwedens
berücksichtigenden Neutralitätspolitik in Stalins Sicht kam dem Sekuritätsbedarf der
38 Nevakivi, A Decisive Armistice, S. 93.
39 Stefan Troebst: Finnland 1944–1948: Planmäßige Neutralisierung, in: Nordeuropa-Forum, 2 (1992),
H. 3, S. 50–52.
Warum wurde Finnland nicht sowjetisiert?
205
neuen Großmacht im Osten möglicherweise mehr entgegen als der unkoordinierte
Aktionismus der finnischen Kommunisten.
Für eine solche Annahme spricht, dass diese zurückhaltende, ja geradezu minimalistische sowjetische Finnlandpolitik in einem weitgehend störungsfreien internationalen Umfeld im Norden Europas vonstattengehen konnte. Die konkreten Schritte
der UdSSR gegenüber Helsinki stimmten mit dem 1943 geformten Bild überein,
das man in Washington und London von den Methoden Stalin’scher Finnlandpolitik und von ihren mutmaßlichen Zielen besaß; westliche Interventionen fanden hier
also nicht statt, was wiederum eine Erhöhung des sowjetischen Drucks auf Finnland
überflüssig machte. Jeder der beiden Hauptakteure – Westalliierte und sowjetische
Führung – verhielt sich ganz überwiegend so, wie es der jeweils andere erwartete:
Irritationen, andernorts die Regel, blieben die Ausnahme; abrupte Kurswechsel aufgrund fehlgedeuteter Aktionen der Gegenseite fanden überhaupt nicht statt. Seit 1944
also nahm sich die westliche wie die östliche Finnlandpolitik in der Sicht des jeweils
anderen als weitgehend transparent und damit als berechenbar aus. Die Spirale wechselseitiger Fehlperzeptionen, die die Eskalation zwischen Ost und West Ende der
vierziger Jahre bewirkte, setzte sich im finnischen Fall nicht in Bewegung. Im Rahmen des offensiven Sicherungskonzeptes, wie es die Sowjetunion praktisch zeit ihrer
Existenz verfolgt hat, stellte Finnland daher zwar in der Tat einen Sonderfall, aber
keineswegs eine Ausnahme von der Regel dar. Und was die historische Forschung
zur sowjetischen Deutschlandpolitik unlängst noch einmal eindrücklich belegt hat,
dass nämlich wenn nicht alle, so doch alle entscheidenden Weichenstellungen auf
persönliche Entscheidungen Stalins zurückgingen – diese Erkenntnis scheint auch für
Finnland zu gelten. Dem Bild, das Stalin von Finnland, seiner Bevölkerung, seiner
politischen Klasse und ihren Vertretern gehabt hat, dürfte daher bei der Beantwortung
dieser noch offenen Frage zentrale Bedeutung zukommen. 40
Der Stalin-Biograph Isaac Deutscher hat es „einen der bösartigen Streiche der
Geschichte“ 41 genannt, dass derselbe Stalin, der im November 1917 in seiner Eigenschaft als sowjetrussischer Volkskommissar für Nationalitätenfragen die finnische
Unabhängigkeitserklärung sanktionierte, 42 1939 den Befehl zum Angriff der Roten
Armee auf Finnland gab. So gesehen wäre es eine Ironie der Geschichte, wenn –
worauf die bislang zugänglichen Moskauer Quellen zur sowjetischen Finnlandpolitik
deuten – es wiederum Stalin war, der das zunächst verfolgte Ziel einer Sowjetisierung
Finnlands aufschob und später ganz durch die Neutralisierungsvariante ersetzte.
„What puzzles us Americans is why the Soviet Union has allowed Finland to retain her independence“ 43 äußerte US-Präsident John F. Kennedy im Jahr des Baus
40 Vgl. den Überblick bei Constantine Pleshakov: Joseph Stalin’s World View, in: Thomas G. Paterson,
Robert J. McMahon (Eds.): The Origins of the Cold War. Lexington, MA, 1991, S. 60–72.
41 Isaac Deutscher: Stalin. A Political Biography. Harmondsworth 1960, S. 434.
42 „Den Finnen wie allen anderen Völkern Rußlands ist volle Freiheit zur Gestaltung ihres eigenen
Lebens gegeben worden! [. . . ] Keine Bevormundung, keine Kontrolle von oben über das finnische
Volk!“ Ebd., S. 187.
43 Zit. nach John Lukacs: Finland Vindicated, in: Foreign Affairs, 71 (1992), H. 4, S. 50–63, hier S. 50.
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206
Sovieto-Rossica
der Berliner Mauer, und bis heute prägt die mit Misstrauen gegenüber Moskau (und
Helsinki) unterfütterte Verwunderung das Finnlandbild beiderseits des Atlantiks,
charakterisiert Erstaunen einschlägige Analysen von Politologen und Zeithistorikern
zu den so unterschiedlichen Entwicklungsverläufen in Ostmittel- und Südosteuropa.
Das hier vorgestellte und maßgeblich vom militärisch-politischen Ereignisverlauf abgeleitete Erklärungsmuster bietet zwar ebenfalls noch keine letzten Wahrheiten zur
Frage, warum Finnland nicht sowjetisiert wurde, doch gibt es Aufschluss über die
Richtung, in der die Antwort weiter zu suchen ist.
Die Sowjetunion und die
bulgarisch-jugoslawische Kontroverse
um Makedonien 1967 – 1983
[1983]
In der westlichen Kreml-Astrologie, aber auch in Jugoslawien, wird und wurde im
Zusammenhang mit der Makedonien-Kontroverse viel über eine mögliche Rolle der
sowjetischen Außenpolitik gemutmaßt. Generell wird der Verdacht geäußert, Moskau heize diesen Streit bewusst an, um durch seinen „Balkanvasallen“ Bulgarien
beständig einen plausiblen Vorwand zu direktem Eingreifen in Jugoslawien zu haben. Makedonien sei neben Montenegro, Kroatien und dem Kosovo einer der Hebel,
mit denen die Sowjetunion Jugoslawien im Konfliktfall „aufknacken“ wolle.
Eine diesbezüglich düstere Prognose hat z. B. unlängst ein bundesdeutscher Autor
in einer Darstellung der internationalen Krisenherde im 20. Jahrhundert der Sozialistischen Republik Makedonien (SRM) und ihrer Bevölkerung gestellt, nämlich den
„Anschluß an ein orthodox-kommunistisches Bulgarien, notfalls auch mit militärischer Rückendeckung des Großen Bruders im Osten“. 1 Die Folgen eines Versuches
Bulgariens, „seinen Gebietsforderungen handgreifliche Geltung zu verschafffen“,
sieht er in einer „sowjetischen Intervention à la Afghanistan, wiederum ‚nur‘ zur
Verteidigung revolutionärer Errungenschaften und außerdem als ‚brüderliche Hilfe‘
für den treuesten und zuverlässigsten Verbündeten der UdSSR auf dem Balkan“. 2
Daß eine bulgarische militärische Aktion gegen die SRM und gegen Jugoslawien
„eine erneute und noch ernstere Weltkrise“ 3 als die Afghanistan-Krise hervorrufen
würde, ist unbestritten: wahrscheinlich ist ein bulgarischer Alleingang jedoch nicht
und noch viel weniger eine sowjetische Anstiftung bzw. Rückendeckung hierfür. Der
Grund für diese und andere Fehleinschätzungen liegt in der Zählebigkeit von abgenutzten, seit den späten sechziger Jahren nicht mehr zutreffenden Klischees wie dem
von „Bulgarien, der 16. Sowjetrepublik“ u. ä.
Dass die sowjetische Außenpolitik eine wichtige Determinante der bulgarischjugoslawischen Beziehungen in der Nachkriegszeit darstellt, ist unzweifelhaft. Ausgehend jedoch von einem politischen Dreieck Belgrad – Moskau – Sofija und dessen
hinlänglich bekannten Schenkeln Moskau – Belgrad und Moskau – Sofija die Verbindungslinie Belgrad – Sofija gleichsam geometrisch ableiten zu wollen, würde
zu einem falschen Ergebnis führen: Dann müsste die Sowjetunion nämlich in allen
1
2
3
Immanuel Geiss, „Makedonien“, in: Das zwanzigste Jahrhundert. Teil III: Weltprobleme zwischen
den Machtblöcken, hrsg. v. Wolfgang Benz u. Hermann Graml. Frankfurt /M. 1981 (= Fischer Weltgeschichte, Bd. 36), S. 99–100, hier S. 100.
Ibid.
Ibid.
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208
Sovieto-Rossica
wesentlichen bilateralen Fragen für ihren „treuesten Satelliten“ und gegen den sozialistischen Paria Stellung beziehen. Dies ist aber keineswegs der Fall. Wenngleich
die Sowjetunion mit Bulgarien in fast allen wichtigen außenpolitischen und ideologischen Fragen konform geht, so tut sie das nicht in der für die bulgarische Führung
so bedeutsamen Frage nach der ethnisch-nationalen und „historischen“ Zugehörigkeit der Bevölkerung Makedoniens in Vergangenheit und Gegenwart. Die UdSSR
erkennt die Existenz einer historisch gewachsenen, eigenständigen makedonischen
Nation samt Nationalsprache an, was sich besonders auf dem Wissenschaftssektor
manifestiert. Neben den Lenin’schen Prinzipien der Nationalitätenpolitik im Allgemeinen stehen im Hintergrund möglicherweise Überlegungen zur Parallelität der
Entwicklung einer makedonischen und einer moldauischen Nation. Einerseits aus einer nationalen Minderheit im eigenen Lande eine neue Nation zu formen, dies aber
andererseits einem (mit Einschränkungen) sozialistischen Bruderstaat zu verwehren,
passt schlecht zusammen.
In den großen Linien stellen also die bulgarisch-jugoslawischen Beziehungen eine
Funktion des sowjetisch-jugoslawischen Verhältnisses dar, doch darf nicht übersehen
werden, dass gerade in dem hier zu betrachtenden Zeitraum die bulgarische Jugoslawien-Politik keineswegs immer im Gleichlauf mit der Sowjetdiplomatie vonstatten
ging, sondern gelegentlich durch eklatante Missachtung der Moskauer Direktiven
empfindliche Friktionen herbeiführte. Die Folgen waren zumeist sowjetische Disziplinarmaßnahmen in Form von Staatsbesuchen, wie noch zu sehen sein wird. Überschätzt werden sollte der Stellenwert des makedonischen Problems im Rahmen der
sowjetisch-bulgarischen Beziehungen indessen nicht. Hiervor warnt auch Robert R.
King, einer der besten Kenner der Materie, dem sich die bulgarische MakedonienPolitik als eine eher für innenpolitische denn außenpolitische Bühne bestimmte Inszenierung darstellt:
Although the Macedonian question appears to be a surrogate for Bulgarian nationalism and
possibly a safety valve for anti-Sovietism, the limited differences with the Soviet Union
that have arisen as a consequence are not major. Nevertheless they do suggest that potential
conflicts of interest on this issue between Sofia and Moscow are possible. For the most part,
however, Bulgaria has subordinated its foreign policy to Soviet priorities. 4
Allerdings, so R. King an anderer Stelle, ist bei einer eventuellen Schwächung des
sowjetischen Einflusses auf Bulgarien mit einer gesteigerten Brisanz des bulgarischjugoslawischen Makedonien-Konflikts zu rechnen:
There can be little doubt that without the dominating influence of the Soviet Union on
Bulgarian foreign policy, the question of Macedonia would play a more significant and independent role in Bulgarian-Yugoslav relations. There are some indications that Bulgaria
4
Robert R. King, „Bulgarian-Soviet relations. ‚Socialist Internationalism‘ in action“, in: Radio Free
Europe Research, Background Report/89 (Bulgaria), 26. 05. 1975.
Die Sowjetunion und die bulgarisch-jugoslawische Makedonien-Kontroverse
209
may assume some small measures of greater independence. If Soviet influence over Bulgarian foreign policy is reduced, Macedonia may well become a source of even more bitter
controversy. 5
Auf der anderen Seite bestehen etliche gute Gründe für die Annahme, dass man sowjetischerseits die Spannungen zwischen den beiden südslawischen Balkannachbarn
nicht ganz ungern sieht. Das Jahr 1948 sowie die ohne sowjetische Billigung unternommene bulgarisch-jugoslawische Föderationsinitiative, deren Ausweitung auf
ganz Osteuropa und sogar auf die Türkei und Griechenland geplant war, sind der sowjetischen Führung noch in allzu frischer und unguter Erinnerung. Noch einmal R.
King:
The classical Balkan situation is in a certain sense being repeated here. Small powers, unable to unite in the protection of their common interest because of highly emotional and
conflicting national issues, seek the protection or assistance of an external great power with
the result that local independence suffers and external influence grows. The Macedonian
question, made more volatile by the persistence of local nationalism, continues to divide
the Balkan states while Moscow smiles in the wings. 6
Nicht ganz konform mit dieser Ansicht geht allerdings Pedro Ramet, ein weiterer
US-Analytiker sowjetischer Makedonien-Politik. Er betont die mögliche Funktion
des Makedonien-Konfliktes als Vorwand für ein sowjetisches Eingreifen im Krisenfalle in Jugoslawien:
Yet willy-nilly the Macedonian question performs two functions for the Kremlin: (1) it
gives the Soviets a certain leverage over both parties, which might make a crucial difference in a full-blown crisis; and (2) it provides a pretext upon which the Kremlin might
intervene, again in the event of a crisis. In Soviet carrot-and-stick diplomacy, the Macedonian question figures more as a stick in Moscow’s Yugoslav policy than as a carrot in its
Bulgarian policy. 7
Eine Krise vorausgesetzt, mögen diese Hypothesen stimmen, doch ist es, wie gesagt, kaum vorstellbar, dass Bulgarien eine solche von sich aus vom Zaun brechen
würde, geschweige denn Jugoslawien. Im Rahmen einer übergeordneten schweren
sowjetisch-jugoslawischen Krise, wie sie etwa im Sommer und Herbst 1968 stattfand, kommt einer regionalen Makedonien-Krise mit Bulgarien lediglich marginale
Bedeutung zu.
Andere westliche Kommentatoren, wie etwa Zdenko Antić, sind sogar so weit gegangen, den bulgarisch-makedonischen Streit als „Reflexion der Rivalität zwischen
5
6
7
Stephen E. Palmer, Jr., Robert R. King, Yugoslav Communism and the Macedonian Question. Hamden, Conn., 1971, S. 193.
Robert R. King, „The Macedonian Question and Bulgaria’s relations with Yugoslavia“, in: Radio
Free Europe Research, Background Report/98 (Bulgaria), 06. 06. 1975, S. 21.
Pedro Ramet, „The Soviet Factor in the Macedonian Dispute“, in: Survey. A Journal of East & West
Studies 24 (1979), no. 3 (108), S. 128–134, hier S. 134.
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210
Sovieto-Rossica
China und der Sowjetunion“ zu bezeichnen. 8 Eine ähnliche Ansicht äußerte 1979 der
konservative griechische Ministerpräsident Konstantin Karamanlis:
A competition has been noted between China and the Soviet Union in the area in which
Greece has undertaken a series of initiatives for the creation of conditions of peace, cooperation, and stability. 9
Das extrem vorsichtige Vorgehen der chinesischen Diplomatie, das etwa anlässlich
des Besuches des chinesischen Ministerpräsidenten Hua Kuo-Feng in Skopje im August 1978 deutlich zutage trat, 10 spricht jedoch dagegen, dass die VR China nach
dem Verlust ihres albanischen Partners, des „Leuchtfeuers des Sozialismus in Europa“, auf der Suche nach anderen Möglichkeiten der politischen Einflussnahme auf
dem Balkan ist. Die guten chinesischen Beziehungen zu Jugoslawien und Rumänien
widersprechen dem nicht.
Während die jugoslawische Führung zu Lebzeiten Josip Broz Titos stets darauf
bedacht war, ihrerseits den „sowjetischen Faktor“ in der makedonischen Angelegenheit herunterzuspielen, gab sie diese Haltung erstmals in der Kosovo-Krise vom
Frühjahr 1981 auf. Stane Dolanc, Mitglied des Präsidiums des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens, und andere Politiker äußerten öffentlich die Vermutung, Albanien
und Bulgarien hätten unter sowjetischer Regie eine Verschwörung gegen Jugoslawien angezettelt, im Rahmen derer die Ereignisse im Kosovo lediglich der Auftakt
wären, dem ähnliche Entwicklungen in Makedonien und womöglich auch anderen
Gebieten des Landes folgen würden. Als man indes in Belgrad merkte, dass durch
derartige Sensationsmeldungen die herrschende, durch die politischen, aber vor allem auch durch versorgungstechnische und wirtschaftliche Probleme hervorgerufene
Panikstimmung im Lande nur noch verstärkt wurde, war nicht länger die Rede davon.
Aus den hier erfolgten Ausführungen, die belegen sollen, dass sowjetischerseits
die Makedonische Frage seit dem Ende der sechziger Jahre weder direkt noch indirekt zum Ausüben von Druck auf Jugoslawien benutzt worden ist, zu folgern, dass
die UdSSR sich generell aus den makedonischen Querelen heraushalte, wäre allerdings ein Trugschluss. Die sowjetische Diplomatie hat sich mehrfach und massiv in
die bulgarisch-jugoslawische Kontroverse um Makedonien eingemischt doch – wie
ein eingehenderer Blick auf die bilateralen Beziehungen der Balkanstaaten in den
vergangenen 15 Jahren zeigt – ausschließlich mit dem Ziel, mäßigend auf die Kontrahenten einzuwirken. Moskau setzte das Getriebe seiner Reisediplomatie entweder
zur Zügelng der Widersacher (vor allem Bulgariens) in akuten Krisensituationen in
Gang oder aber zur Vorbereitung von neuen Verhandlungsinitiativen zwischen Sofija
und Belgrad bzw. Skopje.
8
Zdenko Antic, „Karamanlis to visit Belgrade“, in: Radio Free Europe Research, Background Report/62 (Yugoslavia), 15. 03. 1979.
9 Ibid.
10 Slobodan Stankovic, „Chairman Hua Kuo-Feng in Macedonia“, in: Radio Free Europe Research,
Background Report/188 (Yugoslavia), 25. 08. 1978.
Die Sowjetunion und die bulgarisch-jugoslawische Makedonien-Kontroverse
211
Ganz besonders deutlich wurde dies z. B. im Krisenjahr 1968, als im Februar
der sowjetische Außenminister Andrej A. Gromyko in Sofija dem Wunsch Moskaus
nachhaltigen Ausdruck gab, neben der ČSSR möge kein weiterer Krisenherd in der
Region entstehen. In Sofija fügte man sich widerstrebend, doch nur bis zu dem Tage,
an dem die ČSSR-Krise „gelöst“ wurde: Am 21. August 1968, dem Tag der unter
bulgarischer militärischer Beteiligung erfolgten Invasion, gab die bulgarische Führung jegliche Zurückhaltung gegen die SRM und Jugoslawien wieder auf. Die von
Sofija inszenierte Kampagne, die das Einnehmen von militärischen Drohgebärden
gegen den westlichen Nachbarn mit einschloss, ging den sowjetischen Verbündeten
aber offensichtlich zu weit. Marschall Ivan I. Jakubovskij, der Oberkommandierende
der Warschauer-Pakt-Truppen, sorgte noch im September 1968 mit seinem Erscheinen in Sofija dafür, dass man dort den Ton gegenüber Jugoslawien ganz entschieden
mäßigte.
In der Folgezeit wurde der bulgarischen Führung klar gemacht, dass die UdSSR
auf einer Ausräumung des Problems Makedonien in den Beziehungen zu Jugoslawien bestehe. Offensichtlich im September 1969 war dieses Vorhaben dann so weit
gediehen, daß A. A. Gromyko in Belgrad seinen Gastgebern bulgarische Kompromissbereitschaft signalisieren konnte. Unmittelbar darauf wurde eine bulgarischjugoslawische Verhandlungsrunde eröffnet. Ähnliche Folgen hatte der Besuch des
jugoslawischen Ministerpräsidenten Mitja Ribičič Ende Juni 1970 in Moskau sowie
vor allem die Balkantournee des sowjetischen Parteichefs Leonid I. Brežnev vom
Ende September 1971, die ihn unter anderem nach Belgrad und anschließend nach
Sofija führte. Bei dieser Gelegenheit übte er allem Anschein nach derartig massive
Pressionen auf die bulgarische Führung aus, dass jene schon sechs Wochen später eine besonders weitreichende Konzession an die jugoslawische Seite machen musste,
nämlich die Anerkennung der makedonischen Schriftsprache. Jetzt setzte eine fast
sechs Jahre lang anhaltende Phase der Entspannung im bulgarisch-jugoslawischen
Verhältnis ein, die in direktem Zusammenhang mit der graduellen Entschärfung des
makedonischen Problems stand. Im Herbst 1973 machten L. I. Brežnev in Sofija
und der sowjetische Ministerpräsident Aleksej N. Kosygin in Belgrad noch einmal
deutlich, dass die Sowjetunion eine Fortsetzung des 1971 eingeschlagenen Kurses
wünsche.
Doch nicht nur aus außenpolitischen Erwägungen sah man in Moskau den Makedonien-Streit Bulgariens mit dem in internationaler Hinsicht nicht zu unterschätzenden Jugoslawien mit zwiespältigen Gefühlen. Wie bereits angedeutet, lagen der
Renaissance des Patriotismus in Bulgarien mit dem Schibboleth „Makedonien“ innenpolitische Motive zugrunde, genauer: die Befürchtung, die allzu starke Fixierung
auf die Sowjetunion könnte Unzufriedenheit in Form von politischem Dissens hervorrufen. Dem sollte durch die Hebung nationalen Sentiments vorgebaut werden.
Noch zu Lebzeiten von Ljudmila Živkova, Tochter des bulgarischen Parteichefs Todor Živkov und uneingeschränkte Koordinatorin der bulgarischen Kulturpolitik (darunter auch der gesamten Makedonien-Kampagne), war sowjetisches Unbehagen an
ihrer Person und Politik spürbar geworden. Besonders das 1981 mit Getöse inszenierte Jubiläum „1300 Jahre Bulgarien“ empfang man in Moskau als einen allzu forschen
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212
Sovieto-Rossica
Schritt. Wollte die bulgarische Führung damit etwa signalisieren, daß ein seit dem
Jahre 681 n. Chr., also noch vor der Kiever Rus’, der ersten russischen Staatsgründung, entstandener, eigenständiger bulgarischer Staat das Recht hätte, auch heute
noch auf eine besondere Form der Eigenständigkeit, zumindest in nationalen Belangen wie Makedonien, zu pochen? 11
Der durch den Tod L. I. Brežnevs bedingte Wechsel in der sowjetischen Gerontokratie vom Jahresende 1982 löste nicht nur in Jugoslawien, sondern gerade auch in
Bulgarien Sorge aus. T. Živkov, mit L. I. Brežnev besonders eng affiliiert gewesen,
und der von ihm geführte „zentristische“ Flügel in der bulgarischen Partei, vernahmen mit Unbehagen, dass der neue starke Mann in Moskau, Ex-KGB-Chef Jurij
A. Andropov, dem Balkan in seiner Außenpolitik größere Bedeutung beizumessen
gedachte, gar vorgehabt haben soll, Atomraketen in Bulgarien zu stationieren, und
dies ungeachtet des bulgarisch-griechischen Projekts einer atomwaffenfreien Zone
auf dem Balkan. Auch die befürchtete Instrumentalisierung Bulgariens im Sinne der
sowjetischen Nahost- und Dritte-Welt-Politik bedeutete ohne Zweifel das Ende der
ohnehin zaghaften Eigenständigkeitsbemühungen T. Živkovs auf balkanischem Tableau. Und von bulgarischen Sonderinteressen in Makedonien würde schon gar keine
Rede mehr sein. All diese Befürchtungen verdichteten sich in Sofija, als der neue
Mann inoffiziell ankündigte, als erstem Land werde er im Oktober 1983 Bulgarien
einen offiziellen Staatsbesuch abstatten. 12 Gesundheitliche Gründe haben ihn bislang daran gehindert. Die Furcht der bulgarischen Partei- und Staatsführung vor dem
„Revisor“ aus Moskau hält somit noch an, gibt ihr aber andererseits auch die Gelegenheit, allzu auffällige Unebenheiten noch rechtzeitig zu beseitigen. Begonnen hat
man damit schon: Aleksandŭr Lilov, die gesamten siebziger Jahre hindurch Chefideologe der Partei und somit auch Mitinitiator des antimakedonischen Feldzuges,
wurde im Oktober 1983 seiner Ämter enthoben.
Die bulgarische Führung hat zwar im ersten Jahr der Ära Andropov noch keine
ernstzunehmenden Anstalten zur Beendigung der Makedonien-Kampagne gemacht,
doch ist unübersehbar, dass man jene mehr im Hinblick auf das nationale Publikum,
nicht auf den westlichen Nachbarn, weiterlaufen lässt. Die Hoffnung auf sowjetische
Schützenhilfe hat man aufgegeben. Wenn der frühere jugoslawische Außenminister
Josip Vrhovec bezüglich der bulgarischen Außenpolitik auch meinte, „Bulgarien ist
nicht nur Bulgarien“, 13 so trifft dies für die bulgarische Makedonien-Politik schon
seit 1967 nicht mehr zu. Hier ist Bulgarien tatsächlich nur Bulgarien. Und nicht einmal dies zur Gänze, denn nicht nur innerhalb der eigenen Partei regt sich allmählich
der Unmut über die Folgen der ständig geschürten Makedonien-Kontroverse – nach
außen chronisch schlechte Beziehungen zu Jugoslawien, im Innern Zunahme von
11 Patrick Moore, „The Bulgarian Military, Macedonia, and the ‚Lyudmila Effect‘“, in: Radio Free Europe Research, Bulgarian Situation Report/5, 18. 04. 1983.
12 Viktor Meier, „Andropow im November nach Sofia“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,
24. 10. 1983.
13 Le Monde, 24. 11. 1981, hier zitiert nach Patrick Moore, „The Ilinden Uprising Commemorated“,
Radio Free Europe Research, Bulgarian Situation Report/9, 24. 08. 1983.
Die Sowjetunion und die bulgarisch-jugoslawische Makedonien-Kontroverse
213
„Phänomenen wie Nationalismus und Chauvinismus“ –, auch die sowjetische Politik
hat sich nicht auf Nichteinmischung beschränkt, sondern der bulgarischen Führung
ihrer Ausfälle gegen die SRM und Jugoslawien wegen mitunter empfindlich auf die
Finger geklopft: „Bulgaria, it is true,“ so der Bulgarien-Historiker Fred Chary, „has
Soviet patronage, but that is not always an advantage.“ 14
14 Frederick B. Chary, „Bulgaria: The Solace of History“, in: Current History 80 (1981), no. 465,
S. 164–167, hier S. 167.
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The “Transnistrian Moldovan Republic”,
1990 – 2002
From Conflict-Driven State-Building to
State-Driven Nation-Building
[2003]
I. Introduction
On 9 December 2001, the engineer Igor’ N. Smirnov was re-elected for a third
time as ‘President’ of the ‘Transnistrian Moldovan Republic’ (Pridnestrovskaja Moldavskaja Respublika, TMR). 1 Smirnov, an ethnic Russian from the Kamčatka Peninsula, i. e. from the opposite end of the former Soviet Union, received his education
in Čeljabinsk in the Southern Ural. For his career, he then moved to a plant for
electric motors near Cherson in South Ukraine, 2 and in November 1987, took up
the position of executive director of the industrial plant “Ėlektromaš” in Tiraspol’
(Tiraspol 3) – then the second largest city of the Moldovan Socialist Soviet Republic
(MSSR) and today the ‘capital’ of the TMR. Most of the members of the TMR leadership have ‘all-union’ biographies similar to Smirnov’s. They made their careers
in the CPSU, the KGB, the army, state bureaucracy or the planned economy in the
empire between the Pacific Ocean and the Black Sea, and were taken by surprise by
the implosion of the USSR while being positioned in Tiraspol’ or one of the other
industrial and russophone cities in the Dniester valley such as Bendery (Tighina)
or Rybnica (Rîbniţa). It is for this reason that observers from the outside perceive
the TMR, proclaimed in 1990 on the eastern fringe of the Republic of Moldova, as
1
2
3
Deutsche Presse-Agentur, “Smirnov als Präsident der Dnjestr-Republik bestätigt”, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11 December 2001, 1.
Igor’ N. Smirnov, Žit’ na našej zemle (Moskva, 2001) 9–11. See also T. G. Dejnenko et al., Igor’
Nikolaevič Smirnov. Bibliografičeskij ukazatel’ (Tiraspol’, 2001) 3–4, as well as the ‘official’ biography of Smirnov by Anna Z. Volkova, Lider (Tiraspol’, 2001). An electronic version of this book
can be found on the website of the official Transnistrian news agency “Ol’vija-Press” at http://www.
olvia.idknet.com, accessed: 05-10-2016.
In this article, the names of places under control of TMR authorities are given in their Russian form,
names of places under control of the Moldovan government in their Moldovan /Romanian form. At
the first mentioning, the equivalent of the other language is given in brackets.
The “Transnistrian Moldovan Republic”
215
a “museum of communism” 4, as “Stalin’s last colony” 5, or as a “Zombie Socialist
Soviet Republic”. 6
The main pillars the separatist Transnistrian republic rests upon are the political will of a regional elite aiming at the preservation of its power and privileges,
the economic potential of this highly industrialized region, the military force of the
secessionist movement acquired with the help of Moscow and the weakness of the
central government of Moldova. Within a very short time, from 1989 to 1992, the
conflict over the control of Transnistria resulted in the emergence and consolidation
of a new political entity, the TMR. And since then, TMR authorities engage in regionalist identity management in order to create a titular nation for the new statelike structure – the ‘Transnistrian people’. In the following what has been called the
Transnistrian exception to the Soviet rule is analyzed by looking at the (Soviet) prehistory and the immediate causes of the conflict as well as at the two decisive phases
of conflict-driven state-building in the Dniester valley up to 1992 and of state-driven
nation-building since then.
II. The TMR in Moldova
The TMR is an authoritarian “pseudo-state” turned “quasi-state” or “de facto state” 7
on the territory of the Republic of Moldova. 8 Its 4,163 square kilometres stretch out
more than 200 kilometres along the eastern banks of the river Dniester and are inhab-
4
5
6
7
8
Oliver Hoischen, “Transnistrien ist zu einer Grauzone zwischen Ost und West geworden”, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28 September 1999, 3; Matthias Rüb, “Das kleine Königreich des kleinen
Lenin”, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9 January 2001, 6.
Walter Mayr, “Stalins letzte Kolonie”, Der Spiegel, 2 October 2000, 223.
R. S. S. Mancurtă in the Moldovan /Romanian original – alluding to Čingiz T. Aitmatov’s Kazakh
legend of the Mankurts. See Nicolae Dabija, Moldova de peste Nistru – vechi pămînt strămoşesc
(Chişinău, 1990), 4.
Scott Pegg, International Security and the De Facto State (Aldershot, 1998); Pål Kolstø, Unrecognized States Vs. Quasi-States in International Relations, unpublished MS, January 2003; and
Vladimir Kolossov and John O’Loughlin, “Pseudo-States as Harbingers of a New Geopolitics: The
Example of the Transdniestr Moldovan Republik (TMR)”, in David Newman (ed.), Boundaries, Territories and Postmodernity (London, 1999), 151–176.
On the TMR see Klemens Büscher, “Separatismus in Transnistrien. Die ‘PMR’ zwischen Rußland
und Moldova”, 46 Osteuropa (1996), 860–875; Frank-Dieter Grimm, “Transnistrien – ein postsowjetische Relikt mit ungewissen Perspektiven”, 5(2) Europa Regional (1997) 23–34; Pål Kolstø and
Andrei Malgin, “The Transnistrian Republic: A Case of Politicized Regionalism”, 26 Nationalities Papers (1998), 103–127; Constantin Chiroşca, “Ideologia Transnistreană”, 10 Arena Politicii
1997, 21–22; Stefan Troebst, “Separatistischer Regionalismus als Besitzstandswahrungsstrategie
(post-)sowjetischer Eliten: Transnistrien 1989–2002”, in Philipp Ther and Holm Sundhaussen (eds.),
Regionale Bewegungen und Regionalismen in europäischen Zwischenräumen seit der Mitte des
19. Jahrhunderts (Marburg /L., 2003), 185–214; as well as the collection of documents V. F. Gryzlov
and M. N. Guboglo (eds.), Nepriznannaja respublika. Očerki. Dokumenty. Chronika 5 vols. (Moskva,
1997–1999).
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Sovieto-Rossica
ited by some 660,000 people 9 who make up about 15 per cent of the total population
of Moldova. Officially, Russian, Ukrainian and Moldovan are the state languages in
the TMR, yet in fact Russian dominates completely. In Soviet times, on the territory
of today’s TMR – 12 per cent of Moldova’s territory – 90 per cent of the energy,
40 per cent of the gross national product and a third of the total industrial output
were produced. The main producers were large-scale enterprises that belonged to the
military-industrial complex of the USSR and were for the most part attached to one
of the many union ministries in Moscow. As a result, they were privileged compared
to enterprises of the Moldovan SSR. In 1990, the TMR split away from what then still
was Soviet Moldavia. This move triggered an armed conflict in the Dniester valley
which led to this area becoming a frontier between the two parts of the country. The
conflict peaked in June 1992 when the Transnistrian side successfully defended the
city of Bendery, a bridge-head located on the right bank of the river vis-à-vis the TMR
capital Tiraspol’, against the Army of Moldova. Fighting in and around Bendery resulted in up to 1,000 casualties, several thousand injured combatants and civilians,
and more than 130,000 displaced people. 10 While the Fourteenth Soviet Guard Army,
stationed in the centre of Tiraspol’ as well as in the vicinity, had remained passive
though benevolent to the Transnistrian side during the initial phase of the fighting, it
soon forced both sides to sign an armistice. 11 Since then, the conflict in the Dniester
valley has been frozen but not yet regulated.
Until today, the mini-republic of Transnistria is not internationally recognized but
nevertheless exists. Moreover, in socio-economic terms, the TMR seems to be better
off than right-bank Moldova, “Europe’s poorest country” 12, with Chişinău (Kishinev)
as capital. In 2001, a Moldovan expert characterized the TMR economy as “not selfsufficient, but viable” and named barter trade with the Russian Federation, steeldumping on the US market, petty street trade and criminal economic activities of
the TMR leadership (cigarette smuggling, arms trade, money laundering, production
of fake designer clothes, etc.) as the main components of Transnistria’s GNP. 13 “The
9
10
11
12
13
Figure given by TMR ‘foreign minister’ Valerij A. Lickaj during a meeting in Tiraspol’ on 30 October 2001. The TMR census of 1 January 1998 put the number of inhabitants at 670,800, while in 1989
the figures came up to 770,000. Cf. “Dniester Moldavian Republic”, in Dniester Moldavian Republic,
Atlas of the Dniester Moldavian Republic (Tiraspol’, 2nd ed. 2000), 3, and Nikolaj V. Babilunga et
al., Fenomen Pridnestrov’ja (Tiraspol’, 2000), 122.
Of these, about 80,000 fled to neighboring as well as distant countries, mainly to Germany. See Valerij
Mošnjaga [Valeriu Moşneaga], “Vooružennyj konflikt v Respublike Moldova i problema peremeščennych lic”, Moldoscopie. Problemy političeskogo analiza. Sbornik statej, vol. VII (Chişinău, 1995),
82–126.
Vladimir Socor, “Russia’s Fourteenth Army and the Insurgency in Eastern Moldova”, 1(36) Radio
Free Europe /Radio Liberty Research Report (1992), 41–48.
Elfie Siegl, “Der mühselige Weg der kleinen Moldau-Republik aus der Krise”, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3 December 2001, 18.
Anatolij Gudym, Evolution of the Transnistrian Economy: Critical Appraisal (Chişinău, 2001), at
http://www.cisr-md.org/pdf/Transnistria_Report_En_Final.pdf, accessed: 09-10-2016. For an official portrayal of the TMR industry, see A. Palamar’ and N. Elagin, Izgotovleno v Pridnestrov’e.
Reklamno-informacionnyj spravočnik (Tiraspol’, 2000).
217
The “Transnistrian Moldovan Republic”
Table 1: Ethnic structure of the TMR (1998) and the MSSR (1989)
*
**
TMR (in per cent;
January 1998)*
MSSR (in per cent;
January 1989)**
Moldovans /Romanians
33.8
64.5
Russians
28.8
13.0
Ukrainians
28.7
13.8
Bulgarians
2.1
2.0
Jews
1.9
1.5
Gagauzes
0.7
3.5
other
4.0
1.7
Total
100
100
Nikolaj V. Babilunga et al., Fenomen Pridnestrov’ja (Tiraspol’, 2000), 1.
Charles King, The Moldovans (Stanford, 1999), 97.
Trans-Dniester Republic”, thus also the New York Times, “is unique [. . . ] in its ability
to turn a fast and often illegal buck.” 14
In the TMR, eastern Romance-speakers, i. e. Moldovans or – depending on one’s
ethnopolitical point of view – Romanians 15, make up one third of the population thus
constituting the relative majority of the population. They are followed by Ukrainians
and Russians, each representing about one quarter of the population (see Table 1). Yet
since Ukrainians and Russians, together with the smaller groups of Bulgarians, Jews,
Gagauzes, Belarusians, Poles and others, form in linguistic terms, as well as politically, a russophone bloc, here Moldovans /Romanians are a minority. In west-bank
Moldova, population numbers are the other way around: Here, Russians and other
russophones make up one third of the population, Moldovans /Romanians two thirds.
Again, the linguistic reality is somewhat different: Moldovan cities like Chişinău
or Bălţi (Bel’cy) are also predominantly russophone – surrounded by a Moldovan /
14 Michael Wines, “Trans-Dniester ‘Nation’ Resents Shady Reputation”, New York Times, 5 March
2002, 3 at http://www.nytimes.com/2002/03/05/world/trans-dniester-nation-resents-shady-reputation.html, accessed: 09-10-2016.
15 For the conflicting aspects of Moldovan nation-building, see Charles King, The Moldovans. Romania, Russia, and the Politics of Culture (Stanford, 1999); Id., “Moldovan Identity and the Politics of
Pan-Romanism”, 53(2) Slavic Review (1994), 345–368, and Claus Neukirch, Die Republik Moldau.
Nations- und Staatsbildung in Osteuropa (Münster, 1996). On language issues, see Klaus Heitmann,
“Sprache und Nation in der Republik Moldova”, in Wilfried Potthoff (ed.), Konfliktregion Südosteuropa. Vergangenheit und Perspektiven (München, 1997), 79–105; Klaus Bochmann, “‘Moldauisch’
oder ‘Rumänisch’. Linguistische, kulturelle und politische Aspekte der Amtssprache”, 36(3–4) Der
Donauraum (1996), 95–102, and Charles King, “Ambivalence of Authenticity, or How the Moldovan
Language was Made”, 58(1) Slavic Review (1999), 117–142.
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218
Sovieto-Rossica
Romanian-speaking countryside. 16 Officially, in Moldova only Moldovan /Romanian
has the status of a state language with Russian having been downgraded in 1989 to a
‘language of inter-ethnic communication’.
III. The Transnistrian exception to the late Soviet rule
According to the political scientist David D. Laitin, the eastern part of the Republic
of Moldova represents “the only exception to the absence of ethnic conflict directed
at Russians in the union republics”. 17 Across the USSR, this was the only case of a
militant movement of Russians or Russian-speakers in the so-called Near Abroad –
an exception that even resulted in the foundation of a state-like entity. This course
of events differed considerably from the one in other regions such as Estonia, Latvia
or the Ukraine. Yet another feature also is unique about Transnistria: Before 1989,
nothing pointed to the building up of interethnic tensions in the Dniester valley. Accordingly, during the Perestroika period, the region did not figure in any of the many
scenarios of late Soviet ethnopolitical conflict. Up until this point in time, even the
regional denomination ‘Transnistria’ existed, if at all, only as a geographical term,
not as an administrative, let alone a political one. 18
The main motive for the protagonists of the “Transnistrian revolution” 19 was (and
still is) the maintenance of privileged positions in administration, the economy and
other segments of society. The regional elites in the Dniester valley differ greatly in
their socio-professional, linguistic and demographic structure from those of the more
agrarian right-bank parts of the MSSR, the historical Bessarabia. Among the russophones, the Moldovan claim for alterity triggered a process of regional identification
with the non-historical region Transnistria – a “reactive nationalism”. 20 As in other
parts of the Near Abroad, it was not the ‘beached’ imperial minority of the Russian-
16 According to the last census in the USSR, in 1989 in Tiraspol’ 88 per cent of the 196,000 inhabitants were Russians or Ukrainians. 70 per cent of the 138,000 inhabitants of Bendery and 58 per
cent of the 700,000 inhabitants of Chişinău were non-Moldovans, i. e. mainly Eastern slavs. Even
the city of Bălţi with its purely Moldovan surroundings has an absolute Russian-Ukrainian majority of 64 per cent. See Valerij Mošnjaga et al., Konflikt v Moldove: Opyt ėtnopolitičeskogo analiza
(Kišinëv, 1992), 21.
17 David D. Laitin, Identity in Formation. The Russian-Speaking Populations in the Near Abroad
(Ithaca, NY; London, 1998), 330. See also Id., “Secessionist Rebellion in the Former Soviet Union”,
34 Comparative Political Studies (2001), 839–861 and Louk Hagendoorn et al, Intergroup Relations
in States of the Former Soviet Union. The Perception of Russians (Philadelphia, PA, 2001), 70–71.
18 Uwe Halbach, “Die Nationalitätenfrage: Kontinuität und Explosivität”, in Dietrich Geyer (ed.), Die
Umwertung der sowjetischen Geschichte (Göttingen, 1991), 211.
19 D. F. Kondratovič, “Pridnestrovskaja revoljucija, 1989–1992 gg.”, 3 Ežegodnyj istoričeskij al’manach Pridnestrov’ja (1999), 23–25.
20 William Crowther, “The Politics of Ethno-National Mobilization: Nationalism and Reform in Soviet Moldavia”, 50 Russian Review (1991), 183–203, at 189. See also Jeff Chinn and Steven D.
Roper, “Ethnic Mobilization and Reactive Nationalism: The Case of Moldova”, 23 Nationalities Papers (1995), 291–324.
The “Transnistrian Moldovan Republic”
219
speakers but the new majority, i. e. the titular nation, whose political moves increased
interethnic tension.
What are the reasons for the swift success of the policy of maintaining positions
and privileges even by force pursued by the elites of Transnistria? First, the fact
that the political elite here was (and still is) to a large extent congruent with the
economic elite must be noted. Second, and probably of equal importance, was the
external factor, i. e. the role of Moscow with its military presence, its political support for the separatist leadership and its psychological influence on the russophone
majority of the population. Third, the normative power of the actual existence of
the TMR since 1990, which initiated a relocation of social processes and a veritable
‘Transnistrization’, has to be taken into account. Taken together, these three driving forces allowed the authorities in Tiraspol’ to embark on the project of forging
the ethnically diverse, yet linguistically united inhabitants of the Dniester valley into
what they initially called “the multinational people of the TMR” and what currently
is termed the “Transnistrian people”. 21 The main components of these TMR ‘politics of history’ (Geschichtspolitik) are a Greater-Russian mental mapping based on
geopolitics, language, culture and religion, a new historical master-narrative reaching far back into the past, politics of remembrance focusing on the ‘heroic’ early
years of the new state and the Battle of Bendery of 1992, as well as a new personality
cult of ‘president’ Smirnov. Opinion polls and election results point to the fact that a
relative majority of the inhabitants of the TMR have adopted the view that they form
a new Transnistrian demos – with the potential to turn into an ethnos.
While the attempt at state-building by the Transnistrian leadership is an exception in all of the Near Abroad, the project of turning the local russophones into a new
East Slav and ‘Russic’ nation of ‘Transnistrians’ – next to the ‘Little Russians’ of the
Ukraine, the ‘White Russians’ of Belarus’, and the ‘Greater Russians’ of the Russian
Federation – is even more remarkable. In justifying their experiment in the TMR testtube, the nation-builders in Tiraspol’ go far back into history, even into mythology:
“Since times immemorial, the Transnistrian lands hold an extraordinarily important
position in the vast spaces of Eurasia” runs the first sentence of the official History
of the Transnistrian Moldovan Republic in Two Volumes, compiled with the help
of historians from Moscow and published in Tiraspol’ in 2000 and 2001. 22 The reference to Eurasia, which invokes the anti-Western current in Russian thought, 23 is
underlined by a stress on the ‘Skythian’ tradition of Transnistria. 24 “Looked upon
21 Stefan Troebst, “‘We Are Transnistrians!’ Post-Soviet Identity Management in the Dniester Valley”,
4(1) Ab Imperio (2003), 437–466.
22 V. Ja. Grosul et al., Istorija Pridnestrovskoj Moldavskoj Respubliki v dvuch tomach, vol. 1 (Tiraspol’,
2000), 5.
23 Mark Bassin, “Russia and Asia”, in Nicholas Rzhevsky (ed.), Cambridge Companion to Russian Culture (Cambridge, 1998), 57–84. See also Caroline Humphrey, “‘Eurasia’, Ideology and the Political
Imagination in Provincial Russia”, in Christopher M. Hann (ed.), Postsocialism. Ideals, Ideologies
and Practices in Eurasia (London; New York, NY, 2002), 258–276, and Marlène Laruelle, L’idéologie
eurasiste russe ou comment penser l’empire (Paris, Montreal, 1999).
24 Grosul et al., Istorija, 51–54.
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220
Sovieto-Rossica
with the eye of the high-flying eagle”, thus states a textbook published in 1997 in
Tiraspol’, “Transnistria – this thin strip of land along the grey-haired river Dniester –
resembles a Skythian arc.” 25 With reference to Aleksandr A. Blok’s famous poem
“The Skythians” (Skify), TMR identity management portrays Transnistria as a Slavic
bullwark at the crossroads of Europe and Asia. For example, a map on the TMR’s
geopolitical position in the official English-language Atlas of the Dniester Moldavian Republic represents the territory of the TMR as being much more compact than
the geodetic facts suggest, as well as being located in a geopolitically crucial central
position between East and West. In doing so, this alleged ‘centrality’ of the TMR
relates to two constellations: First, the TMR is portrayed as being located right in the
middle between the ‘brotherly states’ of Belarus’ and the Russian Federation on the
one side and the equally ‘brotherly’ – since Christian-Orthodox – Balkan countries
of Bulgaria, Macedonia and Serbia on the other. Second, it is depicted as being encircled by the hostile NATO members Poland, Hungary, Greece and Turkey. 26 Moldova,
which according to TMR propaganda is a hotbed of “Chişinău-style Nazism” and a
stomping ground of “Romanian cannibals”, 27 as well as the Ukraine – in Tiraspol’s
perception notoriously unreliable with regard to Christian-Orthodox and eastern Slav
solidarity 28 – are perceived as two blocs of the same anti-Russian vice. However, in
the perception of the TMR leadership Transnistria is of primary geostrategic importance for Moscow. In this context, the Kaliningrad parallel is frequently invoked by
TMR officials, and this not only in military terms but also in terms of international
status: The TMR – thus the message – should be turned into a second Kaliningrad
Oblast’, i. e. it should become a subject of the Russian Federation. The self-stylization of the TMR as “a tiny bit of the Great Russian state”, as described by Smirnov
25 N. V. Babilunga and B. G. Bomeško, Stranicy rodnoj istorii. Učebnoe posobie po istorii dlj 5 klassa
srednej školy (Tiraspol’, 1997), inside cover. For the context, see also Stefan Troebst, “Wie ein
skythischer Bogen. Transnistrien als slawisches Bollwerk zwischen dem Orient und Europa”, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7 October 2002, 8, and on mental mapping in Eastern Europe in general,
Id., “‘Intermarium’ und ‘Vermählung mit dem Meer’: Kognitive Karten und Geschichtspolitik in Ostmitteleuropa”, 28(3) Geschichte und Gesellschaft (2002), 435–469.
26 See the map “Geopolitical Position” in Dniester Moldavian Republic (ed.), Atlas . . . , 7.
27 For the term kišinevskij nacizm see Volkova, Lider, Introduction, and for the slander rumynskie ljudoedy a photograph dated June 1992 showing Transnistrian volunteers on a truck whose tailboard
carries the graffiti “Death to the Romanian cannibals!” (Smert’ rumynskim liudoedam!) in a brochure
by Valerij Kruglikov and N. Vorob’eva, Bendery. Leto-92. Vojina (Fotoal’bom) (Bendery, 1995), 40.
28 The TMR’s relationship with the neighboring Ukraine is ambivalent: On the one hand, in 1995
TMR diplomacy succeeded in securing Kiev’s participation as a co-mediator in the conflict between
Tiraspol’ and Chişinău – along with the Russian Federation and the OSCE – and in having Ukrainian
blue helmet troops deployed in order to safeguard, together with Russian, Moldovan and Transnistrian troops, the Security Zone established after the armed clash over Bendery in July 1992 along
the Dniester. On the other hand, Smirnov’s personal relationship to the eastern neighbor has been
seriously strained by the fact that in September 1991 he was kidnapped in Kiev by the Moldovan
secret service and brought to Chişinău – with the knowledge and obviously also the consent of the
Ukrainian authorities. After several weeks in jail he was released. See Volkova, Lider, chapter V.
The “Transnistrian Moldovan Republic”
221
in 1995 in a speech in the Moscow City Duma, 29 corresponds with another metaphor
of Transnistria being “Russia’s historical enclave on the doorsteps to the Balkans”. 30
This ‘fact’ is interpreted as a safety guarantee by Moscow for Tiraspol’ and is emphasized by the permanent stationing of the Fourtheenth Soviet Army in and around
Tiraspol’, a ‘beached’ military force of some 2,000 men which currently functions as
an Operative Group of the Armed Forces of the Russian Federation.
At least at first glance, the peculiar position of the Transnistrian movement is
striking: Its state-building separatism defines itself as being primarily regional and
explicitly non-ethnic, but allegedly multinational and multilingual. An official publication in 2000 entitled The Phenomenon of Transnistria, published in Tiraspol’,
states that the TMR was not “founded on national or even nationalist grounds, but
on humanistic, multiethnic principles of a civil society.” 31 The fact that it differs
greatly from other self-appointed post-Soviet statelets’ such as South Ossetia, Chechnya, Abkhazia, or Nagorno-Karabakh because of its “viability and self-sufficiency”
is given as further proof of the “uniqueness” of the TMR. 32 Following this argument, the economic potential of the “Moldovan Ruhr” allows for the autarchy of the
highly industrialized region along the Dniester. This economic prowess, in combination with its military strength, is seen to guarantee the continued existence of the
“phenomenon of Transnistria”. 33 Along this line of argumentation, the equally decisive ethnic factor is habitually been downplayed. In this aspect the political activities
of the russophones in the Dniester valley are comparable to those of the Russians
in eastern Ukraine: As the geographer David J. Meyer stated, “the Donbas Russians
need not mobilize ethnically when they can mobilize more easily, efficiently, and
effectively as a purely political and regional force that operates in cooperation with
Russified Ukrainians as well as with other regions.” 34
In examining the driving forces, the motivation and the effect of the separatist
regional movement of the russophone elites in the Dniester valley, the context of the
Soviet project of building a new Moldovan nation, the influence of perestroika, the
implosion of the USSR, the Moldovan-Transnistrian war in 1992, as well as post-war
developments, have to be taken into account. Up until 1992, conflict-driven fears of
Moldovan aggression were the most important mechanism for the regional movement
to be able to mobilize its target group. Since 1992, however, state-driven identity
29 I. Smirnov, “Pridnestrov’e – častička velikogo rossijskogo gosudarstva”, Dnestrovskaja pravda,
23 September 1995.
30 Babilunga et al., Fenomen Pridnestrov’ja, 245. See also Nicholas Dima, Moldova and the Transdnestr
Republic. Russia’s Geopolitics toward the Balkans (Boulder, CO; New York, NY, 2001).
31 Babilunga et al., Fenomen Pridnestrov’ja, 6. For a ‘forerunner’ of this book see Nikolaj V. Babilunga
and Boris G. Bomeško, Pridnestrovskij konflikt: Istoričeskie, demografičeskie i političeskie aspekty
(Tiraspol’, 1998), and for an ‘enlarged version’ Grosul et al., Istorija.
32 Babilunga et al., Fenomen Pridnestrov’ja, 6.
33 Ibid., 7. On the coining of the expression Moldavskij Rur see ibid., 108.
34 David J. Meyer, “Why Have Donbas Russians Not Ethnicly Mobilized Like Crimean Russians Have?
An Institutional /Demographic Approach”, in John S. Micgiel (ed.), State and Nation Building in East
Central Europe: Contemporary Perspectives (New York, NY, 1996), 317–330, at 328.
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222
Sovieto-Rossica
management by focusing ‘politics of history’ is the main reason for the strengthening of the loyalty of the population to the regime and for a broadening of the regime’s
legitimacy.
IV. Soviet prehistory to the conflict
Like all domestic and international conflicts, the conflict in Transnistria has its prologue, and, as in other violent conflicts which broke out not only due to a territorial
dispute, but also due to questions of identity, this prologue is multilayered and difficult to reconstruct. The conflict between Tiraspol’ and Chişinău shows special
features, however, which keep prehistory short: First, the parties involved did not
reach the current stage of conflict by going through a long process of escalation, but
because of sudden and significant changes of basic political conditions which occurred almost overnight. Secondly, the causes of the conflict in the Dniester valley
arose fairly recently and are only to a small extent endogenous. Mainly they are exogenous, stemming from the merger of Soviet foreign policy doctrine with Stalinist
nation-building policy. After Soviet foreign policy had turned to political realism in
1924, Moscow began to be interested in the historical region of Bessarabia. This region had since 1812 been Russian but in 1918 had to be handed over to Romania. Its
territory was largely identical to the Republic of Moldova of today. 35 Since a unification of eastern Romania with the Soviet Union was unrealistic on both diplomatic and
military terms, the Bolsheviks turned to an expansionist orientation and ethnically
based policy of indigenization. A Moldovan Autonomous Socialist Soviet Republic
(MASSR) was founded in 1924 on the territory of the Ukrainian SSR, based on a
Byzantine tradition to give one’s own province that was geographically the closest to
an enemy’s province one planned to conquer the name of this object of aggression. 36
The territory of MASSR was to a large extent the same as the territory of the TMR today, although it also included regions further east, including the administrative centre
Balta of the new autonomous republic. In 1929, the function of MASSR capital was
then transfered to Tiraspol’. According to Soviet statistics from 1939, the Ukrainians constituted the absolute majority (51 per cent) of the 599,000 inhabitants of the
MASSR. Moldovans /Romanians represented 29 per cent, Russians 10 per cent, Jews
6 per cent and others 4 per cent, these others being Germans, Swiss, Bulgarians,
Poles, Belarusians, Tatars, Armenians, and Czechs. 37 In the ‘capital’ Balta only sev-
35 King, The Moldovans, 51–57.
36 Wim van Meurs, “Carving a Moldovan Identity Out of History”, 26 Nationalities Papers (1998),
39–56; Charles King, “Ethnicity and Institutional Reform: The Dynamics of ‘Indigenization’ in the
Moldovan ASSR”, 26 Nationalities Papers (1998), 57–72; Id., “The Moldovan ASSR on the Eve of
the War: Cultural Policy in 1930s Transnistria”, in Kurt W. Treptow (ed.), Romania and World War II
(Iaşi, 1996), 9–36.
37 Oleg Galuščenko, Naselenie Moldavskoj ASSR (1924–1940 gg.) (Kišinev, 2001), 45.
The “Transnistrian Moldovan Republic”
223
eral dozen Moldovans were living and even in Tiraspol’ they amounted to a mere
1.4 per cent. 38
The purpose of the founding of MASSR was, as the name clearly shows, the
building of a new Moldovan nation. On the day Bessarabia and its Romanian majority were to become part of the USSR, the ‘Moldovan’ cadres, created in the MASSR,
were to carry out the deromanization of Bessarabia through a ‘Moldovization’. The
possibility to accomplish this ambitious plan came earlier than expected. On the basis of the Hitler-Stalin Pact in 1939, the USSR moved its western border to river
Pruth, and in the summer of 1940 Bessarabia became part of the Soviet Union. The
MASSR, the purpose of its existence being fulfilled, was eliminated and its institutions and leaders were transfered to the other side of the Dniester. When the new
MSSR was founded on 2 August 1940, only the five districts of the former MASSR
closest to the Dniester were integrated into the new state. The other eight, including
the former capital Balta, remained in the Ukrainian SSR, although they were now
no longer autonomous. To reduce the protests of the Ukrainian leadership in Kiev
about the separation from the river, Stalin decreed that the Ukraine should receive as
compensation the southern part of the now Soviet Bessarabia, the district of Izmail,
which reached up to the Danube and the Black Sea. The boundary between the westernmost part of Transnistria, which now belonged to the MSSR, and the Ukraine, as
well as the boundary between the two republics in the southern part of Bessarabia
was decided exclusively according to administrative criteria. Ethnic, lingual, historical or confessional, even economic criteria or questions of infrastructure did not play
any role in this decision. In other words, the MASSR, which due to its character of
a Soviet administrative unit was in a certain way a predecessor of a Transnistrian
‘statehood’, was in 1940 divided between the Ukrainian and the new Moldovan Soviet republics. The results of this division were confirmed in 1944, when the renewed
in 1941 Romanian rule over Bessarabia and Transnistria ended and the process of the
establishment of the MSSR, begun in 1940 and interrupted in 1941, continued.
Up to 1989, the ‘unnatural’ borderline in the East and the South of the MSSR
did not lead to any visible negative effects. This can be explained by the rigid control of Moscow, as well as by various pragmatic solutions which the governments
in Chişinău, Kiev and the administrations of the districts in the ‘border zone’ found
for several urgent problems, such as, for instance, the irrigation of arid Southern
Bessarabia, the so called Bugeac area. The striving for independence by Moldova
from the late 1980s on did not only provoke a countermovement in Transnistria, but
resulted in the Bugeac region, in a fast radicalizing ethno-regionalism of the Gaugauzes as well as in the political mobilization of the Bulgarians there. In contrast to
the situation in the Dniester valley, the central government of Moldova satisfied the
Gagauz claims for self-determination by granting territorial autonomy, whereas the
Bulgarian demands were to a large extent met with a de facto national district, the
38 Babilunga et al., Fenomen Pridnestrov’ja, 48.
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224
Sovieto-Rossica
judeţ Taraclia. 39 However, the Chişinău masterplan to use the Gagauz statute of autonomy as a blueprint for the regulation of the conflict with Tiraspol’ caused fierce
opposition from the Transnistrian side.
The constellation of factors shaping the conflict in Transnistria can be described
as a late result of Stalin’s dictatorial politics. It is a conflict, whose most problematic
features like borders, economic resources, and demographic structure were imposed
from ‘the top’ rather than developing from ‘the bottom’. At first glance this statement might show – besides some historical value – little practical usefulness. Yet,
knowledge of the arbitrary practices of the decisions concerning borders followed by
Stalin as Commissioner of Nationalities from 1924 on and then as dictator from 1929
to 1953 is essential for understanding the escalation of the conflict, the orientation
of the people involved as well as the possibilities for third parties to contribute to deescalation or even provide a ‘solution’.
V. Conflict-driven state-building, 1989–1992
Like in the Baltic republics, Gorbachev’s policies of glasnost’ and perestroika produced an autochthonous popular front movement also in the MSSR. Shortly thereafter, the republic’s titular nation, previously underrepresented in the party, the administration and the economy 40, on 31 August 1989 used its majority of seats in the
Supreme Soviet to proclaim Moldovan /Romanian the official language – now to be
written in Latin, no longer in Cyrillic script. The non-Moldovan speaking third of the
population, i. e. the Russian-speakers, perceived this act as a first step of Moldova toward joining neighboring Romania, as well as a way to marginalize all those whose
mother tongue was not the new state language as “migrants”, “newcomers”, even “occupants”. According to the new law, those with ranking positions in state, economy
or society had to prove their proficiency in Moldovan /Romanian and therefore had
to acquire the required mastery of the language quickly, or give up their position. The
Russians and the Russian-speaking population in Moldova, who held two thirds of all
leading positions in the industry of the republic in 1989, were not able to demonstrate
39 On the Gagauzes, a Turkic-speaking christian-orthodox group, see Paula Thompson, “The Gagauz
in Moldova and Their Road to Autonomy”, in Magda Opalski (ed.), Managing Diversity in Plural
Societies. Minorities, Migration and Nation-Building in Post-Communist Europe (Nepean, Ontario,
1998), 128–147; Jeff Chinn, Steven D. Roper, “Territorial Autonomy in Gagauzia”, 26(1) Nationalities Papers (1998), 87–101; Stefan Troebst, “Von ‘Gagauz Halkı’ zu ‘Gagauz Yeri’: Die Autonomiebewegung der Gagausen in Moldova 1988–1998”, 7(1) Ethnos – Nation (1999), 41–54;
on the Bulgarians of the Bugeac, Id., “Die bulgarische Minderheit Moldovas zwischen nationalstaatlichem Zentralismus, gagausischem Autonomismus und transnistrischem Separatismus (1991–
1995)”, 44(9–10) Südosteuropa (1995), 560–584.
40 Accordingly, only 32.8 per cent of all leading positions in the industry of the MSSR in 1989 were held
by members of the titular nation. See Vladimir Solonari and Vladimir Bruter, “Russians in Moldova”,
in Vladimir Shlapentokh et al. (eds.), The New Russian Diaspora. Russian Minorities in the Former
Soviet Republics (Armonk, NY; London, 1994), 72–90, at 77.
The “Transnistrian Moldovan Republic”
225
these language skills. Only 6 per cent of the 562,000 ethnic Russians in the MSSR
were able to speak Moldovan /Romanian. 41 The figures for Ukrainians, Gagauzes,
Bulgarians and others are likely to have been as low. The situation became more difficult when Moldova’s Supreme Soviet resolved to adopt the Romanian tricolor as the
national flag of the MSSR and to introduce the Romanian national anthem “Wake up,
Romanian, from your deadly slumber” as the Moldovan one. In the perception of the
non-titulars of the country as well as in the one of many Moldovans, the formal act
of unification of the MSSR with its western neighbor seemed very close. Therefore,
the slogan of the protesting russophones throughout the republic was “We don’t want
to be Romanians!” 42 The supporters of the Popular Front of Moldova answered with
the russophobic slogan “Suitcase – station – Russia!” 43 Interestingly these slogans
were chanted in the language of the addressees. 44
Protests and strikes in the urban-industrial centres of the Dniester valley, coordinated by the United Council of Work Collectives (Ob’edinennyj Sovet trudovych
kollektivov, OSTK), were particularly intensive and covered the entire area. 45 The
OSTK was under the control of the informal ‘Board of Executive Directors’ of the
large-scale regional enterprises, including among others Smirnov, the executive director of the “Ėlektromaš” plant in Tiraspol’. On the ticket of the OSTK, he was
elected as chairman of the City Soviet of Tiraspol’ and as member of the Supreme
Soviet of the MSSR. With this step, the engineer reached a key political position in
41 Tat’jana Mlečko, “‘Bereg levyj, bereg pravyj . . . ’ Russkie v Moldavii”, 5 Rossijskaja Federacija
(1997), 51–52, at 51.
42 Nu vrem să fim români! See Babilunga et al., Fenomen Pridnestrov’ja, 152.
43 Čemodan – vokzal – Rossija! See I. F. Selivanova, “Pridnestrovskij konflikt i problemy ego uregulirovanija”, Ėtnopolitičeskie konflikty v postkommunističeskom mire, vol. 2 (Moskva, 1996), 3–
25, at 4.
44 Cf. Babilunga et al., Fenomen Pridnestrov’ja, 152.
45 For basic information, see Airat R. Aklaev, “Dynamics of the Moldova-Trans-Dniester Ethnic Conflict (late 1980s to early 1990s)”, in Kumar Rupesinghe and Valery A. Tishkov (eds.), Ethnicity and
Power in the Contemporary World (Tokyo, 1996), 83–115 and Pål Kolstø et al., “The Dniester Conflict. Between Irredentism and Separatism”, 45 Europe-Asia Studies (1993), 973–1000. From the
Moldovan national point of view, see Conflictul din Transnistria: adevărul aşa cum a fost el. Materialele conferinţei ştiinţifico-practice “Interesele de stat şi rolul organelor de interne în asigurare ordinii
constituţionale şi libertăţilor omului în raionele de est ale Republicii Moldova” (Chişinău, 1996);
Anatol Ţaranu, “Pridnestrovskij konflikt v Respublike Moldova: protivostojanie identičnostej?”, in
Valeriu Moşneaga (ed.), Moldova între Est şi Vest. Identitatea naţională şi orientarea europeană
(Chişinău, 2001), 255–273; Gheorghe E. Cojocaru, Separatismul în slujba Imperiului (Chişinău,
2000). For the Moldovan russophone point of view, see Petr M. Šornikov, Pokušenie na status.
Etnopolitičeskie processy v Moldavii v gody krizisa 1988–1996 (Kišinev, 1997). The Transnistrian viewpoint is represented by Andrej Safonov, “Vzaimootnošenija Moldovy i Pridnestrov’ja:
Istorija problemy i perspektivy (osnovnye aspekty)”, in Valeriu Moşneaga (ed.), Statul naţional
şi societatea polietnică: Moldova în anii 90. Materiale I simpozion moldo-german (Chişinău, 13–
18 octombrie 1996) (Chişinău, 1997), 149–159, and Valerij A. Lickaj, “Status i garantii”, in Valeriu
Moşneaga (ed.), Ot etnopolitičeskogo konflikta k mežnacional’nomu soglasiju v Moldove. Materialy
naučno-praktičeskogo seminara (Flensburg, Germanija, i B’erremark, Danija, 12–17 sentjabrja 1997)
(Kišinëv, 1998), 18–25.
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226
Sovieto-Rossica
Transnistria. On 23 June 1990, the OSTK answered the declaration of sovereignty
of the MSSR by the summoning of the Second Extraordinary Congress of the People’s Representatives at All Levels of the Transnistrian Region, which 579 people
attended. On 2 September 1990, under Smirnov’s leadership this body declared a
new Soviet Republic with Tiraspol’ as the capital – the Transnistrian Moldovan Socialist Soviet Republic (Pridnestrovskaja Moldavskaja Socialističeskaja Sovetskaja
Respublika, TMSSR). 46 With this act, Transnistria seceded from the Moldovan SSR
but stayed within the Soviet Union. Only after the secession of the MSSR from the
USSR as the Republic of Moldova, executed by Chişinău with the Declaration of
Independence on 27 August 1991, and in the wake of the imminent disintegration of
the Soviet Union did Tiraspol’ strive for Transnistrian statehood.
On 1 December 1991, the election for the ‘presidency’ of the PMSSR and a referendum on independence were held. The official statistics report an 80 per cent
turnout. Allegedly 98 per cent of all votes were pro-independence. Smirnov, the
newly elected ‘president’, who was reported to have received 65 per cent of all votes,
proclaimed the ‘independence’ of Transnistria the same day, now already using the
name Transnistrian Moldovan Republic. This ‘independence’ was possibly to take
place, as stated in the text of the referendum, “within a renewed Soviet Union” 47 – a
formulation, that was already outdated on New Year’s Eve of 1991/92.
At the time of the referendum, the tension between the central government in
Chişinău and the separatists in Tiraspol’ had already turned violent. The Transnistrian leadership had since 1989 not only built its own administrative structures including a judiciary arm, a customs department, and a national bank, but also its own
security system with a militia, secret service, and the nucleus of an army. 48 Until
the end of 1990, the political fight for power between the Transnistrian movement
and the leaders of the MSSR over the urban-industrial centres in the Dniester valley
had been led very emotionally, but mostly without violence. The situation changed
when the conflict reached the rural regions on the left bank of the Dniester. The
Transnistrian villages close to the river were, unlike the towns, inhabited mostly by
Moldovans. Chişinău tried, with police force, to prevent the seizure of the communal
46 See “Postanovlenie Vtorogo Črezvyčajnogo s-ezda narodnych deputatov vsech urovnej Pridnestrovskogo regiona, 2 sentjabrja 1990 g.”, and “Deklaracija ob obrazovanii Pridnestrovskoj Moldavskoj
Sovetskoj Socialističeskoj Respubliki”, in Vasilij N. Jakovlev et al. (eds.), Bessarabskij vopros i obrazovanie Pridnestrovskoj Moldavskoj Respubliki. Sbornik oficial’nych dokumentov (Tiraspol’, 1993),
82–84 and 85–90. See also Aleksandr A. Karaman, “O samoprovozglašenii i priznanii Pridnestrovskoj Moldavskoj Respubliki”, 4 Ežegodnyj istoričeskij al’manach Pridnestrov’ja (2000), 4–12, and
Vasilij N. Jakovlev, Ternistyj put’ k spravedlivosti (Tiraspol’, 1993), as well as Id., Voleiz-javlenie
naroda vsesil’no i neotmenno (Tiraspol’, 1995).
47 Klemens Büscher, “Die ‘Staatlichkeit’ Transnistriens – ein Unfall der Geschichte?”, paper presented
at the international conference “Die ‘zweite nationale Wiedergeburt’. Nationalismus, nationale Bewegungen und Nationalstaatsbildungen in der spät- und postkommunistischen Gesellschaft” at the
University of Mannheim, Germany, 20–22 Februar 1998, 16.
48 See Z. G. Todoraško, Istorija gosudarstvennych učreždenij Pridnestrovskoj Moldavskoj Respubliki.
Vysšie organy vlasti i upravlenija 1990–1995 (Tiraspol’, 1999).
The “Transnistrian Moldovan Republic”
227
administration by emissaries from Tiraspol’ – a move which led to armed clashes
with TMR power structures as well as with cossack volunteers coming to the defense
of Transnistrian independence from all over the Soviet Union.
The conflict took on a new quality in the course of the political events in the
second half of 1991. The Moldovan Popular Front, at that time the ruling party in
Chişinău, expected the TMR to weaken in the course of the collapse of the USSR
and increased the military pressure on the eastern part of the country and especially
on Bendery, which was controlled by Tiraspol’. The president, the parliament, and
the central government of Moldova felt supported by the international community,
to which the country formally belonged since its admission to the Conference on
Security and Cooperation in Europe (CSCE) on 3 January 1992. In insisting on the
territorial integrity and the refusal of unilateral change of borders Chişinău saw itself
in line with the basic principles of the Helsinki process.
A first sign of this new self-esteem was a military action undertaken by special
forces of the Moldovan Department of the Interior against the Transnistrian forces
inside the building of the City Soviet of Bendery on 2 April 1992. This action ended
unsuccessfully and involved heavy losses. On 2 March, Transnistrian units had already driven the Moldovan police out of Dubossary, 49 a district capital on the left
bank. Now all urban centres along the Dniester, to which the TMR laid claim, were
under the control of Tiraspol’. The tense situation was made even more complicated
by various political and military personnel in Moscow who publicly favoured the
struggle for independence. Things were aggravated even further by contradictory
statements and moves made by Major-General Jurij Netkačev, the commander of
the Fourteenth Army. On the one hand, he declared himself and his troops neutral
in the Moldovan-Transnistrian conflict. Yet on the other quite a number of officers,
NCOs and troops of the Fourteenth army took part in military actions of the separatists against Chişinău – “on their own initiative”, as was officially announced, and
some officers even retired from service to head the creation of a regular Transnistrian
army.
By May 1992, the security structures of the central government had been forced
to retreat to a small number of bridgeheads in Transnistria. This defeat incited the
Moldovan president Mircea Snegur to a military action in order to strengthen his ailing reputation. In the afternoon of 19 June 1992, he ordered the Army of Moldova,
with the support of armed units of the Department of the Interior, including the regular police, the special police units and the Carabinieri, as well as volunteer formations
and units of self-defence of the villages to take the centre of Bendery, which was controlled by the Transnistrian administration. It is still not known what made Snegur to
believe that the Moldovan side was militarily superior to its Transnistrian counterpart, and that he could keep the Fourteenth Army out of the fighting or probably
even gain support from it. After an initial exchange of shots, the Moldovan units,
49 On the battle of Dubossary, see Nikolaj P. Rudenko, Dubossary – gorod zaščitnikov PMR (Dubossary,
1995) and Viktor V. Djukarev, Dubossary 1989–1992 gg. Za kulisami politiki (Tiraspol’, 2000).
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228
Sovieto-Rossica
which had at their disposal tanks as well as artillery, gained control over the major
part of the city centre of Bendery as well as the only bridge on the Dniester leading to Transnistria. 50 On the evening of 20 June, the Transnistrian forces launched a
counterattack and soon regained control over parts of the city centre. In doing so they
were supported by members of the Fourteenth Army as well as the militia, the secret
service, the volunteer battalion ‘Dnestr’, cossack units and snipers of the Union of
the Women Defenders of Transnistria. On 21 and 22 June, both sides confronted each
other along a frontline running right through the city centre and several suburbs. The
heavy fighting caused about half of Bendery’s 138,000 inhabitants to flee across the
Dniester or into bordering Moldovan villages. Already on 20 June, Moldovan units
had begun to attack the village Parkany (Parcani), and on 22 June this village was
bombed by Moldovan fighter planes. Due to the superior strenght of the Transnistrian forces, in the night of 22 to 23 June, the Moldovan army had to begin its retreat
from the city centre. The Army withdrew almost completely into the surroundings by
26 June, with only the suburb Leninskij Mikrorajon and the neighboring village of
Varniţa (Varnica) remaining under the control of Chişinău. Until 3 July, the Moldovan
artillery, situated on a strategic height to the west of the city, kept the Transnistrian
positions under fire.
At the height of the Battle of Bendery, Moscow appointed Lieutenant-General
Aleksandr I. Lebed’ as the new commander-in-chief of the Fourteenth Army. Lebed’
immediately separated the two sides and accomplished a provisional settlement of
the conflict in form of a trilateral Security Zone along the river Dniester. A blue
helmets force was set up and stationed in this zone, including soldiers from Russia,
the Ukraine, Moldova and Transnistria, while the command lay with the Army of
the Russian Federation. 51 Until today, the city of Bendery is a Zone of Increased
Security within the general Security Zone. The Russian military commander of
the city is in charge of two police formations – the Transnistrian militia and the
50 For detailed reports on the fighting, see Erika Daley, Human Rights in Moldova. The Turbulent Dniester (New York, NY; Washington, DC, 1993), 27–69, Neil V. Lamont, “Territorial Dimensions of
Ethnic Conflict. The Moldovan Case, 1991–March 1993”, 6(4) Journal of Slavic Military Studies
(1993), 576–612 and “Doklad pravozaščitnogo centra ‘Memorial’: Massovye i naibolee ser’eznye
narušenija prav čeloveka i položenie v zone vooružennogo konflikta v g. Bendery za ijun’-ijul’
1992 g.”, Nezavisimaja gazeta, 22 September 1992, 4–5. The Romanian point of view is represented
by Victor Bârsan, Masacrul inocenţilor. Războiul din Moldova, 1 martie–29 iulie 1992 (Bucureşti,
1993); the Moldovan one in Conflictul din Transnistria . . . ; the Russian one by Edward Ozhiganov,
“The Republic of Moldova: Transdniester and the 14th Army”, in Alexei Arbatov et al. (eds.), Managing Conflict in the Former Soviet Union: Russian and American Perspectives, (Cambridge, London,
1997), 145–209; the Transnistrian one by Grigorij V. Volovoj, Krovavoe leto v Benderach. Chronika
pridnestrovskoj tragedii (Bendery, 1993); Nikolaj V. Babilunga and Boris G. Bomeško, Bendery:
rasstreljannye nepokorennye (Tiraspol’, 1993); and Id., Kniga pamjati zaščitnikov Pridnestrov’ja
(Tiraspol’, 1995).
51 Jeff Chinn, “The Case of Transdniester (Moldova)”, in Lena Jonson and Clive Archer (eds.), Peacekeeping and the Role of Russia in Eurasia (Boulder, CO; Oxford 1996), 103–120, and Gerald B. H.
Solomon, Peacekeeping in the Transdniester Region. The Test Case for the CSCE. Report of the
Political Committee of the North Atlantic Assembly (Brussels, 1994).
The “Transnistrian Moldovan Republic”
229
Moldovan police. But it is obvious that the Russian high command tolerates serious offences against the demilitarization of the Security Zone by the Transnistrian
side, such as the stationing of troops and war material in the historical forts of Bendery.
Since the summer of 1992, the conflict between Chişinău and Tiraspol’ has come
to a stalemate with a permanent solution yet to be found – despite serious negotiations
on the part of the CSCE/OSCE and numerous other international non-governmental
organizations as well as by the Russian Federation and the Ukraine. 52 A process of
bilateral talks between the two parts of the country, which began slowly in 1994 but
was seen by the Transnistrian side primarily as a diversion, came to a standstill in
2001 because of a zig-zag course on the part of the new communist government of
Moldova. No serious political intention to reach a lasting compromise has been visible on either side of the Dniester – and probably neither in Moscow or in Kiev. The
result is a decade of stagnation.
VI. Trying to explain the causes of the conflict
Current research on the motives and driving forces behind the Transnistrian conflict and its development has improved since the outbreak of open violence a decade
ago. Initial analyses of the conflict tended to interpret it as being ethnic, that is, as a
conflict between ‘(Eastern) Slavs’ or ‘Russians’ on the one hand and ‘(eastern) Romance-speakers’ or ‘Moldovans’ (or ‘Romanians’) on the other hand. At the time,
some experts on the region criticized this characterization by stressing the ideological aspects of the conflict and the participants of the conflict into ‘Soviet nostalgics’
and ‘democrats’. In 1998, however, not less than ten studies were published, offering
a much wider range of explanations:
(1) The Norwegian political scientist Pål Kolstø and his Ukrainian colleague Andrej Mal’gin interpreted the Transnistrian movement and the TMR as “a case
of politicized regionalism”: Following this argument, the conflict had ethnic
and ideological components, but neither ethnicity nor ideology were the driving force. They identified the different regional identities on both sides of the
Dniester as the real cause – identities which had developed due to divergent
historical experiences. 53
(2) This revisionist viewpoint caused a direct response by two political scientists
from the United States, Stuart J. Kaufman and Stephen R. Bowers, who continued to see the conflict as an ethnic one in the classical sense. According to
them, this ethnic character was difficult to decipher as the intervention of the
52 Concerning the negotiation process and the mediating role of the CSCE/OSCE see Gottfried Hanne,
“The Role and Activities of the OSCE Mission to Moldova in the Process of Transdniestrian Conflict
Resolution”, 2 European Yearbook of Minority Issues (2002/3), 31–51.
53 Kolstø, Malgin, “The Transnistrian Republic”, 103–104.
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Sovieto-Rossica
Russian Federation in support of the TMR and to forestall a unification of the
Moldova with Romania gave the conflict a touch of great power politics. 54
The German political scientist Gottfried Hanne also took a position opposed
to that of Kolstø and Mal’gin arguing that the conflict was “not so much regional as rather of an ideological, power political, economic and in parts ethnic
character.” 55 The focus on territory, i. e. the building of the OSTK on the eastern bank and in Bendery was, according to Hanne, a result rather than a cause
of the conflict.
Andrew Williams, a British political scientist, gave a verdict on the causes of the
conflict that seemed surprising for a non-historian: “The conflict in Moldova
has its origins in rival interpretations of history by the various parties concerned.” 56
In a study about how the CSCE/OSCE dealt with this conflict, I myself have
classified the positions of the conflicting parties as “group interests of late Soviet elites vs. Moldovan nationalism”, and depicted the ethnicizing aspects of
the conflict as a rational strategy, which aimed at the mobilization of political
support. 57
The Russian-American team of geographers John O’Loughlin, Vladimir
Kolossov, and Andrej Čepalyga, diagnosed “a new regional identity” 58 of
the inhabitants of the TMR, which had triggered the conflict: “In the TMR
the visible signs of a new national construction are evident and in less then a
decade, a new identity has taken shape.” 59
The Moldovan political scientists Valeriu Moşneaga and Alexei Tulbure declared the different economic developments of the two parts of the country,
together with their sociodemographic consequences and mental effects as both
reasons for, and characteristics of, the conflict: “The social basis of the popu-
54 Stuart J. Kaufman and Stephen R. Bowers, “Transnational Dimensions of the Transnistrian Conflict”,
26 Nationalities Papers (1998), 129–146. See also Stuart J. Kaufman, “Spiraling to Ethnic War. Elites,
Masses, and Moscow in Moldova’s Civil War”, 21 International Security (1996), 108–138.
55 Gottfried Hanne, Der Transnistrien-Konflikt: Ursachen, Entwicklungsbedingungen und Perspektiven
einer Regulierung (Köln, 1998), 3.
56 Andrew Williams, “The Conflict in Transnistria: Its Dynamics and Possible Solutions”, MS, Brussels, Ebenhausen 1998 (= Stiftung Wissenschaft und Politik – Conflict Prevention Network Briefing
Paper, 9 November 1998), 5. See the same in Leilah Bruton (ed.), The Republic of Moldova: Time
for a New EU Strategy (Brussels, Ebenhausen, 1999), 45–56 (= Stiftung Wissenschaft und Politik –
Conflict Prevention Network Selected Contributions Nr. 5).
57 Stefan Troebst, “Der Transnistrienkonflikt und seine Bearbeitung durch die OSZE”, in Günter Baechler and Arno Truger (eds.), Friedensbericht 1998: Afrikanische Perspektiven: Theorie und Praxis
ziviler Konfliktbearbeitung (Chur, Zürich, 1998), 347–379, at 358.
58 John O’Loughlin et al., “National Construction, Territorial Separatism, and Post-Soviet Geopolitics in the Transdniester Moldovan Republic”, 39 Post-Soviet Geography and Economics (1998),
332–358, at 332, and at http://www.colorado.edu/IBS/PEC/johno/pub/PsgeTMR.doc, accessed:
05-10-2016.
59 Ibid., 352.
The “Transnistrian Moldovan Republic”
231
lation [of Transnistria] became (and still is) the workers and managers of
numerous large union-level industrial enterprises. These groups were dependent on Moscow rather than Kishinev in psychological and economic terms. For
them, the very idea of the disintegration of the USSR was perceived to be an
error of history, and the existence of an independent Moldova an absurdity.” 60
(8) Another Moldovan political scientist, Mihai Gribincea, saw the stationing of
the Soviet Fourteenth Army in Transnistria as a de-stabilizing factor in the Dniester valley and thus as the core factor for the conflict. In addition to the military
weight of the Moscow-commanded troops he stressed the psychological effect
of reassurance they had on the Transnistrian separatist movement. 61
(9) On behalf of the offical Transnistrian side, the two Tiraspol’ historian Nikolaj
V. Babilunga and Boris G. Bomeško published a treatise characterizing the violent events of 1990 to 1992 as the “resurrection of the [Transnistrian] republic”,
putting it thus in a historical line with “the first republic on the Dniester”, i. e.
interwar-MASSR. The founding act of 1990 is presented as one of several “major steps in the heroic struggle of the people of the TMR for the building of a
free, democratic and civilized state.” 62 In this perspective, the “self-proclamation of the statehood of the TMR as the realization of the identity of the people”
was answered by “the aggression of Moldova against the TMR” – hence the
conflict. 63
(10) Finally, Klemens Büscher, another German political scientist, in a study
provocatively entitled “The ‘statehood’ of Transnistria – an accident of history?”, portrayed the Transnistrian movement as “a complex combination of
various cross-cutting and interactive driving forces”. 64 Among them he named
“nationalism of the ethnic groups residing in Transnistria, Soviet patriotism,
beginnings of a regionalist movement, ideology-driven actors, economic and
political motivations of old and new elites.” 65 According to Büscher’s analysis
of the carriers of the movement,
“[i]n Transnistria, in the surroundings of the strategically important heavy industry and arms industry mighty clan-like structures of the top echelon of the
party, town Soviets, state administration and enterprises – all being tangled up
with each other – emerged.” 66 Due to frequent rotation in their functions as well
60 Valeriu Moşneaga and Alexei Tulbure, “Some Aspects of the Trans-Dniestrian Problem”, in HansGeorg Ehrhart and Oliver Thränert (eds.), European Conflicts and International Institutions: Cooperating with Ukraine (Baden-Baden, 1998), 135–144, at 136.
61 Mihai Gribincea, Trupele ruse în Republica Moldova: Factor stabilizator sau sursă de pericol?
(Chişinău, 1998).
62 Babilunga, Bomeško, Pridnestrovskij konflikt, 3.
63 Ibid., 28 and 39.
64 Büscher, “Die ‘Staatlichkeit’ Transnistriens”, 2.
65 Ibid.
66 Ibid., 17.
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Sovieto-Rossica
as a high number of interethnic marriages, this new regional elite was in itself
unusually self-contained, and due to its close ties and intense communication
with the central authorities in Moscow, it considered itself decidedly ‘Soviet’
and definitely not ‘Moldovan-republican’.
Some of these hypotheses and theories have in common an emphasis on social,
political and economic structures and argue that in-group actors such as Smirnov
polarized, instrumentalized, radicalized and finally mobilized the urban population
in the Dniester valley. Others stress ethnic, regional and other identity markers. However, all agree that (a) already before 1989 there were significant differences between
the right and left bank parts of the MSSR and (b) that the visible cracks in the Soviet
empire at the time were of decisive importance.
Since 1998, research on the causes, conduct and cures of the Transnistrian conflict has further intensified 67, even resulted in book-length studies. 68 A carefully
balanced state-of-the-art report is Pål Kolstø’s conclusion to a collection of essays
edited by himself on national integration and violent conflict in post-1991 Estonia
and Moldova. Based on his own findings, on contributions to the volume by Alla
Skvortsova, Igor Munteanu and Claus Neukirch 69 as well as on reader’s reports on
the book by David D. Laitin, Charles King and Klemens Büscher, in explaining
the outbreak of communal violence in Moldova Kolstø arrives at three consolidated
findings: First, “divisions among the ethnic Moldovan elites – some were pro-Romanians, some pro-Moldova, and some pro-Soviet – made them vulnerable to an
anti-titular rebellion”; secondly, “the low respect that the Russians [of Moldova] had
for Moldovans gave Russian radicals the strategic advantage over Russian moderates
in that country”; and thirdly, “the presence of the Fourteenth Army in the Russian
zone in Moldova gave Russian radicals there the resource necessary to challenge the
Moldovan state.” 70 What is still missing, however, is a detailed and multi-layered
67 See, for example, Andrew Williams, “Conflict Resolution After the Cold War: The Case of Moldova”,
25 Review of International Studies (1999), 71–87; Stuart J. Kaufman, Modern Hatreds. The Symbolic Politics of Ethnic War (Ithaca, NY; London, 2001), 129–163 and 241–247; Anatol Caranu, “K
voprosu o genezise pridnestrovskogo konflikta v Respublike Moldova”, in Valeriu Moşneaga (ed.),
Mežėtničeskie otnošenija v postkommunističeskich gosudarstvach (Chişinău, 2002), 102–129; Gheorghe Balan, “Cauzele conflictului transnistrean”, in Valeriu Moşneaga (ed.), Minorităţile naţionale şi
relaţiile interetnice – tradiţia europeană şi experienţa noilor democraţii pentru Moldova (Iaşi, 2002),
vol. 1, 15–28.
68 Claus Neukirch, Konfliktmanagement und Konfliktprävention im Rahmen von OSZE-Langzeitmissionen. Eine Analyse der Missionen in Moldau und Estland (Baden-Baden, 2003), and Klemens
Büscher, Transnationale Beziehungen der Russen in Moldova und der Ukraine. Ethnische Diaspora
zwischen Residenz- und Referenzstaat (Frankfurt /M., forthcoming).
69 Alla Skvortsova, “The Cultural and Social Makeup of Moldova: A Bipolar or Dispersed Society?”,
in Pål Kolstø (ed.), National Integration and Violent Conflict in Post-Soviet Societies. The Cases
of Estonia and Moldova (Lanham etc., 2002), 159–196; Igor Munteanu, “Social Multipolarity and
Political Violence”, ibid., 197–231; and Claus Neukirch, “Russia and the OSCE: The Influence of
Interested Third and Disinterested Fourth Parties on the Conflicts in Estonia and Moldova”, ibid.,
233–248.
70 Pål Kolstø, “Conclusion”, ibid., 271.
The “Transnistrian Moldovan Republic”
233
study of the policies in the Transnistrian issue of the various political actors in the
Russian Federation, i. e. the State Duma, president, ministries of foreign affairs, defense, and the interior, command of the armed forces, various political parties, city of
Moscow, patriotic associations, cossack leadership, media etc. Then the complicated
mosaic of conflict in Transnistria can finally be completed.
VII. Can the Soviet past be turned
into a Transnistrian future?
What most authors underlined, namely the striking differences between the Bessarabian and Transnistrian parts of post-Soviet Moldova, coincides with the results of
an almost forgotten book on Soviet political elites. In 1977, the British sociologist
Ronald J. Hill published a case study on Tiraspol’ which contains in a nutshell the
explanation for the conflict. His detailed study on the various elite groups during the
years of forced industrialization from 1950 to 1967 in what was then a provincial
Moldovan town describes “a common system of recruitment to these positions” –
that is, positions in the City Soviet, the Municipal Committee of the CPSU, and in
CPSU district committees – “with members apparently moving in a more or less random basis between positions in the party, the state apparatus, industry and perhaps
other branches of administration”. 71 This process of rotation lead Hill to conclude
that “the chances of their establishing strong informal ties seem to be high, and this
would add further to their dominant position. They are linked, moreover, by a common interest in maintaining the success – economic and otherwise – of the town.” 72
Yet in Hill’s view the then district capital Tiraspol’ did not represent a closed system:
“There is . . . a high level of recruitment from outside the town to leading positions
in all categories of administration.” 73
The case of TMR ‘president’ Smirnov, who came from Sibiria via the Urals and
the Ukraine, has therefore been anything but an exception. And as Büscher’s study
shows, several hundred thousands of skilled workers, engineers, administration experts, party officials, officers, NCOs, as well as retired military personnel have, since
the late 1940s, moved from all over the Soviet Union to the Dniester valley. Two
thirds of the Russian speaking population in today’s TMR are immigrants or their
descendents. 74 The mostly Moldovan locals, who in 1989 still represented 40 per
cent of the population, were already then underrepresented in leading positions in industry, administration, the party and the army. Today their share of the population is
a mere 33 per cent. Nevertheless, 15 per cent of all marriages cross the ethnic borders
71
72
73
74
Ronald J. Hill, Soviet Political Elites. The Case of Tiraspol (London, 1977), 173.
Ibid.
Ibid., 174.
Solonari, Bruter, “Russians in Moldova”, 76.
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234
Sovieto-Rossica
between Moldovans and non-Moldovans – a rate that exceeded the Soviet, and to an
even greater extent, the Moldovan average.
During the seven decades of Soviet reign, and primarily since the end of the Second World War, an economic structure based on industry was established in the cities
of the Dniester valley. The results were visible in the social, demographic, linguistic
and ethnocultural structure of the population, which differed from the agrarian Southwest of the Ukraine as well as from the equally rural Bessarabia, which became part
of the USSR only in 1940 and 1944 respectively. On the territory of today’s Transnistria, an urban, russophone elite in economics, administration, the military, culture and
the party emerged, which, because of a strong rotation of functions, similar interests
and a high rate of interethnic marriages, was extremely closed in itself and, due to the
numerous and strong contacts to the Soviet capital, imagined itself closer to power in
Moscow – an ‘imperial’ population, one could say. Since the employees of the larger
state-owned enterprises were bound by conditions of patronage and allegiance, this
elite also won quantitative power as expressed in the number of votes.
The bonmot of a “conspiracy of the executive directors” 75 coined by the
Moldovan side in relation to the Transnistrian movement appropriately describes the
situation. The unusual cohesion of the regional elites was the precondition for a successful policy of securing positions and privileges as well as for its uncompromising
enforcement – if necessary by force. The Battle of Bendery of 1992 was proof of
this attitude, as was the liquidation of democratic dissidents from the ranks of the
Transnistrian movement which was followed and the expulsion of groups classified
as unwanted or untrustworthy, such as Jews, journalists or supporters of the central
government. Accordingly, the political system of the TMR shows clearly authoritarian and even dictatorial traits. 76
Together with the push factor of intimidation, the regional elite also used several
pull factors to both legitimize their power and increase the loyalty of the population. 77 This goes in particular for maintaining Soviet maxims in the economic sphere,
and also for retaining state-owned enterprises and social security systems 78 – a policy in favour of blue collar and white collar workers as well as retired people, the
latter representing one third of the TMR population. A deep crisis of the economy,
the currency and the finances of the TMR between 1994 and 1998, however, un-
75 D. F. Kondratovič, “Predystorija Pridnestrovskoj Moldavskoj Respubliki”, 1 Ežegodnyj istoričeskij
al’manach Pridnestrov’ja (1997), 57–59, at 57.
76 Dan Ionescu, “Media in the ‘Dniester Moldovan Republic’: A Communist Memento”, 1(19) Transition (1995), 16–20.
77 Troebst, “‘We Are Transnistrians!’”, as well as Alla I. Skvorţova, “Transnistrian People – an Identity of Its Own?”, 1(1) Moldovan Academic Review (2002) (Special Topic Issue “Dniestria: From
Past to Future”), and Vladimir Solonari, “Creating ‘a People’: a Case Study in (Post-) Soviet History Writing”, presentation at the workshop “Post-Communist Politics and Economy”, Davis Center
for Russian and European Studies, Harvard University, 8 May 2002, at https://muse.jhu.edu/article/
43115, accessed: 09-10-2016).
78 Grimm, “Transnistrien”.
The “Transnistrian Moldovan Republic”
235
dermined the success of these policies. 79 As a result, less capital intensive policies
became important, e. g. the ‘politics of history’ aiming at building a “Transnistrian people”. Since the mid-1990s, TMR identity management has proclaimed five
core elements – “self-sufficiency” (samobytnost’), “statehood” (gosudarstvennost’),
“multiethnicity” (poliėtničnost’), “eastern (orthodox) Slavic-Russian orientation”
(vostočnyj [pravoslavnyj] slavjansko-rossijskij vektor) and “Moldovanism) (moldovenizm)” 80 – the latter understood not in the ethnic, i. e. east Romance, sense of
the word but in a historical and regional sense, taking the early modern Moldovan
principality which was allied with Muscovy as well as Soviet Moldavia as points
of reference. Whereas up to the mid-1990s ‘Moldovanism’ and ‘Slavic-Russian orientation’ were perceived as a contradiction even by Transnistrians, the significant
reduction in TMR rhetorics of ‘Russia-ness’ (rossijskost’) – not, however, of ‘Russian-ness’ (russkost’) – has eased this opposition. 81 Here, the Russocentric core of
Transnistrian self-perception becomes obvious, and this notwithstanding the permanent stress on multiethnicity and trilingualism. In line with a ‘new Russian national
idea’ proclaimed semi-officially in Moscow in 1997, the “communitarian whole of
all Russians” 82 is the Transnistrian framework of reference. Accordingly, the five
Transnistrian key terms are perfectly compatible with the Muscovite “six principles
of Russianness”, i. e. “patriotism”, “communitarianism”, “emotionality”, “morality”,
“realism”, and “sociability”. 83
What entitles TMR ‘politics of history’ to be treated as a success? On the one
hand, of course, the mere fact that more then a decade after its self-proclamation
this de facto state is still there. On the other hand, however, there are some data on
how the inhabitants of the TMR themselves see things. This applies, for example, to
an opinion poll on ethnonational processes, language relations, and regional identity
carried out in spring 1998 on behalf of the Carnegie Endowment by sociologists from
Moldova, the TMR, the Russian Federation and the United States. The main result
of this poll, which included 350 inhabitants of the TMR whose ethnic composition
reflected the overall ethnic structure of the region, was that “processes of the forma-
79 Dan Ionescu, “Life in the Dniester ‘Black Hole’”, 2(20) Transition (1996), 12–14; Julie Mostov,
“Trading Priorities: Transdniestria and the Moldovan Economy”, 9 Analysis of Current Events (1997)
7, 3 and 11; “Sharp Drop in Value of Transdniester Ruble”, 2(54) Radio Free Europe /Radio Liberty
Newsline (1998).
80 The Russian terms are samobytnost’, gosudarstvennost’, poliėtničnost’, vostočnyj (pravoslavnyj)
slavjansko-rossijskij vektor and moldovenizm.
81 For example, TMR Minister of Defence col. Štefan F. Kicak during the 1 May celebrations of 2002 in
Tiraspol’ harshly criticized “the complaisance of Russia with regard to the advance of NATO to the
East”. Russia, he warned, runs the risk that it will “degenerate into a mere Principality of Muscovy”.
See Tat’jana Georgiu, “Pridnestrovcy vystupajut za samostojatel’nost’ svoego gosudarstva”, Ol’vijaPress. Informacionnoe agentstvo, 1 May 2002, at http://www.olvia.idknet.com/ol03 – 05-02.htm,
accessed: 05-10-2016.
82 Gurij V. Sudakov, “Šest’ principov russkosti, ili Kogda v Rossii pojavitsja praznik Datskogo korolevstva?”, Rossijskaia gazeta, 17 September 1999, 4.
83 Ibid.
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236
Sovieto-Rossica
tion of a territorial socio-cultural identity of the Transnistrians” 84 could be proven:
83 per cent of the participants in the poll opted for the preservation of TMR statehood and 44 per cent stated that “a unique unified community . . . of the Transnistrian
people” existed. 85 More recent data is provided by another poll of April 2000 on
Moldovan and Transnistrian identity undertaken by the Moscow-based political scientist Vladimir Kolossov. 86 This time, 498 inhabitants of the TMR as well as 513 of
right-bank Moldova were interviewed. Whereas on both sides of the river the degree
of political and territorial identification with the respective regions (and thus states)
was almost the same, significant differences existed with regard to the perception of
one’s own standard of living and the standard of living of the other side: Transnistrians considered their own socio-economic situation in general as poor, yet still much
better than the one on the right bank. 87 In addition, the degree of trust in the TMR
leadership was considerably higher than figures in mainland Moldova: 45.2 per cent
of those interviewed trusted TMR ‘president’ Smirnov, 38.7 per cent trusted the TMR
government, and 37.1 per cent the TMR Supreme Soviet. The highest figures of trust,
however, were achieved by two non-political but politicized institutions: The Orthodox Church with 48.6 per cent and, an unrivalled number one, the armed forces of
the TMR with 64.7 per cent! 88
VIII. The TMR interim balance sheet: A decade of
state-driven nation-building, 1992–2002
“Transnistria and the Transnistrians”, stated TMR ‘president’ Smirnov in 2000, “that
is a peculiar region with an astonishing people which has self-sacrificingly fought for
its statehood. Our state became reality. And that is the most important event of these
last ten years.” 89 What Smirnov calls here “the truth about our little but freedomloving and viable state” 90 cannot be rejected offhand, i. e. the fact that this state-like
84 Nikolaj V. Babilunga, “Territorjal’naja identičnost’ kak faktor političeskoj stabil’nosti Pridnestrov’ja”, in Michail N. Guboglo (ed.), Ėtničeskaia mobilizacija i mežėtničeskaja integracija
(Moskva, 1999), 192.
85 Ibid. See also Michail N. Guboglo, “Mežnacional’naja naprjažennost’ v real’nosti i v predstavlenijach graždan”, in Guboglo (ed.), Ėtničeskaia mobilizacija, 172–184; and Nikolaj V. Babilunga,
“Ėtničeskaja identičnost’ naselenija Pridnestrov’ja”, Ėtničeskaja mobilizacija i mežėtničeskaja integracija: Istorija. Faktory. Gorizonty. Naučno-praktičeskaja konferencija. 29 sentjabrja 1998 g. Doklady i soobščenija (Kišinev, 1999), 30–32.
86 Vladimir Kolossov, “A Small State vs. a Self-Proclaimed Republic: Nation-Building, Territorial
Identities and Prospects of Conflict Resolution (The Case of Moldova-Transdniestria)”, in Stefano
Bianchini (ed.), From the Adriatic to the Caucasus. The Dynamics of (De)Stabilization (Ravenna,
2001), 98–104.
87 Ibid., 100–101.
88 Ibid., 101.
89 I. Smirnov, “Dorogie čitateli!”, in Babilunga et al., Fenomen Pridnestrov’ja, 3.
90 Ibid.
The “Transnistrian Moldovan Republic”
237
entity still exists, has mastered a number of internal problems and has survived considerable external pressure and even an armed conflict. Taking into account the shaky
economic basis of the TMR during the 1990s as well as its uneasy position in between
a hostile Moldova and an indifferent Ukraine, with the Russian Federation as protector state-to-be being far away, the situation in 2002 seems to have become stabilized.
This impression of stability is, of course, partly due to the massive repression by the
regime of the remnants of political opposition in the TMR. But it is unlikely that this
is the only reason. The fact that Smirnov has won the ‘presidential’ elections three
times in a row – 1991, 1996 and 2001 (this time against at least one serious competitor, the pro-Putin mayor of Bendery Tom M. Zenovič) 91 – speaks for itself. Also the
‘Moscow factor’ does not fully explain this relative stability: For a number of years
already, Moscow has constantly reduced the strenght of the Fourteenth Army as well
as of the Russian blue helmets in the quadrilateral peace-keeping force in the Security Zone, and has transferred arms, ammunition and equipment from the garrisons in
Transnistria to Western Russia. Thus, the assumption that the stability of the TMR is
at least partly ‘homemade’ and that the history-based identity management described
above is one of the key factors in this development seems plausible.
The political mobilization of the elite and large parts of society in the Dniester valley
in the late eighties resulted in a powerful movement for autonomy which turned into
separatism. At first this movement did not have any ethnic background, even though
it was triggered by the language policy of the Moldovan Popular Front. The struggle to maintain the positions and privileges of the regional elites was successfully
transformed into a regional movement in the Dniester valley. Until the outbreak of
armed conflict between this new movement and the central government of Moldova,
the regional identity of the Transnistrians had been defined in a negative way – as
not being like the Moldovan titular nation. In the following decade, the definition
became a positive one – due to regionalist identity management. This is one of the
reasons why a ‘solution’ of the Transnistrian conflict via granting territorial autonomy to Transnistria inside a unitarian (or even federalized) Moldovan state sought
by international mediators as the OSCE could be an illusion. The TMR has de facto
reached its goal of statehood and is striving for external consolidation – be it by ‘reintegration’ in the CIS, by joining the anemic Russian-Belarusian Federation or even
by concluding a confederation with Ukraine. The Republic of Moldova could cope
well with the loss of the east bank, which it had acquired as late as 1944, and partly
even recognizes the political and social advantages of getting rid of the artificial and
problematic appendix on the other side of the Dniester. At the same time, the west
bank, i. e. the Bessarabian part of Moldova, is debating its own reunification with
Romania to which it had belonged from 1918 to 1940 and again from 1941 to 1944.
91 That Zenovič was perceived by Smirnov as a serious competitor is demonstrated by the fact that the
latter in his capacity as president dismissed Zenovič as mayor of Bendery at the peak of the election campaign. See Aleksandr Isaev, “Ljuboj cenoj uderžat’sja u vlasti. Smeščen s dolžnosti glavnyj
sopernik Smirnova na prezidentskich vyborach v Pridnestrov’e”, Nezavisimaia Moldova, 1 November 2001, 1.
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238
Sovieto-Rossica
In other words: In terms of the constitutional future of the Republic of Moldova and
the TMR, quite a number of options are at hand and possess various degrees of likelihood – with the option of a reintegration of the TMR into Moldova being among
the less likely of them.
However, with regard to all options listed above the explosive question of the
future status of the city of Bendery, controlled by Transnistrian authorities yet lying on the west bank, remains unanswered. Bendery, which TMR ‘foreign minister’
Valerij A. Lickaj calls “our West Berlin”, 92 is by now ethnically cleansed and as a
result has developed into an almost entirely russophone city. Moreover, even for people like Andrej Safonov, one of few remaining democratic Transnistrian separatists,
Bendery represents “something like a sacral symbol”. 93 When in May 2002 the leadership of the TMR proposed to administratively unite the two geographically close
cities of Bendery and Tiraspol’ into a “new capital of Transnistria”, the situation
was aggravated further. 94 Accordingly, it is no coincidence that Bendery is in the
very focus of TMR propaganda. In the Museum of History and Regional Geography
of Bendery an inscription in golden letters on red velvet puts Transnistrian identity
management in a nutshell: “We are Transnistrians! One cannot deprive us of our history, our name, our native tongue and national culture. The TMR is the guarantor for
this.” 95
As demonstrated, there is considerable evidence for the fact that the message of
this inscription is shared by a relative majority of the inhabitants of the TMR, i. e.
that a “Transnistrian people” in the sense of a demos exists. Whether this ‘people’
has the potential to develop into an ethnos is an open question for the time being.
In 1970, the historian of Southeastern Europe Mathias Bernath stated with regard to
the similar case of post-1944 Macedonian nation-building inside Tito’s Yugoslavia
“that today the existence of an almost full-fledged nationality in Vardar Macedonia
is a hypothesis to be taken seriously, and tomorrow it will be an irreversible fact provided within the next two generations no shifts in the territorial shape of Yugoslavia
and Bulgaria occur.” 96 The same could also be said for the TMR and it seems as if
after the success of conflict-driven state-building of the early 1990s, the regional
elite succeeded in laying the foundations for a nation-building process – thereby
proving correct Miroslav Hroch’s view that while nations are invented by political
entrepreneurs, without a hard core of previously existing allegiances, be they lan92 In an interview on 13 September 1997 in Flensburg.
93 Safonov, “Vzaimootnošeniia Moldovy i Pridnestrov’ja”, 153.
94 “Novaja stolica Pridnestrov’ja (k voprosu ob-edinenija Tiraspolja i Bender)”, Ol’vija-press, 29 May
2002.
95 “My – pridnestrovcy! Nas ne lišit’ istorii, imeni, rodnogo jazyka, nacional’noj kul’tury. PMR tomu
garantija”. Benderskij istoriko-kraevedčeskij muzej.
96 Mathias Bernath, “Das mazedonische Problem in der Sicht der komparativen Nationalismusforschung”, 29 Südost-Forschungen (1970), 244. For the decisive decade of Macedonian nationbuilding, see Stefan Troebst, “Yugoslav Macedonia, 1943–1953: Building the Party, the State and
the Nation”, in Melissa K. Bokovoy et al. (eds.), State-Society Relations in Yugoslavia, 1945–1992
(New York, NY, 1997), 243–266.
The “Transnistrian Moldovan Republic”
239
guage, region, faith, class, or something else, state-driven national building does not
work. 97 In this regard, the fact that the “Ruritanians” on the left bank of the river
Dniester had previously belonged to the Soviet “Megalomanians” is not unusual:
“Megalomanians can become Ruritanians”, as David Laitin has demonstrated in the
examples of other post-Soviet cases. 98 What in fact is unusual in the case of the TMR
is that here the former “Megalomanians” did not accept the inversion of their status
to “Ruritanians”, i. e. from a dominant to a non-dominant group as did, for example,
the Russian-speakers in the Baltic states, in the Donbass or in the Crimea. 99
Whereas in international law and international relations secession in general, and
an unpeaceful one in particular, is perceived as being part of the problem and not
of the solution, the political scientist Ulrich Schneckener recently came up with
the formula of “secession as conflict resolution”. 100 His proposals for defusing the
conflict triangle Serbia, Montenegro and Kosovo by granting statehood to all three
of them would probably apply also to the TMR and Moldova: The conflict potential inherent in any given de facto state is in most instances higher than the one of
an internationally recognized and thus legally bound subject of international law.
This does not, of course, answer the question of what the future status of the TMR
could be: an infinitive prolongation of the volatile status quo? An independent and
diplomatically recognized mini-state squeezed in between Moldova and the Ukraine?
‘Re’-unification with the distant Russian Federation? Or junior partner in a new
Russian-Belarusian-Ukrainian confederation called ZUBR? 101 Things become even
more complicated when we take into account the Republic of Moldova’s own serious
crisis of identity which runs parallel to a severe crisis of the economy and society
causing mass poverty and mass migration. As in the early 1990s and again in the
early 2000s, the option of Moldova’s reunification with Romania has strong support
within the Moldovan-speaking majority of the country. 102 The closer Romania moves
97
See Miroslav Hroch, “Real and Constructed: the Nature of the Nation”, in John A. Hall (ed.), The
State of the Nation. Ernest Gellner and the Theory of Nationalism (Cambridge, 1998), 91–106.
98 Laitin, Identity, 260. On the Ruritanians-Megalomanians metaphor, see Ernest Gellner, Nations and
Nationalism (Ithaca, NY, 1983), 58–62.
99 Laitin, Identity, 330.
100 Ulrich Schneckener, “Sezession als Konfliktlösung – Unabhängigkeit für Montenegro und
Kosovo?”, 29 Leviathan (2001), 314–336. See also Id., Auswege aus dem Bürgerkrieg. Modelle
zur Regulierung ethno-nationalistischer Konflikte in Europa (Frankfurt /M., 2002).
101 ZUBR stands for Za Soiuz Ukrainy, Belorussii i Rossii (“For a Union of the Ukraine, Belarus’ and
Russia”). Yet the Russian word zubr, meaning literally wisent, i. e. a European bison, stands in a
figurative sense also for an arch-reactionary.
102 Taras Kuzio, “History, Memory and Nation Building in the Post-Soviet Colonial Space”, 30 Nationalities Papers (2002), 257. For the zigzag course in the post-Soviet continuation of Sovietstyle Moldovan nation-building by indigenization, see Charles King, “Moldovan Identity and the
Politics of Pan-Romanianism”, 53 Slavic Review (1994), 345–368; Vladimir Solonari. “Narrative,
Identity, State: History Teaching in Moldova”, 16 East European Politics and Society (2002), 415–
445; Sergei Musteaţă, “‘My – rumyny?’ Prepodavanie istorii v Respublike Moldova v poslednie
desjat’ let”, 4(1) Ab Imperio (2003), 467–484; and Andrei Cusco, Viktor Taki, “‘Kto my?’ Istoriografičeskij vybor: rumynskaja nacija ili moldavskaja gosudarstvennost’”, ibid., 485–495.
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Sovieto-Rossica
towards NATO and the EU, the more attractive the reunification option becomes for
empoverished Moldova. This development has a twofold effect on Tiraspol’: The old
guard of separatists around Smirnov takes any rapprochement between Bucharest
and Chişinău as another justification for their deep mistrust towards the political
class of the new Moldova, be they pro-Romanian nationalists or, like the present
Moldovan government, Russian-speaking communists. However, more flexible TMR
politicians such as Lickaj or Zenovič and, in particular, the majority of Transnistrian entrepreneurs and businessmen, favour a double-track policy combining close
relations with Moscow with a Transnistrian ‘road to Europe’. Not incidentially, in
December 2002 – shortly after Romania had been officially named as a candidate for
NATO and the EU – an NGO called For Europe. Mutual Understanding and Cooperation was founded in Tiraspol’ with the tacit blessings of the regime. 103 And since
even policy makers in Tiraspol’ know that Transnistria’s ‘road to Europe’ inevitably
leads via Chişinău, the ‘common state’ option is also still open – hence renewed
Transnistrian-Moldovan talks facilitated by the Russian Federation, the Ukraine, and
the OSCE in December 2002 in Moscow. 104
To sum up: Due to the high volatility of political developments in the southwestern corner of the CIS, a large number of scenarios for Transnistria have to be taken
into account. According to some of them, the TMR has a fair chance to retain its
status of a de facto state, maybe even to become internationally recognized. The
longer the present status lasts, the higher the likelihood that TMR identity management achieves its aim, i. e. triggers a Hrochian “Phase B” in the process of building
a ‘Transnistrian people’. For the time being, however, what has been constructed by
Tiraspol’ still does not seem to be irreversible.
103 Andrej Mospanov, “Pridnestrov’e: Trudnyj put’ k Evropu”, Ol’vija-Press, 25 December 2002. The
fact that this report was published by the official TMR press agency indicates that the “Za Evropu.
Vzaimoponimanie i sotrudničestvo” NGO led by the journalist Anatolij Panin has considerable support from above.
104 “Moskovskie itogi: Vse-taki na dogovornoj osnove”, Ol’vija-Press, 19 December 2002.
Vom „Vaterländischen Krieg 1812“
zum „Großen Vaterländischen Krieg
1941 – 1945“
Siegesmythen als Fundament staatlicher Geschichtspolitik
in der Sowjetunion, der Russländischen Föderation, der Ukraine
und Belarus’
[2016]
Die mediale, visuelle und repräsentationsmäßige Verwertung des russischen Sieges
über Napoleon 1812 und seiner „Architekten“, der Generäle Aleksandr Suvorov und
Michail Kutuzov, stellte eine Neuausrichtung in der Geschichtspolitik des Zarenreiches dar. Denn bis dahin waren die imperial propagierten Erinnerungsorte sämtlich religiös konnotiert, was auch und gerade für militärische Ereignisse galt: Die
Schlacht auf dem Peipus-See 1242 gegen den Deutschen Orden oder der Sieg auf dem
Schnepfenfeld über die Tataren 1380 wurden im Moskauer Staat wie im petrinischen
Russland als Triumphe der Orthodoxie über Ketzer und Ungläubige kanonisiert, die
Sieger Aleksandr Nevskij und Dmitrij Donskoj als Heilige verehrt. Hinzu kam, dass
beide als Vertreter russischer Staatsmacht – des Großfürstentums Vladimir-Suzdal’
der eine, des Großfürstentums Moskau der andere – agierten und damit in eine Traditionslinie zu den späteren Zaren gestellt wurden.
Anderen siegreichen Befreiern „russischer Erde“ wurde diese Qualität nicht beigemessen, so dass sie als Heroen höchstens zweiter Klasse eingestuft wurden. Dies
galt etwa für das opolčenie, also für das Aufgebot eines Volksheeres gegen die polnisch-litauische Besetzung Moskaus der Jahre 1610 bis 1612, in der sogenannten
„Zeit der Wirren“, der smuta. Mit dem Sieg der Insurgenten wurde der Weg frei für
die Krönung Michail Romanovs 1613 zum Zaren durch seinen Vater Patriarch Filaret. Die Dynastie Romanov, die bis 1917 herrschte, war damit begründet. Zwar war
einer der Anführer der Aufständischen, Dmitrij Požarskij, ein Fürst aus dem Haus
der Rjurikiden, doch sein Partner, der Kaufmann (oder Metzger?) Kuz’ma Minin aus
Nižnij Novgorod war nichtadliger, überdies wohl auch nichtrussischer, mutmaßlich
tatarischer Herkunft. Das 1818 auf dem Roten Platz in Moskau aufgestellte Mininund-Požarskij-Denkmal ging folglich nicht auf die Initiative der Monarchie, sondern auf diejenige der Bürger Nižnij Novgorods zurück. Und seine Aufstellung wäre
ohne die geschichtspolitische Wende im Zuge des Sieges von 1812, jetzt in Richtung Reichspatriotismus und Russentum statt, wie bisher, Orthodoxie und Dynastie
nicht möglich gewesen. Überdies waren am russländischen Sieg über Napoleon nicht
zuletzt russische Freischärler beteiligt, die wie exakt 200 Jahre zuvor unter der Bezeichnung opolčenie, Landwehr, firmierten und deren Zahl auf nicht weniger als
400.000 (bei einer nur geringfügig höheren Zahl regulärer zarischer Truppen) geschätzt wird.
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Sovieto-Rossica
Allerdings bestand Zar Aleksandr I. darauf, den in der Folgezeit als „Vaterländischen Krieg“ bezeichneten Waffengang gegen Frankreich und seine Verbündeten
religiös einzubinden. In seinem Manifest „über die Erstattung der Dankbarkeit für
die Befreiung Russlands vom feindlichen Angriff an Gott den Herrn“ vom 25. Dezember 1812 dekretierte er:
Von nun an soll der 25. Dezember, der Tag der Geburt Christi, im kirchlichen Kontext auch
der Tag der Dankbarkeitsfeier sein – unter der Bezeichnung: Geburt unseres Erlösers Jesus
Christus sowie Erinnerung an die Errettung der Kirche und des Russländischen Staates vor
dem Angriff der Gallier mit ihren zwölf Völkern. 1
Der Sieg über Napoleon 1812 ist seitdem ein zentraler staatlicher Erinnerungsort,
wie nicht zuletzt die aufwendigen Feiern zum 100. Jubiläum 1912 im Zarenreich,
zum 150. 1962 in der Sowjetunion und zum 200. 2012 in der Russländischen Föderation belegen, die jeweils mit Medienkampagnen, Publikationsoffensiven sowie
(partei-)politischen und militärischen Inszenierungen unter dem Rubrum „Vaterländischer Krieg“ einhergingen.
In mehrfacher Hinsicht ein Geniestreich von Stalins Chefpropagandisten
Emel’jan Jaroslavskij war die bereits am Tag nach dem Angriff NS-Deutschlands auf
die Sowjetunion am 22. Juni 1941 in einer in der Parteizeitung Pravda veröffentlichten Rede getroffene Sprachregelung vom „Großen Vaterländischen Krieg“ (Velikaja
Otečestvennaja Vojna). Jaroslavskij, damals Vorsitzender der „Gesellschaft der Gottlosen“, also des sowjetischen Atheistenverbandes, knüpfte damit zum einen an den
„Vaterländischen Krieg“ gegen Napoleon an, stellte aber zum anderen durch das Adjektiv velikaja (groß) implizit die Sowjetunion über das Zarenreich und damit Stalin
über Aleksandr I. Unterschwellig unterstrich er damit den russischen Charakter der
Sowjetunion und gab zugleich den Startschuss zur Propagierung des neuen Konzepts
eines „Sowjetpatriotismus“, der bald durch eine „allslavische“ Komponente sowie
durch eine propagandistische Instrumentalisierung der zuvor repressierten Russischorthodoxen Kirche ergänzt wurde. In Stalins berühmter Rede zum 24. Jahrestag der
Oktoberrevolution vor Soldaten der Roten Armee auf dem Roten Platz in Moskau
am 7. November 1941 hörte sich die neue Linie wie folgt an:
Möge Euch in diesem Krieg das heldenmütige Vorbild eurer großen Vorfahren beseelen –
Aleksandr Nevskijs, Dmitrij Donskojs, Kuz’ma Minins, Dmitrij Požarskijs, Aleksandr Suvorovs, Michail Kutuzovs. Möge Euch das siegreiche Banner des großen Lenin Kraft
verleihen! 2
1
2
Polnoe sobranie Zakonov Rossijskoj Imperii [Vollständige Sammlung der Gesetze des Russländischen Reiches]. Bd. 32, Peterburg 1830, S. 486–487.
Stalin, I.: Reč’ na parade Krasnoj Armii 7 nojabrja 1941 goda na Krasnoj ploščadi v Moskve [Rede
auf der Parade der Roten Armee am 7. November 1941 auf dem Roten Platz]. In: Ders.: O Velikoj
Otečestvennoj Vojne Sovetskogo Sojuza. Moskva 1943, S. 34–37, hier S. 37.
Siegesmythen
243
Die Kontinuitätslinie von 1242 und 1380 über 1612 und 1812 zu 1917 und 1941
war damit gezogen.
Was Jaroslavskij bei seiner Prägung der Formel vom „Großen Vaterländischen
Krieg“ Ende Juni 1941 nicht ahnen konnte, war der Umstand, dass das zweite Adjektiv – otečestvennaja (vaterländisch), und nicht, wie zu erwarten gewesen wäre
sovetskaja (sowjetisch) – den russländischen, ukrainischen und belarusischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion die reibungslose Weiternutzung der sowjetischen Formel vom „Großen Vaterländischen Krieg“ auch in post-kommunistischer Zeit ermöglichte. Zwar war mit „Vaterland“ ursprünglich die UdSSR gemeint, aber da diese
eben nicht beim Namen genannt wurde, konnte nach 1991 problemlos ein „Vaterlandstransfer“ zum neuen Russland und sogar zur neuen Ukraine und zur neuen Belarus’
hergestellt werden. Und die seit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen
Reiches am 8. bzw. (nach Moskauer Uhrzeit) 9. Mai 1945 in Berlin-Karlshorst dem
dreiteiligen Standardbegriff angehängten Jahreszahlen „1941–1945“ ermöglichten
der Russländischen Föderation, der Ukraine und Belarus’ wie zuvor der Sowjetunion
die Ausblendung der Anfangsphase des Zweiten Weltkriegs vom 1. September 1939
bis zum 21. Juni 1941. In das jetzt auch russländische Narrativ vom heldenhaften
Kampf der Völker der Sowjetunion gegen den nationalsozialistischen „Drang nach
Osten“ mussten folglich der Hitler-Stalin- bzw. Molotov-Ribbentrop-Pakt samt Geheimem Zusatzprotokoll über die Aufteilung Ostmitteleuropas vom 23. August 1939,
der Einmarsch der Roten Armee in Polen am 17. September 1939, der deutsch-sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939, die zwischen
Berlin und Moskau koordinierte deutsch-sowjetische Okkupation Polens samt Kooperation von Wehrmacht und Roter Armee sowie von Gestapo und NKVD, die gewaltsame Einverleibung Estlands, Lettlands, Litauens, Ostpolens, der Bukovina und
Bessarabiens in die UdSSR, die Lieferung kriegswichtiger Rohstoffe aus der Sowjetunion ins „Dritte Reich“ und andere sperrige Tatbestände nicht eingepasst werden. In
der Geschichtspolitik der Ukraine hingegen wurde vor allem unter dem Präsidenten
Leonid Kučma der aus Sowjetzeiten stammende Terminus „Goldener September“ für
die Annexion Südostpolens durch die UdSSR bei Angliederung an die Ukrainische
Sozialistische Sowjetrepublik im Herbst 1939 weiterverwendet. Und unter dem belarusischen Präsidenten Lukašenkȧ wurde die Proklamierung des 17. September, an
dem 1939 die Rote Armee in Polen einfiel, zum staatlichen Feiertag „der Wiedervereinigung der belarussischen Lande“ ernsthaft erwogen. Gemeint war natürlich der
gewaltförmige Anschluss Nordost-Polens an die Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik.
Die Geschichtspolitik in Zarenreich, Sowjetunion und Russländischer Föderation
gleicht der Echternacher Springprozession: Nach jedem Regimewandel – und dazu
sind auch die innersowjetischen Brüche von 1929, 1953 und 1985 zu rechnen – wurden zuvor ausrangierte Erinnerungsorte reaktiviert sowie bisher gültige abgeschaltet.
Frithjof Benjamin Schenk hat in seinem fulminanten Buch über Aleksandr Nevskij als „Erinnerungsfigur im russischen kulturellen Gedächtnis“ die „Entthronung“
dieses Nationalhelden durch die Bol’ševiki sowie seine umgehende „Rehabilitie-
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Sovieto-Rossica
rung“ durch Stalin beschrieben 3, und Jutta Scherrer hat ihre 2005 vorgenommene
und mit „Siegesmythos versus Vergangenheitsaufarbeitung“ überschriebene Analyse
sowjetischer wie post-sowjetischer Geschichtspolitik mit folgendem skeptischem Fazit beendet:
Rußland hat sich in erstaunlich kurzer Zeit von dem Mythos der „Großen Sozialistischen
Oktoberrevolution“ befreit. Wird es sich jemals von dem Mythos des Großen Vaterländischen Krieges, der heroischen Heldentat des Siegs befreien können oder wollen? 4
Aus heutiger Sicht muss die Antwort lauten: weder noch. Der Sieg über HitlerDeutschland im Zweiten Weltkrieg ist der Gründungsmythos des Putin’schen Russland und wird es auf absehbare Zeit hinaus auch bleiben. Dafür sprechen mindestens
drei gewichtige Gründe:
Erstens, ein Alternativmythos ist nicht in Sicht. Die Entstalinisierungspolitik
Chruščëvs, die bezüglich Lebensstandard und Konsum „goldenen“, politisch und
kulturell aber verlorenen Jahre unter Brežnev, die halbherzige Perestrojka unter Gorbačëv, die Gründung der Russländischen Föderation durch El’cin oder die abgewehrten Putschversuche gegen die beiden Letztgenannten taugen dafür sowohl aus der
Sicht der „Vertikale der Macht“ als auch aus derjenigen der Bevölkerungsmehrheit
nicht.
Zweitens, die Stalin’sche Formel von der „Befreiung der Völker Europas vom
Faschismus“ 1945 durch die Rote Armee festigt den imperialen wie globalen Machtanspruch des Russland Putins. So gering das internationale Prestige der Russländischen Föderation auch ist, so unbestritten ist selbst im Westen der sowjetische Beitrag
zum gemeinsamen Sieg über Hitler. Indirekter Beleg dafür ist etwa die Proklamierung des 27. Januar zum internationalen Gedenktag für die Opfer des Holocaust,
denn an diesem Tag befreiten 1945 Sowjettruppen das NS-deutsche Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
Und drittens, die Traditionslinie vom „Vaterländischen Krieg 1812“ zum „Großen
Vaterländischen Krieg 1941–1945“ wirkt als „allrussische“ Kontinuitätsbrücke sowohl zum zarischen Russland als auch zum neuen Russland, denn sowohl El’cin wie
Putin haben den „Sieg über den Faschismus“ zum Gründungsmythos der Russländischen Föderation stilisiert. Die Sowjetperiode und mit ihr Stalin als „Führer“ (russ.
vožd’) sind damit in die russländische Meistererzählung sowie das amtlicherseits propagierte Geschichtsbild integriert.
All dies heißt aber nicht, dass der umgangssprachlich mit „VOV“ abgekürzte lieu
de mémoire – das steht für russisch Velikaja Otečestvennaja Vojna (Großer Vaterländischer Krieg) – auf einem gesellschaftlichen Konsens basiert, im Gegenteil: Die
innerrussländischen geschichtspolitischen Debatten der letzten Jahre kreisten eben
3
4
Schenk, Frithjof Benjamin: Aleksandr Nevskij. Heiliger – Fürst – Nationalheld. Eine Erinnerungsfigur im russischen kulturellen Gedächtnis (1263–2000). Köln-Weimar-Wien 2004, S. 226–287.
Scherrer, Jutta: Sowjetunion /Rußland: Siegesmythos versus Vergangenheitsaufarbeitung. In: Mythen
der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Hrsg. v. Monika Flacke. Bd. 2. Mainz 2004, S. 619–
670, hier S. 655.
Siegesmythen
245
um dieses Thema. Die rudimentäre Zivilgesellschaft hat ihren fundamentalen Dissens zur staatlichen Geschichtspolitik in die Formel „pobeda bez Stalina“ gefasst –
„Sieg ohne Stalin“. Der Sieg ist zu feiern, so diese Sichtweise, aber nicht der Diktator.
Nach der Abwicklung des Medvedev’schen Konzepts einer „zweiten Entstalinisierung“ lautet die aktuelle Sprachregelung des Kremls wie folgt: Ja, Stalin war ein
Mensch mit gewissen Schwächen und Defiziten, die indes durch seine politischen
wie militärischen Leistungen im Kampf gegen den Faschismus mehr als aufgewogen
werden. Jutta Scherrers Skepsis ist daher auch zehn Jahre später vollauf berechtigt.
Dennoch ist die Putin’sche Geschichtspolitik weniger starr als es auf den ersten
Blick scheinen mag. Auf Initiative des Kremls wurde 2005 der von El’cin in „Tag der
Eintracht und Versöhnung“ umbenannte sowjetische Staatsfeiertag am 7. November,
damals der „Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution“, abgeschafft
und durch einen neuen, zeitlich nahegelegenen Feiertag am 4. November ersetzt.
Dieser neue „Tag der nationalen Einheit“ rekurriert auf das Jahr 1612, als das besagte Volksaufgebot unter Minin und Požarskij in der „Zeit der Wirren“ von Nižnij
Novgorod nach Moskau zog und die polnischen Besatzer aus der Hauptstadt vertrieb.
Die Konstanzer Historikerin Isabelle de Keghel hat 2009 in einem Band über
„Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland“ eine eindringliche
Analyse der zahlreichen Konnotationen zivilgesellschaftlicher, EU-feindlicher, multiethnischer, nationalistisch-rechtsextremer, sozialkohäsiver und anderer Art dieses
neuen russländischen Staatsfeiertages geliefert. Der machtpolitische Kern ihrer Untersuchung zur beabsichtigten und tatsächlichen Wirkung des neuen „Tags der nationalen Einheit“ lautet:
In den Vergangenheitsdiskurs der Transformationszeit schrieb sich dieser Vorschlag insofern gut ein, als die ‚Zeit der Wirren‘ dort ein Schlüsselbegriff gewesen war. Häufig war
dieser Terminus, der [. . . ] zur Bezeichnung einer historischen Entwicklungsphase im frühen 17. Jahrhundert diente, auch zur Beschreibung der Umbruchsituation im Russland der
Transformationszeit benutzt worden. Diese Periode raschen und verunsichernden Wandels
sollte nun offiziell für beendet erklärt werden.
Und weiter:
Der neue Feiertag transportierte also zugleich die Aussage, Putin habe das Chaos der Ära
El’cin beseitigt und Russland konsolidiert. Implizit wurde dabei eine Analogie zwischen
dem ersten Romanov und Präsident Putin hergestellt: So wie das Land [1613] mit der
Inthronisierung von Mihail Romanov erstmals nach der ‚Zeit der Wirren‘ wieder einen
starken Herrscher bekam, ging Putin nun in seinem Selbstverständnis gegen Anarchie und
Regionalismus vor, indem er die ‚Machtvertikale‘ und eine starken Staat forcierte. 5
Der siegreiche Widerstand gegen ausländische Militärinterventionen ist gemeinsamer Nenner zarischer, sowjetischer und russländischer Geschichtspolitik. Gemäß
5
Keghel, Isabelle de: Verordneter Abschied von der revolutionären Tradition: Der „Tag der nationalen
Einheit“ in der Russländischen Föderation. In: Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen
Russland. Hrsg. v. Lars Karl und Igor J. Polianski. Göttingen 2009, S. 119–140, hier S. 124–125.
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sowjetischer Tradition ist dabei auch zu post-sowjetischer Zeit der „Tag des Sieges“ am 9. Mai als Apotheose des „Großen Vaterländischen Krieges 1941–1945“
zentraler Fluchtpunkt, der wiederum in direkter historischer wie terminologischer
Traditionslinie zum „Vaterländischen Krieg 1812“ steht. Eine Putin’sche Innovation ist die Proklamierung des 4. November zum „Tag der nationalen Einheit“, mit
dem der Vertreibung der polnisch-litauischen Interventen 1612 gedacht wird. Eine
zu zarischen wie sowjetischen Zeiten aus unterschiedlichen Gründen nur halbherzig
gefeierte weitere erfolgreiche militärische Beendigung einer feindlichen Intervention ist damit geschichtspolitisch beträchtlich aufgewertet. Stützpfeiler des auf einem
Unbesiegbarkeitsmythos beruhenden neuen russländische Gedenkkanons sind somit
neben 1812 und 1945 jetzt auch 1612, nicht länger hingegen das Revolutionsjahr
1917 und noch nicht 2000, das Jahr des Beginns der ersten Präsidentschaft Vladimir
Putins.
Post-Communist Holiday Legislation
as Part of Governmental Politic s
of History
The Case of the Russian Federation
[2016]
(1) Introduction
When on Thursday, 4 May 1978, Leonid I. Brezhnev, Secretary General of the CPSU
and Chairman of the Presidium of the Supreme Soviet of the USSR, arrived for his
second visit to the West German capital Bonn, he wondered why there were so many
people standing alongside the road from the airport waving at a communist leader.
“Have you ordered these crowds to come here in honour of the Soviet people?” he
asked his host, federal foreign minister Hans-Dietrich Genscher. “No”, Genscher
replied. “They all have a day off. Today is the Ascension of Christ.” This answer
visibly caused a problem for Brezhnev’s translator: Either did he not know the proper
Russian translation of Ascension Day, namely Voznesenie Isusa Christa, or he considered it inappropriate to point out the religious character to the gensek. Finally, he
came up with more an interpretation than a translation: “It’s something like our Cosmonautics Day.” 1 This anecdote catches all three dimensions of the holiday systems
of most states of the world: They are deeply national, i. e., based on history and tradition; they are political, more often than not also ideological; and frequently they are
connected to religion and denomination. In the following I will look at the Yeltsin
era in the 1990s, then at the Putin era since 2000, and I will deal with a new holiday
introduced in 2006, i. e., 4 November, the “Day of National Unity” (Den’ narodnogo
edinstva).
Systems of labour-free public holidays are among the backbones of national representation and governmental politics of history – alongside with state symbols like
coat of arms, flag and hymn. Like state symbols, also public holiday systems tend
to be rather stable. Turning points are, however, revolutions, the dissolution of a federal state into successor states – like in the case of the Soviet Union, Yugoslavia and
1
Vödisch, Stephan: Christi Himmelfahrt? Da war doch was?. In: Website of EvangelischLutherische Superintendentur Meißen-Großenhain, 12 June 2014 (URL: http://www.kirchenbezirkmeissen-grossenhain.de/alle-berichte/487 – christi-himmelfahrt-da-war-doch-was.html, accessed:
05-10-2016). – Cosmonautics Day (Den’ kosmonavtiki), celebrated in the USSR on 12 April as a
holiday though not a labour-free one, is in the RF a “commemorative date” (pamjatnaja data). The
German terms Himmelfahrt (Ascension) and Raumfahrt (Cosmonautics) resemble each other more
than the English and Russian ones.
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Sovieto-Rossica
Czechoslovakia in the first half of the 1990s –, and sometimes also regime change,
as in the case of Belarus’ in 1994. Yet in most such cases, not all ‘old’ elements are
abolished: Some of them coexist with the ‘new’ ones, as recent studies on the subject
demonstrate. None of them, however, covers the Russian Federation (RF). 2 In the
case of this country, there is even a third dimension to the ‘new’ post-Soviet holiday
system and the ‘old’ Soviet one: the former Tsarist one with its strong features of
orthodox christianity. Thus, the holiday system of the RF is highly syncretistic, i. e.,
it combines elements which are in fact incompatible. Formally, it consists of seven
categories:
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
Labour-free holidays (nerabočie prazdničnye dni)
Working holidays (rabočie prazdničnye dni)
Professional holidays (professional’nye prazdniki)
Commemorative days (pamjatnye dni)
Days of military glory (victorious days) of Russia (dni voinskoj slavy [pobednye
dni] Rossii)
(6) Commemorative dates of Russia (pamjatnye daty Rossii) 3
In addition, federal subjects like the republics of Tatarstan, Bashkortostan, Chechnya,
Adygeya, Carelia, Sakha et al. all have one or more labour-free regional holidays. 4
With the exception of two, all public holidays of the RF are either innovations
or modifications of Soviet ones. These exceptions are New Year’s Day (Novyj god)
on 1 January, the only non-religious labour-free holiday of the Tsarist empire, established in 1897. With the exceptions of the Stalinist years from 1930 to 1947 it also
survived the Soviet Union. 5 And Christmas (Roždestvo Christovo) on 7 January, a
labour-free holiday up to 1917 and again since 1991 which coincides with the holiday system of the Russian Orthodox Church. 6 Easter, the highest orthodox holiday, is
2
3
4
5
6
See Transforming National Holidays. Identity Discourse in the West and South Slavic Countries,
1985–2010. Ed. by Ljiljana Šarić, Karen Gammelgaard and Kjetil Rå Hauge. Amsterdam, Philadelphia: John Benjamins, 2012; National Days: Constructing and Mobilising National Identity. Ed. by
David McCrone and Gayle McPherson. Basingstoke: Palgrave, 2009; and Fuller, Linda K.: National
Days /National Ways: Historical, Political and Religious Celebrations around the World. London:
Praeger, 2004.
Prazdniki Rossii [The holidays of Russia] (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%9F%D1%80%
D0%B0%D0%B7%D0%B4%D0%BD%D0%B8%D0%BA%D0%B8_%D0%A0%D0%BE%D1%
81%D1%81%D0%B8%D0%B8; Dni voinskoj slavy Rossii /(URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/%
D0%94%D0%BD%D0%B8_%D0%B2%D0%BE%D0%B8%D0%BD%D1%81%D0%BA%D0%
BE%D0%B9_%D1%81%D0%BB%D0%B0%D0%B2%D1%8B_%D0%A0%D0%BE%D1%81%
D1%81%D0%B8%D0%B8, accessed: 05-10-2016).
Prazdniki Rossii.
Ibid.; Prazdniki SSSR [The holidays of the USSR] (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%9F%
D1%80%D0%B0%D0%B7%D0%B4%D0%BD%D0%B8%D0%BA%D0%B8_%D0%A1%D0%
A1%D0%A1%D0%A0, accessed: 05-10-2016).
Prazdniki Rossii; Pravoslavnye prazdniki [Orthodox holidays] (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/
%D0%9F%D1%80%D0%B0%D0%B2%D0%BE%D1%81%D0%BB%D0%B0%D0%B2%D0%
BD%D1%8B%D0%B5_%D0%BF%D1%80%D0%B0%D0%B7%D0%B4%D0%BD%D0%B8%
Post-Communist Holiday Legislation in Russia
249
also a public one in the RF falling, however, like most other movable public holidays
on a Sunday.
(2) Tradition vs. innovation: The 1990s 7
When the USSR imploded and the RF emerged as its largest successor state President
Boris N. Yeltsin and his young crew met hardly resistance in their strive to adopt the
state symbols of Tsarist Russia. Different was the situation with public holidays: In
the Russian Empire, up to 1917 all holidays (with the mentioned exception of New
Year’s Day) were either religious or dynastic ones and as such unsuited for the new
Russia. The problem then was seemingly solved by keeping the public holidays of
Soviet times, but by trying to give them a new content. In addition, also new holidays connected to the emergence of the RF as one of the 15 post-Soviet states were
proclaimed.
The two former Soviet labour-free public holidays which were kept after 1991
without changes of their denomination are the International Women’s Day (Mežunarodnyj ženskij den’) on 8 March and Victory Day (Den’ Pobedy) on 9 May, celebrating the unconditional surrender of Nazi Germany in 1945. 8 Two former Soviet
labour-free public holidays were rechristened in the 1990s. They are the Holiday of
Spring and Labour (Prazdnik Vesny i Truda) on 1 May, labeled up to 1992 Day of
International Solidarity of Workers (Den’ meždunarodnoj solidarnosti trudjaščichsja) 9, and the Day of Harmony and Reconciliation (Den’ soglasija i primirenija) on
7 November, up to 1994 known as Anniversary of the Great October Socialist Revolution (Godovščina Velikoj Oktjabr’skoj socialističeskoj revoljucii). 10 In addition
to being a labour-free public holiday, 7 November is also a “day of military glory”
D0%BA%D0%B8#.D0.9F.D1.80.D0.B0.D0.B7.D0.B4.D0.BD.D0.B8.D0.BA.D0.B8_.D0.BF.D1.
80.D0.B5.D0.B8.D0.BC.D1.83.D1.89.D0.B5.D1.81.D1.82.D0.B2.D0.B5.D0.BD.D0.BD.D0.BE_
.D0.A0.D1.83.D1.81.D1.81.D0.BA.D0.BE.D0.B9_.D0.BF.D1.80.D0.B0.D0.B2.D0.BE.D1.81.
D0.BB.D0.B0.D0.B2.D0.BD.D0.BE.D0.B9_.D1.86.D0.B5.D1.80.D0.BA.D0.B2.D0.B8, accessed:
05-10-2016).
7 Unless otherwise indicated this paragraph and the following one are based on Prazdniki Rossii
where also the legislative acts establishing public holidays are cited, and on the concise overview
by Makarkin, Aleksej V.: Protivorečivye prazdniki novoj Rossii [The contradictory public holidays
of the new Russia]. In: Neprikosnovennyj zapas 2015, no. 3 (101) (URL: http://magazines.russ.ru/nz/
2015/3/19m.html, accessed: 05-10-2016).
8 Den’ Pobedy [Victory Day] (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%94%D0%B5%D0%BD%
D1%8C_%D0%9F%D0%BE%D0%B1%D0%B5%D0%B4%D1%8B, accessed: 05-10-2016).
9 Pervoe maja (prazdnik) [First of May (Public Holiday)]. (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%
9F%D0%B5%D1%80%D0%B2%D0%BE%D0%B5_%D0%BC%D0%B0%D1%8F_(%D0%BF%
D1%80%D0%B0%D0%B7%D0%B4%D0%BD%D0%B8%D0%BA), accessed: 05-10-2016).
10 Den’ soglasija i primirenija [Day of Harmony and Reconciliation] (URL: https://ru.wikipedia.org/
wiki/%D0%94%D0%B5%D0%BD%D1%8C_%D1%81%D0%BE%D0%B3%D0%BB%D0%B0%
D1%81%D0%B8%D1%8F_%D0%B8_%D0%BF%D1%80%D0%B8%D0%BC%D0%B8%D1%
80%D0%B5%D0%BD%D0%B8%D1%8F, accessed: 05-10-2016).
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Sovieto-Rossica
with the long title Day When in 1941 on Red Square in Moscow on the Occasion
of the 24th Anniversary of the Great October Socialist Revolution a Military Parade
Was Staged (Den’ provedenija voennogo parada na Krasnoj ploščadi v Moskve v
oznamenovanie dvadcat’ četvërtoj godovščinoj Velikoj Oktjabr’skoj socialističeskoj
revoljucii [1941 god]).
Innovations of the Yeltsin years as labour-free public holidays were in 1992 the
Day of the Adoption of the Declaration of Sovereignty of the Russian Federation
(Den’ prinjatija Deklaracii o gosudartvennom suverenitete Rossijskoj Federacii),
commemorating a decision of the First People’s Congress of the Russian Soviet Federative Socialist Republic in 1990 – popularized in 1998 in a speech of President
Yeltsin as Day of Russia (Den’ Rossii) 11 –, and in 1994 the Day of the Constitution
of the Russian Federation (Den’ Konstitucii Rossijskoj Federacii) on 12 December. 12
Also, next to New Year’s Day on January, in 1992, 2 January was proclaimed a
labour-free public holiday.
Working public holidays newly introduced were the Day of the National Flag
of the Russian Federation (Den’ Gosudarstvennogo flaga Rossijskoj Federacii) on
22 August proclaimed in 1991 and alluding to the unsuccessful putsch of communist hardliners against Mikhail S. Gorbachev 13; the Day of Remembrance and Grief
(Den’ pamjati i skorbi) on 22 June, introduced in 1996 14 and commemorating the
attack of Nazi Germany on the Soviet Union in 1941, i. e., the beginning of what
in official Russian terminology is called “the Great Patriotic War of 1941–1945” 15;
furthermore the Day of the Birth of Russian Statehood in 862 (Den’ zaroždenija
11 Den’ Rossii [Day of Russia] (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%94%D0%B5%D0%BD%
D1%8C_%D0%A0%D0%BE%D1%81%D1%81%D0%B8%D0%B8, accessed: 05-10-2016).
12 Den’ Konstitucii Rossijskoj Federacii [Day of the Constitution of the Russian Federation] (URL:
https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%94%D0%B5%D0%BD%D1%8C_%D0%9A%D0%BE%D0%
BD%D1%81%D1%82%D0%B8%D1%82%D1%83%D1%86%D0%B8%D0%B8_ %D0%A0%
D0%BE%D1%81%D1%81%D0%B8%D0%B9%D1%81%D0%BA%D0%BE%D0%B9_%D0%
A4%D0%B5%D0%B4%D0%B5%D1%80%D0%B0%D1%86%D0%B8%D0%B8, accessed:
05-10-2016).
13 Den’ Gosudarstvennogo flaga Rossijskoj Federacii [Day of the National Flag of the Russian Federation] (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%94%D0%B5%D0%BD%D1%8C_%D0%93%
D0%BE%D1%81%D1%83%D0%B4%D0%B0%D1%80%D1%81%D1%82%D0%B2%D0%B5%
D0%BD%D0%BD%D0%BE%D0%B3%D0%BE_%D1%84%D0%BB%D0%B0%D0%B3%D0%
B0_%D0%A0%D0%BE%D1%81%D1%81%D0%B8%D0%B9%D1%81%D0%BA%D0%BE%
D0%B9_%D0%A4%D0%B5%D0%B4%D0%B5%D1%80%D0%B0%D1%86%D0%B8%D0%
B8, accessed: 05-10-2016).
14 Den’ pamjati i skorbi [Day of Remembrance and Grief] (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%
94%D0%B5%D0%BD%D1%8C_%D0%BF%D0%B0%D0%BC%D1%8F%D1%82%D0%B8_%
D0%B8_%D1%81%D0%BA%D0%BE%D1%80%D0%B1%D0%B8, accessed: 05-10-2016).
15 The term “Great Patriotic War” (Velikaja Otečestvennaja vojna) was coined by Stalin’s chief ideologist Yemelyan M. Yaroslavskii on 23 June 1941. It alludes to the denomination of the Tsarist
campaign against Napoleon of 1812/13 which is “Patriotic War” (Otečestvennaja vojna). See Troebst,
Stefan: Vom “Vaterländischen Krieg 1812” zum “Großen Vaterländischen Krieg 1941–1945”. Siegesmythen als Fundament staatlicher Geschichtspolitik im zarischen Russland, in der Sowjetunion,
der Russländischen Föderation, der Ukraine und Belarus’. In: Das Jahr 1813, Ostmitteleuropa und
Post-Communist Holiday Legislation in Russia
251
rossijskoj gosudarstvennosti [862 god]) on 21 September; and the Day of the Defender of the Fatherland (Den’ zaščitnika Otečestva) on 23 February which in Soviet
times and up to 1993 was called the Day of the Soviet Army and Navy (Den’ Sovetskoj Armii i Voenno-Morskogo flota) and which colloquially figures as Men’s Day
(Den’ Mužčin). 16
(3) Patriotism first! The Putin Era since 2000
The patriotic dimension as well as the religious one introduced by Yeltsin into the
RF’s system of public holidays were considerably enforced by his successor Vladimir
V. Putin. The most significant change in quantitive terms was the prolongation of the
New Year’s holiday period of 1 and 2 January up to Orthodox Christmas on 7 January and even including 8 January during the years 2005 to 2012. Since 2013, what
is called New Year’s Holidays (Novogodnye kanikuly) lasts from 1 to 8 January. 17
Including labour-free Saturdays and Sundays it extended to an eleven days period
in 2013. In compensation, in 2005 the up to now labour-free Day of the Constitution of the Russian Federation on 12 December was turned into a working holiday,
and in 2006, 2 May and 7 November, the Day of Harmony and Reconciliation introduced by Yeltsin instead of the Soviet anniversary of the Bolshevik putsch of 1917,
suffered the same fate. On the other hand, already in 2002 the Day of the Defender
of the Fatherland on 23 February was turned into a labour-free holiday. The most
recent new development is the proclamation in 2015 of 27 February as Day of the
Forces of Special Assignments (Den’ Sil special’nogo naznačenija). It commemorates the day when in 2014 Russian Spetsnaz troops without badges of rank occupied
the Ukrainian peninsula of Crimea. 18
Probably the most significant change introduced by Putin was the elevation of
Victory Day on 9 May to the most visible and thus most important holiday and its
establishment, though unhistorically, as the founding myth of the RF: Not formally,
but morally, thus the message, the RF was founded in Berlin-Karlshorst during the
night from 8 to 9 May 1945. At the same time, Putin systematically instrumentalized
9 May for creating his personal image as warrior and hero-leader. 19
16
17
18
19
Leipzig. Die Völkerschlacht als (trans)nationaler Erinnerungsort. Ed. by Marina Dmitrieva and Lars
Karl. Wien, Köln, Weimar: Böhlau, 2016, 41–46 [and in this volume].
Den’ zaščitnika Otečestva [Day of the Defender of the Fatherland] (URL: https://ru.wikipedia.org/
wiki/%D0%94%D0%B5%D0%BD%D1%8C_%D0%B7%D0%B0%D1%89%D0%B8%D1%82%
D0%BD%D0%B8%D0%BA%D0%B0_%D0%9E%D1%82%D0%B5%D1%87%D0%B5%D1%
81%D1%82%D0%B2%D0%B0, accessed: 05-10-2016).
Novyj god [New Year] (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%9D%D0%BE%D0%B2%D1%
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Wood, Elizabeth A.: Performing Memory: Vladimir Putin and the Celebration of WWII in Russia.
In: The Soviet and Post-Soviet Review 38 (2011), no. 2, 172–200.
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252
Sovieto-Rossica
While in both regards, Putin was quite successful 20, he is also responsible for
what is probably the most prominent flop in creating a new patriotic public holiday:
the Day of National Unity (Den’ narodnogo edinstva) on 4 November, introduced in
2006 in order to devaluate 7 November and its Soviet-nostalgic character. 21
(4) Non-Starter: the Day of National Unit
Referring to the year of 1612 in proclaiming 4 November the Day of National Unity
was historically understandable as it was historically imprecise: Yes, in November 1612 Polish-Lithuanian occupations forces withdrew from Moscow, and yes,
a levy (opolčenie) led by the butcher Kuzma Minin and the nobleman Dmitrii
Pozharskii, both of Nizhnii Novgorod, had a considerable impact in this event, but
no, this did most probably not happen on 4 November, a date which definitely was
not a turning point in what is know as the decade-long Times of Troubles (smuta)
in the history of the Muscovite State. 22 In addition, while a majority of citizens of
the RF had heard of the French occupation of Moscow in 1812 and the advance of
the Wehrmacht up to the city in 1941, the fact that also Poles and Lithuanians once
had occupied the capital was not only new to them, but came as somewhat of a bad
surprise. Also, the closeness of 4 November to 7 November raised widespread suspicion that the new holiday was the product of political technology à la Kremlin.
When asked in 2013 what associations the Russians connect to the Day of National
Unity, the head of the Levada-Center, Lev Gudkov, answered: “Nothing special. They
consider it as an initiative of the government to extinguish the memory of 7 November.” 23 Gudkov also pointed to another effect of the new holiday not intended by
20 For recent analyses of Russian politics of history under Putin see Schmid, Ulrich: Technologien der
Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartskultur. Berlin: Suhrkamp, 2016;
and Wehner, Markus: Putins Kalter Krieg. Wie Russland den Westen vor sich her treibt. München:
Knaur, 2016.
21 Den’ narodnogo edinstva [Day of National Unity] (URL: https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%94%
D0%B5%D0%BD%D1%8C_%D0%BD%D0%B0%D1%80%D0%BE%D0%B4%D0%BD%D0%
BE%D0%B3%D0%BE_%D0%B5%D0%B4%D0%B8%D0%BD%D1%81%D1%82%D0%B2%
D0%B0, accessed: 05-10-2016).
22 Smirnov, Il’ja: Politika vs nauka. Vyšla biografija Dnja narodnogo edinstva [Politics vs. scholarship.
A biography of the Day of National Unity has been published]. In: Radio Svoboda, 28 November 2008 (URL: http://www.svoboda.org/content/article/474938.html, accessed: 05-10-2016). This
text is a review of the collected volume Den’ narodnogo edinstva. Biografija prazdnika [The Day
of National Unity. Biography of a Holiday]. Ed. by Vjačeslav N. Kozljakov, P. Michajlov and Jurij M. Ėskin. Moskva: Drofa, 2009. See also Nazarov, Vladislav: Čto budut prazdnovat’ v Rossii
4 nojabr’ja 2005 goda? [What Will Be Celebrated in Russia on 4 November 2005?]. In: Otečestvennye zapiski 2004, no. 5 (URL: http://www.strana-oz.ru/2004/5/chto-budut-prazdnovat-v-rossii-4 –
noyabrya-2005 – goda, accessed: 05-10-2016).
23 Direktor “Levada-centra”: “Russkij marš” vytesnil Den’ narodnogo edinstva [The Director of the
Levada Center: The “Russian March” eclipses the Day of National Unity]. In: Russian program of
Deutsche Welle, 3 November 2013 (URL: http://www.levada.ru/old/03 – 11–2013/direktor-levadatsentra-russkii-marsh-vytesnil-den-narodnogo-edinstva, accessed: 05-10-2016).
Post-Communist Holiday Legislation in Russia
253
the government: On its very first celebration in 2005, right-wing Russian nationalists staged demonstrations against immigrants from Central Asia and the Caucasus
which the security forces had problems to control. In Gudkov’s view, these “Russian
marches” were to continue – albeit Russian nationalists till then had no charismatic
leader. 24 While in 2013, 49 percent of Russians at least knew that 4 November
was the Day of National Unity (in contrast to 2005 when only eight percent correctly answered the question “Do you know which holiday will be commemorated
on 4 November?”), yet only 16 percent indicated in 2013 that they will celebrate
on 4 November – in contrast to 18 percent who planned to celebrate 7 November. 25
In her thorough analysis of the Day of National Unity as “decreed farewell to the
revolutionary tradition”, historian Isabelle de Keghel points to the fact, that 4 November in the Russian-Orthodox calendar is the Day of the Kazan’ Icon of the Mother
of God, celebrated in Russia since 1648. Despite the fact that many citizens of the
RF are not Christians, but Muslims, Jews, Buddhists and non-believers, the religious
dimension of the new holiday was deliberately incorporated. 26
(5) Résumé
The system of public holidays of the RF reflects the undecidedness of its political
leadership concerning the alternatives of empire and nation-state. 27 Obviously, Putin
is of the opinion that he can have the cake and eat it – in domestic politics an ethnically homogeneous state of the Russian nation and towards the outside world a
post-Soviet empire of what in the constitution of 1993 is called the “multinational
24 Ibid.
25 Levada-Centr: Nojabr’skie prazdniki: znanie i gotovnost’ otmecat’ [Levada Center: November Holidays: Knowledge on and Preparedness to Celebrate]. Entry on the Website of the Levada Center,
31 October 2014 (URL: http://www.levada.ru/2014/10/31/noyabrskie-prazdniki-znanie-i-gotovnostotmechat/#sthash.8o0CuYy8.dpuf, accessed: 05-10-2016). See also Laševskaja, Anželika D.: Analiz
obraza prazdnikov Den’ narodnogo edinstva i Den’ oktjabr’skoj revoljucii, konstruiruemogo SMI
[Analysis of the image of the public holidays Day of National Unity and Day of the October Revolution, constructed by mass media]. In: Izvestija Ural’skogo Federaln’nogo Universiteta. Serijal.
Problemy obrazovanii, nauki i kul’tury 138 (2015), no. 2, 51–60 (URL: http://elar.urfu.ru/bitstream/
10995/31618/1/iurp-2015 – 138-09.pdf, accessed: 05-10-2016).
26 Keghel, Isabelle de: Verordneter Abschied von der revolutionären Tradition: Der „Tag der nationalen
Einheit“ in der Russländischen Föderation. In: Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen
Russland. Ed. by Lars Karl and Igor J. Polianski. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2009, 119–
140.See also eadem: Abschied vom sowjetischen Gründungsmythos – die Oktoberrevolution im
Vergangenheitsdiskurs des spät- und postsowjetischen Russland. In: „Transformationen“ der Erinnerungskulturen in Europa nach 1989. Ed. by Bernd Faulenbach and Franz-Josef Jelich. Essen:
Klartext, 2006, 227–252.
27 For a critical evaluation of the two options see Nikonov, Vjačeslav: Ideja našej nacii [The Idea of Our
Nation]. In: Izvestija, no. 246/247 (28261), 30 December 2010 to 10 Januay 2011, 7 (special issue
for the New Year’s Holiday period).
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Sovieto-Rossica
people of the Russian Federation”. In politics of history this leads to a hybridization of Soviet and pre-Soviet, Russian national and decidedly international, religious
and secular elements. And with regard to the top red-letter day 9 May there is always an elefant in the room: Stalin. Whereas the prestigious Russian NGO Memorial
against massive protest by Stalin nostalgics, post-communists and right-wing nationalists proposed to celebrate “victory without Stalin” (pobeda bez Stalina) 28, since the
annexation of Crimea the latest Putin opted for the version of “victory with considerable impact by Stalin”. The military parade on “Victory Day” 2015 for the first time
since the mid-1950s carried portraits of the dictator. 29
28 See, e. g., a recent interview with Arsenij Roginskij, chairman of Memorial: Roginskij: Rossija
dolžna priznat’ svoi prestuplenija. Intervju Taavi Minnik [Roginskij: Russia has to confess its crimes.
Interview with Taavi Minnik]. In: Postimees na russkom jazyke [Tallinn], no. 72(2375), 16 June
2016, 10. For a particularly rabid slander of Memorial see Prochanov, Aleksandr: Pobeda bez
Stalina, pravoslavie bez Christa? [Victory without Stalin, Orthodoxy without Christ?] In: e-news,
no date (URL: http://www.e-news.su/mnenie-i-analitika/63774 – pobeda-bez-stalina-pravoslaviebez-hrista.html, accessed: 02-07-2010).
29 Williams, Carol J.: Putin, once critical of Stalin, now embraces Soviet dictator’s tactics. In: Los Angeles Times, 11 June 2015 (URL: http://www.latimes.com/world/europe/la-fg-russia-stalin-model20150611-story.html, accessed: 09-10-2016).
Teutonica orientalia
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Die „Griechenlandkinder-Aktion“ 1949/1950
Die SED und die Aufnahme minderjähriger Bürgerkriegsflüchtlinge
aus Griechenland in der SBZ/DDR
[2004]
Wir griechischen politischen Emigranten begehen das 30jährige historische Jubiläum der DDR als
unseren eigenen Feiertag, weil wir mit diesem Staat seit seinen ersten Schritten unmittelbar
verbunden sind. Wir empfinden besser als jeder andere Ausländer die große Freude und den Stolz
des Volkes der DDR, weil wir seit der Gründung seines sozialistischen Staates an seiner Seite
schreiten und weil wir, durch unseren kleinen Beitrag, uns als Miterbauer dieses großartigen
Werkes fühlen. Der 30. Jahrestag der DDR fällt mit dem 30. Jahrestag unserer politischen
Emigration in diesem gastfreundlichen Land zusammen. Heute erinnern wir uns alle an die ersten
Jahre unserer Ankunft und unserer fürsorglichen Aufnahme in der DDR.
Festrede auf der zentralen Feier der griechischen politischen Emigranten in der DDR, die dem
30. Jahrestag der DDR und der 30-jährigen politischen Emigration gewidmet ist. Dresden,
d. 29. 9. 1979 (Wesentliche Auszüge). In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden,
SED-Bezirksleitung Dresden, Bezirksparteiarchiv, IV D-2/18/791.
Der Bürgerkrieg zwischen Royalisten und Republikanern im Griechenland der Jahre
1946 bis 1949 – die einen unterstützt zunächst von Großbritannien, dann von den
USA, die anderen von Jugoslawien, aber auch von Albanien und Bulgarien – markiert zugleich das Ende der Orientalischen Frage wie den „heißen“ Beginn des Kalten
Krieges. Überdies hatte dieser hoch ideologisierte Regionalkonflikt gravierende Auswirkungen auf die Binnenstruktur der von Andrej A. Ždanov 1947 proklamierten
„zwei Lager“ der Weltpolitik: Im Osten Europas gaben die bezüglich Griechenlands
und des übrigen Balkans vorherrschenden Interessengegensätze zwischen Moskau
und Belgrad den Ausschlag für den Tito-Stalin-Bruch und im Westen hatte die Überdehnung des britischen Empire durch den Griechenlandeinsatz im Frühjahr 1947
weltpolitische Konsequenzen: Mit der Truman-Doktrin wurde der „imperiale Staffelstab“, so Dan Diner, durch die USA übernommen, „eine translatio imperii der
neuesten Zeit.“ 1 Dem modernen, von low intensity warfare gekennzeichneten langgezogenen Partisanenkrieg, der primär im Nordwesten Griechenlands stattfand, fielen ca. 100.000 Menschen zum Opfer, und fast eine Million musste mehrheitlich für
1
Diner, Dan: Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung. München 1999, S. 251.
Siehe auch Jones, Howard: „A New Kind of War“: America’s Global Strategy and the Truman Doctrine in Greece. New York, NY, Oxford 1989.
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Teutonica orientalia
immer ihre Wohnsitze verlassen. 2 Der Krieg endete durch einen Impuls von außen:
Das seit dem Konflikt mit der Sowjetunion 1948 international isolierte Jugoslawien
stellte die aktive Unterstützung für die republikanische Bürgerkriegspartei ein und
schloss im Juli 1949 die Grenze zu Griechenland 3 – die „Demokratische Armee
Griechenlands“ (Demokratikos Stratos Elladas – DSE) der Partisanen geriet dadurch militärisch ins Hintertreffen und musste sich im August 1949 durch Flucht
nach Albanien, Jugoslawien und Bulgarien retten. Dieser Fluchtbewegung schlossen
sich mehrere zehntausend Zivilisten an, die in den Nachbarländern Griechenlands
auf Gruppen solcher Flüchtlinge und Vertriebenen stießen, welche bereits von 1946
an Griechenland hatten verlassen müssen. 4
1. Bürgerkrieg und Flüchtlinge in der Politik der SED
Die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands bzw. die Deutsche Demokratische
Republik war innerhalb der sowjetischen Hegemonialsphäre aufgrund der Elemente
direkter Moskauer Herrschaft wegen bis zu ihrer nominellen Souveränität 1955 ein
Sonderfall, der hierarchisch deutlich unterhalb der Ebene der Volksdemokratien Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Albanien rangierte. Ein
Indikator für diesen minderen Status innerhalb des Sowjetblocks ist die relativ geringe Zahl von Flüchtlingen aus den Bürgerkriegsgebieten im Norden Griechenlands,
die 1949 und 1950 der SBZ bzw. der DDR zugeteilt wurden. Von insgesamt 70.000–
2
3
4
O’Ballance, Edgar: The Greek Civil War 1944–1949. London 1966; Iatrides, John O.: Civil War,
1945–1949. National and International Aspects. In: Ders. (Hrsg.): Greece in the 1940s: A Nation in
Crisis. Hanover, NH, London 1981, S. 195–219 + 385–392; Close, David H. (Hrsg.): The Greek Civil
War, 1943–1950. Studies of Polarization. London, New York, NY, 1993.
Barker, Elisabeth: (I) Yugoslav Policy towards Greece 1947–1949. (II) The Yugoslavs and the Greek
Civil War of 1946–1949. In: Bærentzen, Lars, John O. Iatrides, Ole L. Smith (Hrsg.): Studies in
the History of the Greek Civil War 1945–1949. Copenhagen 1987, S. 263–308; Pirjevec, Jože: The
Tito-Stalin Split and the End of the Civil War in Greece. Ebd., S. 309–316; Ristović, Milan: Jugoslawien und der Bürgerkrieg in Griechenland 1945–1950. In: Thetis 4 (1998), S. 283–291; ders.: „Mali
rat“ na jugoslovensko-grčkoj granici (1945–1950). In: Vojnoistorijski glasnik 1999, H. 1–3, S. 89–
109. Zur ambivalenten Haltung Stalins siehe Stavrakis, Peter J.: Moscow and Greek Communism,
1944–1949. Ithaca, NY, London 1998; Ulunian, Artiom A.: The Soviet Union and „the Greek Question“, 1946–53. Problems and Appraisals. In: Gori, Francesca, Silvio Pons (Hrsg.): The Soviet Union
and Europe in the Cold War, 1943–53. London 1996, S. 144–160; ders.: Kommunističeskaja partija
Grecii. Aktual’nye voprosy ideologii, politiki i vnutrennej istorii. (KPG v Nacional’nom Soprotivlenii, Graždanskoj i „Cholodnoj“ vojnach). 1941–1956 gg. Moskva 1994; und Esche, Matthias: Die
Kommunistische Partei Griechenlands 1941–1949. Ein Beitrag zur Politik der KKE vom Beginn der
Résistance bis zum Ende des Bürgerkriegs. München, Wien 1982.
Zu den verschiedenen Flucht- und Vertreibungswellen siehe summarisch Troebst, Stefan: Vom Grammos-Gebirge nach Niederschlesien: Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in Osteuropa und
Zentralasien (1946–2002). In: Bingen, Dieter, Włodzimierz Borodziej, Stefan Troebst (Hrsg.): Vertreibungen europäisch erinnern? Historische Erfahrungen – Vergangenheitspolitik – Zukunftskonzeptionen. Wiesbaden 2003, S. 158–166.
Die „Griechenlandkinder-Aktion“ 1949/1950
259
100.000 Flüchtlingen, darunter etwa 28.000 unbegleitete Kinder und Jugendliche 5,
die nach dem Ende des Bürgerkriegs im sowjetischen Machtbereich sowie in Jugoslawien lebten, wurden nur etwas mehr als eintausend in die SBZ/DDR, hier vor allem
in das Land Sachsen, geschickt, fast alle von ihnen im Alter von acht bis 17 Jahren. 6 Die große Mehrheit hingegen, darunter sämtliche Kombattanten und übrigen
Erwachsenen, wurde auf die UdSSR, hier vor allem auf die Usbekische SSR 7, auf Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien aufgeteilt. Ein Teil blieb überdies
in Griechenlands benachbarten Fluchtländern, also in Albanien und Bulgarien sowie
5
6
7
Zu den wichtigsten Ergebnissen der zersplitterten und vielsprachigen Forschung über Flüchtlingskinder aus dem Griechischen Bürgerkrieg siehe vor allem Bærentzen, Lars: The „Paidomazoma“
and the Queen’s Camps. In: Bærentzen, Iatrides, Smith (Hrsg.): Studies in the History of the
Greek Civil War, S. 127–157; Nakovski, Petre: Makedonski deca vo Polska (1948–1968) (Politološka studija). Skopje 1987; Robovski, Nikifor: Makedoncite od Egejskiot del na Makedonija vo
Čehoslovakija. Skopje 1988; Wojecki, Mieczysław: Uchodźcy polityczni z Grecji w Polsce 1948–
1975. Jelenia Góra 1989; Kirjazovski, Risto: Makedonskata politička emigracija od Egejskiot del na
Makedonija vo Istočnoevropskite zemji po Vtorata svetska vojna. Skopje 1989; Dalianis-Karambatzakis, A. Mando: Children in Turmoil during the Greek Civil War 1946–49: Today’s Adults.
A Longitudinal Study on Children Confined with their Mothers in Prison. Stockholm 1994; Lagani, Eirini: To „paidomazoma“ kai oi ellinogioukoslavikes scheseis 1949–1953. Athens 1996;
Voutira, Eftihia, Aigli Brouskou: „Borrowed Children“ in the Greek Civil War. In: Panter-Brick,
Catharine, Malcolm T. Smith (Hrsg.): Abandoned Children. Cambridge 1998, S. 92–110; Ristović, Milan: Dugi povratak kući. Deca izbeglice iz Grčke u Jugoslaviji 1948–1960. Beograd 1998;
Boeschoten, Riki van: The Impossible Return: Coping with Separation and the Reconstruction of
Memory in the Wake of the Civil War. In: Mazower, Mark (Hrsg.): After the War Was Over: Reconstruction the Family, Nation, and State in Greece, 1943–1960. Princeton, NJ, 2000, S. 122–
144; Hradečný, Pavel: Řecká komunita v Československu. Její vznik a počáteční vývoj (1948–
1954). Praha 2000; ders.: Die griechische Diaspora in der Tschechischen Republik: Die Entstehung und Anfangsentwicklung 1948–1956. In: Konstantinou, Evangelos (Hrsg.): Griechische Migration in Europa. Geschichte und Gegenwart. Frankfurt /M. etc. 2000, S. 95–117; Minkov, Lazar:
Makedonskata emigracija od Egejskiot del na Makedonija vo Ungarija. Skopje 2000; Monova,
Miladina: De l’historicité à l’ethnicité: Les Egéens ou ces autres Macédoniens. In: Balkanologie 5 (2001), S. 179–197; dies.: Parcours d’exil, récits de non-retour. Les Egéens en République
de Macédoine. Ph. D. Thesis, EHESS, Paris, 2002; Ačkoska, Violeta: Nekoi aspekti na prašanjeto na begalcite od Egejska Makedonija vo NRM (1944–1955 godina). In: Glasnik na Institutot
za nacionalna istorija 46 (2002), H. 2, S. 57–71; Michalidis, Jakovos D.: Slavjanomakedonski politemigranti v Narodna Republika Makedonija (1949–1954). In: Makedonski pregled 26 (2003),
H. 1, S. 29–50; Brown, Keith S.: Macedonia’s Child-Grandfathers: The Transnational Politics of
Memory, Exile and Return 1948–1998. Washington 2003 (= Donald W. Treadgold Papers series,
37); und Troebst, Stefan: Evacuation to a Cold Country: Child Refugees from the Greek Civil War
in the German Democratic Republic, 1949–1989. In: Nationalities Papers 32 (2004), H. 3, S. 675–
691.
Zu autobiographischen Veröffentlichungen aus dieser Gruppe siehe Kipouros, Dimitris: Mia zontani martyria. Oi Ellines politikoi prosfiges sti Germaniki Laokratiki Dimokratia. Athen 1997, und
Tsimoudis, Konstantinos: Eine neugriechische Odyssee. Autobiographie. Alexandroupolis 1998.
Siehe Fig. 5: Die ermittelten Ansiedlungsorte der griechischen Bürgerkriegsflüchtlinge in der Sowjetunion. In: Ruwe, Gerrit: Griechische Bürgerkriegsflüchtlinge. Vertreibung und Rückkehr. Münster
1990, S. 25 (= Berichte aus dem Arbeitsgebiet Entwicklungsforschung am Institut für Geographie
Münster, 16).
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260
Teutonica orientalia
vor allem in Jugoslawien 8, und ein weiterer erhielt die Möglichkeit, aus Jugoslawien
nach Nordamerika und Australien auszuwandern. Nur ein Bruchteil konnte bis Oktober 1952 nach Griechenland zurückkehren, darunter 538 Flüchtlingskinder, die in
Jugoslawien Aufnahme gefunden hatten, nicht hingegen solche, die nach Sachsen gelangt waren. 9 Gleichfalls eine Ausnahme blieb die Erlaubnis der Regierung der ČSSR
vom Dezember 1954 an 737 Griechen zur Rückkehr nach Griechenland – darunter
20 Kinder. 10 1128 Personen, d. h. 2 Prozent aller statistisch erfassten Bürgerkriegsflüchtlinge, wurden in den Jahren 1949 und 1950 in der SBZ/DDR untergebracht. Da
es sich bei ihnen nahezu ausschließlich um Kinder und Jugendliche handelte, machten diese 6,3 Prozent der registrierten Flüchtlinge dieser Altersgruppe aus (Tabelle
„Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in Ostmitteleuropa, der Sowjetunion und
der SBZ/DDR 1949/1950“).
Tabelle: „Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in Ostmitteleuropa, der Sowjetunion und
der SBZ/DDR 1949/1950“
Aufnahmeland
Flüchtlinge insgesamt
Kinder und Jugendliche
Sowjetunion
11.980
Keine Angabe
Tschechoslowakei
11.941
3500
Polen
11.458
3500
Rumänien
9100
4256
Ungarn
7253
3000
Bulgarien
3071
672
SBZ/DDR
1128
1128
Jugoslawien
Keine Angabe
1857
Albanien
Keine Angabe
Keine Angabe
Insgesamt
55.881
17.913
Quelle: Table 1: Total number of refugees according to ethnic origin and country of residence
(1950) und Table 2: Child refugees according to ethnic origin and country of residence
(1949–1950). In: Boeschoten, Riki van: „Unity and Brotherhood“? Macedonian Political
Refugees in Eastern Europe. In: Jahrbücher für Geschichte und Kultur Südosteuropas 5 (2003),
S. 189–202, hier S. 192.
8
Siehe Fig. 6: Die ermittelten Ansiedlungsorte der griechischen Bürgerkriegsflüchtlinge in den Staaten
Mittel- und Osteuropas. In: Ruwe: Griechische Bürgerkriegsflüchtlinge, S. 27, sowie Mitsopoulos,
Thanasis: Miname Ellines. Ta scholia ton ellinon politikon prosfygon stis sosialistikes chores. Athen
1979.
9 Lagani: To „paidomazoma“, S. 94–95. Vgl. auch Jones, Howard: The Diplomacy of Restraint: The
United States’ Efforts to Repatriate Greek Children Evacuated During the Civil War of 1946–49. In:
Journal of Modern Greek Studies 3 (1985), S. 65–85, hier S. 82; und ders.: „A New Kind of War“,
S. 140–151 + 285–288.
10 Hradečný: Die griechische Diaspora in der Tschechischen Republik, S. 106 und 114.
Die „Griechenlandkinder-Aktion“ 1949/1950
261
In deutlichem Kontrast zu den großen Anstrengungen, die zentrale und regionale
Behörden in der SBZ/DDR zur Unterbringung und Ausbildung dieser Kinder und Jugendlichen unternahmen, stand die außerordentliche Zurückhaltung bei der Verwertung samt medialer Umsetzung durch die Partei. Die SED-Propaganda schlachtete
diesen nachgerade klassischen Fall von „Internationalismus in Aktion“ und Beleg
für die „humanistische Mission“ des „besseren“ Deutschland so gut wie gar nicht
aus. Die Gründe für diesen in den Kontext des Beginns des Kalten Krieges und der
DDR-Gründung nicht recht passenden Sachverhalt liegen im Dunkeln. Immerhin
können zwei auf den ersten Blick naheliegende Vermutungen ausgeschlossen werden:
(1) Die vor dem Hintergrund der gesamten Flüchtlings- und Vertriebenenproblematik Sachsens plausible Annahme, dass die Entscheidung zur Aufnahme der griechischen Bürgerkriegsflüchtlinge von der Sowjetischen Militäradministration
in Deutschland (Sovetskaja Voennaja Administracija v Germanii, SVAG bzw.
SMAD) in Berlin und ihrer sächsischen Filiale in Dresden, der Sowjetischen
Militäradministration im Land Sachsen (Sovetskaja Voennaja Administracija v
zemle Saksonija, SVAS bzw. SMAS 11), über den Kopf deutscher Stellen hinweg
dekretiert worden war – wie etwa beim Umgang mit den deutschen Vertriebenen,
die nach Sachsen gelangten, der Fall 12 – und seitens SED und regionalen Behörden entsprechend zurückhaltend aufgenommen wurde, ist mit einem Quellenveto
belegt: Dokumente des DDR-Ministeriums für Volksbildung aus dem Mai 1950
machen deutlich, dass der Kenntnisstand der sowjetischen Besatzungsmacht zu
der gesamten, hier als „Griechenlandkinder-Aktion“ bezeichneten Angelegenheit außerordentlich niedrig war. 13
(2) Ebenfalls keinen Ausschlag können prinzipielle Überlegungen der SED der Art
gegeben haben, dass das deutsch-griechische Verhältnis als durch den Weltkrieg
11 Raschka, Johannes: Sowjetisierung in der Region. Die Sowjetische Militäradministration in Sachsen
1945–1949. In: Osteuropa 51 (2001), S. 1453–1469.
12 Donth, Stefan: Vertriebene und Flüchtlinge in Sachsen 1945–1952. Die Politik der Sowjetischen Militäradministration und der SED. Köln, Weimar, Wien 2000.
13 Anfang Mai 1950 besuchte Konstantin D. Mitropolskij von der für Schulwesen zuständigen Untergliederung der Sowjetischen Kontrollkommission (Sovetskaja Kontrol’naja Kommissija v Germanii – SKK) die Abteilung Jugendhilfe und Heimerziehung des DDR-Ministeriums für Volksbildung
und erkundigte sich eingehend nach Zahl, Zusammensetzung, schulischer Betreuung, Ausbildung
usw. der in der DDR befindlichen Flüchtlingskinder aus Griechenland sowie nach dem Hilfskomitee
für das demokratische Griechenland (dazu unten). Am 31. Mai forderte er von derselben Stelle sowie
von der Abteilung Bevölkerungsfragen in der Hauptabteilung Staatliche Verwaltung des DDR-Ministeriums des Innern „sofortige Angaben, 1. Wer die Griechenkinder nach der DDR eingeladen
hat; 2. welche Stelle die Genehmigung erteilt hat.“ Vgl. Krantzik, Abt. Jugendhilfe und Heimerziehung: Griechenlandkinder-Aktion. Berlin, 6. Mai 1950. In: Bundesarchiv Berlin, DR 2 (Ministerium
für Volksbildung), 6096; Burkhardt, Abt. Jugendhilfe und Heimerziehung: Griechlandkinder-Aktion.
Berlin, 31. Mai 1950. Ebd. Im Falle einer sowjetischen Federführung wäre eine solche Anfrage wohl
kaum erfolgt, zumal Mitropolskij zuvor den Schulsektor in der Abteilung Volksbildung der SMAD
geleitet hatte. Auch liegen keine Hinweise darauf vor, dass die SBZ-Behörden bei der SMAD die
Erteilung der erforderlichen Einreisevisa für die Bürgerkriegsflüchtlinge beantragt haben.
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262
Teutonica orientalia
noch zu belastet sei, um bereits fünf Jahre nach dem Rückzug der Wehrmacht
aus Griechenland deutscherseits „proletarisch-internationalistische“ Breitseiten
gegen den „griechischen Monarchofaschismus“ abzufeuern. Skrupel dieser Art
bestanden nicht, wie etwa eine Protestresolution der Delegierten des Dritten
FDGB-Kongresses vom Folgejahr an die Regierung in Athen belegte, war doch
hier die Rede von einem „nach Himmler’sche[m] Muster aufgebaute[m] faschistische[n] Terrorregime“ einschließlich „Konzentrations- und Vernichtungslager“
im „faschistischen Griechenland, in dem ein erneutes Massenmorden, eine systematische Vernichtung von fortschrittlichen Menschen zum alltäglichen Geschehen gehört“. 14
An wahrscheinlicheren, aber quellenmäßig nicht belegbaren Motiven für die auffällige Propagandaabstinenz der SED in Sachen „Republik der 1000 griechischen
Kinder“ – so der damalige FDJ-Sprachgebrauch 15 –, sind zwei ganz unterschiedliche
zu nennen:
(1) Möglicherweise spielt hier die 1949 erfolgte fluchtartige Übersiedlung fast aller in Sachsen lebender Geschäftsleute griechischer Herkunft in die Westzonen,
vor allem nach Frankfurt /M., Bad Nauheim und Wiesbaden, eine Rolle. 16 Dabei
handelte es sich in erster Linie um Familien und Firmen griechischsprachiger
Leipziger Pelzhändler und Kürschner, die seit dem 18. Jahrhundert in der Messestadt ansässig waren und die einer bitteren Ironie der Geschichte zufolge ganz
überwiegend aus dem nordgriechischen Rauchwarenzentrum Kastoria stammten – also aus dem Landesteil, aus dem auch die Mehrzahl der minderjährigen
Bürgerkriegsflüchtlinge 1949/1950 kam. Die Kombination von „Griechen“ und
„Sachsen“ war damals offensichtlich in SED-Sicht nicht allzu populär.
(2) Auch die bereits genannte Makroebene, also die sowjetische Deutschland- und
Europapolitik ist zu berücksichtigen: Aus zeitgenössischer Moskauer Sicht war
die SBZ eindeutig kein Bestandteil des von Ždanov 1947 identifizierten „antiimperialistischen und demokratischen Lagers“, wie auch die DDR nach ihrer Gründung 1949 zumindest anfänglich im Kalkül Stalins ein Provisorium blieb. Was
für die Volksdemokratien galt, galt daher nicht im selben Maße für SBZ/DDR. 17
14 Telegramm der Abt. Internationale Verbindungen des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes an
die Regierung Griechenlands mit der Protestresolution vom 1. September 1950, Berlin, 5. September 1950. In: Bundesarchiv Berlin, DY 34 (Präsidiums- und Sekretariatsbeschlüsse des FDGBBundesvorstandes), 20177.
15 Protokoll Nr. 92 der Sitzung des Sekretariates des Zentralrates der FDJ vom 25. August 1950,
Protokollpunkt 31, S. 8. In: Bundesarchiv Berlin, DY 24 (Zentralarchiv der FDJ), 2423 (AugustSeptember 1950). Zuständig seitens des Zentralrates waren Margot Feist und Rudi Wagner.
16 Suppé, Frank-Thomas: Hellas Lipsiensis – Griechen in Leipzig. In: Europa-Haus Leipzig (Hrsg.):
Griechen in Leipzig – damals und heute. Leipzig 2001, S. 17–23, hier S. 23.
17 Zum Forschungsstand vgl. Naimark, Norman M., Leonid Gibianskii (Hrsg.): The Establishment of
Communist Regimes in Eastern Europe, 1944–1949. Boulder, CO, 1997, und Creuzberger, Stefan,
Manfred Görtemaker (Hrsg.): Gleichschaltung unter Stalin? Die Entwicklung der Parteien im östlichen Europa 1944–1949. Paderborn 2002.
Die „Griechenlandkinder-Aktion“ 1949/1950
263
Dies könnte ein Grund dafür gewesen sein, dass im konkreten Fall zum einen
ausschließlich Kinder und Jugendliche „zugeteilt“ wurden, deren Aufenthaltsdauer auf die Zeit Ihrer Schul- und Berufsausbildung begrenzt war, und zum
anderen die propagandistische Verwertung in engem Rahmen zu halten war.
In diesem Zusammenhang aufschlussreich ist der Umstand, dass auch Gruppen von
Flüchtlingskindern und -jugendlichen aus anderen Kriegesgebieten der Welt, so etwa
aus Vietnam und Korea, die in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre gleichfalls in
Sachsen, sogar an den selben Orten wie die Griechen, nämlich in Dresden und Radebeul, untergebracht waren, nicht in der Parteipropaganda figurierten 18, und dasselbe
noch in den achtziger Jahren für Flüchtlingskinder aus Namibia zutraf. 19 Hier scheint
ein DDR-typisches Politikmuster erkennbar zu sein: kleine Gruppen unbegleiteter
Kinder und Jugendlicher aufnehmen, zügig ausbilden und umgehend zurückschicken – und das alles möglichst ohne Aufsehen.
Die nicht erfolgte propagandistische Instrumentalisierung bedingte, dass die
Gruppe griechischer Bürgerkriegsflüchtlinge in der DDR-Öffentlichkeit kaum präsent war – in auffälligem Unterschied etwa zu den zu Objekten gelenkter Solidarität
gemachten ca. 2000 (überwiegend erwachsene) politischen Flüchtlingen aus Chile
nach 1973. 20 Entsprechend wurde im Zeitraum 1949–1989 über die „DDR-Griechen“ höchstens in der Bezirkspresse Dresdens, Leipzigs und Karl-Marx-Stadts
(Chemnitz), berichtet, wobei man sich auf den Aspekt der „Völkerfreundschaft“
beschränkte. 21 Ein Artikel im überregionalen SED-Zentralorgan Neues Deutsch18 1953 und 1954 waren insgesamt 600 Waisenkinder aus Korea in die DDR gekommen, wo sie eine
Berufsausbildung erhielten. Bereits 1959 waren 475 von ihnen wieder nach Korea zurückgekehrt.
Vgl. Übersicht über die in der DDR ausgebildeten oder noch in der Ausbildung befindlichen ausländischen Kinder und Jugendlichen, o. D. [1959]. In: Bundesarchiv Berlin, DR 2 (Ministerium für
Volksbildung), 5357. Ein Hinweis auf Heim für vietnamesische Kinder in Dresden findet sich in:
Erziehung und Ausbildung ausländischer Jugendlicher im Rahmen des proletarischen Internationalismus (Bezirk Dresden), o. D. In: Bundesarchiv Berlin, DR 2 (Ministerium für Volksbildung), 4389.
19 Rüchel, Uta: Zwischen Paternalismus und Solidarität: das SWAPO-Kinderheim in Bellin. In: Behrends, Jan C., Thomas Lindenberger, Patrice G. Poutrus (Hrsg.): Fremde und Fremd-Sein in der
DDR. Zu historischen Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland. Berlin 2003, S. 251–
269. Siehe auch dies.: „Wir hatten noch nie einen Schwarzen gesehen“. Das Zusammenleben von
Deutschen und Namibiern rund um das SWAPO-Kinderheim Bellin 1979–1990. Schwerin 2001.
In Bearbeitung befindlich ist ein erziehungswissenschaftliches Dissertationsvorhaben von Susanne
Timm zum Thema „Das Kinderheim für namibische Flüchtlingskinder in Bellin /DDR: Ein pädagogisches Projekt der SED-Solidaritätspolitik“ an der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg.
20 S. dazu Maurin, Jost: Die DDR als Asylland: Flüchtlinge aus Chile 1973–1989. In: Zeitschrift für
Geschichtswissenschaft 51 (2003), S. 814–831, und Poutrus, Patrice G.: Mit strengem Blick. Die sogenannten Polit. Emigranten in den Berichten des MfS. In: Behrends, Lindenberger, Poutrus (Hrsg.):
Fremde und Fremd-Sein in der DDR, S. 231–250, hier S. 242–250.
21 Siehe z. B. Zeitler, Werner: Sie lernen für ein befreites Griechenland. Eine Klasse griechischer Schüler wird in der Roseggerschule Radebeul unterrichtet. In: Sächsische Zeitung, 26. September 1951,
S. 4; Suttner, Willy: 34. Jahrestag der Kommunistischen Partei Griechenlands. Feierstunde im „Freien
Griechenland“ in Radebeul. In: Sächsische Zeitung, 5. Dezember 1952, S. 4; Nikolaou, Thomas:
40 Jahre Kommunistische Partei Griechenlands. Feierstunde in Radebeul – Ausdruck des proletari-
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264
Teutonica orientalia
land aus dem Jahr 1951 über „das Heim der griechischen Kinder“ in Radebeul
war ganz auf das Friedensreferendum vom 3. Juni ausgerichtet 22, und ein Beitrag in derselben Zeitung von 1986 über den der SED angehörenden deutsch-griechischen Schriftsteller Thomas Nikolaou, der 1949 als elfjähriges Flüchtlingskind
in die SBZ gekommen war, erwähnt den Umstand, dass es sich mitnichten um
einen Einzelfall handelte, nicht. 23 Die wenigen in der DDR auf Neugriechisch erschienenen Veröffentlichungen der Flüchtlinge selbst schließlich waren der Mehrheitsbevölkerung sprachlich nicht zugänglich. 24 Entsprechend haben sich auch die
Geistes- und Sozialwissenschaften in der DDR kaum mit dieser „einheimischen“
Flüchtlingsgruppe befasst, was wiederum zu Teilen erklärt, warum auch der bundesdeutschen DDR-Forschung die Griechen in Sachsen nicht ins Visier gerieten.
Selbst nach der Wende, als Migranten unterschiedlicher Art in der DDR in den
Blick der Forschung genommen wurden – hier vor allem Arbeitsmigranten aus
Polen, Algerien, Mosambik, Angola, Kuba und Vietnam 25 –, blieben die Griechen „unentdeckt“ und entsprechend firmieren sie weder in der jüngsten Bilanz
22
23
24
25
schen Internationalismus. In: Sächsische Zeitung, 8. Dezember 1958, S. 4. – Allgemein zur „Freundschaftsideologie“ in der frühen DDR und ihrem dem Antifaschismus vergleichbaren Stellenwert siehe
Behrends, Jan C.: Sowjetische „Freunde“ und fremde „Russen“. Deutsch-Sowjetische Freundschaft
zwischen Ideologie und Alltag (1949–1990). In: Behrends, Lindenberger, Poutrus (Hrsg.): Fremde
und Fremd-Sein in der DDR, S. 75–98.
Richter, Hildegard: Griechische Kinder sahen die Schrecken des Krieges. „Dein Ja hilft mir, in meine
Heimat zurückzukehren“, mahnt Kostos Stubis. In: Neues Deutschland Nr. 123 vom 1. Juni 1951,
S. 8. – Kostas Stoupis ist heute Vorsitzender der „Vereinigung griechischer Bürger Sachsens e. V.“ in
Dresden.
Boeckh, Wolfgang: „Damit unsere Völker einander näherkommen“. Begegnung mit Thomas Nikolaou, einem griechischen Schriftsteller in der DDR. In: Neues Deutschland vom 12. September 1986.
Komitee Freies Griechenland (Hrsg.): 10 Jahre DDR. Deka chronia. Sti filoxeni aggalia tou laou tis
L. D. Germanias. Sto pleuro tou gia to chtisimo tou sosialismou. Berlin (Ost) 1959; und Pros timi ton
25 – chronon tis GLD. Simposio Ellinon Epistimonon stin GLD (25–27 Oktovri 1974). Berlin (Ost)
1975.
Röhr, Rita: Polnische Arbeitskräfte in der DDR 1960–1970. In: Hübner, Peter, Klaus Tenfelde
(Hrsg.): Arbeiter in der SBZ-DDR. Essen 1999, S. 185–204; dies.: Hoffnung – Hilfe – Heuchelei.
Geschichte des Einsatzes polnischer Arbeitskräfte in Betrieben des DDR-Grenzbezirkes Frankfurt /
O. 1966–1991. Berlin 2001; dies.: Die Beschäftigung polnischer Arbeitskräfte in der DDR 1966–
1990. Die vertraglichen Grundlagen und ihre Umsetzung. In: Archiv für Sozialgeschichte 42 (2002),
S. 211–236; Schüle, Annegret: „Proletarischer Internationalismus“ oder „ökonomischer Vorteil für
die DDR“? Mosambikanische, angolanische und vietnamesische Arbeitskräfte im VEB Leipziger
Baumwollspinnerei (1980–1989). In: Archiv für Sozialgeschichte 42 (2002), S. 191–210; dies.:
„Die ham se sozusagen aus dem Busch geholt.“ Die Wahrnehmung der Vertragsarbeitskräfte aus
Schwarzafrika und Vietnam durch deutsche im VEB Leipziger Baumwollspinnerei. In: Behrends,
Lindenberger, Poutrus (Hrsg.): Fremde und Fremd-Sein in der DDR., S. 309–324; Kuck, Dennis:
„Für den sozialistischen Aufbau ihrer Heimat“? Ausländische Vertragsarbeitskräfte in der DDR.
Ebd., S. 271–281; Müggenburg, Andreas: Die ausländischen Vertragsarbeitnehmer in der ehemaligen
DDR. Bonn o. J. (URL http://www.integrationsbeauftragte.de/publikationen/ddr.rtf, letzter Zugriff:
04. 10. 2016); Geyer, Sven: Frischfleisch für den Sozialismus. Ausländer in der DDR. In: Spiegel
online vom 23. Mai 2001; und Feige, Michael: Vietnamesische Studenten und Arbeiter in der DDR
und ihre Beobachtung durch das MfS. Magdeburg 1999. Siehe auch Elsner, Eva-Maria, Lothar Els-
Die „Griechenlandkinder-Aktion“ 1949/1950
265
zur DDR-Forschung von 2003 26 noch in dem zeitgleich erschienenen einschlägigen Sammelband Fremde und Fremd-Sein in der DDR – sieht man von sieben
knappen Zeilen dort ab. 27 Hier macht sich das von Klaus-Dietmar Henke konstatierte „größte Defizit“ der Nach-Wende-Forschung zur DDR bemerkbar, nämlich die
„mangelnde Verknüpfung der DDR-Geschichte mit der Osteuropa- und SowjetunionGeschichte“. 28
Zwei von der Forschung zur Vor- und Frühgeschichte der DDR bislang übersehene, aber überaus beachtenswerte Ausnahmen bestätigen diese Regel. Dies ist zum
einen die Broschüre des Geographen Gerrit Ruwe Griechische Bürgerkriegsflüchtlinge. Vertreibung und Rückkehr aus dem Jahr 1990, die auf lebensgeschichtlichen
Interviews mit solchen Bürgerkriegsflüchtlingen aus Griechenland, die in den siebziger und achtziger Jahren aus der DDR in den Westteil Berlins übergesiedelt waren,
basiert. 29 Zum anderen ist es eine aus den Quellen gearbeitete Dissertation über Die
Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR und das Verhältnis der SED zur
KKE aus dem Jahr 2001 von Andreas Stergiou. 30 Und neben einer Reihe unveröffentlichter Diplom- und Magisterarbeiten sowie Dissertationen zum Thema, die
gleichfalls primär auf Interviews basieren 31, finden sich auch in der bundesdeutschen
26
27
28
29
30
31
ner: Zwischen Nationalismus und Internationalismus. Über Ausländer und Ausländerpolitik in der
DDR 1949–1990. Darstellung und Dokumente. Rostock 1994; Riedel, Almut: Erfahrungen algerischer Arbeitsmigranten in der DDR: „. . . hatten ooch Chancen, ehrlich!“. Opladen 1994; GrunerDomić, Sandra: Kubanische Arbeitsemigration in die DDR 1978–1989. Das Arbeitskräfteabkommen Kuba – DDR und dessen Realisierung. Berlin 1997; Krüger-Potratz, Marianne: Anderssein gab
es nicht: Ausländer und Minderheiten in der DDR. Münster, New York, NY, 1991.
Eppelmann, Rainer, Bernd Faulenbach, Ulrich Mählert (Hrsg.): Bilanz und Perspektiven der
DDR-Forschung. Paderborn u. a. 2003.
Poutrus: Mit strengem Blick, S. 233.
Henke, Klaus-Dietmar: DDR-Forschung seit 1990. In: Eppelmann, Faulenbach, Mählert (Hrsg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, S. 371–376, hier S. 375.
Ruwe: Griechische Bürgerkriegsflüchtlinge.
Stergiou, Andreas: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR und das Verhältnis der
SED zur KKE. Ms., Inaugural-Dissertation, Universität Mannheim 2001. Dass. auch als ders.: Im
Spagat zwischen Solidarität und Realpolitik: Die Beziehungen zwischen der DDR und Griechenland
und das Verhältnis der SED zur KKE. Mannheim 2001 (= PELEUS Studien zur Archäologie und
Geschichte Griechenlands und Zyperns, 13). Zu den deutsch-griechischen Beziehungen nach 1945
vgl. außerdem Fleischer, Hagen: Vom Kalten Krieg zur neuen Ordnung: Der Faktor Griechenland in
der deutschen Außenpolitik. In: Thetis 3 (1996), S. 299–309, und ders.: Post War Relations between
Greece and the two German States: A Reevaluation in the Light of German Reunification. In: The
Southeastern European Yearbook 1991. Athen 1992, S. 163–178.
Siehe Dalianis, Panajotis: Ethnische Koloniebildung am Beispiel der griechischen Nachkriegsemigration von 1949 in die DDR und in die Bundesrepublik Deutschland (Rekonstruiert anhand einer
Familienbiographie). Ms., Diplomarbeit, Fachbereich Sozialarbeit, Fachhochschule Frankfurt am
Mai 1997; Rosjat, Katrin: Die griechischen Bürgerkriegsflüchtlinge in Dresden und Leipzig. Ms.,
Magisterarbeit im Fach Geschichte, Universität Leipzig 2003; und Tsiradsidis, Stratis: Über die
patriotische Erziehung der griechischen Jugend. Versuch einer Grundlegung. Ms., Phil. Diss. Universität Leipzig 1956.
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266
Teutonica orientalia
Tages- und Wochenpresse vereinzelt einschlägige Artikel 32, von denen einige überdies ein Leserbriefecho ausgelöst haben. 33 Schließlich gibt es eine DeutschlandfunkRadiosendung von Ruth Dießel und Claus Leggewie über „Die Rückkehr der Andartes“ (= Partisanen) aus dem Jahr 1987 und eine Fernsehsendung des Westdeutschen
Rundfunks von Bernhard Pfletschinger über den Bürgerkrieg von 1997. 34
2. Politische und administrative Vorbereitungen
zur Aufnahme der Flüchtlinge
Dass die deutschen Kommunisten 1949 und 1950 überhaupt Flüchtlingen aus Griechenland politisches Asyl gewährten, hatte mutmaßlich mit erhofftem internationalem wie gerade auch nationalem good will für die SED zu tun: Nur wenige Jahre nach
dem Ende der deutschen Besetzung Griechenlands ergab sich die Möglichkeit einer
moralischen Entschuldung für Weltkriegsverbrechen im allgemeinen und für solche
gegen Griechen im Besonderen. Und natürlich lag auch die griechische Parallele zum
geteilten Deutschland auf der Hand – in beiden Fällen hier „Imperialisten“, dort „Antifaschisten“. 35Am 14. September 1948 beschloss daher das Zentralsekretariat der
SED die Gründung eines Hilfskomitees für das demokratische Griechenland, welches sämtliche politischen Parteien, Gewerkschaften, andere Massenorganisationen
sowie führende Persönlichkeiten aus dem Kulturbereich wie etwa den Schriftsteller Ludwig Renn und den Maler Willi Sitte einschließen sollte. Die Führung wurde
dem FDGB, der FDJ, der DFD und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregi-
32 Dießel, Ruth, Claus Leggewie: Die Heimkehr der Partisanen. Das neue Hellas und die alten Geschichten der „Andarten“. In: Die Zeit vom 20. März 1987, S. 81; Spengler-Axiopoulos, Barbara: Die
Kinder von Pädomasoma. Ein dunkles Kapitel der griechischen Geschichte wirkt bis in die Gegenwart fort. In: Frankfurter Rundschau vom 20. Januar 1996; Schlözer, Christiane: Die späte Heimkehr
der verlorenen Kinder. Risto Kiprovski auf der Suche nach dem Haus seiner Eltern. In: Süddeutsche
Zeitung vom 27. August 2003; Troebst, Stefan: Vogel des Südens, Vogel des Nordens. In: Frankfurter
Allgemeine Zeitung vom 13. September 2003, S. 7; und ders.: Von Epirus ins Elbtal. In: Frankfurter
Allgemeine Zeitung vom 26. Juli 2004, S. 7.
33 So Stathoulopoulos, Stavros: Ohne Vertreibungen nach dem griechischen Bürgerkrieg. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. November 1996, S. 11, in Reaktion auf Razumovsky, Dorothea:
Kaum erfüllt und schon überholt. Sloweniens und Mazedoniens Traum von der nationalen Eigenstaatlichkeit. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. November 1997, S. B 3, sowie Hulek,
Heinz: Griechen in der DDR. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. November 2001, S. 11,
und Neumann, Hans B.: In Marschordnung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Dezember 2001, S. 59, zu Kuck, Dennis: Die fremden sozialistischen Brüder. Völkerfreundschaft als Fall
für die Sicherheitsorgane und die Angst vor den Armen: Das Schicksal der Gastarbeiter in der DDR.
In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. November 2001, S. I.
34 Dießel, Ruth, Claus Leggewie: Die Rückkehr der Andartes. 40 Jahre nach dem griechischen Bürgerkrieg: Politische Flüchtlinge kehren aus den sozialistischen Ländern heim. In: Deutschlandfunk vom
16. Dezember 1987; Bernhard Pfletschinger: Stiefmutter Heimat. Der Bürgerkrieg in Griechenland
1943–1949. In: Westdeutscher Rundfunk vom 25. April 2003.
35 So auch Fleischer: Vom Kalten Krieg zur neuen Ordnung, S. 299.
Die „Griechenlandkinder-Aktion“ 1949/1950
267
mes (VVN) übertragen 36, Vertreter des SED-Zentralsekretariats im Komitee war Paul
Merker. 37 Von der Partei am 27. September diesem „deutschen antifaschistischen
Hilfskomitee“ gestellte Aufgabe war es, „den Opfern des Faschismus in Griechenland mit Geld- und Sachspenden, insbesondere mit ärztlicher Hilfe, Medikamenten,
ärztlichen Hilfsmitteln und Fürsorge für elternlose Kinder humanitäre Hilfe [zu]
gewähren“. 38 Binnen weniger Wochen baute die Berliner Zentrale des Komitees Untergliederungen auf Länder- und Kreisebene auf. So wurde am 7. Dezember 1948 in
Dresden von der VVN Sachsen ein sächsisches Landeskomitee gegründet, welches
umgehend intensive Tätigkeit entwickelte und offenkundig über die dazu notwendigen Ressourcen verfügte. 39 Im selben Monat kam das SED-Zentralsekretariat mit
Vertretern der von dem stalinistischen Hardliner Nikos Zachariadis geleiteten Kommunistischen Partei Griechenlands (Kommunistiko Komma Elladas, KKE) überein,
„dass wir für eine längere Periode, eventuell ein bis zwei Jahre, 100 griechische Kinder nach der sowjetischen Besatzungszone übernehmen.“ 40 Bereits zu diesem Zeitpunkt war die Entscheidung darüber gefallen, dass nach Deutschland ausschließlich
minderjährige, nicht hingegen erwachsene Bürgerkriegsflüchtlinge geschickt werden
sollten. 41
Von Januar bis März 1949 hatte das neue Hilfskomitee eine hochrangige Delegation der Ende 1947 proklamierten, von dem Partisanengeneral Markos Vafiadis geleiteten und kommunistisch dominierten „Provisorischen Demokratischen Regierung
des Freien Griechenlands“ (Prosorini Dimokratiki Kyvernisi tis Eleftheris Elladas),
der sogenannten „Regierung des Gebirges“, zu Gast. An der Spitze der Delegation
stand der Minister für Gesundheit, Soziales und Erziehung, der Medizinprofessor
Petros Kokkalis, und weitere Mitglieder waren DSE-Mitbegründer Generalleutnant
„Kikitsas“ (= Georgios Protopappas), ein als „Lambross“ figurierender Generalmajor
derselben Armee, der Arzt und Vorsitzende des in Budapest ansässigen griechischkommunistischen Komitees „Hilfe für das Kind“ (Epitropi „Voithia pros to paidi“ –
EVOP), Fotopoulos, sowie der Vertreter der gleichfalls kommunistischen „Volksbefreiungsfront“ (Naroden Osloboditelen Front – NOF) der südslawischen Makedonier
36 Protokoll Nr. 116 (II) der Sitzung des Zentralsekretariats der SED vom 27. September 1948. In:
Bundesarchiv Berlin, DY 16 (Hilfskomitee für das demokratische Griechenland), 1044. Zitiert bei
Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 26.
37 Ebd., S. 38.
38 Protokoll Nr. 116 (II) der Sitzung des Zentralsekretariats der SED vom 27. September 1948. In:
Bundesarchiv Berlin, DY 16 (Hilfskomitee für das demokratische Griechenland), 1044. Zitiert bei
Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 26.
39 Protokoll über die Gründungskonferenz des Griechenland-Hilfskomitees am 7. 12. 48 im Waldpark-Hotel, Dresden A, Prellerstraße. In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Bezirksparteiarchiv, SED-Bezirksleitung Dresden, Bestand „SED Landesleitung Sachsen, Abteilung Agitation“,
IV/A/2/7, Akte „Hilfskomitee für das demokratische Griechenland, 1948–1952“, A/325, Bll. 2–7.
40 Bundesarchiv Berlin, DY 30 (Büro Erich Honecker), IV 2/2.1/230, S. 3, 31. Dezember 1948. Zitiert
bei Rosjat: Die griechischen Bürgerkriegsflüchtlinge, S. 27. – Zu Zachariadis siehe Georgios Veloudis: Zachariadis, Nikos. In: Bernath, Mathias, Karl Nehring (Hrsg.): Biographisches Lexikon zur
Geschichte Südosteuropas. Bd. IV, München 1981, S. 447–479.
41 Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 38.
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Griechenlands in der Provisorischen Regierung und EVOP-Funktionär Andon Sikavica. 42 Die Delegation wurde von dem Agitprop-Funktionär Thanasis Georgiou begleitet, der in den Jahren 1949 und 1950 als ständiger Vertreter der KKE in der DDR,
als in Berlin ansässiger griechischer Verbindungsmann zur Zentrale des Hilfskomitees sowie als Berlin-Korrespondent des KKE-Zentralorgans Rizospastis fungierte. 43
Selbst die SED-Spitze war vom Interesse der deutschen Öffentlichkeit am Thema
Griechenland überrascht, welches sich in reger Beteiligung an öffentlichen Versammlungen mit den griechischen Delegierten, in der Summe der Geldspenden für
humanitäre Hilfe und in freiwilligen Solidaritätsschichten in Industriebetrieben niederschlug. Augenfälliger Grund für die Popularität der republikanischen Seite im
Griechischen Bürgerkrieg war, wie angedeutet, die implizite Vergebung für Kriegsverbrechen der Wehrmacht in Griechenland, welche die Delegationsmitglieder ihren
deutschen Zuhörern gewährten:
Immer wieder waren die Teilnehmer der Kundgebungen auf das stärkste beeindruckt von
der Versicherung der griechischen Sprecher, dass zwischen dem deutschen und dem griechischen Volke die Kluft, die der Hitlerfaschismus geschlagen hat, geschlossen ist, und sehr
stark war der Beifall, wenn die Sprecher der griechischen Delegation ebenfalls erklärten,
dass wir einen gemeinsamen Kampf führen, und wenn sie uns Erfolg wünschten in unserem
Kampf um die Freiheit Deutschlands. 44
Ein ganz besonderer Erfolg war die Reise der Delegation durch Sachsen, wo Solidaritätstreffen die größten Teilnehmerzahlen erreichten und zugleich die höchsten
Geldbeträge gespendet wurden. 45 Die griechische Delegation griff das Angebot der
SED von 1948 auf Evakuierung von Flüchtlingskindern aus ihren provisorischen
Unterkünften auf dem Balkan in die SBZ auf und die deutsche Seite erklärte sich
verbindlich bereit, 150 Kinder dauerhaft in Waisenhäusern unterzubringen, desgleichen Lehrstellen für weitere 75 Jugendliche bereitzustellen sowie jährlich 1000 Kinder zu mehrwöchigen Ferienaufenthalten zu aufzunehmen. 46 Die Details vereinbarte
Delegationsleiter Kokkalis mit dem Präsidenten der Deutschen Zentralverwaltung
42 Ebd., S. 26–27. – Zu Sikavica, der im Folgejahr als „Tito-Agent“ in ein Dorf in Rumänien verbannt
wurde, siehe Martinova-Buckova, Fana: I nie sme deca na majkata zemja . . . Skopje 1998, S. 179–
180.
43 Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 26.
44 Bericht über den Besuch der griechischen Delegation [1949], S. 8. In: Archiv Moderner Sozialgeschichte (ASKI), Athen, Archivbereich „Eidiki Ypiresia Berolinou“ (Parteiabteilung in Berlin), 180,
8/6/1. Zitiert nach Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 27–28.
45 Bericht des Hilfskomitees für das demokratische Griechenland, Land Sachsen, an den Leitungsvorstand der SED Dresden über die Kundgebungen anläßlich der Anwesenheit von Vertretern der
griechischen Regierung in Sachsen, Dresden, 17. Februar 1949. In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv
Dresden, Bezirksparteiarchiv, SED-Bezirksleitung Dresden, Bestand „SED Landesleitung Sachsen,
Abteilung Agitation“, IV/A/2/7, Akte „Hilfskomitee für das demokratische Griechenland, 1948–
1952“, A/325, Bll. 13–17.
46 Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 38.
Die „Griechenlandkinder-Aktion“ 1949/1950
269
für Volksbildung und SED-Vorstandsmitglied Paul Wandel. 47 In den Folgemonaten
wurde die Zahl der zum dauerhaften Aufenthalt vorgesehenen Kinder verdoppelt,
so dass am 4. August 1949 ein erster, in Budapest zusammengestellt Transport von
342 Kindern und Jugendlichen per Zug am Bahngrenzübergang Bad Schandau in
Sachsen eintraf. 48 Hier wurden sie mit Blumen und der Parole „Philia!“ (Freundschaft!) empfangen. 49
Zwar gibt es keine verlässlichen Angaben darüber, aus welchen Fluchtländern
die im Zug befindlichen unbegleiteten Minderjährigen kamen 50 und gemäß welcher
Auswahlkriterien sie in die SBZ verbracht wurden, doch liegen Hinweise darauf vor,
dass dieser erste Transport vor allem aus vorübergehend in Albanien untergebrachten
Flüchtlingen bestand. 51 Gemäß Informationen aus SBZ- wie KKE-Quellen waren die
im Zug befindlichen Kinder in ethnischer Hinsicht sämtlich Griechen, d. h. unter ihnen soll es keine Makedonier, Bulgaren und andere Südslawen, desgleichen keine
Albaner (Arvaniten, Çam u. a.), Vlachen (Aromunen), Türken, Pomaken, Roma,
Gagausen, Juden u. a. aus Nordgriechenland gegeben haben. Dasselbe soll für den
zweiten Transport vom Sommer 1950 gegolten haben. 52 Dies ist insofern ungewöhnlich, als die Flüchtlingskinder, die in den Volksdemokratien untergebracht waren, in
der Regel im Verhältnis 3/5 Griechen und 2/5 Makedonier ethnisch gemischt waren
und ähnliche Relationen für die Erwachsenen galten. Allerdings gibt eine makedonische Autorin an, dass sich unter den 1949/1950 nach Sachsen gekommenen Kindern
14 makedonische befanden 53, wie auch mindestens ein Kind zur Gruppe der muslimischen Çam-Albaner aus der Gegend um Konitsa gehörte. 54 Entsprechend scheint es,
47 Witz, Franz: Proletariakos diethnismos. In: Komitee Freies Griechenland (Hrsg.): 10 Jahre DDR.
Deka chronia, S. 6–7. Siehe ebd., S. 6, eine Fotografie, die Kokkalis im Gespräch mit Wandel, der ab
1949 auch das Ministerium für Volksbildung der DDR leitete, zeigt.
48 Krantzik, Abt. Jugendhilfe und Heimerziehung: Griechenlandkinder-Aktion, Berlin, 6. Mai 1950.
In: Bundesarchiv Berlin, DR 2 (Ministerium für Volksbildung), 6096. In diesem Dokument ist die
maschinenschriftliche Angabe „432 Kinder“ handschriftlich zu „(342)“ korrigiert. Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 39, nennt „c. 340“.
49 Zur Ankunft des Zuges in Bad Schandau vgl. die Fotografien in Komitee Freies Griechenland (Hrsg.):
10 Jahre DDR. Deka chronia, S. 7.
50 Eine detaillierte Ostmitteleuropa-Karte mit dem Titel „Migrationsströme der Flüchtlingskinder aus
dem Ägäischen Teil Makedoniens“ schließt die SBZ/DDR zwar ein, zeigt aber keine Zielorte bzw.
Transportrouten dorthin. Vgl. Markoski, Blagoja, Dimitra Karčicka: Migracionni tekovi na decata
begalci od Egejskiot del na Makedonija. In: Martinova-Buckova: I nie sme deca, S. 34.
51 Ebd., S. 40–50. Vgl. auch Fig. 3: Fluchtwege und Aufnahmeländer der griechischen Bürgerkriegsflüchtlinge/3. Phase des Bürgerkriegs. In: Ruwe: Griechische Bürgerkriegsflüchtlinge, S. 22.
52 Der Sekretär des ZK der KKE, Vasilis Bartziotas, berichtete der 3. ZK-Konferenz im Oktober 1950,
unter den 1128 in der DDR untergebrachten Flüchtlingskindern aus Griechenland befände sich kein
einziges makedonisches Kind. Vgl. Minkov: Makedonskata emigracija, S. 173. Auch der bezüglich
der Bürgerkriegsflüchtlinge führende makedonische Historiker Risto Kirjazovski gibt keine makedonischen Flüchtlingskinder dort an. Siehe Kirjazovski: Makedonskata politička emigracija.
53 Martinova-Buckova: I nie sme deca, S. 50.
54 Information von Sally Ewig (Franklin, Wisconsin, USA) über ihren Onkel Haxhi Pondikati, geboren
um 1938 in Pogoniani (Voshtin) bei Ioannina, gestorben 1951 im Radebeuler Heimkombinat „Freies
Griechenland“.
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als ob die deutschen Behörden entweder keinen Unterschied zwischen (griechischer)
Staatsangehörigkeit und (makedonischer, albanischer u. a.) ethnisch-sprachlicher Zugehörigkeit gemacht haben oder aber zu dieser Unterscheidung wegen des Bilingualismus der Kinder nicht in der Lage waren. Auf jeden Fall fand in der SBZ/DDR der
Schulunterricht für sämtliche Flüchtlingskinder aus Griechenland ausschließlich in
griechischer Sprache statt; Makedonischunterricht wie in Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und der UdSSR gab es hier nicht. 55 Damit vermochte es die
Partei- und Staatsführung der DDR, den „Import“ des Problemkomplexes der Makedonischen Frage, hier ihres ethnopolitischen Hauptaspektes, zu verhindern – ein
Kunststück, das den „Bruderparteien“ im RGW nicht gelang. Denn der Griechische
Bürgerkrieg besaß neben seinen weltpolitischen und ideologischen Aspekten auch
eine brisante interethnische Dimension: Während die Royalisten für einen ethnisch
„reinen“, griechischsprachigen und christlich-orthodoxen hellenischen Nationalstaat
optierten, propagierten die das republikanische Lager anführenden Kommunisten mit
Rücksicht auf die ca. 40 Prozent ethnisch nicht-griechischer Kämpfer in ihren Reihen ein multiethnisches, plurikonfessionelles und mehrsprachiges Griechenland, ja
erklärten sich im März 1949 sogar zur Abtrennung der mehrheitlich südslawisch
besiedelten Teile Nordgriechenlands an ein künftig unabhängiges Makedonien bereit. 56
3. Deutsche Schwierigkeiten bei der Erziehung
griechischer „Patrioten und Kämpfer“
Nach kurzer provisorischer Unterbringung in Bischofswerda wurden die im August 1949 in der SBZ eingetroffenen Kinder und Jugendlichen aus Griechenland
auf sieben Heime von Volkssolidarität und FDJ in Sachsen verteilt, vom Juli 1950
an dann in Radebeul zusammengeführt. In dieser im Elbtal nahe Dresden gelegenen Kleinstadt wurden eine Schule, ein Sportplatz, eine Erste-Hilfe-Station, eine
Gaststätte sowie ein Dutzend Wohnhäuser zum Heimkombinat „Freies Griechen-
55 Allerdings zog das DDR-Ministerium für Volksbildung sowohl in der ČSSR als auch in Ungarn detaillierte Informationen über die Organisation des Makedonischsprachunterrichts dort ein. Vgl. Die
Aufteilung der muttersprachlichen und griechischen Stunden der mazedonischen Klassen [in Ungarn], o. D. In: Bundesarchiv Berlin, DR 2 (Ministerium für Volksbildung), 3677b (1952–1953),
und Antworten auf die Fragen über die Erziehung der griechischen und koreanischen Kinder [in der
ČSSR], o. D. Ebd., 4389 (1954–1957).
56 Karakasidou, Anastasia: Fellow Travellers, Separate Roads: The KKE and the Macedonian Question.
In: East European Quarterly 27 (1993), S. 453–477; Rossos, Andrew: Incompatible Allies: Greek
Communism and Macedonian Nationalism in the Civil War in Greece, 1943–1949. In: Journal of
Modern History 69 (1997), S. 42–76; Esche: Die Kommunistische Partei Griechenlands, S. 315–323;
Kofos, Evangelos: The Impact of the Macedonian Question on Civil Conflict in Greece (1943–1949).
Athens 1989 (= Occasional Papers of the Hellenic Foundation for Defense and Foreign Policy, 3).
Die „Griechenlandkinder-Aktion“ 1949/1950
271
land“ zusammengefasst. 57 In den ersten Jahren wurde die neue Institution von der
Volkssolidarität geleitet, im weiteren Verlauf der fünfziger Jahre dann von einer
dem Ministerium für Volksbildung in Berlin unterstellten und deutsch-griechisch
besetzten Neugründung namens Komitee „Freies Griechenland“, die zugleich als
Bindeglied zur KKE fungierte. Die Gründe für die Wahl Radebeuls als Standort
waren zum einen infrastruktureller Art, wobei neben dem genannten Gebäudekomplex auch die Versorgungssituation im Raum Dresden sowie die räumliche Nähe zur
Landeshauptstadt eine Rolle spielten. Denn dadurch war es möglich, Jugendlichen
aus dem Heimkombinat Lehrstellen in Dresdner Großbetrieben zuzuweisen. Zum
anderen stand die Standortwahl in ursächlichem Zusammenhang mit der Tatsache,
dass im Zuge der Gründung der DDR im Oktober 1949 die sowjetische Militärpräsenz insgesamt reduziert und somit auch Teile des von Anfang 1950 an sukzessive
freiwerdenden Radebeuler Militärareals, darunter das genannte Schulgebäude, vom
Heimkombinat übernommen werden konnten. 58
Im Herbst 1949 vereinbarten der genannte griechische Unterhändler Kokkalis und
seine deutschen Verhandlungspartner einen weiteren Transport mit bis zu 700 Flüchtlingskindern – eine Zahl, die am 10. März 1950 vom ZK der SED bestätigt wurde. 59
Entsprechend trafen am 1. Juli 1950 per Zug 720 Minderjährige im Alter von acht
bis 17 Jahren im neuen Radebeuler Heimkombinat ein. Die meisten von ihnen waren bereits 1948 aus den Kampfzonen Griechenlands evakuiert und in Heime im
benachbarten Bulgarien gebracht worden, wo viele von ihnen schwer an Tuberkulose, Hautkrankheiten und Meningitis erkrankten. 60 Ebenfalls im Juli 1950 wurden
26 griechische und 39 deutsche Erzieher sowie 45 griechische und deutsche Lehrer
57 Hauptabteilungsleiter Riesner (VII 1 A) im Sächsischen Ministerium für Volksbildung an das Ministerium für Volksbildung in Berlin, Dresden, 25. Juli 1950. In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden,
Landesregierung Sachsen, Ministerium für Volksbildung, 405; Stand der griechischen Kinderheimat,
o. O., o. D. [21. Juli 1950]. Ebd. – Die Eröffnung des Heimkombinats fand am 20. August 1950 statt.
Siehe die Fotografie in Komitee Freies Griechenland (Hrsg.): 10 Jahre DDR. Deka chronia, S. 19.
58 Zur sowjetischen Präsenz in Radebeul siehe Welsh, Helga: Sachsen. In: Broszat, Martin, Hermann
Weber (Hrsg.): SBZ-Handbuch. Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungkräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschland 1945–1949. München
1990, S. 126–146, hier S. 133, und den Abschnitt „Schulgeschichte“ auf der Homepage des LössnitzGymnasiums Radebeul (URL http://www.loessnitzgymnasium.de, letzter Zugriff: 05. 10. 2016).
59 Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 39.
60 Ministerium für Volksbildung der DDR, Hauptabteilung Unterricht und Erziehung, Abt. Jugendhilfe
und Heimerziehung: Über die Sitzung mit Vertretern der Volkssolidarität und der Hauptabteilung Unterricht und Erziehung des Volksbildungsministeriums Sachsen in Radebeul bei Dresden [zur] Unterbringung der am 1. 7. 1950 in Deutschland ankommenden Griechenlandkinder, Berlin, 16. Juni 1950.
In: Bundesarchiv Berlin, DR 2 (Ministerium für Volksbildung), 6046. Anstelle von 720 Kindern führt
Stergiou die Zahl 900 an. Vgl. Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR,
S. 40. Gleichfalls „ca. 900 griechische Kinder und Jugendliche“ nennen Alexiou, Konstantinos, Athanassios Karagiannis: Griechen in Leipzig nach 1945. In: Europa-Haus Leipzig (Hrsg.): Griechen in
Leipzig, S. 46–47, hier S. 46.
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Teutonica orientalia
vom Radebeuler Heimkombinat eingestellt. 61 Griechischen kommunistischen Quellen zufolge hatten im Herbst 1950 insgesamt 1128 Flüchtlinge aus Griechenland,
d. h. sowohl Kinder und Jugendliche als auch einige Erzieher und Lehrer sowie
KKE-Funktionäre, Aufnahme in der DDR gefunden. 62 Eine ähnliche spätere Quelle
nennt für 1950 eine geringfügig höherer Zahl, nämlich 1240 63, während das Ministerium für Volksbildung im Dezember 1954 insgesamt nur 1119 Personen zählte 64,
das Heimkombinat „Freies Griechenland“ für 1959 von 1218 Flüchtlingen sprach 65
und die KKE 1960 1317 Personen nannte. 66 Auf jeden Fall stieg die Zahl der in
der DDR-Terminologie als „griechisch-politische Emigranten“ Firmierenden in der
Folgezeit an, da etliche junge Erwachsene nach Erreichen der Volljährigkeit heirateten 67 und Familien gründeten. Allerdings gibt es zu diesem Zuwachs keine amtlichen Angaben, sondern lediglich griechische Parteiquellen. 68 So gab die für sämtliche Bürgerkriegsflüchtlinge im sowjetischen Machtbereich zuständige KKE-Untergliederung, das Zentralkomitee der politischen Flüchtlinge Griechenlands (Kentriki
Epitropi Politikon Prosfygon Elladas – KEPPE 69), die Zahl der politischen Flücht-
61 Hauptabteilungsleiter Riesner (VII 1 A) im Sächsischen Ministerium für Volksbildung an das Ministerium für Volksbildung in Berlin, o. O., 25. Juli 1950. In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden,
Landesregierung Sachsen, Ministerium für Volksbildung, 405.
62 Siehe die Tabelle „Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in Ostmitteleuropa, der Sowjetunion
und der SBZ/DDR 1949/50“ oben sowie Minkov: Makedonskata emigracija, S. 173.
63 Festrede auf der zentralen Feier der griechischen politischen Emigranten in der DDR, die dem
30. Jahrestag der DDR und der 30-jährigen politischen Emigration gewidmet ist. Dresden, d.
29. 9. 1979 (Wesentliche Auszüge). In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, SED-Bezirksleitung
Dresden, Bezirksparteiarchiv, IV D-2/18/791.
64 Aufstellung über griechische Emigranten in der Deutschen Demokratischen Republik, Dezember 1954. In: Bundesarchiv Berlin, DR 2 (Ministerium für Volksbildung), 3677.
65 Heimkombinat „Freies Griechenland“: Aufstellung der Gesamtstärke der griechisch-politischen Emigranten in der DDR, Radebeul, 16. Januar 1959. In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv, SED-Bezirksleitung Dresden, Bezirksparteiarchiv, Teilbestand Internationale Verbindungen, Aktentitel „Arbeit mit
griechischen Patrioten, 1957–1962“, IV /2.18.008.
66 Bericht von Nikos Akritidis an die SED, 28. Februar 1961. In: Bundesarchiv Berlin, DY 30 (Büro
Walter Ulbricht), 2/20/252a. Zit. nach Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der
DDR, S. 42–43.
67 Aufschlussreich ist ein Bericht über die Modalitäten der Eheschließung der Flüchtlinge: „[Wir] heirateten [ca. 1955] vor einem griechischen, vom ‚Komitee Freies Griechenland‘ angewiesenen Standesbeamten. Damals heirateten die griechischen Flüchtlinge untereinander. In einem Sammelverfahren
wurden später allen griechischen Paaren Trauscheine von den DDR-Behörden ausgestellt.“ Vgl. 3.
Interview (Frau Tassia und Herr Nikos A.). In: Ruwe: Griechische Bürgerkriegsflüchtlinge, S. 55.
68 Siehe einen Brief von Nikos Akritidis an das ZK der SED, Radebeul, 18. Oktober 1957 (Sächsisches
Hauptstaatsarchiv, SED-Bezirksleitung Dresden, Bezirksparteiarchiv, Teilbestand Internationale Verbindungen, Aktentitel „Arbeit mit griechischen Patrioten, 1957–1962“, IV /2.18.008), in dem die
Rede davon ist, dass im Zeitraum 1949–1957 in der DDR 250 Kinder von Flüchtlingen aus Griechenland geboren worden sind.
69 Hauptaufgaben dieser im Frühjahr 1950 gegründeten und von dem genannten Kokkalis geleiteten Untergliederung waren neben der Kontrolle über die Flüchtlinge deren statistische Erfassung sowie vor
allem ihre Repatriierung nach Griechenland. Vgl. dazu Kirjazovski: Makedonskata politička emi-
Die „Griechenlandkinder-Aktion“ 1949/1950
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linge in der DDR für 1974 mit 1493 an 70, 1980 nannte das Zentralorgan der orthodoxen Mehrheitsfraktion der KKE, Rizospastis, die Zahl 1541 71 und im Folgejahr
führte ein weiteres Parteiblatt, Exormisi, 1620 an. 72
Ob die SED bzw. Behörden von SBZ oder DDR Teil des Entscheidungsfindungsprozesses darüber waren, welches Land im sowjetischen Machtbereich wie viele
Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland aufzunehmen hatte, ist, wie gesagt, unbekannt. Bekannt ist lediglich, dass im Frühjahr 1948, also zum Zeitpunkt der ersten
Evakuierungswelle von Kindern aus dem von den Partisanen kontrollierten Teilen des
Landes, das Exekutivkomitee der Balkan-Jugendorganisation des Informationsbüros
der kommunistischen und Arbeiterparteien (Kominform) in Belgrad diesbezüglich
die Federführung inne hatte 73 – die SED war indes kein Mitglied des Kominform.
Von 1949 an war dann Budapest als Sitz von KKE und EVOP sowie von 1950 an
dann auch von KEPPE Knotenpunkt und Schnittstelle für alle mit den Bürgerkriegsflüchtlingen zusammenhängenden Fragen. 74 Hinweise darauf, dass es 1948/1950 in
der ungarischen Hauptstadt zu Liaisonzwecken eine SED- bzw. DDR-Präsenz gegeben hat, liegen nicht vor. Unverkennbar ist indes, dass die DDR in den fünfziger
Jahren bezüglich der Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland eine mit der Sowjetunion und den Volksdemokratien koordinierte Politik betrieb. So lehnte die DDR
gleich der UdSSR und den anderen RGW-Staaten die Einladung des Internationalen Roten Kreuzes ab, am 21. Mai 1953 in Genf die Frage der Repatriierung von
Flüchtlingskindern aus Griechenland zu erörtern. 75 Ein weiterer Hinweis darauf, dass
die SED-Führung in dieser Frage in enger Abstimmung mit den „Bruderparteien“
handelte, ist die Tatsache, dass DDR-Behörden eine Reihe von Berichten darüber
kommissionierten, wie griechische, makedonische, koreanische und vietnamesische
Flüchtlingskinder in der Tschechoslowakei, Bulgarien und anderen Staaten Ostmitteleuropas behandelt wurden. Zugleich wurden in einige dieser Staaten DDR-Delegationen zu Vor-Ort-Besuchen einschlägiger Einrichtungen geschickt. So war eine
Delegation des Ministeriums für Volksbildung im Dezember 1950 in Ungarn, wo sie
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gracija, S. 61 und 151–157, und Zentralkomitee der Griechischen Politischen Emigranten KEPPE
(Hrsg.): Verbotene Heimat. 30 Jahre. Budapest 1979.
Siehe das Faksimile einer KEPPE-Mitteilung in der exilgriechischen Zeitschrift Lefteria vom 30. Januar 1978 bei Minkov: Makedonskata emigracija, S. 175.
Rizospastis vom 16. April 1980, zitiert bei Kirjazovski: Makedonskata politička emigracija, S. 155.
Exormisi vom 23. August 1981, zitiert ebd., S. 155–156.
Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 31.
Vgl. KEPPE (Hrsg.): Verbotene Heimat.
Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 37. Zu einer Genfer Konferenz
in nämlicher Sache am 9. und 10. März 1950 sowie zu mehreren Beratungen im selben Jahr war die
DDR, anders als die Volksdemokratien und Jugoslawien, nicht eingeladen worden – möglicherweise
weil das Internationale Rote Kreuz und das gleichfalls mit dem Problem befasste United Nations Special Committee on the Balkans (UNSCOB) von dem ersten Transport nach Sachsen vom August 1949
keine Kenntnis besaßen. Vgl. Martinova-Buckova: I nie sme deca, S. 81. Siehe zu UNSCOB Nachmani, Amikan: International Intervention in the Greek Civil War: The UN Special Committee on the
Balkans 1947–1952. New York, NY, 1990.
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Heime und Schulen für Flüchtlingskinder aus Korea und Griechenland besichtigte
und detailliert über Curricula, Schulbücher, Lehrerfortbildung u. a. berichtete. 76
Das zentrale Ziel in Erziehung, Unterricht und Ausbildung der Flüchtlingskinder
aus Griechenland in der DDR war die Heranbildung von Kämpfern der kommunistischen Partisanenarmee für eine zweite Runde auf dem balkanischen Kriegsschauplatz. Entsprechend definierte die zum Radebeuler Heimkombinat gehörende
Grundschule „Freies Griechenland“ ihr pädagogisches Prinzip wie folgt:
Die Kinder sind zu bewußten, entschlossenen und disziplinierten Patrioten und Kämpfern
für die Befreiung ihres Vaterlandes vom monarcho-faschistischen Joch zu erziehen und
für den schnellen planmäßigen Aufbau Griechenlands zu einem fortschrittlichen demokratischen Lande zu befähigen. Dazu gehört, daß sie zu allseitig gebildeten und sittlich
entwickelten Menschen im Sinne einer kommunistischen Weltanschauung erzogen werden.
Die Grundlagen dazu sind die Wissenschaft, Marxismus-Leninismus und die Sowjetpädagogik. Die Kinder müssen fähig und bereit sein, sich mit allen Kräften an der demokratischen Entwicklung ihres Vaterlandes zu beteiligen und zu den großen Freunden eines
demokratischen Griechenlands, der Sowjetunion, der Volksdemokratien und der DDR, unverbrüchliche Freundschaft zu halten. 77
Folglich enthielt die deutsche Erziehung der Kinder und Jugendlichen aus Griechenland auch eine militärische Komponente. Sophoklis V., der 1950 im Alter von zehn
Jahren über das bulgarische Karlovo nach Radebeul gekommen war, berichtete:
Alle Flüchtlingskinder wurden Thälmann-Pioniere, führten häufig Subbotniks durch (‚freiwillige‘ Arbeitseinsätze nach sowjetischem Muster) und trugen neue für sie angefertigte
Kinderuniformen der ELAS [= Ethnikos Laikos Apeleftherotikos Stratos/ Nationale Volksbefreiungsarmee 78]. [. . . ] Die Erziehung [war] darauf ausgerichtet [. . . ], in ihnen das
Bewußtsein einer kurz bevorstehenden Befreiung Griechenlands zu erzeugen und sie auf
ihre militärische Rolle dabei vorzubereiten. So durchdrangen Befreiungsparolen und patriotische Ansprachen den Internatsalltag, angefangen von den Morgenappellen über das
Flaggenhissen im Schulhof bis hin zu den Losungen vor den Mahlzeiten. Paramilitärische
Ausbildungen fanden unter Anleitung griechischer Veteranen der ELAS u. a. zusammen
mit Einheiten der Kasernierten Volkspolizei, sowjetischen Offizieren, spanischen und ab
1953 auch koreanischen Internatszöglingen statt. 79
76 Siehe z. B. Berichtauszug 8. Heime für koreanische und griechische Kinder, Dezember 1952. In:
Bundesarchiv Berlin, DR 2 (Ministerium für Volksbildung), 3677 b. Das in diesem Bericht erwähnte
Kinderheim im Schloss Károlyi in Fehérvárcsurgó bei Budapest war der Ort der ersten internationalen
wissenschaftlichen Konferenz über die Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland in den Volksdemokratien: International Colloquium „The Child Refugees from Greece in Eastern and Central Europe
after World War II“, Joseph Károlyi Foundation, Károly Mansion, Fehérvárcsurgó, 3–4 October 2003.
77 Ziele der Bildungs und Erziehungsarbeit der Grundschule Steinbachstraße „Freies Griechenland“,
o. D. In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Landesregierung Sachsen, Ministerium für Volksbildung, 470.
78 Hier liegt eine Verwechslung der genannten DSE mit ihrer Vorläuferinstitution ELAS vor.
79 1. Interview (Sophoklis V.). In: Ruwe: Griechische Bürgerkriegsflüchtlinge, S. 28 and 47. – Die
DDR hatte in den Jahren 1947–1951 an die einhundert aus Frankreich ausgewiesene spanische Bürgerkriegsflüchtlinge aufgenommen, die nicht in das Spanien Francos zurückkehren konnten. Vgl.
Die „Griechenlandkinder-Aktion“ 1949/1950
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Rekrutierungen von Jugendlichen für die Partisanenarmee, wie sie etwa in Heimen
in den Volksdemokratien stattfanden 80, gab es in der SBZ allerdings nicht, da diese
Praxis mit dem Kriegsende im Oktober 1949 eingestellt wurde und die ersten Flüchtlingskinder erst kurz zuvor in Sachsen eintrafen.
Während sowohl der reguläre Schulunterricht, der überwiegend in deutscher Sprache abgehalten wurde, als auch der muttersprachliche Griechischunterricht zur Zufriedenheit von deutschen und griechischen Lehrkräften verlief, bereitete die „patriotische Erziehung“ der Kinder und Jugendliche Probleme. In einem vertraulichen
Dokument des Ministeriums für Volksbildung hieß es dazu 1952/1953:
Die Erziehung zu griechischen Patrioten, wie sie unser Erziehungsziel vorsieht, ist nicht
leicht, da der Erziehungsprozeß sowohl sprachlich als auch geographisch sich nicht auf den
Grundlagen der griechischen Nation vollziehen kann. 81
Eine Maßnahme, von der man sich diesbezüglich Verbesserungen erhoffte, war die
im Juli 1953, d. h. unmittelbar nach dem Aufstand vom Vormonat, gefällte Entscheidung des DDR-Ministerium für Volksbildung, Uniformen für die Kinder und
Jugendlichen aus Griechenland anfertigen zu lassen. Die Uniformierung, so die
Erwartung des Ministeriums, „trägt bei Nationalgefühl zu entwickeln und zu pflegen.“ 82 Unbekannt ist, ob der Anfang 1949 von Belgrad in die Nähe von Bukarest
verlegte griechischsprachige Radiosender Svobodnaja Grecija (Freies Griechenland)
des Kominform oder die griechischsprachigen Sendungen der Sender Warschau und
Prag im Elbtal zu empfangen waren bzw., falls ja, ihre Programme den Kindern und
Jugendlichen zugänglich gemacht wurden. 83 In der Folgezeit wurden die Uniformen
wieder abgeschafft: Stattdessen setze man auf intensivierten Griechischunterricht,
zweisprachige Erziehung sowie ein elaboriertes System griechischer Feiertage, die
zusätzlich zu den offiziellen DDR-Feiertagen begangen wurden. 84
Das Regime im Radebeuler Heimkombinat war streng. So durften die Kinder
und Jugendlichen das Gelände nicht ohne Genehmigung oder Aufsicht verlassen
80
81
82
83
84
Poutrus: Mit strengem Blick, S. 233; und ders: Zuflucht im Ausreiseland. Zur Geschichte des politischen Asyls in der DDR, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2004, S. 355–378.
Zu den 1953/1954 nach Dresden gekommenen koreanischen Waisen siehe oben.
Zu diesen Rekrutierungen siehe Martinova-Buckova: I nie sme deca, S. 72–76.
Vertrauliche Unterlagen unter Punkt IV, o. D. In: Bundesarchiv Berlin, DR 2 (Ministerium für Volksbildung), 3677b (1951–1953).
Aktennotiz der Abt. Jugendhilfe und Heimerziehung im DDR-Ministerium für Volksbildung, Berlin,
Juli 1953. In: Bundesarchiv Berlin, DR 2 (Ministerium für Volksbildung), 6220 (1951–1953). Siehe
dazu auch die in Dresden erscheinende exilgriechische Zeitschrift To deltio maz vom 4. Juli 1953.
Ebd.
Zum Ende 1955 eingestellten Sender Svobodnaja Grecija und den Sendern Warschau und Prag vgl.
Adibekov, Grant M.: Kominform i poslevoennaja Evropa 1947–1956 gg. Moskva 1994, S. 194–196.
Papadopulos, Jannis: Über die Zweisprachigkeit im Kindesalter (vom 1.–14. Lebensjahr) unter den
Bedingungen der Emigration. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität
Jena. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 17 (1968), H. 2, S. 297–304.
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Teutonica orientalia
wie auch Deutsche es ohne Erlaubnis nicht betreten durften. 85 Direkter Umgang
zwischen Griechen und Deutschen jeglicher Altersstufen war auf die Sphären von
Arbeit, Schule, Berufsausbildung, militärischer Ausbildung und ideologischer Schulung beschränkt. Private Kontakte zwischen griechischen und deutschen Kindern und
Jugendlichen waren prinzipiell unerwünscht, entstanden aber dennoch und wurden
wohl auch partiell geduldet. Eine Griechin, die als Kind 1950 über Berkovica in Bulgarien in die DDR gekommen war und später als Lehrerin in die Bundesrepublik
übersiedelte, berichtete:
Während der Berufsausbildung hatte ich schon, neben meinen griechischen Freundinnen,
deutsche Freundinnen gehabt. [. . . ] Die nahmen mich Sonntags oder Samstags auch mit in
ihre Familien. 86
Auch untereinander hatten die griechischen Jugendlichen strikte Regeln zu befolgen.
So wurden etwa Liebesbeziehungen von den deutschen Betreuern derselben Zeitzeugin zufolge nicht toleriert:
Richtige Beziehungen hatte man uns während der Berufsausbildung [. . . ] verboten, weil
unsere Verantwortlichen Angst davor hatten, daß wir jemanden kennenlernten, intime Beziehungen entwickeln und unsere Berufsausbildung vernachlässigen könnten. [. . . ]. Wer
eine Freundin hatte, wurde in Versammlungen gemaßregelt oder aus der Partei ausgeschlossen [. . . ]. 87
Eine andere Form paternalistischer Kontrolle war die Zensur privater Korrespondenz
der Kinder und Jugendlichen mit ihren Eltern, Geschwistern und anderen Verwandten in der UdSSR, den Volksdemokratien, Jugoslawien, Übersee sowie Griechenland
selbst. Diese Postzensur erfolgte mangels Sprachkompetenz nicht durch DDR-Stellen, sondern durch die griechischen Erzieher und Lehrer in Abstimmung mit der in
Budapest ansässigen Leitung der KKE. Gerechtfertigt wurde diese Maßnahme mit
dem Verweis auf den Tito-Stalin-Bruch bzw. den Umstand, dass manche der Kinder
Verwandte in Jugoslawien hatten und somit Belange der äußeren Sicherheit der DDR
berührt würden. 88
Von den DDR-Behörden anfänglich unterschätzt wurde die Antipathie, ja der
Hass etlicher Kinder und Jugendlicher aus Griechenland gegen Deutschland und die
Deutschen. Die älteren unter ihnen hatten die deutsche Besatzung Griechenlands in
85 Auf dem genannten Kolloquium im ungarischen Fehérvárcsurgó 2003 berichtete der in Paris lehrende
griechische Historiker Ilios Yannakakis, der in den frühen fünfziger Jahren Leiter eines Kinderheims
in der Tschechoslowakei war, dass im Falle unerlaubten Verlassens des Heimgeländes durch ein Kind
umgehend die Polizei zu verständigen war. Und einem schriftlichen Kolloquiumsbeitrag von George
Dimer aus Australien, der als Kind unter seinem damaligen Namen Jorgos Dimiropoulos in das Heim
in Fehérvárcsurgó gekommen war, ist zu entnehmen, dass Eltern kein Recht darauf hatten, ihre im
Heim befindlichen Kinder zu besuchen, geschweige denn, sie von dort zu sich zu nehmen. Vgl. Dimer, George: The Refugee Problem: Was It Tragedy or a Blessing in Disguise? Ms., Melbourne,
Juli 2003. Ähnliche Regeln dürften im Radebeuler Heimkombinat gegolten haben.
86 Migrationsbiografie M. (Mutter). In: Dalianis: Ethnische Koloniebildung, S. 42.
87 Ebd., S. 41.
88 Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 44.
Die „Griechenlandkinder-Aktion“ 1949/1950
277
den Jahren 1941 bis 1944 erlebt, während der Wehrmacht- und SS-Einheiten griechische Zivilisten nach Gutdünken inhaftierten, folterten und erschossen sowie im Zuge
von Strafaktionen ganze Dörfer niederbrannten. 89 Entsprechend war es Andreas Stergiou zufolge für etliche Kinder, die 1949/1950 in albanischen und bulgarischen Waisenhäusern, Heimen und Internaten lebten, „ein Schock, zu erfahren, dass sie nach
Deutschland mussten.“ 90 Seitens der DDR-Behörden wurde die Deutschenfeindlichkeit unter den Flüchtlingskindern mit einem Tabu belegt, so dass sich in offiziellen
Quellen kein unmittelbarer Niederschlag findet. Eine Ahnung von der Hilflosigkeit
der deutschen Betreuer im Umgang mit diesem Problem vermittelt aber der Bericht
eines Mitarbeiters der Volkssolidarität, dessen Frau als Erzieherin im Radebeuler
Heimkombinat tätig war:
Anfangs war es schwer mit den Kindern zurechtzukommen. Sie kamen hier nach Deutschland und trafen uns als Deutsche, die sie in Griechenland im Krieg als Gegner kannten.
[. . . ] Meine Frau berichtete mir, dass sie die Erzieher anfangs spielerisch als ihre Gefangenen behandelt haben und sie im Spiel an den Baum banden. Und obwohl dies – wie gesagt –
nur ein Spiel war, bekam man manchmal ein wenig Angst. 91
Der Fall der offiziell damals so genannten „Griechenlandkinder“ belegt augenfällig,
was Jan C. Behrends, Dennis Kuck und Patrice G. Poutrus in einem 2000 veröffentlichten Thesenpapier über „Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit in den
neuen Bundesländern“ konstatiert haben, nämlich dass Konflikte zwischen Deutschen und „Fremden“ tabuisiert waren, sich entsprechend „keine Konfliktkultur und
keine gesellschaftliche Toleranz entwickeln“ konnten. Stattdessen waren Partei und
Staat bemüht, „durch die Kasernierung der ‚Fremden‘ die Kontaktfelder zu minimieren.“ 92 Die Aversion gegen Deutschland und die Deutschen führte in Kombination
mit der rigiden Durchsetzung deutscher Erziehungsideale wie Ruhe, Ordnung, Sauberkeit, Tischsitten u. a. bei den durch Verlust der Familie, durch Krieg, Flucht,
Vertreibung, Unterernährung und Krankheiten traumatisierten Kindern und Jugendlichen in vielen Fällen zu erheblichen Konflikten mit ihren deutschen Erziehern,
Lehrern und Ausbildern. Entsprechend drang der ständige Vertreter der KKE in der
DDR, Georgiou, mehrfach darauf, „Mütter“, d. h. ältere Mädchen und junge Frauen,
aus den Flüchtlingsunterkünften in den Volksdemokratien nach Radebeul zu schicken, um den hier lebenden Kindern und Jugendlichen emotionalen Halt zu geben. 93
89 Zu Strafaktionen der Wehrmacht in Griechenland siehe exemplarisch die Übersicht für den Zeitraum
November 1943 bis Mai 1944 bei Fleischer, Hagen: Im Kreuzschatten der Mächte. Griechenland
1941–1944 (Okkupation – Resistance – Kollaboration). Frankfurt /M. u. a. 1986, Bd I, S. 363.
90 Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 38.
91 VI. Interview (Herr Noak – Dresden) ehemaliger Mitarbeiter der Volkssolidarität. In: Rosjat: Die
griechischen Bürgerkriegsflüchtlinge, S. 57.
92 Behrends, Jan C., Dennis Kuck, Patrice G. Poutrus: Historische Ursachen der Fremdenfeindlichkeit
in den neuen Bundesländern. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 2000, B 39, S. 15–21, hier S. 15.
Dass. in Behrends, Lindenberger, Poutrus (Hrsg.): Fremde und Fremd-Sein in der DDR, S. 327–333.
93 Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 39.
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Teutonica orientalia
Allerdings ist auch die Wirkung der erheblichen Verbesserung der Lebensbedingungen, welche mit der Verlegung der Flüchtlingskinder aus Albanien und Bulgarien
nach Sachsen einherging, nicht zu unterschätzen. Drei Voll- und zwei Zwischenmahlzeiten am Tag, ärztliche Betreuung, Heizung, Bettlaken und Badewannen waren für
sämtliche Kinder und Jugendliche – neben der für die meisten erstmaligen Erfahrung
des Lernens – etwas gänzlich Neues im positiven Sinne. Und wie in autobiographischen Berichten von Bürgerkriegsflüchtlingen in den Volksdemokratien figuriert
der Tag, an dem sie ihre über Monate, gar Jahre getragenen, zerschlissenen, verschmutzten sowie von Läusen wimmelnden Lumpen endgültig ablegen durften und
neue Kleidung erhielten, als Wendepunkt im eigenen Leben. 94 „Through this process,
which could be understood as a rite of passage,“ so die niederländische Ethnologin Riki van Boeschoten über die Makedonier unter den Bürgerkriegsflüchtlingen in
Ostmitteleuropa, „they were reborn as extralocal, deterritorialised subjects.“ 95 Und
in einer Reihe von Fällen waren es offensichtlich eben diese besseren Lebensbedingungen, welche Kinder und Jugendliche etwa in bulgarischen Heimen bewogen,
sich freiwillig zur Verschickung in die DDR zu melden. 96 Mitunter ging die Initiative dazu auch von Eltern(teilen) aus, so im Falle des Flüchtlings A., der 1948
als Achtjähriger mit Eltern und Geschwistern aus dem nordostgriechischen Komotini nach Bulgarien gekommen war und – ungeachtet seines späteren Verlassens der
DDR in Richtung Bundesrepublik – positive Erinnerungen an seine DDR-Jugend
hat:
In Bulgarien wurden die Familienmitglieder getrennt; alle vier Kinder wurden mit Einwilligung der Eltern in die DDR geschickt, um dort die Schule zu besuchen und eine qualifizierte
Ausbildung zu erwerben. [. . . ] Sie wohnten in Heimen mit anderen Flüchtlingen. Herr A.
erinnert sich mit einem Behaglichkeitsgefühl an diese Zeit, die er zu seinem besten Lebensabschnitt zählt. [. . . ] Weder während der Schul- bzw. Ausbildungszeit noch später in
seinem Berufsleben hatte er das Gefühl, ungleich behandelt worden zu sein, weil er kein
Deutscher war. 97
Während es für die Anfangsjahre keine aussagekräftigen statistischen Angaben zu
den Flüchtlingen aus Griechenland in der SBZ/DDR gibt, existiert für das Jahr 1958
eine detaillierte Aufstellung über regionale Verteilung und Berufsstruktur der damals 1218 Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Die große Mehrheit von
ihnen lebte im historischen Sachsen, nämlich 490 in Radebeul und Dresden, 263 in
Leipzig und 182 in Karl-Marx-Stadt. Mittelgroße Gruppen von 20 bis 40 Personen
gab es in Zwickau und Bad Dürrenberg sowie weiter entfernt in Magdeburg, in der
94 V. Interview (Frau Miltsakakis – Berlin). In: Rosjat: Die griechischen Bürgerkriegsflüchtlinge, S. 55.
95 Boeschoten: „Unity and Brotherhood“?.
96 Information von Alkis Vlassakakis (Wien) über seinen seit 1949 in einem bulgarischen Kinderheim
lebenden Vater, der mit Erfolg große Anstrengungen unternommen hatte, um einen Platz in dem
Transport zu erhalten, der im Sommer 1950 nach Deutschland abging.
97 4. Interview (Herr A., 48 Jahre alt, verheiratet, eine Tochter, zum Interview zusammen mit seiner
Frau gekommen). In: Ruwe: Griechische Bürgerkriegsflüchtlinge, S. 60.
Die „Griechenlandkinder-Aktion“ 1949/1950
279
Stadt Brandenburg und im sowjetischen Sektor Berlins. In etwa 30 weiteren Städten und einigen Dörfern lebten jeweils ein bis zehn Flüchtlinge. 98 Anderen Quellen
zufolge jedoch waren auch in einer Reihe weiterer Städte, vor allem in solchen mit
weiterführenden Bildungseinrichtungen, Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland
ansässig. Der Grund dafür, dass diese Orte nicht in der Übersicht von 1959 auftauchten, war der, dass das Radebeuler Heimkombinat als sogenanntes Stammheim auch
für andernorts in Ausbildung befindliche Jugendliche fungierte, diese also polizeilich
weiterhin in Radebeul gemeldet waren. 771 der 1959 gezählten 1218 Flüchtlinge befanden sich in einem Arbeitsverhältnis, davon 589 als Arbeiter in der Produktion,
162 in Berufen wie Ingenieur, Lehrer, Krankenschwester, Kindergärtnerin u. a. und
20 wurden der Intelligenz zugerechnet. Die restlichen 447 waren Studenten, Fachhochschüler, Lehrlinge, Schüler, Kinder unter sechs Jahren und Nichtberufstätige,
d. h. Kriegsinvaliden, Pensionäre und Hausfrauen. 36 Flüchtlinge wurden als (offensichtlich vorübergehend) in der Bundesrepublik lebend geführt, 130 hielten sich in
den Volksdemokratien und ein einzelner in Griechenland auf. 414 Personen, also
ein Drittel, waren entweder Mitglieder oder Kandidaten der SED. 99 Die regionale
Konzentration der Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland auf die drei sächsischen
DDR-Bezirke Dresden, Leipzig und Karl-Marx-Stadt, die sich 1949/1950 zunächst
aus praktischen Gründen ergeben hatte, wurde gegen Ende der fünfziger Jahre mit
administrativen Maßnahmen forciert. Gründe dafür wurden seinerzeit nicht genannt.
Lediglich zu vermuten ist, dass auch diese Gruppe gemäß der bereits genannten Maxime im Umgang mit Kinder und Jugendlichen aus dem Ausland in gewisser Weise
versteckt und vor allem von der von außen einsehbaren „Hauptstadt der DDR“ ferngehalten werden sollte.
Die Akkulturationsprobleme der seitens der DDR als „Griechen ohne Heimat“ 100,
d. h. staatenlose Politemigranten eingestuften Flüchtlingskinder und -jugendlichen,
die sich in der ersten Zeit nach ihrer Ankunft in der SBZ/DDR abzeichneten,
verstärkten sich mit zunehmendem Alter. Dabei spielte auch der Umstand eine
Rolle, dass die Rückkehrperspektive durch die fortschreitende Blockkonfrontation
immer illusorischer wurde. Die in den sechziger Jahren sämtlich volljährig gewordenen „Griechenlandkinder“ erwiesen sich für die DDR nun großteils als schwierige
Gäste. 101 Allerdings ließen die Annäherung der DDR-Diplomatie an das Athener
98
Heimkombinat „Freies Griechenland“: Aufstellung der Gesamtstärke der griechisch-politischen
Emigranten in der DDR, Radebeul, 16. Januar 1959. In: Sächsisches Hauptstaatsarchiv, SED-Bezirksleitung Dresden, Bezirksparteiarchiv, Teilbestand Internationale Verbindungen, Aktentitel „Arbeit mit griechischen Patrioten, 1957–1962“, IV /2.18.008.
99 Ebd. Vgl. auch einen zusammenfassenden Brief von Kostas Dzikas vom Heimkombinat „Freies
Griechenland“ an die Abteilung Internationale Beziehungen des ZK der SED, Radebeul, 16. Januar 1959. Ebd.
100 Stergiou: Die Beziehungen zwischen Griechenland und der DDR, S. 45, und Poutrus: Mit strengem
Blick, S. 231.
101 Siehe dazu Troebst: Evacuation to a Cold Country; ders.: Von Epirus ins Elbtal; sowie ders.: Schwierige Gäste: Politische Emigranten aus Griechenland in der DDR 1949–1989. In: DeutschlandArchiv 38 (2005), H. 1, S. 93–101.
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Teutonica orientalia
Junta-Regime 1973/1974, vor allem aber die Machtübernahme durch die Panhellenische Sozialistische Bewegung (PASOK) Andreas Papandreous 1981 die Remigrationsoption realistisch werden. Bis zur Mitte der achtziger Jahre hatten fast alle
Bürgerkriegsflüchtlinge aus Griechenland und ihre Familien den deutschen Halbstaat
in Richtung ihrer nun fremden Heimat wieder verlassen.
Herz, Darm und DDR – Arno Schmidt 1956
–
W lodzimierz
Borodziej zum 60. Geburtstag am 9. September 2016
[2016]
Arno Otto Schmidt – niemiecki pisarz [. . . ]. Wyrażał [. . . ] swój krytyczny stosunek do
niemieckiej historii i współczesności. W Polsce mało znany.
https://pl.wikipedia.org/wiki/Arno_Schmidt 1
I.
Anfang 1956, kurz nach meinem zweiten Geburtstag und wenige Wochen vor Nikita Sergeevič Chruščëvs grundstürzender Geheimrede auf dem XX. Parteitag der
KPdSU, trat die Weltgeschichte mit Aplomb in mein Leben: Mein Kindermädchen
Erika Rothfuß, Tochter einer in unserem nordbadischen Pfarrhaus einquartierten Optanten-Großfamilie aus Bessarabien, packte mich urplötzlich und schleppte mich
zum Hoftor, wo eine Kolonne US-amerikanischer M 48-Kampfpanzer die Dorfstraße
entlang donnerte. Erikas ekstatisches Rufen in Richtung der aus den Turmluken blickenden Richtschützen „Ami, gib mir Kaugummi!“ erbrachte zwar den erwünschten
Erfolg, doch wurde ich selbst zu meiner großen Enttäuschung für zu klein erklärt,
um Wrigley’s Chewing Gum bereits sachgemäß zu konsumieren. Dennoch verdanke
ich Erika viel, rettete sie mich doch einmal vor einer bedrohlich zischenden Gänseherde auf der benachbarten Obstwiese und bewahrte mich überdies gleich mehrfach
vor dem Sturz in die offene Jauchegrube hinter dem Haus. Die dort zur Anwendung kommende Schöpfkelle hatte ein findiger Geist aus einem Besenstiel und einem
Wehrmachts-Stahlhelm gebastelt.
Obwohl in meinem seinerzeitigen familiären und sozialen Umfeld Termini
wie „Zusammenbruch“, „dreigeteilt“, „Besatzung“, „Kollektivschuld“ oder „Kalter
Krieg“ nicht gang und gäbe zu sein schienen – ich erinnere mich lediglich vage
an „Zone“, „Adenauer“, „Spätheimkehrer“, „Zoffjettz“ (recte: Sowjets, die ich aber
schon vor dem Eindringen des jiddischen Wortes „Zoff“ in die [west-]deutsche Umgangssprache mit dem Veranstalten desselben assoziierte) sowie vor allem an das
enigmatische „08/15“ –, stieg in mir doch eine diffuse Ahnung davon auf, dass
jenseits der Tabakschuppen am Ortsrand etwas Anderes, Unbekanntes und Großes
sein müsse. Manchmal kamen sogar seine Ausläufer zu uns, etwa in Gestalt der
US-amerikanischen TV-Serie Abenteuer unter Wasser, die ich allsamstagabendlich
1
„Arno Otto Schmidt – deutscher Schriftsteller. Brachte seine kritische Haltung zur deutschen Geschichte und Gegenwart zum Ausdruck. Ist in Polen wenig bekannt.“
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Teutonica orientalia
bei meinem Freund Klaus Nuding, Sohn des Besitzers nicht nur einer Getreidemühle,
sondern sogar eines Fernsehapparates, schwarz-weiß natürlich, sehen durfte – passenderweise vor dem rituellen wöchentlichen Wannenbad. Während das seinerzeitige
Tagesthema der Wiederbewaffnung und der Gründung der neuen Bundeswehr als solches an mir vorbei ging, erinnere ich mich deutlich an den häufig gehörten Begriff der
„Musterung“, den ich allerdings irrtümlich mit dem mehrfarbigen Faltenrock meiner
Schwester assoziierte.
Auch wurde das Abstraktum „Politik“ von den Erwachsenen meines Umfeldes
entweder nicht genannt oder aber, was wahrscheinlicher ist, von mir nicht dekodiert. Im Nachhinein erschließt sich mir indes, dass meine Eltern und ihre Freunde
und Bekannten, nicht zuletzt auch meine väterlichen Großeltern, häufig über Bundes-, Welt- und Vergangenheitspolitik diskutiert, vor allem auch gestritten haben.
Den Hauch einer Ahnung von all dem habe ich wohl im Sommer 1956 bekommen,
als Freya von Moltke – eine gleichsam außerirdisch-damenhafte Erscheinung – auf
Einladung meines Vaters beim evangelischen Männerkreis in unserem Konfirmandensaal referierte. Vom Inhalt ihres Vortrages partiell überfordert, inspizierte ich
ausgiebig den schwarzen Mercedes-Benz 170, mit dem sie aus dem benachbarten
Heidelberg angereist war. Besonders beeindruckten mich die gewaltigen geschwungenen Kotflügel samt aufgesetzten Scheinwerfern des imposanten Fahrzeugs. Umso
größer war dann die Enttäuschung über den dunkelblauen FIAT 600, mit dem mein
Großvater mit dem Stolz des Erstautobesitzers im Spätherbst auf unseren Hof fuhr.
Dass dieser italienische Kleinwagen dem sowjetischen Zaporožec ZAZ 965, so benannt nach der Produktionsstätte in Zaporož’e in der Ukrainischen SSR, als Vorbild
diente, gar eine bis 1985 anhaltende jugoslawische Lizenzkarriere im serbischen Kragujevac unter der Typenbezeichnung Zastava („Banner“) machen würde, blieb mir
seinerzeit nahe liegender Weise verschlossen, hätte wohl aber nichts an meiner Geringschätzung des buckligen Gefährts geändert. Und dann war das Jahr 1956 auch
schon vorüber.
II.
Ungeachtet dieser bis in unser Kraichgauer Kuhdorf dringenden schwachen Echos
der großen weiten Welt blieb mir die literarische Erschütterung des Jahres 1956,
welche die junge Bundesrepublik ereilte, seinerzeit verborgen: die mitunter hysterische Aufregung über den im Oktober dieses Jahres im nur wenige Dutzend Kilometer
Luftlinie entfernten Karlsruher Stahlberg Verlag erschienenen Roman Das steinerne
Herz von Arno Schmidt (1914–1979). 2 Vielmehr dauerte es geschlagene 23 Jahre,
bis ich davon erfuhr, um mich dann allerdings umgehend an die nicht ganz einfache Lektüre zu machen. Die genaue Wirkung dieses Leseerlebnisses kann ich heute,
2
Schmidt, Arno: Das steinerne Herz. Historischer Roman aus dem Jahre 1954. Karlsruhe 1956.
Herz, Darm und DDR – Arno Schmidt 1956
283
im Rückblick von 37 Jahren, nicht mehr präzise rekonstruieren. 3 Bleibend ist jedoch
seitdem das lebhafte Interesse am gesamten Œuvre dieses hochgradig unkonventionellen Schriftstellers, das auch sein literaturwissenschaftliches Umfeld einschließt –
bis hin zu einem Abonnement des Bargfelder Boten, der nach Schmidts letztem
Wohnort, einem Heidedorf bei Celle in Niedersachsen, benannten Hauspostille der
Arno-Schmidt-„Gemeinde“. Und ich verhehle nicht meine Befriedigung darüber,
dass Schmidt im Unterschied zu damals nicht länger als exzentrischer Kauz, gar als
misanthropischer Kotzbrocken, sondern mittlerweile – und verdientermaßen – als einer der Großen der deutschen Nachkriegsliteratur gilt.
Um nun das Rätsel des Titels diese Beitrags aufzulösen: Das „Herz“ ist natürlich Arno Schmidt steinernes; „Darm“ meint das südhessische Darmstadt, wohin
Schmidt mit seiner Frau Alice geb. Murawski (1916–1983) 1955 unfreiwillig gezogen war und in einem langen Brief vom November 1956 an seiner Künstlerfreund,
den Maler Eberhard Schlotter (1921–2014), seinen neuen Wohnort ebenso despektierlich wie assoziativ „Am Darm“ lozierte 4; und mit „DDR“ ist selbstredend die
gleichfalls junge und sich zielstrebig-irreführend so bezeichnende Deutsche Demokratische Republik gemeint, die in Schmidts nur vorgeblich „historischem“ Roman
eine prominente, zu Teilen sogar attraktive Rolle spielt.
III.
Was ist nun an diesem vor 60 Jahren erschienenen relativ schmalen Roman-Bändchen
so besonders, als dass man ihm einen Beitrag zum Sexagenarium eines polnischen
Historikers widmen müsste? Da wären gleich mehrere Gründe zu nennen: Erstens
figurierte der östliche deutsche Halbstaat darin erstmals in der Nachkriegsliteratur
des westlichen Pendants, und dies vor den im Herbst 1959 erschienenen aufsehenerregenden Mutmaßungen über Jakob des (zu seinem eigenen Leidwesen so apostrophierten) „Dichters der beiden Deutschlands“ Uwe Johnson (1934–1984) 5, ja, selbst
noch vor der Fertigstellung des Manuskripts von Johnsons seinerzeit unveröffentlicht
gebliebenem autobiographischem Roman Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953,
dessen Thema ebenfalls die Teilung Deutschlands war. 6 Hans Magnus Enzensberger
3
4
5
6
Mein (erstes) Exemplar des Steinernen Herzens, das Fischer Taschenbuch 802, damaliger Ladenpreis
DM 3.80, trägt den handschriftlichen Kaufvermerk „Berlin Januar 1979“.
Brief Nr. 9: Arno Schmidt an Eberhard und Dorothea Schlotter. Darmstadt, den 25. November 1956.
In: Schmidt, Arno: Der Briefwechsel mit Eberhard Schlotter. Mit einigen Briefen von und an Alice
Schmidt und Dorothea Schlotter. Hrsg. v. Bernd Rauschenbach. Zürich 1991, S. 16–24. Für seinen Wohnort der Jahre 1955–1958 hegte Schmidt entsprechend wenig Sympathie: „KARL MAY
soll, nach dem ödestn Ort auf Erdn gefragt, immer ‚Guaymas in Sonora‘ geantwortet habm –
(Dû=würdesD ‚Darmstadt‘ sagn, Ich weiß)“. Siehe Schmidt, Arno: Zettel’s Traum. Karlsruhe 1970,
S. 997.
Johnson, Uwe: Mutmaßungen über Jakob. Roman. Frankfurt /M. 1959.
Johnson, Uwe: Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Frankfurt /M. 1985. Dieser erste Roman
Uwe Johnsons entstand zwischen 1953 und 1956. – Sowohl für Schmidt- wie für Johnson-Adepten
keine Überraschung ist, dass das einzige belegte Treffen der beiden Genannten, im März 1964 im
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Teutonica orientalia
stellte daher bereits 1959 zu Recht fest: „Die Tatsache, daß es zwei Deutschland gibt,
ist bisher nur in einem einzigen Buch unserer Literatur, dem Steinernen Herzen von
Arno Schmidt, [. . . ] in Erscheinung getreten.“ 7 Und Jan Philipp Reemtsma sieht im
„Deutsch-Ost-West-Roman“ Das steinerne Herz „den ersten von vier ‚SpaltungsRomanen‘ Schmidts“. 8 Zweitens ist der Adressat der Festschrift ein Zeithistoriker, der sich auch und gerade mit der Geschichte eben dieser beiden Deutschlands
nach 1945 sowie mit der polnisch-deutschen Beziehungsgeschichte in der deutschen
Teilungszeit, desgleichen davor wie danach, intensiv befasst hat. Erinnert sei hier
lediglich an seine Edition des bizarren Gespräches vom Frühjahr 1990 zwischen
dem kommunistischen Übergangs-Staatspräsidenten Polens, Armeegeneral Wojciech
Jaruzelski, und dem damaligen SPD-Präsidiumsmitglied und saarländischem Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine über die deutsche Frage in einem Klaus Zernack
zum 70. Geburtstag gewidmeten Themenheft sowie an eine Dokumentation über die
Volksrepublik Polen im Visier des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR. 9 Und
drittens enthält Schmidts Roman eine der drastischsten Schilderungen des Schicksals
der deutschen Bevölkerung Niederschlesiens nach dem Einmarsch der Roten Armee
und dem Nachrücken polnischer Miliz samt anschließender Vertreibung – auch das
ein durch und durch Borodziej’sches Thema 10, dem sich Schmidt bereits in früheren
Romanen gewidmet hatte. Einer neueren Gesamtdarstellung zur Geschichte der deutschen Gegenwartsliteratur zufolge war er damit „[d]er Erste, der das große, schwere
Thema der Vertreibungen in einem Buch (Die Umsiedler, [Frankfurt /M.] 1953) bändigte“. 11 Viertens, und das ist jetzt eine rein subjektive Einschätzung, ist der bissig-
Westteil Berlins, unharmonisch verlief. Vgl. Neumann, Uwe: Gipfeltreffen? Uwe Johnson begegnet
Arno Schmidt. In: Johnson-Jahrbuch 9 (2002), S. 25–46.
7 Enzensberger, Hans Magnus: Die große Ausnahme. In: Über Uwe Johnson. Hrsg. v. Raimund Fellinger. Frankfurt /M. 1992, S. 55–60, hier S. 56 (Erstveröffentlichung in Frankfurter Hefte vom Dezember 1959).
8 Reemtsma, Jan Philipp: Arno Schmidts Nachkriegsdeutschland. In: Ders.: Über Arno Schmidt. Vermessungen eines poetischen Terrains. Frankfurt /M. 2006, S. 98–117, hier S. 110. Reemtsma nennt
aus dem Schmidt’schen Œuvre des Weiteren Die Gelehrtenrepublik (1957), KAFF auch Mare Crisium (1960) und Die Schule der Atheisten (1972), deren Sujet gleichfalls die Teilung Deutschlands
und der Welt im Kalten Krieg ist.
9 Borodziej, Włodzimierz: Das Gespräch zwischen Wojciech Jaruzelski und Oskar Lafontaine am
5. April 1990. Eine Dokumentation. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 50 (2001), H. 4,
S. 557–571; und PRL v oczach Stasi. Hrsg. v. Włodzimierz Borodziej u. Jerzy Kochanowski. 2 Bde.,
Warszawa 1995–1996. Vgl. außerdem Deutsch-polnische Beziehungen 1939-1945-1949. Eine Einführung. Hrsg. v. Włodzimierz Borodziej u. Klaus Ziemer. Osnabrück 2000.
10 „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden . . . “. Die Deutschen östlich von Oder und Neiße
1945–1950. Dokumente aus polnischen Archiven. Hrsg. v. Włodzimierz Borodziej u. Hans Lemberg. 4 Bände, Marburg 2000–2004. Polnische Ausgabe: „Nasza ojczyzna stała si˛e dla nas obcym
państwem . . . “ Niemcy w Polsce 1945–1950. Wybór dokumentów. 4 Bde., Warszawa 2000–2001.
11 Weidermann, Volker: Lichtjahre. Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis heute.
Köln 2006, S. 67–68. – Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Niederschlesien hatte Schmidt allerdings schon in seinem Kurzroman Leviathan oder Die beste der Welten (Hamburg 1949) sowie in
Brand’s Haide (Hamburg 1951) thematisiert. Nach dem Steinernen Herz griff er das Thema auch in
KAFF auch Mare Crisium (Karlsruhe 1960) auf. Zum biographischen Hintergrund der weitgehend
Herz, Darm und DDR – Arno Schmidt 1956
285
sarkastische Schmidt’sche Humor bis heute unübertroffen. Was fünftens einer von
vielen Gründen dafür sein sollte, dass Schmidts Steinernes Herz endlich ins Polnische übersetzt wird, zumal es bereits in englischer (A Heart of Stone), französischer
(Le Cœure de pierre), italienischer (Il cuore di pietra), spanischer (El corazón de
piedra) und sogar russischer Übersetzung (Kamennoe serdce) vorliegt. Diesbezüglich sei die Prognose gewagt, dass dadurch einige statische Elemente des polnischen
Heterostereotyps über „die“ Deutschen, so etwa Militarismus, Phantasiedefizit, sexuelle Verklemmtheit, Humorlosigkeit u. v. a. m., in Bewegung gerieten.
Der Gerechtigkeit halber sei jedoch angefügt, dass Jacek St. Buras’ Übersetzung
von Schmidts im Folgejahr 1957 erschienenem und diesmal als Science Fiction getarntem neuerlichem Kalten Kriegsbuch Die Gelehrtenrepublik. Kurzroman aus den
Roßbreiten das polnische Schmidt-Defizit bereits erheblich reduziert hat. 12 Buras
ist zugleich der Autor eines kundigen Überblicks über die Schmidt-Rezeption in
Polen. 13 Überdies ist auf die Verwaltung der Stadt Lubań Ślaski
˛ in der polnischen
Wojewodschaft Dolny Ślask
˛ (Niederschlesien) zu verweisen, die bereits 1999 an ihrem Rathaus eine Gedenktafel für den gebürtigen Hamburger Schmidt angebracht
sowie darin ein Arno-Schmidt-Zimmer eingerichtet hat. 14 Denn dieser war 1928, im
Alter von 14 Jahren, aus familiären Gründen aus Hamburg ins damalige deutsche
Lauban verpflanzt worden, von wo aus er zunächst als Fahrschüler nach Görlitz, von
1934 bis 1938 dann als Berufspendler zum Textilgroßunternehmen Greiff-Werke AG
(heute Greiff Mode GmbH & Co. KG in Bamberg) nach Greiffenberg, dem heutigen
Gryfów Ślaski,
˛
fuhr, bevor er in diese Stadt umzog. 15 Offenkundig ist die literarische
Provinz Polens dem Zentrum um einiges voraus.
Die Arno-Schmidt-Philologie, die bis 1989 eine (Rand-)Domäne der westdeutschen Literaturwissenschaft war, da die entsprechenden Texte ab 1961 für ostdeutsche Fachvertreter sowie natürlich Leser kaum mehr, ab den frühen 1980er-Jahren
12
13
14
15
identischen drei vertriebenen Frauengestalten Katrin (Die Umsiedler), Line Hübner (Das steinerne
Herz) und Hertha Theunert (KAFF) siehe unten, Abschnitt VIII.
Schmidt, Arno: Republika uczonych. Krótka powieść z obszaru końskich szerokości. Übersetzt von
Jacek St. Buras. Warschau 2011.
Buras, Jacek St.: Arno Schmidt in Polen. In: Arno Schmidt global. Eine Bestandsaufnahme der
internationalen Rezeption 1950–2010. Hrsg. v. Friedhelm Rathjen. München 2010. S. 113–116. –
Von literaturwissenschaftlicher Seite am intensivsten mit Schmidt hat sich die Lodscher Germanistin
Małgorzata Półrola befasst. Vgl. ihre Dissertation: Die Erzählweise in den Kurzromanen von Arno
Schmidt. Ms., Łódź 1985. – Jacek St. Buras (Warschau), Petra Satow-Rauschenbach (Bargfeld), Marek Zybura (Wrocław), Andreas Lawaty (Lüneburg), Joanna Jabłkowska (Łódź) und Hubert Orłowski
(Poznań) sei für Hinweise zur Schmidt-Rezeption in Polen gedankt.
Joachimsthaler, Jürgen: Philologie der Nachbarschaft. Erinnerungskultur, Literatur und Wissenschaft
zwischen Deutschland und Polen. Würzburg 2007, S. 83; Buras: Arno Schmidt in Polen, S. 114 f.
Vgl. auch eine von Jolanta Szpak im Laubaner Verlag „Omega“ initiierte Sammlung Schmidt’scher
Kurzgeschichten: Schmidt, Arno: Siedemnaście krótkich opowiadań. Übersetzung Maria Bagrij-Szopińska. Lubań 2006.
„Wu Hi?“ Arno Schmidt in Görlitz Lauban Greiffenberg. Hrsg. v. Jan Philipp Reemtsma u. Bernd
Rauschenbach. Zürich 1986; Schweikert, Rudi: Arno Schmidts Lauban. Die Stadt und der Kreis.
Bilder und Daten. München 1990.
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286
Teutonica orientalia
dann immerhin eingeschränkt erreichbar waren 16, ist mittlerweile nahezu unüberschaubar. 17 Dies gilt auch und gerade für Das steinerne Herz, wohl wegen seines
gegenwartsbezogenen und im Unterschied zur erwähnten Gelehrtenrepublik nichtfiktionalen Charakters. 1960 hat Schmidt dann in KAFF auch Mare Crisium beides, Weltraum-Science Fiction und niedersächsisch-provinzielle Non-Fiction, kombiniert, bevor 1970 mit dem Mammut-Opus Zettel’s Traum die Zeitenwende im
Schmidt’schen Universum anbrach, zu der die gleichfalls großformatig-dreispaltigen Typoskriptbücher Die Schule der Atheisten (1972), Abend mit Goldrand (1975)
und das posthume 100-Seiten Fragment Julia, oder die Gemälde (1983) zu rechnen
sind.
Unter expliziter Außerachtlassung des Prinzipienstreites in der Arno-SchmidtFangemeinde wie germanistischen Literaturwissenschaft darüber, ob der Autor der
Vor-Zettel’s Traum-Epoche oder derjenigen des sperrigen Spätwerks der genialere
sei, seien im Folgenden einige laienhafte, da lediglich auf Lektüre des besagten Steinernen Herzens sowie auf Heranziehung ausgewählter literatur- wie zeithistorischer
Fachpublikationen gestützte Bemerkungen angebracht. Hilfreich dabei war neben
Friedhelm Rathjens für Schmidt-„Neueinsteiger“, -„Fortgeschrittene“ und -„Profis“
gleichermaßen konzipierte konzise Orientierungshilfe für Erstleser und Wegweiser
16 In der 1982 (mit dem Erscheinungsjahr 1981) publizierten DDR-Anthologie zu Schmidts Frühwerk
ist Das steinerne Herz, was Wunder, nicht enthalten, wie auch das dortige umfangreiche Nachwort
darauf nicht eingeht: Witt, Hubert: Arno Schmidt für Leser. In: Schmidt, Arno: Aus dem Leben eines Fauns. Kurzromane. Leipzig 1981, S. 323–350. Vgl. auch eine zweite in der DDR erschienene
Schmidt-Anthologie: Schmidt, Arno: Vom Grinsen des Weisen. Ausgewählte Funkessays. Auswahl
und Nachwort von Bernd Leistner. Leipzig, Weimar 1982, sowie den Katalog zu einer im Juni 1989 in
Wismar veranstalteten Ausstellung zu Schmidt: Abend mit Goldrand. Eine Ausstellung zum 10. Todestag von Arno Schmidt. Katalog und Dokumentation. Hrsg. v. Matthias Friedrich u. Jörg Drews.
Berlin (Ost) 1990. Immerhin konnte kurz vor Torschluss eine bereits seit 1982 druckfertig vorliegende 2000 – Seiten-Auswahl aus Schmidts Œuvre vor seine Großtyposkripten endlich bei „Volk
und Welt“ erscheinen: Schmidt, Arno: Ausgewählte Werke in 3 Bänden. Hrsg. v. Chris Hirte. Berlin (Ost) 1990. Deren erster Band enthält auch Das Steinerne Herz (S. 505–715). – Zum amtlichnegativen Schmidt-Bild in der DDR vgl. Hirte, Chris: Arno-Schmidt-Rezeption in der DDR. Ein Bericht. In: Bargfelder Bote, Lieferung 168–169, 1992, S. 3–20, und Sinram, Peter: „Er war ihm zu
ähnlich“. Einige Bemerkungen über den Umgang der DDR mit Arno Schmidt. In: Zettelkasten 18
(1999), S. 293–312.
17 Bock, Hans-Michael: Bibliographie Arno Schmidt 1949–1978. München, 2. Aufl. 1979; Schardt,
Michael Matthias: Bibliographie Arno Schmidt 1979 – (7)1985. Mit Ergänzungen und Verbesserungen zur Arno-Schmidt-Bibliographie 1949–1978. Aachen 1985; Müther, Karl-Heinz: Bibliographie
Arno Schmidt 1949–2001. Bielefeld 2003 (http://www.gasl.org/muether/mueges.pdf, letzter Zugriff:
05. 10. 2016) samt etlichen, die Literatur bis einschließlich 2013 erfassenden Nachlieferungen (http://
www.gasl.org, letzter Zugriff: 05. 10. 2016). – „Zentralorgane“ der Arno-Schmidt-Philologen wie
-Anhänger sind Bargfelder Bote. Materialien zum Werk Arno Schmidts (1972 ff.) sowie Zettelkasten.
Jahrbuch der Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser (1986 ff.). – Zur Biographie vgl. Proß, Wolfgang:
Arno Schmidt. München 1980; und Martynkewicz, Wolfgang: Arno Schmidt. Reinbek 1992. Besonders informativ sind auch zwei Ausstellungskataloge: Arno Schmidt (1914–1979). Katalog zu Leben
und Werk. Zusammengestellt von Axel Dunker. München 1990; und Fischer, Susanne u. a.: Arno
Schmidt? – Allerdings! Eine Ausstellung der Arno Schmidt Stiftung, Bargfeld, im Schiller-Nationalmuseum, Marbach am Neckar. Marbach 2006.
Herz, Darm und DDR – Arno Schmidt 1956
287
im Literaturdschungel mit dem appellativen Obertitel Arno Schmidt lesen! 18 vor allem der von dem Münsteraner Germanisten Josef Huerkamp unter dem Titel „Die
große Kartei“. Enzyklopädie zu Arno Schmidts Roman „Das steinerne Herz“ auf
über 900 Druckseiten angestellte akribische „Versuch, den Zitatismus des ‚Steinernen Herzens‘ freizulegen, in dem er zu einen die Verortung dieser Prosa im
Bildungskosmos Arno Schmidts ausweist und zum anderen zeitgenössische wie autobiographische Quellen beibringt, welche die verständige Lektüre [. . . ] ermöglichen
können.“ 19 Huerkamp ist überdies der Initiator eines Albums zum Steinernen Herz,
welches mittels zahlreicher Fotografien, Karten, Faksimile u. a. der Textoberfläche
des Romans eine visuelle Dimension verleiht. 20
IV.
Ende Juli 1955 wurde gegen den damals im rheinland-pfälzischen Kastel über der
Saar wohnenden Arno Schmidt ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft
Trier wegen „Gotteslästerung“ und „Verbreitung unzüchtiger Schriften“ gemäß § 184
des Strafgesetzbuches eingeleitet. 21 Der Grund war Schmidts 1955 im ersten Heft
der von Alfred Andersch herausgegebenen avantgardistischen Münchner Zeitschrift
Texte und Zeichen erschienener Kurzroman Seelandschaft mit Pocahontas. Besonders moniert wurden von den Erstattern der Anzeigen, zwei Kölner Rechtsanwälten,
Invektiven gegen den Katholizismus sowie das, was im Roman als „Oberschlesisches Liebesgeflüster“ bezeichnet wurde. 22 Am 22. August 1955 kam es zu einer
18 Rathjen, Friedhelm: Arno Schmidt lesen! Orientierungshilfe für Erstleser und Wegweiser im Literaturdschungel. Südwesthörn 2014.
19 Huerkamp, Josef: „Die große Kartei“. Enzyklopädie zu Arno Schmidt: Das steinerne Herz. München
2011, Buchrückseite. Vgl. auch ders.: Toreutische Arbeit. Der „Zitatismus“ in Arno Schmidts historischem Roman: „Das steinerne Herz“. München 2011; sowie ders.: Nr. 8. Materialien und Kommentar
zu Arno Schmidts „Das steinerne Herz“. München 1979.
20 Bilderkacheln. Das Album zu Arno Schmidts Roman „Das steinerne Herz“. Hrsg. v. Josef Huerkamp
u. a. München 2004.
21 Schmidts Handakte zum Verfahren ist als Faksimile wiedergegeben in: In Sachen Arno Schmidt ./.
Prozesse 1 & 2. Hrsg. v. Jan Philipp Reemtsma u. Georg Eyring. Zürich 1988, S. 97–191. Vgl. auch
Felten, Georges: Kunst oder Verbrechen? Vor sechzig Jahren geriet Arno Schmidt ins Visier der
deutschen Justiz: Sein Roman „Seelandschaft mit Pocahontas“ stand im Verdacht, Pornographie und
Gotteslästerung zu verbreiten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 170 vom 23. Juli 2016, S. 16.
Vgl. dazu auch den Leserbrief des Vorstands der Arno Schmidt Stiftung: Rauschenbach, Bernd: Arno
Schmidt und das Erzbistum Köln. Ebd., Nr. 174 vom 28. Juli 2016, S. 35.
22 „Warum nimmstu Fin-gärr?: Nimm doch Ihn!“ Hier zit. nach Schmidt, Arno: Seelandschaft mit
Pocahontas. In: Ders.: Enthymesis. Leviathan. Gadir. Alexander. Brand’s Haide. Schwarze Spiegel.
Umsiedler. Faun. Pocahontas. Kosmas. Red. Wolfgang Schlüter. Zürich 1987, S. 391–437, hier S. 399
(Bargfelder Ausgabe). Vgl. dazu auch Arno Schmidts „Seelandschaft mit Pocahontas“. Zettel und andere Materialien. Mit Vierfarb-Faksimiles von Zetteln, Materialien und Manuskript. Hrsg. v, Susanne
Fischer u. Bernd Rauschenbach. Zürich 2000.
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Teutonica orientalia
eingehenden Vernehmung Schmidts durch das Amtsgericht Saarburg 23, in welcher
ihm mit einer Gefängnisstrafe von bis zu einem Jahr samt hoher Geldstrafe gedroht
wurde. In der Anklageschrift vom 3. März 1956 wurde dann ihm und Andersch
vorgeworfen, „daß sie öffentlich in beschimpfenden Äußerungen Gott lästerten, ein
Ärgernis gegeben und öffentlich die christlichen Kirchen und ihre Einrichtungen und
Gebräuche beschimpft“ sowie „eine unzüchtige Schrift verbreitet“ hätten. 24 Belegt
wurde dies mit nicht weniger als 17 zum Teil ausführlichen Zitaten wie beispielsweise Schmidts Beschreibung einer Nonne samt Gefolge: „Gestalten mit wächsernem queren Jesusblick, Kreuze wippten durcheinander, der suwaweiße Gürtelstrick
(mit mehreren Knoten: ob das ne Art Dienstgradabzeichen iss?).“ 25 Oder dem Dialog
von „2 Kinder[n], scheinbar Flüchtlinge“: „‚Gelobt sei Jees‘ Kristus: ‚wohin gehste
denn?‘: ‚Nach Buttermilche in Ewichkeit Ahm‘“. 26 Entsprechend unterlag es in der
Sicht der Staatsanwaltschaft „keinem Zweifel [. . . ], daß die Angeschuldigten bewußt
die christlichen Religionsgemeinschaften und ihre Institutionen beschimpft und in
schmähsüchtiger Weise über Gott etwas Verächtliches ausgesagt haben.“ 27
Das Vorgehen der Justiz hatte für den Autor zwei einschneidende Konsequenzen:
Zum einen zog er auf den dringlichen Rat von Freunden hin hektisch aus dem als
bigott-rigide geltenden Rheinland-Pfalz in das liberaler beleumundete Hessen um,
eben nach Darmstadt – in der Hoffnung, dass dort eine Chance auf Einstellung des
Verfahren gegen ihn bestünde. Und zum anderen bekam es der Stahlberg Verlag,
in dem das Steinerne Herz erscheinen sollte, jetzt mit der Angst vor strafrechtlichen Weiterungen wegen „sozialwidriger sexualethnischer Anschauungen“ sowie
politischen „Beleidigungstatbeständen“ im Schmidt’schen Manuskript zu tun. Vom
Sommer 1955 bis zum Sommer 1956 schwebte das Damoklesschwert einer Haftstrafe samt Geldbuße über Schmidt. Überdies rang er die gesamte erste Hälfte des
Jahres 1956 hindurch mit dem Stahlberg Verlag um 31 monierte „sexuell anstößige“ Stellen sowie „zeitgeschichtliche Allusionen und Freiheiten aus dem Munde
der Erzählerfigur ‚Ich‘“ in der Endfassung des Steinernen Herzens. 28 Erst nachdem
kein geringerer als der Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtkunst, der Schriftsteller und Fontane-Preisträger Hermann Kasack (1896–1966), dem
Gericht ein acht(!)seitiges Gutachten übermittelt hatte, in welchem er Schmidts Er-
23 Vgl. dazu das Protokoll der „Beschuldigten-Vernehmung in der Untersuchung gegen Arno Schmidt“
durch Oberamtsrichter Dr. Kemper am Amtsgerichts Saarburg am 22. August 1955. In: In Sachen
Arno Schmidt ./., S. 129–131.
24 Anklageschrift der Oberstaatsanwaltschaft Trier vom 3. März 1956. Ebd., S. 146–150.
25 Ebd., S. 149; und Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas, S. 393. – „Suwa“ war ein Waschmittel, das
die Firma Sunlicht im Frühjahr 1950 auf den bundesrepublikanischen Markt brachte und mit dem
Slogan „. . . soo weiss wäscht SUWA“ bewarb.
26 Ebd., S. 401.
27 Anklageschrift, S. 148.
28 Zit. nach Reemtsma, Jan Philipp: Zensur. In: In Sachen Arno Schmidt ./. Ebd., S. 193–224, hier
S. 201–205. Vgl. auch Varianten-Apparat. In: Schmidt, Arno: Das steinerne Herz. Tina. Goethe.
Die Gelehrtenrepublik. Red. Wolfgang Schlüter. Zürich 1986 (Bargfelder Ausgabe), S. 355–360, hier
S. 357–360.
Herz, Darm und DDR – Arno Schmidt 1956
289
zählung als „Sprachkunstwerk“ adelte 29, wurde das Verfahren am 26. Juli 1956 von
der Staatsanwaltschaft Stuttgart, dem Wohnort Anderschs, eingestellt. 30
Bereits am 3. Juli 1956 hatte Schmidt die aus seiner Sicht auf mehrheitlich „läppischen“ juristischen Bedenken beruhenden Änderungsvorschläge des Stahlberg Verlages akzeptiert, um eine weitere Verzögerung der Veröffentlichung zu vermeiden.
Auf dem bei seinem Freund Wilhelm Michels (1904–1988) deponierten Originalmanuskript hatte er vermerkt: „Wichtig, da ohne alle die im Buch von [StahlbergLektor und -Mitinhaber Ernst] Krawehl vorgenommenen Kastrierungen!“ 31 Und auf
seinem Handexemplar notierte er: „Das Originalmanuskript hat durch den Verleger
eine weitgehende politische Entschärfung erfahren, von der einseitig die Bundesrepublik profitiert hat. – Bei einer späteren Auflage also zu berichtigen; ebenso
wie diverse Erotica im Urtext wieder herzustellen.“ 32 Schmidts Anweisung wurde
posthum befolgt: In der von der Arno-Schmidt-Stiftung verantworteten sogenannten
Bargfelder Ausgabe des Schmidt’schen Gesamtœuvres, die im Zürcher HaffmannsVerlag erschien, wurde dieser Urtext 1986 rekonstruiert – einschließlich des zensierten Zusatzes „nach Christi“ zur Jahreszahl 1954 im Titel. 33
Bemerkenswert, aber wohl auch typisch für Schmidt, war, dass er ungeachtet
all dieser multiplen und existenzbedrohenden Probleme zeitgleich zwei seiner originellsten und witzigsten Erzählungen fertigstellte, TINA oder über die Unsterblichkeit 34 und Goethe und einer seiner Bewunderer 35, sowie zudem seine beiden
unterhaltsam-hintersinnigen Kurgeschichtenzyklen Geschichten aus der Inselstraße
und Stürenburg-Geschichten durch weitere Erzählungen ausweitete. Überdies stürzte
er sich 1956 mit Verve auf die Materialsammlung für ein neues Romanprojekt, das
er als sein Hauptwerk konzipierte: Lilienthal 1801, oder Die Astronomen. An der
Fiktion einer Fertigstellung hielt er zeit seines Lebens fest, und dies ungeachtet des
in den sechziger Jahren verfassten und 1970 erschienenen, über zehn Kilo schweren
1330-seitigem Folianten Zettel’s Traum und der weiteren drei genannten Großtypo-
29 Gutachten des Präsidenten der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Hermann Kasack.
Stuttgart, 21. Juli 1956. In: In Sachen Arno Schmidt ./., S. 172–180.
30 Verfügung der Staatsanwaltschaft Stuttgart vom 25. Juli 1956 zur Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Arno Schmidt und Alfred Andersch. Ebd., S. 181–187.
31 Zit. nach Varianten-Apparat, 355.
32 Ebd.
33 Schmidt, Arno: Das steinerne Herz. Historischer Roman aus dem Jahre 1954 nach Christi. In: Ders.:
Das steinerne Herz. Tina. Goethe. Die Gelehrtenrepublik, S. 7–163 (Bargfelder Ausgabe). – Im Folgenden werden die wörtlichen Zitate aus Schmidts Steinernem Herzen nach der Bargfelder Ausgabe
zitiert und die Belegstellen in runden Klammern eingefügt. Zu den zensierten Passagen sowie weiteren Änderungen vgl. den besagten Varianten-Apparat.
34 Schmidt, Arno: TINA oder über die Unsterblichkeit. In: Augenblick 2 (1956), Nr. 4, S. 13–28. Auch
in ders.: Das steinerne Herz. Tina. Goethe. Die Gelehrtenrepublik, S. 165–187 (Bargfelder Ausgabe).
35 Schmidt, Arno: Goethe und Einer seiner Bewunderer. In: Texte und Zeichen 3 (1957), S. 232–264.
Auch in ders.: Das steinerne Herz. Tina. Goethe. Die Gelehrtenrepublik, S. 189–220 (Bargfelder
Ausgabe).
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Teutonica orientalia
skripte. Noch im Juni 1977, zwei Jahre vor seinem Tod, schrieb er an seinen Mäzen
Jan Philipp Reemtsma:
[W]enn ich mich (noch mehr als sonst) beeilte, könnte ich ’79 mit LILIENTHAL beginnen. Dann werde ich 65 sein, und in 8 bis 10 Jahren – oder nein: ich muß ehrlich=vorsichtig
sein, und schreiben ‚in 10 bis 12‘ – würde es, mit seinen 1500 bis 1600 DIN A 3 Seiten,
fertig daliegen. 36
Dazu kam es nicht mehr, war doch das Herz des Autors eben kein steinernes, sondern
ein krankes.
V.
Das mediale Echo auf das Steinerne Herz war in Deutschland West wie Ost ganz
überwiegend ablehnend, partiell gar vernichtend. Mit „Auf den Abfallhalden der
Sprache“ war die eingehende Besprechung des Feuilleton-Chefs der Frankfurter
Allgemeinen Zeitung, Karl Korn (1908–1991), betitelt, während die Ostberliner Weltbühne den Verriss eines unter dem Pseudonym „Korbinian Nemo“ auftretenden Rezensenten mit „Dichtung oder hormonales Irresein?“ überschrieb. Ähnlich war der
Tenor weiterer Rezensionen vor allem in Tageszeitungen. Der Titel der Besprechung
im Mannheimer Morgen lautete „Gott schütze die deutsche Literatur“ 37, nämlich vor
Arno Schmidt, und DIE WELT urteilte: „Lesern gängiger Epik wird dieses Buch
einen Schüttelfrost einjagen. [. . . ]. Eine Prosa – wie durch den Starmix gejagt.“ 38
Selbst die sich seriös gebende Kulturpolitische Korrespondenz sprach von „frecher
Irrenhauskunst“, „pathologischem Gekritzel“ und „dichterischem Kretinismus“. 39
Für das am Rande des Existenzminimums lebende Schriftstellerehepaar Arno und
Alice Schmidt hatten die Androhung einer Gefängnis- samt Geldstrafe, die sich hinziehende Auseinandersetzung mit dem Stahlberg Verlag und der rezensionsbedingt
literarische wie finanzielle Flop des Steinernen Herzens zwei ganz unterschiedliche
36 Auszug aus einem Brief von Arno Schmidt an Jan Philipp Reemtsma, Bargfeld, 16. Juni 1977. In:
Chronologie einer Nicht-Entstehung. In: Arno Schmidts LILIENTHAL 1801, oder DIE ASTRONOMEN. Fragmente eines nicht geschriebenen Romans. Hrsg. v. Bernd Rauschenbach. Bargfeld
1996, S. 13–31, hier 31. – Zur „Nicht-Entstehungsgeschichte“ dieses Romans über den sich als
Hobby-Astronom und Mond-Kartograph betätigenden Oberamtmann Johann Hieronymus Schroeter
(1745–1816), dessen private Sternwarte in seinem Wohnort Lilienthal bei Bremen mit den größten
Teleskopen seiner Zeit ausgerüstet war, vgl. Rauschenbach, Bernd: Das übernächste Buch. Ebd., S. 7–
12.
37 Über Arno Schmidt. Rezensionen vom „Leviathan“ bis zur „Julia“. Hrsg. v. Hans-Michael Bock.
Zürich 1984, S. 48–69, hier S. 52–54, 57–59 und 65–68. Vgl. zu weiteren Rezensionen Bock: Bibliographie Arno Schmidt, S. 139–145; und Müther: Bibliographie Arno Schmidt, S. 122–134.
38 Über Arno Schmidt, S. 57. Siehe dazu die Glosse von Wollschläger, Hans: Wie DIE WELT es treibt.
Zum STEINERNEN HERZ von Arno Schmidt. In: Ders.: Die Insel und einige andere Metaphern
für Arno Schmidt. Göttingen 2008, S. 217–220 (Erstveröffentlichung als: Die Welt. In: Der Rabe.
Magazin für jede Art von Literatur Nr. 500, Zürich 1987, S. 161–162). – „Starmix“ hieß ein von der
bundesdeutschen Firma Electrostar produzierter elektrischer Küchenmixer.
39 Über Arno Schmidt, S. 62–64.
Herz, Darm und DDR – Arno Schmidt 1956
291
Folgen: Zum einen wurde der bereits 1955, zu Beginn des Ermittlungsverfahrens
um Seelandschaft mit Pocahontas, angedachte Plan einer Übersiedlung in die DDR
wieder aufgenommen. Am 19. März 1956 notierte Alice Schmidt in ihrem Tagebuch: „A[rno]: ob man nicht doch nach d. Osten macht? Ehe ich mich hier 2 Jahre
einsperren lasse?“ 40 Und neuerlich am 21. März: „A[rno]: wieder alles schief. Ob
man nicht doch nach d. Osten geht?“ 41 Die Schmidts hatten im Sommer 1954
erstmals die Mutter Alice Schmidts, Else Murawski (1895–1978), in Ostberlin besucht, und zumindest er war mit relativ positiven Eindrücken zurückgekommen –
siehe Steinernes Herz. Denn der dort geschilderte Aufenthalt des Ich-Erzählers Walter Eggers in der „Hauptstadt der DDR“ entspricht (wohl mit Ausnahme von Eggers’ semikriminellen Machenschaften in der Staatsbibliothek Unter den Linden)
bis in Details der Darstellung der Schmidt’schen Sommerreise in Alice Schmidts
Tagebuch. 42 Auf Anregung des Kollegen und Irland-Kenners Heinrich Böll 43 ventilierte Schmidt überdies den Plan einer Auswanderung auf diese Insel, wie eine
temporär intensive Korrespondenz mit Böll und Aedan O’Beirne, Sekretär der Gesandtschaft Irlands in Bonn, belegt. 44 Und zum anderen beendete Alice Schmidt,
die seit 1948 auf Anregung ihres Schriftstellergatten minutiös Tagebuch führte, am
3. Juli 1956, dem Tag des letzten Briefes ihres Mannes an den Stahlberg Verlag
in Sachen Steinernes Herz, in welchem er zähneknirschend dessen Zensuransinnen schluckte 45, abrupt diese Gewohnheit – offenkundig deswegen. 46 Das mag auf
den ersten Blick belanglos erscheinen. In Anbetracht von Schmidts seinerzeitiger
Arbeitsweise, nämlich von seiner Ehefrau in ihrem Tagebuch penibel protokol-
40 Schmidt, Alice: Tagebuch aus dem Jahr 1956. Hrsg. v. Susanne Fischer. Bargfeld 2011, S. 95.
41 Ebd., S. 96. Die deutlich lebenspraktischere Tagebuchschreiberin fügte allerdings ihren eigenen Kommentar an: „Ist doch m. E. wahnsinn: Arno im Osten! [. . . ]. Der Osten ist nichts für Arno!“ Ebd., 97.
42 Schmidt, Alice: Tagebuch aus dem Jahr 1954. Hrsg. v. Susanne Fischer. Bargfeld 2004, S. 113–152.
Der Besuch fand vom 28. Juli bis 3. August 1954 statt. Josef Huerkamp zufolge sind „Fiktion und
Wirklichkeit“ bezüglich der Ostberlin-Episode „fast ununterscheidbar ähnlich“. Siehe dazu das Kapitel „Bei der ‚Ozon-Line‘ in Adlershof“. In: Bilderkacheln, S. 55–87, hier S. 68, sowie ausführlich
Huerkamp: „Die große Kartei“, S. 325–629 („In Ostberlin-Adlershof: ‚Die Ozon-Line‘“) und S. 857–
858 („Die Sommerreise 1954“).
43 Böll, Heinrich: Irisches Tagebuch. Köln 1957.
44 Schmidt, Arno: Briefwechsel mit Kollegen. Hrsg. v. Gregor Strick. Frankfurt /M., 2007, S. 14–
28. Der Schriftverkehr Schmidts mit Böll und dem Gesandtschaftssekretär fand von Ende November 1956 bis Anfang Februar 1957 statt. – Bereits im September 1953 hatte Schmidt mit dem
Gedanken an eine Übersiedlung in die Schweiz gespielt. Vgl. seinen Brief an das Schweizerische
Generalkonsulat in Frankfurt /M. vom 19. September 1953 in: Arno Schmidt (1914–1979). Katalog
zu Leben und Werk, S. 70.
45 Der Brief ist wiedergegeben in: In Sachen Arno Schmidt ./., S. 219–223. Seine dem „ostzonal-bearbeiteten Geschöpf“ Line Hübner in den Mund gelegte antibundesrepublikanische Attitüde verteidigte
Schmidt hier damit, „daß ich mir in meinem Bericht jener kurzen Sommertage des Jahres 1954 eine
Sachlichkeit auferlegte, wie sie dem Historiker, der im Jahre 2000 darüber berichten wird, wahrscheinlich nicht eignet!“ Ebd., S. 222.
46 Spreckelsen, Tilman: Wem widme ich mein steinernes Herz? Das Tagebuch von Alice Schmidt aus
dem Jahr 1956. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 276 vom 26. November 2011, S. L 11. Vgl.
auch Schmidt, Alice: Tagebuch aus dem Jahr 1956, S. 173.
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Teutonica orientalia
liertes persönliches Erleben zur Grundlage seiner literarischen Produktion zu machen – siehe Steinernes Herz –, ist hier jedoch ein deutlicher Bruch zu konstatieren.
VI.
Der Bielefelder Germanist und engagierte Schmidt-Experte Jörg Drews (1938–2009)
hat den Inhalt des Steinernen Herzens konzis wie folgt zusammengefasst:
Hauptfigur und Ich-Erzähler des 1956 erschienenen Romans ist der 45-jährige Walter
Eggers, Sammler von alten Folianten und hervorragender Kenner historischer und numismatischer Details der hannoverschen Landesgeschichte. Eggers, ein Fanatiker der Statistik
und Kartographie, mietet sich in dem niedersächsischen Städtchen Ahlden bei der Familien Thumann ein; aufgrund der Abstammung Frau Thumanns von dem Statistiker Jansen
vermutet er im Hause noch alte, von ihm leidenschaftlich gesuchte statistische Handbücher.
Nach der Devise, dass der (Sammler-)Zweck die Mittel heilige, beginnt er ein Verhältnis
mit Frieda Thumann, in deren Ehe mit dem Fernlastfahrer Karl Thumann es ohnehin schon
kriselt. Er findet die gesuchten Bücher, verkauft einige Dubletten, verschafft so den Thumanns einen unerwarteten Nebenverdienst und fühlt sich in dem kleinbürgerlichen Milieu
zunächst recht wohl: ‚Schlüssel zu einer Bücherkammer und ein strammes weißes Weib:
was will man mehr als Mann?!‘ Um sich ein Exemplar der raren dritten Auflage eines Buches zu verschaffen, fährt er mit Karl nach Berlin, wohnt bei dessen Freundin Line Hübner
im Osten der Stadt und vertauscht schließlich gerissen und betrügerisch in der Staatsbibliothek eine Dublette der zweiten Auflage mit dem gesuchten Band der dritten Auflage. Sein
Aufenthalt in Berlin gibt ihm Gelegenheit, die Situation in den verschiedenen Sektoren
der Stadt zu beobachten und über die Spaltung Deutschlands nachzudenken. Er konstatiert bezüglich der DDR die ‚Bildung eines neuen deutschsprachigen Teilstaates [. . . ] mit
eigener handfester Halbkultur‘ und resümiert melancholisch zu ganz Deutschland: ‚Wenn
ich nicht schon von Geburt Atheist wäre, würde mich der Anblick Deutschlands dazu machen!‘ 47 Nach Ahlden zurückgekehrt, will Eggers sich von den Thumanns absetzen, da er
alles erreicht hat, was sein Sammlerherz begehrte. Er hilft ihnen noch, eine Sterbeurkunde
zu fälschen, mit der Karl Line aus Ostberlin herausholt. Beim Einräumen eines Zimmers
entdeckt Eggers im Hohlraum einer Zimmerdecke einen Schatz mit alten hannoverschen
Gold- und Silbermünzen, von denen einige in Zusammenhang mit der um 1700 im Schloss
von Ahlden gefangen gehaltenen Prinzessin Sophie Dorothea stehen. Dank seiner numismatischen Kenntnisse gelingt es Eggers, die Münzen günstig zu verkaufen; er beschließt,
weiter im Hause Thumann auszuharren, da er auch von dem Goldfund profitiert und in
gelehrtem Müßiggang sein Projekt einer Kartei aller wichtigen Personen des Königreichs
Hannover verwirklichen kann. 48
47 In der unzensierten Fassung des Steineren Herzens ist von „Adenauer=Deutschland“ die Rede. Vgl.
(21) und Varianten-Apparat, S. 357. – Zu Schmidts obsessiver Phobie gegen den rheinisch-katholischen ersten Bundeskanzler vgl. Huerkampf, Josef: „Andauernd Adenauer“. Vor gut 25 Jahre – am
19. April 1967 – verstarb der erste Kanzler der Bundesrepublik. In: Bargfelder Bote, Lieferung 172–
174, 1993, S. 33–40.
48 Drews, Jörg: Das steinerne Herz. Historischer Roman aus dem Jahre 1954. In: Kindlers Literaturlexikon. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. Bd. 14: Ror-Sez. Stuttgart, Weimar, 3. Aufl. 2009, S. 560–
561.
Herz, Darm und DDR – Arno Schmidt 1956
293
Dass der kundige Drews die ausführliche Schilderung Line Hübners über ihre Erlebnisse im sowjetisch-polnischen Kondominium Niederschlesien der Jahre 1945–1947
übergeht, ist zwar mit Blick auf die Rekonstruktion des Handlungsstrangs nachvollziehbar. Dennoch kann dieses Vorgehen als implizite Kritik an einer vermeintlichen
politischen Inkorrektheit des Autors gewertet werden. Jan Philipp Reemtsma hat
diesbezüglich von „einem betrüblich einfachen Mechanismus“ gesprochen, den er
mit der „generationenspezifischen Blindheit“ der 68er samt „‚politisch-korrekte[r]‘
Tabuisierung“ der von der Vätergeneration präferierten „Themen ‚Bombenkrieg‘,
‚Flucht und Vertreibung‘, ‚Russen in Berlin‘“ erklärt. 49
VII.
Das mitunter verklärte DDR-Bild des Steinernen Herzens und seines Autors speiste
sich nur zum Teil aus der 1954 erfolgten Autopsie, vor allem aber aus seiner Aversion gegen die „Bundesdiktatur“ (105): „[W]eil die Leute drüben so rührend ehrlich
arbeiten; weil sie tapfer gottlos sind; und gegen den Rüstungsalp Adenauer“ wollte
Schmidt der DDR „gern helfen“ (105). Immerhin war er sich seiner beträchtlichen
Ignoranz bezüglich des real existierenden Sozialismus preußischer Prägung bewusst:
„[W]as mich neugierig in die DDR führt, ist weniger die anziehende Kraft des Ostens – den ich ja kaum noch kenne! – als vielmehr die abstoßende des Westens!“ (79).
Nach einem weiteren Ostberlin-Besuch von Arno und Alice Schmidt anlässlich ihrer
Silberhochzeit Ende August 1962 schrieb er an seinen Freund Schlotter, die DDR
habe auf ihn „wie ein durchaus konsolidiertes, wenn auch junges Staatswesen“ gewirkt. 50 Der Aufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR figuriert hingegen in Schmidts
Werk und Korrespondenz ebenso wenig wie der Posener Aufstand in Polen 1956 oder
die sowjetische Militärintervention in Ungarn vom selben Jahr. Ja, selbst zum Mauerbau von 1961 hat er sich nicht geäußert, sondern noch 1963 mit einer Übersiedlung
in die DDR kokettiert:
49 Reemtsma, Jan Philipp: Die Fremden. In: Schmidt: Tagebuch aus dem Jahr 1954, S. 303–323, hier
S. 316.
50 Brief Nr. 113: Arno Schmidt an Eberhard Schlotter. Bargfeld, den 31. August 1962. In: Schmidt:
Briefwechsel mit Eberhard Schlotter, S. 210–212. – Weitere bei diesem zweiten Besuch gewonnene
Eindrücke der ostdeutschen Variante des Staatsozialismus hat Schmidt in einem streckenweise peinlichen Text mit dem Titel „Nachschlagewerk im Werden“ im Mai-Heft der damals von der DDR kofinanzierten westdeutschen Studentenzeitschrift Konkret von 1963 wiedergegeben, wo es unter anderem heißt, „der Rumänische Sekt schmekkte, und die Bulgarischen Firsiche mundeten, (dagegen
wirkten die mir vergleichbaren US-Konserven fade [. . . ].“ Hier zitiert nach dem Nachdruck: Schmidt,
Arno: Nachschlagewerk im Werden. In: Ders: Deutsches Elend. 13 Erklärungen zur Lage der Nation.
Hrsg. v Bernd Rauschenbach. Zürich 1984, S. 86–99, hier S. 88. Vgl. zu dieser zweiten innerdeutschen Reise auch „Sechs Fotos von Arno und Alice Schmidt in Ost-Berlin, August 1962“ in: Arno
Schmidt (1914–1979). Katalog zu Leben und Werk, S. 99; sowie allgemein Czapla, Ralf Georg: „Die
Zone ist nåh“. Die DDR in Arno Schmidts Texten der sechziger Jahre. In: Zettelkasten 12 (1993),
S. 257–277, und zu Konkret Röhl, Bettina: So macht Kommunismus Spaß! Ulrike Meinhof, Klaus
Rainer Röhl und die Akte Konkret. Hamburg 2006.
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Teutonica orientalia
Und da bekenne ich es denn ganz offen: wenn ich mich einst früher oder später (und ich
fürchte immer, es werde ‚früher‘ sein) vor die Wahl gestellt sehen werde, zwischen einer dann vollausgebildeten braunen und schwarzen Diktatur (Generäle plus Katholiken)
und einer ‚roten‘ –, tcha, dann werde ich, gemäß meinem Prinzip der ‚geringeren Denkhemmung‘, vermutlich den Osten wählen. Nicht jauchzend, wohlgemerkt, sonst wär’ ich
ja längst ‚drüben‘; vielmehr wird es eine grausliche Wahl werden zwischen 2 ‚größeren
Übeln‘ – : aber in Trans=Albingistan werden mir die Kinder auf der Straße hoffentlich nur
ein dümmerliches ‚Formalist‘ hinterherrufen; während bei uns noch zusätzlich religiöser
und nationaler Fanatismus über mich herfallen dürfte. 51
Der westdeutsche Halbstaat stellte sich dem Ex-Wehrmachtsoldaten Schmidt als
Reinkarnation des preußischen Militarismus, gar des nationalsozialistischen „Dritten Reiches“ dar – eine Deutung, in der er sich durch den 1949 einsetzenden heftigen
öffentlichen Streit über eine Wiederbewaffnung, den Eintritt in die NATO und durch
die Gründung der Bundeswehr 1955, deren Führungsebenen durchgängig aus ehemaligen Wehrmachtsoffizieren bestanden, bestätigt sah. Doch auch die 1952 in der DDR
formierte Kasernierte Volkspolizei wie die 1956 erfolgte Gründung der Nationalen
Volksarmee wurden von ihm kritisch thematisiert, allerdings faktisch unzutreffend
als bloße Reaktion auf die bundesdeutsche Aufrüstung gewertet (115). Ungeachtet
provokativer Äußerungen wie derjenigen „daß ich jeden Morgen aufstehen, und mich
freuen muß, daß es die Deutsche Demokratische Republik gibt!“ 52, reagierte er auf
den Vorwurf, auf dem linken Auge blind zu sein, empfindlich: „Ich bedarf keiner Belehrung. Ich habe, vielleicht als Erster, in meinem ‚Steinernen Herzen‘ des Betrübten
und Breiten beide geschildert, den Osten wie den Westen; ich kenne die Sch[w]ächen
wie die Vorzüge von beiden.“ 53 Und in der Tat teilte er im Steinernen Herz gleichermaßen in beide Himmelsrichtungen aus:
[D]er Westen mit seinem blödsinnigen Fritzwalter=kult! (Allerdings hier dann wieder: diese ‚Helden der Arbeit‘: anstatt die Leute ehrlich aufzuklären, daß Arbeit leider ein noch
notwendiges Übel sei. – Immer noch ne ‚Sonderschicht für den Frieden‘: die haben ja auch
n Knall!). (64 54)
Als in allen drei westalliierten Besatzungszonen bewanderter Schlesien-Flüchtling
stieß ihm überdies die stiefmütterliche Behandlung der in SBZ und DDR euphemistisch als „Umsiedler“ bezeichneten deutschen Vertriebenen besonders sauer auf:
„‚Nö: Flüchtlinge kriegen hier gar nichts‘ erwiderte [Line Hübner] trocken. (Im
Westen hat immerhin wohl schon Jeder die ersten 150 Mark Hausratshilfe bekom-
51 Schmidt, Arno: „‚Wahrheit‘ –?“, seggt Pilatus, un grifflacht . . . In: Ders.: Deutsches Elend, S. 70–
84, hier S. 74 f. (Erstveröffentlichung in Die Zeit vom 19. Juli 1963).
52 Schmidt, Arno: Deutsches Elend. In: Ders.: Deutsches Elend, S. 7–14, hier S. 11. Erstveröffentlichung eines auf den 28. November 1957 datierten Textes.
53 Ebd., S. 13.
54 Friedrich „Fritz“ Walter (1920–2002) war Kapitän der deutschen Fußballnationalmannschaft, welche
1954 mittels des „Wunders von Bern“ die Weltmeisterschaft im Endspiel gegen Ungarn gewann.
Herz, Darm und DDR – Arno Schmidt 1956
295
men!)“ (83), darunter die Schmidts. Und neben der Propaganda der Staatspartei
und der defizitären Versorgungslage in der DDR – „H[andels]O[rganisation] = vom
Staat organisierter Schwarzer Mark: bissige Preise und beamtenhaft faule Bedienung“ (81) – stieß er sich ganz besonders an der SED-Kunst- und Kulturpolitik:
Denn in künstlerischer Hinsicht ist im Osten tatsächlich noch weniger ‚los‘, als im doch
auch schon lächerlich dürftigen Westen. Kunst wäre so billig zu haben; und wird Euch Allen noch einmal teuer zu stehen kommen! Wie würdet Ihr auch im Westen als ‚frei‘ gelten
müssen, wenn Ihr Euch eine hübsche Künstlerkolonie von 20 Mann hieltet; und die Echolosen getrost mal ein bißchen Unpopuläres sagen ließet. Aber wenn Ihr verlangt, daß auch
jeder Künstler periodisch und gallionsfigurig sein Soll an linientreuem Kitt daher schwätzt:
solange geltet Ihr bei allen guten Köpfen nur als brutal=komisch! (Und werdet langsam auf
immer verdächtig: daß man mit Euch gar nicht arbeiten kann!) (89)
Die von den DDR-Medien evozierten „glückstrahlenden Gesichter unserer Arbeitersänger, =tänzer, =dichter, und =musiker’, in denen jetzt ‚unaufhaltsam schöpferische Kräfte frei wurden‘“, hielt er für „ausgesprochen ekelhaft, wie nur je zur
K[raft]d[urch]F[reude]=Gruppenzeit Hitlers!“ (92). Besonders eingehend lässt sich
der unschwer als Alter Ego des Autors zu erkennende Ich-Erzähler Walter Eggers
darüber aus, dass Wahlen in der DDR weder frei noch geheim seien, sie dies aber in
der Bundesrepublik „ooch nich“ wären (96–98, hier 97). Und selbst bei dem Schmidt
abgrundtief verhassten Thema „Militär“ blitzt sein kaustischer Humor hervor:
Was giebts Neues im Osten? [. . . ] ‚Der junge Eisendecher [. . . ] hat gestern n Gestellungsbefehl für die kasernierte Volkspolizei gekriegt.‘ [. . . ] ‚Dann erst hat sich rausgestellt, daß
der von irgend einer Weststelle gefälscht war: im Großversand, um die Bevölkerung der
DDR zu beunruhigen!‘ [. . . ] Aber der Witz war noch nicht zu Ende): ‚Sie haben ihn dann
trotzdem gleich da behalten: wo er einmal drauf eingerichtet war – ‘ (125).
Dem Leser bleibt da das Lachen im Hals stecken.
VIII.
Noch bedrückender ist das, was Schmidts Figur Line Hübner, die in einer Laube
im Ostberliner Stadtteil Adlershorst mehr hausende als wohnende Vertriebene aus
Niederschlesien, dem Ich-Erzähler im Steinernen Herz über ihre Erlebnisse beim
Rückzug der Wehrmacht aus Greiffenberg 1945, dem Einmarsch der Roten Armee
dort 55, dem Nachrücken von polnischer Miliz und Zivilbevölkerung, weiter über ihr
mehr als zweijähriges Leben als „Halbsklavin“ (93) bzw. Mädchen für – buchstäb-
55 Obwohl die sowjetischen Truppen bereits Mitte Februar 1945 bis auf 15 Kilometer auf Greiffenberg
vorgerückt waren, verzögerte die in vollem Gange befindlichen Schlacht um Berlin die Einnahme
der niederschlesischen Kleinstadt bis zum 8. Mai. Vgl. Huerkamp: „Die große Kartei“, S. 496, unter
Bezug auf den Zeitzeugen Reinhart Fritsch.
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lich: – Alles in einer Metzgerei in der jetzt unter polnischer Verwaltung stehenden
Kleinstadt sowie ultimativ über ihre Deportation in die SBZ berichtet. Schmidt referiert hier im Detail das, was ihm seine Schwiegermutter Else Murawski im Sommer
1954 in Ostberlin über ihre und ihrer Tochter Erna Rose (1918–1985) Erlebnisse der
Jahre 1945–1947 in der zunächst in Gryfogóra umbenannten Stadt erzählt hatte, wie
aus Alice Schmidts ausführlichem Tagebuch aus dem Jahr 1954 hervorgeht. 56
Die beiden nachstehenden längeren Textstellen aus dem Steinernen Herz 57 zeichnen sich durch Authentizität und Direktheit weit ab jeglicher heutiger politischer
Korrektheit aus:
Schlesien, Frühjahr 1945: erst sprengten die Deutschen die Brücke über den Ölse=Bach:
natürlich mit zwanzigfacher Ladung, daß alle Häuser Risse kriegten: „Opa hatte vielleicht
Angst!“ (War 85 gewesen; Schustergreis, und seit 10 Jahren mit einem Katheter im Bauche;
preise Niemand glücklich vor seinem Ende: ihr Großvater und Beide allein).
„Die deutschen Soldaten haben gehaust!: Manchmal dachte man, der Russe wäre schonn
da!“ (alle Schranktüren aufgesprengt; Alles gefressen und eingesteckt; Alle mit Stiefeln im
Bett gelegen. 58 [. . . ]
Nach der Granatennacht, eines Nebelmorgens: stand der Russe im Garten! Kaute Kohl
und kam langsam, maschinenpistolig, heran. Opa zitternd im Bett oben. (Und mein Gesicht
versteinerte wie ihres.!) [. . . ]
„Die Flötern, nebenan . . . “ (um die Lederhandschuhe ihres Mannes zu retten, hatte sie
freundlich=verzweifelt mit dem Russenplünderer gestammelt, und ihm die Hände gestreichelt: der hatte es ‚falsch ausgelegt‘ und sie aufs Bett geworfen: heulend kam sie dann über
die Gerberstraße gerannt, und wurde aufs ‚Schislong‘ gelegt, zum Beruhigen. – Auch bei
ihnen pausenlos Russen ‚nach Waffen suchen‘. Dann kam endlich die polnische ‚Miliz‘ auf
Wagen an.).
56 Schmidt, Alice: Tagebuch aus dem Jahr 1954, S. 138–142. – Bei ihrem Ostberlin-Besuch 1954 wohnten Alice und Arno Schmidt in der Wohnung von Else Murawski in der Handjerystr. 25 im Stadtteil
Adlershof sowie in deren nahe gelegener Gartenlaube in einer Kolonie an der Köllnischen Heide. Vgl.
dazu auch Bei der ‚Ozon-Line‘ in Adlershof. Zu den Familienverhältnissen, darunter der im nachstehenden Zitat als „Opa“ bezeichnete Großvater Alice Schmidts, Heinrich Schäfer (1861–1945),
Besitzer des nachstehend ebenfalls erwähnten Greiffenberger Wohnhauses Gerberstraße 7, vgl. Huerkamp: „Die große Kartei“, S. 858–859 („Familie Murawski“).
57 Zu den Slavismen im Folgenden vgl. das Lemma „Lines Bericht aus Schlesien“ bei Piperek, Klaus:
Arno Schmidt und die Welt der Slawen. Kommentierendes Handbuch. München 2010, S. 100–106.
Weitere Erläuterungen, vor allem zum zeithistorischen Hintergrund, bei Huerkamp: „Die große Kartei“, S. 493–507 und 545–551.
58 Eine ganz ähnliche Formulierung findet sich in einem Brief Else Murawskis vom 17. März 1945
aus Greiffenberg an ihre Tochter Alice in Quedlinburg: „Es ist das gleiche Lied, was man überall
hört, die [deutschen] Soldaten ziehen über alles her und der kann froh sein, dem sie nichts mitnehmen. Aber alles Eßbare wird restlos vertilgt. Man kann nicht alles schreiben wie sie gehaust haben,
sonst denkst Du am Ende der Russe war schon hier.“ Zit. bei Fischer, Susanne: Alice Schmidt in
Greiffenberg um 1944. In: Bargfelder Bote, Lieferung 309–310, 2008, S. 3–12, hier S. 9 (URL http://
www.arno-schmidt-stiftung.de/Archiv/Fischer-Alice-Schmidt-in-Greiffenberg.html, letzter Zugriff:
05. 10. 2016).
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„Wie oft kam Einer rein: machte alle Schränke auf; zog sich die Schuhe aus. Alles von uns
an“ (Ging ab damit: Alles neu macht der Mai. [. . . ]
Das ‚Häuser wählen‘ der Polen: was ihnen gefiel, nahmen sie. „Eines Tages kam die Thomasmarie an; bloß in Trainingshosen, n Tuch oben rum, und n Bündelchen in der Hand . . . .“
(Opa starb dann in der Nacht vom 29. zum 30. Juli: „Den Sarg hat der Lange-Tischler noch
mit getragen“; durch Gryfogóra, wie’s jetzt schon hieß.) „Die alten Rassmanns ließen ihre
15jährige Traudel – die mit mir in de Schule gegangen war – ständig von n Russen: bloß
um was zu essen zu haben.“ [. . . ]
‚Jozef Matonis‘: 50 Jahre, klein & häßlich, leidlich gutmütig, ‚nahm‘ das Haus. Am nächsten Tag lud er sie in die obere Stube: dort hatte er sämtliche Spiegel der Nachbarschaft
an den Wänden aufgestellt, „10 oder 12 Stück“, dazwischen Schlingpflanzen, und sang
irgendwas auf itsch und witsch: mitten auf dem Ausziehtisch der Torso des Bandagistenhändlers, mit Bruchbändern rund herum: Bewunderung: Kultura!!. „Gottseidank“ (iss bloß
sone Redensart: was hatte sie ihm wohl zu ‚danken‘?!) „hatte ich ne abscheuliche Augenentzündung und ganz sehr Ausschlag: da haben mich die Männer manchmal in Ruhe
gelassen.“ (Manchmal! 15 Jahre war sie gewesen! [. . . ])
Kein gutes Einvernehmen zwischen Russen und Polen!: „Die (die Polen) kamen zunächst
nur zögernd nach Schlesien; es hieß erst, das käm’ nur zeitweilig unter polnische Verwaltung“ [. . . ]
‚Matonis‘: „Faul waren die Polen: zum Erbrechen!“ – Er ‚nahm‘ sich dann Lachmanns Geschäft in der Jelengorskaja (wie jetzt die Hirschbergerstraße hieß) „eines Tages standen sie
(Lachmanns) vor unserer Tür: er ne Kaffeetasse in der Hand, sie ein Kopfkissen unterm
Arm. Völlig benommen: ‚Ihr‘ Pole hat uns hergeschickt; er hat unser Haus ‚genommen‘“.
Dann dort erst ein Wildwest=Kaufhaus aufgemacht (den bandagierten Torso natürlich im
Schaufenster, zwischen Seife und Scheuerlappigem); später in eine nahrhafte Fleischerei umgewandelt: „Hunger hab ich da nich gelitten.“ (Alles war sie zugleich gewesen:
Verkäuferin; Laufmädchen; Reinemachfrau; Bedienung. Schlachtgehilfe; Matratze; Kinderwärterin). [. . . ]
„Ich bin dann auch dahin gezogen“ (hatte verständliche Angst gehabt, so völlig allein
im Haus, Gerberstraße 7. „Abends ging ich immer hin, Fenster und Türen verrammeln,
morgens wieder aufmachen: damit neue Polen denken sollten, das Haus wäre schon ‚genommen‘!“ (Die ärmlich hilflosen Tricks des Kindes. „Ich wollte’s doch ‚halten‘!“: Nee:
„Geld hab ich keins gekriegt für die Arbeit: eben Wohnung und Essen.“) [. . . ]
‚Blume‘ 59: führte die Greiff-Werke weiter: „Mich hat er dann nich mehr angenommen, weil
ich damals nich zum Aufräumen gekommen war: wo doch Opa starb!“ [. . . ]
‚Die Polin‘: „ging immer vorm Haus auf und ab: bis ich Angst kriegte, und Matonis rief.“
(‚O: Bä-suuch‘ hatte der fröhlich geschrieen: eine alte Liebe aus Lodz, der er mal die Ehe
versprochen gehabt hatte. – Sie schlief neben dem für sie angerichteten Bett auf dem Fußboden. Zog Line die Strümpfe aus, rollte sie slawischflink, und stecke sie in einen Quersack.
Andere mögen aus bloßem Mute sterben; Line fürchtete sich nicht, zu leben. (84–86)
59 Wilhelm Blume (1898–?) war bis 1945 Einkaufsleiter der Greiff Werke und wurde sodann von der sowjetischen Militärverwaltung zum Betriebsleiter ernannt. Vgl. Schmidt, Johannes: „. . . jene dunklen
Greiffenberger Jahre“. Ein Gesprächsprotokoll, aufgezeichnet von Jan Philipp Reemtsma. In: „Wu
Hi?“, S. 131–159, hier S. 155 f.
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Teutonica orientalia
Nach einer Unterbrechung berichtet Line Hübner weiter:
„Nee: Hunger gelitten hab ich da nich“ knüpfte sie an; mit der erhabenen Ruhe der gewesenen und im Leben auf Alles gefaßten Halbsklavin: „Ich hatte sogar n Antrag auf polnische
Staatsangehörigkeit gestellt: meine Großmutter war ne geborene Ronkowski 60 gewesen,
und da war ja vielleicht die Möglichkeit – “. [. . . ]
Und laufend die Ausweisungen der Deutschen: „Ich hatte meinen Reisekorb auch immer
fertig gepackt: 500 Reichsmark durfte man mitnehmen; dann noch 1 Bettstück; Kleider,
Wäsche, Gebrauchsgegenstände; 40 Kilo im Ganzen. – : Einmal hatt’ ich schon mit gesollt:
da bin ich ‚ohnmächtig‘ geworden.“ Diesmal (am 26. Juli 1947) wieder. – „Wir dachten,
der Zug wäre schon weg, und Matonis schenkte mir schon zur Feier“ (der neuerlichen Rettung seiner unbezahlbaren ‚Stütze‘) „n Likör ein: da kam die Miliz, mich holen: ‚Deutsches
Schwein!‘: ‚Hast Dich von Tranns-porrt gedrückt!‘“ (und immer mit dem Stock drauf; auf
den flehenden Handbogen oben!). „Dann haben sie mich an Ort und Stelle durchsucht: soo
gemein!“ (mit dem Finger; überall; [. . . ] sie berichtete auch schon entschuldigend, daß eine früher mal ne Taschenuhr drin gehabt hätte, und seitdem wären sie eben so gewesen.
Das bissel Büstenhalter abgerissen; „hinten reingefahren“; im Hemdsaum fanden sie das
einzige goldene Zwanzigmarkstück). [. . . ]
Matonis hätte ihr erst noch den Weidenkorb zum Lastauto tragen helfen wollen: da wären
aber grade andere Polen vom Sportplatz gekommen: „Was!? Du hilfst einer Nimka!!“ – da
hätte er sich wie begossen ganz sachte seitwärts gedrückt: „Aber auch die Deutschen, die
schon oben standen, haben nicht einmal mit angefaßt; nicht Einer: ‚Uns hat auch niemand
geholfen‘.“ (‚Nimka‘ = ‚Njemski‘ ‚Stumme Hunde‘: die ‚Slawa‘ das ‚Wort‘ nicht haben!) 61
(Dann nach Moys, ‚ins Lager‘; dann ins nächste, nach Weißenfels; Trümmerräumen und
Ziegelabklopfen. (93–94)
Kommentar überflüssig.
IX.
In der Retrospektive von 60 Jahren stellt sich Arno Schmidt 1956 erschienener Roman Das steinerne Herz als eine Sensation in der bundesdeutschen Literatur dar, die
sich indes in der zeitgenössischen Perzeption als Skandal ausnahm. Die vom Literaturbetrieb, aber auch von Medien, Kirchen und Politik der alten Bundesrepublik
dem Buch entgegenbrachte Ablehnung hat seine Rezeption seinerzeit nahezu verhindert – mit Spätwirkungen bis heute. Das ist mit Blick auf das von Schmidt beherzt
angefasste, damals hochgradig aktuelle heiße Eisen der partiellen Konsolidierung
der DDR, mehr noch auf das im Vergleich dazu „kalte Eisen“ des bundesrepubli-
60 Statt „geborene Ronkowski“ hatte es im Typoskript ursprünglich „geborene Murawski“ geheißen –
der Nachname von Schmidts Schwiegermutter und der Mädchenname seiner Frau. Vgl. VariantenApparat, S. 359.
61 Hier irrt Schmidt aufgrund fehlender slavistischer Kenntnisse gleich mehrfach. Vgl. dazu ausführlich
Piperek: Arno Schmidt und die Welt der Slaven, S. 101–103.
Herz, Darm und DDR – Arno Schmidt 1956
299
kanischen Mainstream-Themas der Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen
Ostgebieten, vor allem aber aufgrund des Wortwitzes, der Ironie und des Sarkasmus
seiner Prosa in der Rückschau nur teilweise verständlich. Sicher waren das Druckbild, die partiell phonetische Schreibung sowie der Wechsel zwischen Hoch- und
Umgangssprache, gar die Verwendung deutscher Dialekte wie Hannöversch, Schlesisch und Berlin(er)isch ungewöhnlich und daher dem Lesepublikum ungewohnt.
Aber zumal angesichts des kometenhaften Aufstiegs Uwe Johnsons, der auf seinem schwerfüßigem, stellenweise manieriertem sowie gänzlich humorfreiem Roman
Mutmaßungen über Jakob von 1959 beruhte, nimmt sich der literarische wie kommerzielle Nicht-Erfolg des Schmidt’schen Steinernen Herzens als schwer erklärlich
aus. Denn beiden, Johnson wie Schmidt, war ein eigener Stil, gar eine eigene Sprache eigen; beide haben die deutsche Teilung realitätsnah zu einer Zeit thematisiert,
als dies gänzlich unüblich war; und beide haben die DDR literarisch „anerkannt“ und
sie somit als Gegenstand in der bundesdeutschen Literatur gleichsam salonfähig gemacht. Sicher, der eine hatten den Suhrkamp Verlag mit dem energischen Verleger
Siegfried Unseld im Rücken, aber der Stahlberg Verlag war damals auch eine Marke,
wenngleich eine ohne starke Verlegerpersönlichkeit.
Bleibt als Erklärung wohl nur eine politische: Schmidts aggressiver Antimilitarismus, Antiklerikalismus und Atheismus. Das war im „Granatenwestdeutschland“ (162) des von Schmidt regelrecht perhorreszierten und als „Minderer des
Reichs. Dafür Fidei Defensor!“ (63) betitelten „Dr. Adenauer“, der, wie es in der
Originalfassung des Steinernen Herzens (aber nicht in der verlagsseitig zensierten
Druckfassung von 1956) hieß, „seine Direktiven noch stärker vom Vatikanrom als
von Washington empfängt“ (82), und von „,Bundespräsident Professor Heuss’: die
Hindenburgstimme, wie sie nur durch lebenslangen Genuß schwerster Zigarren erzielt wird“ (103), dann wohl doch zu viel. Da passte der dezidiert DDR-kritische
Johnson deutlich besser in die politische Landschaft als der diesbezüglich ambivalente Schmidt. Und dass der rechtskonservative Bund der Heimatvertriebenen und
Entrechteten in der Bundesrepublik, schon gar die erzkatholische Landsmannschaft
Schlesien, mit dem aus Niederschlesien vertriebenen militanten Atheisten Schmidt
nicht nur wenig, sondern gar nichts anfangen konnte, versteht sich von selbst. 62
„Arno Schmidts Bücher“, so Jan Philipp Reemtsma, „hätten auf keinem Vertriebenentreffen herumgereicht werden können“, da „sie sich zur politischen Instrumentalisierung nicht eigneten.“ 63 Nicht zuletzt von diesem Versäumnis her rührt
die vom 1957 gegründeten Bund der Vertriebenen bis heute propagierte Sichtweise,
62 Ahonen, Pertti: Landsmannschaft Schlesien. In: Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts. Hrsg. v. Detlef Brandes, Holm
Sundhaussen u. Stefan Troebst in Verbindung mit Kristina Kaiserová u. Krzysztof Ruchniewicz.
Wien, Köln, Weimar 2010, S. 377–378. Vgl. auch Strothmann, Dietrich: „Schlesien bleibt unser“:
Vertriebenenpolitiker und das Rad der Geschichte. In: Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ereignisse, Folgen. Hrsg. v. Wolfgang Benz. Frankfur /M. 1985, S. 209–218.
63 Reemtsma: Die Fremden, S. 317.
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die bundesdeutsche Aufnahmegesellschaft habe die Vertriebenen zwar integriert,
ihr Schicksal indes ignoriert – bis zu Günther Grass’ 2002 erschienener Novelle
Im Krebsgang, die als literarische Wiedergutmachung dieser vorgeblich zielstrebigen Verdrängung gewertet wird. 64 Das frühe Œuvre des prononcierten, aber politisch unliebsamen Vertriebenen Schmidt widerlegt diese Deutung indes augenfällig.
Immerhin löste das Erscheinen des Steinernen Herzens kein neuerliches juristisches Vorgehen gegen seinen Autor aus. Dies könnte eigentlich als Beleg dafür
gelten, dass die Bonner Republik 1956 in der – relativen – Normalität des Europas des Ost-West-Konflikts anzukommen begann. Wahrscheinlicher ist indes, dass
es der massive Zensureingriff des Stahlberg Verlages war, der ein weiteres Ermittlungsverfahren gegen Schmidt wegen Gotteslästerung und Pornographie verhindert
hat. Denn im März 1963 wurde erneut eine einschlägige Anzeige erstattet, diesmal
wegen des Nachdrucks der Seelandschaft mit Pocahontas in Schmidts StahlbergBand Rosen & Porree von 1959. Zwar sah die Karlsruher Kriminalpolizei mit Blick
auf die Stuttgarter Einstellungsverfügung von 1956 von einem neuerlichen Ermittlungsverfahren ab, doch der erneut beschuldigte Schmidt teilte seinem Verleger mit,
dass „es mich doch wüst ärgert“:
1 Leben für die Deutsche Literatur; und immer finden sich Mistviecher, die mir Schwierigkeiten machen! Ich protestiere hiermit feierlich dagegen, jemals als ‚Deutscher Schriftsteller‘ von dieser Nation von Stumpfböcken vereinnahmt zu werden! Deutschland hat mich
immer nur von Ort zu Ort gehetzt, und miserabel für meine cyclopische Schufterei entlohnt!: ‚Écrasez l’infâme‘! 65
So nachvollziehbar sich dieses typisch Schmidt’sche Urteil auch ausnimmt, so ungerecht ist es doch mit Blick auf die damalige Anerkennung, die er von Schriftstellerkollegen und Lesern sowie in Gestalt des Großen Literaturpreises der Akademie
der Wissenschaften und der Literatur Mainz 1951 erfuhr. Die während der Arbeit
am Steinernen Herz erlittenen multiplen Verletzungen scheint Schmidt dennoch nie
verwunden zu haben, wie nicht zuletzt seine anschließende selbst gewählte totale
(aber höchst produktive) Isolation im Heidekaff Bargfeld bis zu seinem Lebensende
1979 belegt. Der weitgehende Bruch mit seiner sozialen wie literarischen Umwelt,
den er durch seinen Wegzug aus Darmstadt 1958 real vollzogen und dann in seiner
(von Alice Schmidt verlesenen) Rede bei der Annahme des prestigeträchtigen und
64 Grass, Günther: Im Krebsgang. Eine Novelle. Göttingen 2002. – Jan Philipp Reemtsma hat zu Recht
darauf hingewiesen, dass es in dem Grass’schen Text gar nicht um Vertreibung, sondern „um das
Schicksal eines [1945] von sowjetischer Marine versenkten, mit Flüchtlingen besetzten Truppentransportschiffs geht – und um die Frage, ob es sich dabei eigentlich um ein Kriegsverbrechen
gehandelt habe, sowie darum, wie sich ein solches Geschehen im Bewußtsein späterer Generationen darstelle.“ So Reemtsma: Die Fremden, S. 316.
65 Brief Nr. 99: Arno Schmidt an Ernst Krawehl, Bargfeld, den 18. März 1963. In: „Und nun auf zum
Postauto!“ Briefe von Arno Schmidt. Hrsg. v. Susanne Fischer u. Bernd Rauschenbach. Berlin 2013,
S. 191–193, hier S. 192.
Herz, Darm und DDR – Arno Schmidt 1956
301
hoch dotierten Goethepreises der Stadt Frankfurt am Main in der Paulskirche 1973
mittels pauschaler Invektiven gegen „die Jugend“ und andere „frohwüchsige Spasmodiker“, darunter „Studenten wie Professoren“, weiter gegen „‚Pop‘ oder ‚Dada‘“
bzw. „absichtlich schockierende, puerile Ferkeleien“, aber auch gegen den in der
DDR „anmaßend geführte[n] Arbeiter= und Bauernkrieg gegen die Phantasie“ 66, öffentlich zu Protokoll gegeben hat, fiel in das Jahr 1956.
66 Dieser Rundumschlag kulminierte in dem Ausruf: „[I]ch kann das Geschwafel von der ‚40 – Stunden-Woche‘ nicht mehr hören: meine Woche hat immer 100 Stunden gehabt“. Hier zit. nach Schmidt,
Arno: Dankadresse zum Goethepreis 1973. In: Arno Schmidt. Das große Lesebuch. Hrsg. v. Bernd
Rauschenbach. Frankfurt /M. 2013, S. 144–149. Zum unmittelbaren Echo vgl. Schütte, Wolfram: „Zu
Spät!“ – mehrfach. Ein paar gewagte Überlegungen zur Frankfurter „Dankadresse“. In: Der Solipsist
in der Heide. Materialien zum Werk Arno Schmidts. Hrsg. v. Jörg Drews und Hans-Michael Bock.
München 1974, S. 189–194; und Rauschenbach, Bernd: „I wouldn’t have it as a gift“. In: Clausen,
Bettina u. a.: „Vielleicht sind noch andere Wege – “. Vier Vorträge. Bargfeld 1992, S. 9–18. Zur Langzeitwirkung vgl. etwa die emotionale Abrechnung eines orthodox-marxistischen Schmidt-Philologen
mit seinem einstigen Idol: Kuhn, Dieter: Das Mißverständnis. Polemische Überlegungen zum politischen Standort Arno Schmidts. München 1982, samt polemischer Antwort von Wollschläger, Hans:
Bruder Kuhn. Erledigung eines nicht erledigten Falles. In: Der Rabe. Magazin für jede Art von Literatur, Nr. 4, Zürich 1983, S. 182–215.
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Die DDR im balkanischen Spiegel
[2016]
Wer sich, wie der Autor dieser Zeilen, mit der Geschichte Südosteuropas im Kalten Krieg befasst, stößt neben den zahlreichen Bezügen zur östlichen Führungsmacht
UdSSR gleichsam automatisch auch auf solche zu deren „Musterknaben“ DDR. Dies
schon deshalb, weil die staatssozialistischen Länder bilaterale Historikerkommissionen unterhielten, welche die jeweiligen Beziehungsgeschichten in umfangreichen
Jahrbüchern bzw. Buchreihen teils ideologisiert-unkritisch, teils aber klandestin-kritisch behandelten. So bot etwa die vierbändige Reihe Bălgaro-germanski otnošenija i
vrăzki (Bulgarisch-deutsche Beziehungen und Verbindungen) der „Kommission der
Historiker der Volksrepublik Bulgarien und der Deutschen Demokratischen Republik“, erschienen in den Jahren 1972 bis 1989 im Verlag der Bulgarischen Akademie
der Wissenschaften, bulgarischen Zeithistorikern die Möglichkeit, zu brisanten Themen der Jahre 1941–1944 zu publizieren, in denen Sofija und Berlin Verbündete
waren. Das wäre im Zentralorgan der bulgarischen Geschichtswissenschaft Istoričeski pregled (Historische Umschau) damals schwierig, wenn nicht gar unmöglich
gewesen. Auf der ostdeutschen Seite war die Zensur deutlich schärfer. Dies spiegelt sich auch im zähen Parteisprech wider, in dem die DDR-Beiträge abgefasst sind.
Zu vermuten ist, dass es in anderen bilateralen Historikerkommissionen zwischen
der DDR und ihren „Bruderländern“, mit Ungarn und der ČSSR etwa, ähnlich zuging. Demgegenüber dürfte der Spannungsgrad in den Äquivalenten mit Rumänien
und Polen deutlich höher gewesen sein. Eine vergleichend-historiographische Untersuchung verspricht Ergebnisse, die interessante Rückschlüsse auch auf das bilaterale
politische Klima zulassen dürften.
Überhaupt erweist sich die auswärtige Kultur- und Wissenschaftspolitik der DDR
als zu großen Teilen noch unexploriertes Gelände. Dazu sei ein weiteres balkanisches
Beispiel angeführt: Nach dem Tito-Stalin-Bruch 1949 rivalisierten die bulgarische
und jugoslawische Diplomatie in den anderen Volksdemokratien heftig bezüglich
der Makedonischen Frage. Im Zentrum stand dabei anfänglich die zwischen beiden
Ländern umstrittene ethnokulturelle Zugehörigkeit der Südslaw(ischsprachig)en unter den Politemigranten aus dem Griechischen Bürgerkrieg, die in den Jahren 1948
bis 1950 zu Zehntausenden nach Polen, in die ČSSR, nach Ungarn und Rumänien
gekommen waren. (In die UdSSR und die SBZ/DDR gelangten fast nur ethnische
Griechen.) Sofija bezeichnete diese slavophonen Kriegsflüchtlinge als „Bulgaren“,
Belgrad hingegen als „Makedonier“. Beide Staaten bestanden auf „Rückführung“
dieser Gruppen in ihr jeweiliges Land – das die „Rückzuführenden“ in aller Regel
zuvor nie gesehen hatten. Für die Regierungen in Warschau, Prag, Budapest und Bukarest stellte dies insofern ein Problem dar, als die ideologischen Präferenzen für die
moskautreue bulgarische „Bruderpartei“ partiell über Kreuz mit der Selbstzuschreibung der „zur gräko-makedonischen Minderheit“ gehörenden Genossen, wie sie in
Die DDR im balkanischen Spiegel
303
Polen genannt wurde, gerieten. Dieses Dilemma nahm ab Mitte der 1960er-Jahre größere Dimensionen an, als bulgarische Parteiveteranen und -historiker eine ostblockund europaweite, gar überseeische Kampagne gegen die in Belgrad und Skopje propagierte Sicht auf die Geschichte der zentralbalkanischen Region Makedonien und
ihrer Bewohner starteten und bis 1989 aufrechterhielten. Während Partei und Geschichtswissenschaft in Ungarn den bulgarischen Standpunkt unterstützten, schlugen
sich Funktionäre, Medien und Historiker Polens auf die Seite Jugoslawiens und seiner Teilrepublik Makedonien. Der DDR gelang es bemerkenswerterweise nicht nur,
eine Positionierung in dieser heiklen Frage zu vermeiden, sondern überdies gute Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen zu beiden Streithähnen aufrechtzuerhalten. Zwar
war Sofija die Existenz eines Lektorats für makedonische Sprache und Kultur an der
Universität Halle ebenso ein Dorn im Auge wie die engen Kooperationsbeziehungen
zwischen der Sektion Geschichte der Karl Marx-Universität Leipzig und dem Institut
für Nationalgeschichte in Skopje, doch gefährdete dies nicht das bilaterale Verhältnis
zu Ost-Berlin bezüglich Kulturaustausch, Universitätspartnerschaften oder gemeinsamen Konferenzen von Philologen, Historikern, Archäologen u. a. Zu vermuten
steht, dass sich die DDR erfolgreich auf das sowjetische Beispiel berief. Denn ungeachtet des Vasallenverhältnisses Sofijas zu Moskau gab es an der LomonosovUniversität einen Lehrstuhl für makedonische Sprache und Literatur, wie überdies an
der Akademie der Wissenschaften der UdSSR im Rahmen der „Geschichte der Völker
Jugoslawiens“ auch die „Geschichte der makedonischen Nation“ Forschungsgegenstand war. Auch der Umgang der DDR-Historiographie mit den nationalen Mythen
der „Brudervölker“ würde ein lohnendes Dissertationsthema darstellen.
In diesem Zusammenhang sind überdies die bislang unerforschten Wirkungen der
DDR-Praxis zu nennen, zum Studium Zugelassene nicht nur an inländischen Universitäten zu immatrikulieren, sondern in großer Zahl zum Vollstudium in eben diese
„Bruderländer“ zu delegieren. In besonderem Umfang scheint dies neben der „SU“
für die ČSSR, Ungarn und Bulgarien gegolten zu haben. Polen und Rumänien hingegen galten als ideologisch unzuverlässig. Studienfächer waren dabei mitnichten
lediglich Natur- und Ingenieurwissenschaften, sondern auch und gerade Geisteswissenschaften wie etwa das Fach Geschichte, in welchem marxistisch-leninistische
Vorgaben nicht selten mit (zeit-)historischen Realitäten kollidierten. Nach fünf Jahren an der Leningrader Staatlichen Universität oder der Sofijoter Kliment OchridskiUniversität an eine DDR-Universität oder an ein Institut der DDR-Akademie der
Wissenschaften zurückgekehrt, hatten die im Ausland Diplomierten mitunter erhebliche Schwierigkeiten, sich in den nicht selten überideologisierten heimischen
Forschungs- und Lehralltag einzugliedern. In etlichen Fällen gelang dies nicht, was
in der Regel auf das deutlich liberalere Klima an den ausländischen Ausbildungsstätten zurückzuführen war. Auch hier tut sich ein vielversprechendes, transnationalvergleichendes Forschungsfeld auf.
Die bilateralen Beziehungen der DDR zu den anderen Staaten des „sozialistischen
Lagers“ wiesen durchgängig eine trilaterale Komponente auf – den sowjetischen Faktor. Dies galt etwa für Ost-Berlins Verhältnis zum Rumänien Nicolae Ceauşescus und
seiner „mitregierenden“ Ehefrau Elena. Im Auftrag des 1967 gegründeten Interkit-
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304
Teutonica orientalia
Netzwerks der sowjetischen, bulgarischen, polnischen, ungarischen, tschechoslowakischen und ostdeutschen Regierungsparteien, später auch derjenigen der Mongolei
und Kubas, das der Beobachtung der Kommunistischen Partei Chinas diente (und
aus dem die rumänische KP ihrer engen Beziehungen zu Beijing wegen ausgeschlossen war), war in der DDR-Botschaft in Bukarest ein ostdeutscher China-Experte
installiert. Dessen Augenmerk war ausschließlich auf die chinesisch-rumänischen
Beziehungen gerichtet und die dergestalt gewonnenen Erkenntnisse wurden den Interkit-Partnern zugänglich regelmäßig gemacht. Dabei stellt sich die Frage, ob die
DDR-Diplomatie ähnliche Fuhr- und Spanndienste auch andernorts für den „großen
Bruder“ erbracht hat.
Überdies harren auch bezüglich der bilateralen Beziehungen der DDR zur Volksrepublik China etliche Forschungsfragen ihrer Antwort. Dies gilt etwa für die ostdeutschen Berater und Spezialisten, die neben ihren unvergleichlich zahlreicheren
sowjetischen Kollegen in den 1950er-Jahren in Maos Reich entsandt wurden. Neuesten Untersuchungen zu den aus anderen RGW-Staaten in die VR China entsandten
Beratern ist zu entnehmen, dass chinesische Parteifunktionäre und Kombinatsdirektoren wesentlich stärker an der Entsendung von Experten aus Prag und Bratislava,
Dresden und Magdeburg als aus Čeljabinsk oder Charkiv interessiert waren. Der
Grund: Für sie galt Mitteleuropa als High-Tech-Region, während die Sowjetunion
in Peking als Low-Tech-Land galt, dessen Berater überdies als nicht frei von an Zarenzeiten erinnernden imperialen Attitüden, gar von Rassismus waren.
Aber zurück zum Balkan, wo neben dem aus DDR-Sicht unsicheren Kantonisten
Jugoslawien, dem Sultanat Rumänien und den „zweitbesten Freunden“ in Bulgarien
auch der zunächst China-treue, dann nur noch sich selbst treue exzentrische Diktator Enver Hoxha das „Leuchtfeuer des Sozialismus in Europa“ am Flackern hielt.
Auch hier waren die bilateralen Wissenschaftsbeziehungen Ost-Berlins zu Tirana nie
gänzlich abgebrochen worden, sondern gediehen im Rahmen der UNESCO-Unterorganisation Association Internationale d’Etudes du Sud-Est Européennes (AIESEE)
sogar relativ lebhaft. Bereits 1964 war ein „Nationalkomitee der DDR für Balkanistik“ als Verbindungsinstanz zur AIESEE gegründet worden. Überdies wurden
weiterhin beiderseits vorteilhafte Wirtschaftsbeziehungen fortgesetzt und offenbar
auch Kooperationen im Gesundheitswesen: 1988 hat der Autor im Norden Albaniens zwei Obst-Großeinkäufer vom VEB „Havelobst“ aus Werder bei Potsdam sowie
eine DDR-Bürgerin aus dem Bezirk Neubrandenburg getroffen, die einer seltenen
Hautkrankheit wegen in ein albanisches Sanatorium überwiesen worden war. Die
bilaterale Alltagsgeschichte bietet offenkundig Erkenntnisse, die der politischen Beziehungsgeschichte mitunter gegenläufig sind.
Schließich sei noch einmal auf die Flüchtlinge aus dem Griechischen Bürgerkrieg der Jahre 1946–1949 zurückgekommen, von denen ca. 100.000 in der UdSSR,
den „Volksdemokratien“ und der SBZ/DDR aufgenommen wurden und die als veritables Kontrastmittel des sich formierenden RGW gelten können. Darüber, wie
deren Verteilung auf die gleichfalls unter Kriegsfolgen leidenden Aufnahmestaaten
erfolgte, ist weiterhin wenig bekannt. Eine maßgebliche Rolle spielte zweifelsohne
die griechische Exil-KP. Diese unterhielt in Budapest eine Art Verschiebebahnhof
Die DDR im balkanischen Spiegel
305
für die zunächst nach Bulgarien und Albanien Geflohenen und dann vornehmlich
nach Polen und in die ČSSR Weitergeleiteten. Welche Instanz aus welchem Grund
die Entscheidung traf, dass die 1100 in die SBZ/DDR überstellten Kriegsflüchtlinge
nahezu ausschließlich unbegleitete Kinder und Jugendliche waren, ist unbekannt.
Die Direktive hingegen, dass aktive Kombattanten der kommunistischen Partisanenformation „Demokratische Armee Griechenlands“ ganz überwiegend in die UdSSR
kamen und dort in der entlegenen Usbekischen Sowjetrepublik angesiedelt wurden
(wo sie 1956 in Taschkent gewaltsam gegen die Entstalinisierung aufbegehrten und
sich eine Woche lang Straßenschlachten mit Miliz und KGB-Truppen lieferten), ist
zweifelsohne vom Kreml erteilt worden. Auf ein RGW-weit koordiniertes Flüchtlingsmanagement deutet auch der Umstand hin, dass sich das DDR-Ministerium für
Volksbildung in Ungarn hinsichtlich einer Beschulung der vor allem in sächsischen
Heimen lebenden griechisch(sprachig)en Kinder sachkundig machte. Neben der weiteren Erforschung der bilateralen Beziehungen der DDR zu ihren RGW-Partnern
bedürfen auch die multilateralen Verbindungen künftiger Forschungsanstrengungen.
So kann die in der Historiographie immer noch vorherrschende Fixierung auf die
deutsch-deutsche Verflechtungsgeschichte im Kalten Krieg aufgebrochen und, wo
nötig, korrigiert werden.
Zugegeben: Bulgarisch, Ungarisch, Griechisch oder Albanisch sind keine Schlüsselsprachen für Zeithistoriker, die über die Geschichte der DDR forschen. Aber was
ist mit Polnisch und Russisch? Wäre eine Untersuchung zur Geschichte der alten
Bundesrepublik vorstellbar, deren Autor weder Französisch – die Sprache des größten Nachbarstaats – noch Englisch – diejenige der Führungsmacht – liest? Wie fatal
sich die offensichtlich weiterhin geltende Maxime „Slavica non leguntur“ auswirkt,
belegt soeben das hierzulande weder zur Kenntnis genommene, geschweige denn
rezipierte voluminöse Standardwerk zur Politik Moskaus, Belgrads, Warschaus und
Prags in der Sorbischen Frage der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre: Państwa słowiańskie wobec Łużyc w latach 1945–1948, verfasst von dem Oppelner Nachwuchshistoriker Piotr Pałys und 2014 im Verlag des Instytut Ślaski
˛ /Schlesischen Instituts
erschienen – kostet nur 50 Złoty, also 12 Euro, ist aber auf Polnisch . . .
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From paper to practice
The Council of Europe’s Framework Convention
for the protection of national minorities
[1999]
The Council of Europe was recently portrayed by André Liebich as ‘Janus at Strasbourg’: while demanding high standards in the field of human and minority rights
from the new members and applicants in Eastern Europe and the CIS, the same
standards are required from longstanding member States in Western Europe. 1 This
situation leads to political conflict within the Council, particularly concerning sensitive issues such as centralism vs. regionalism respectively nationalism vs. ethnicity.
The most important Council of Europe document so far in this regard is the Framework Convention for the Protection of National Minorities. Opened for signature on
1 February 1995 and ratified by 12 of the 40 member states of the Council of Europe, this convention entered into force on 1 February 1998. By December 1998, the
number of signatories was 37, that of ratifications 23 plus one by the non-member
State Armenia. This convention is a result of the changes triggered off by the events
of 1989 in Eastern Europe and peaking in 1990 when the CSCE adopted its Copenhagen Document. Here, the participating States of the CSCE agreed that “to belong
to a national minority is a matter of a person’s individual choice and no disadvantage
may arise from the exercise of such choice.” 2 What in June 1990 seemed possible had
changed considerably by 10 November 1994 when the Framework Convention was
adopted by the Committee of Ministers of the Council of Europe. Now, governments
in Western and Eastern Europe were again much more careful not to give away too
many rights to their national minorities.
At its meeting on 8 and 9 October 1993 in Vienna, the Summit of Heads of States
and Government proclaimed the Vienna Declaration which provided, inter alia, that
the Council of Europe should apply itself to transforming, to the greatest possible extent, the CSCE political commitments on national minorities into legal obligations.
The Vienna Summit tasked the Committee of Ministers to draft with minimum delay
1
2
Liebich, André, ‘Janus at Strasbourg: The Council of Europe between East and West’, in: Helsinki
Monitor, vol. 10, 1999, no. 1, pp. 9–18. Cf. also Hofmann, Rainer, ‘Die Rolle des Europarats beim
Minderheitenschutz’, in: Friedenssichernde Aspekte des Minderheitenschutzes in der Ara des Völkerbundes und der Vereinten Nationen in Europa, ed. Manfred Mohr. Berlin etc.: Springer, 1996, pp. III–
147 ; idem., Minderheitenschutz in Europa. Völker- und staatsrechtliche Lage. Berlin: Gebr. Mann
Verlag, 1995, pp. 33–65 and 199–217; Rönquist, Anders, ‘The Council of Europe Framework Convention for the Protection of National Minorities’, in: Helsinki Monitor, vol. 6, 1995, no. 1, pp. 38–
44.
Document of the Copenhagen Meeting of the Conference on the Human Dimension of the CSCE.
Copenhagen, 29 June 1990, pt. IV, art. 32.
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310
Europaeica
a framework convention specifying the principles which contracting states commit
themselves to respect, in order to assure the protection of national minorities. This
instrument would also be open for signature by non-member States. 3 For this purpose
the Committee of Ministers, in November 1993, established an ‘Ad hoc Committee
for the Protection of National Minorities’ (CAHMIN) consisting of experts designated by each of the member States of the Council of Europe. CAHMIN, which
started work in January 1994, was tasked to come up as soon as possible with the draft
of a framework convention. Unlike a ‘Proposal for an additional protocol to the Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms, concerning
persons belonging to national minorities’ promoted in parallel by the Parliamentary
Assembly of the Council of Europe in its by now famous Recommendation 1201
(1993) 4, CAHMIN was not in a position to advocate minority protection in the form
of a legally strong additional protocol to the European Convention on Human Rights
(ECHR). The form of an additional protocol would have automatically implemented
the strict monitoring mechanisms of the ECHR including the right of individuals to
appeal to the European Court of Human Rights in Strasbourg. 5 The Framework Convention does not have this legal quality.
By its nature, a framework convention is different from a ‘normal’ convention.
Whilst a framework convention is a convention in the sense that it is a legally binding
instrument under international law, the addition of the word ‘framework’ indicates
that the principles contained in the instrument are not directly applicable in the domestic legal orders of the member States but will have to be implemented through
national legislation and appropriate government policies. In doing so, member States
can fill the framework with much more content than the convention provides for.
What now is the content of the Framework Convention? 6 Section I contains some
general principles including the principle that the protection of national minorities
and of persons belonging to national minorities is part of the international protection
of human rights. It also establishes that every person belonging to a national minority is free to choose to be treated or not to be treated as such, with no disadvantage
arising from the choice.
3
4
5
6
Quoted according to the Council of Europe, The Framework Convention for the Protection of National Minorities. Introduction. Strasbourg: Council of Europe, April 1997 (brieffin.fas).
Recommendation 1201 (1993) on an additional protocol on the rights of national minorities to the European Convention on Human Rights, at: http://www.forost.ungarisches-institut.de/pdf/19930201-1.
pdf, accessed: 09-10-2016.
Frankenberger, Klaus-Dieter, ‘Die Regierungen zögern. Es fehlen in Europa wirksame Rechtsinstrumente zum Schutz von Minderheiten’, Frankfurter Allgemeine Zeitung, no. 229, 2 October 1993,
p. 10. On the ‘pre-history’ of the Framework Convention cf. also Estébanez, María Amor Martín,
International Organizations and Minority Protection in Europe. Turku: Institute For Human Rights.
Åbo akademi, 1996, pp. 131–148, and H. H., ‘Zähes Ringen um Erfolg: Konvention zum Minderheitenschutz in Kraft’, Das Parlament [Bonn], nos. 9–10, 20127 February 1998, p. 11.
The following summary is based on The Framework Convention for the Protection of National Minorities. Introduction. Strasbourg: Council of Europe, April 1997 (brieffin.fas).
From paper to practice
311
Section II is the main operative part of the convention as it contains the provisions laying down more specific principles. These principles cover a wide range
of issues, inter alia: non-discrimination; promotion of effective equality; promotion of the conditions regarding the preservation and development of the culture and
preservation of religion, language and traditions; freedom of assembly, association,
expression, thought, conscience and religion; access to and use of media; linguistic
freedoms: use of the minority language in private and in public as well as its use
before administrative authorities; use of one’s own name; display of information of
a private nature; topographical names in the minority language; education: learning
of, and instruction in, the minority language; freedom to set up educational institutions; transfrontier contacts; international and transfrontier cooperation; participation
in economic, cultural and social life; participation in public life; prohibition of forced
assimilation.
Section III contains provisions on the interpretation of the convention such as that
it may not be construed as containing a right to engage in activities contrary to the
territorial integrity and political independence of a given state and that nothing in
the convention may be construed as limiting higher standards of protection of human
rights ensured in other international instruments or under national legislation.
Section IV sets out the provisions of the implementation mechanism. The evaluation of the adequacy of the implementation of the convention by the parties shall
be carried out by the Committee of Ministers which shall be assisted by an Advisory
Committee. The members of this committee shall have recognised experience in the
field of protection of national minorities. Its composition and procedure will be determined by the Committee of Ministers. The parties shall be required to file a report
containing full information on legislative and other measures taken to give effect to
the principles of the convention, within one year of entry into force. Further reports
will have to be made on a periodical basis and whenever the Committee of Ministers
so requests.
The final provisions are in Section V of the convention. As mentioned above, the
Framework Convention is an open one; non-member States of the Council of Europe
may join at the invitation of the Committee of Ministers, which is particularly relevant for the participating States of the CSCE. The convention will enter into force on
the first day of the month following the expiration of a period of three months after
the date of the twelfth ratification by a member State of the Council of Europe.
Almost always when mention is made of the Framework Convention, this document is labelled as being the first ‘legally binding’ international instrument devoted
to the rights of national minorities in general. Nevertheless, it has three major weaknesses: First, most of the convention’s provisions are of a purely programmatic
nature. Secondly, the whole procedure of signing, ratifying and implementing the
convention was, and still is, flawed by a large number of considerable weaknesses.
And thirdly, the mechanism for monitoring the implementation of the convention is
a weak one.
First, the weak wording of the convention should be highlighted. Two major deficiencies concern basic legal terminology: a) The convention does not contain a
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312
Europaeica
definition of the term ‘national minority’ as in, e. g., Recommendation 1201 (1993).
This gives governments the possibility to impose their own definitions by way of interpretative declarations; b) The convention also does not mention collective rights
of national minorities, but sticks to the UN principle of individual rights of ‘persons
belonging to national minorities.’ 7
Moreover, the entire text is packed with escape clauses in favour of the member
States and to the disadvantage of their national minorities. An already classical case
by now which is used in university lectures by many specialists in international law
all over Europe is article 11, paragraph 3, which in a single sentence dealing with
street signs contains as many as seven escape clauses: “In areas traditionally inhabited by substantial numbers of persons belonging to a national minority, the Parties
shall endeavour, in the framework of their legal system, including, where appropriate, agreements with other States, and taking into account their specific conditions, to
display traditional local names, street names and other topographical indications intended for the public also in the minority language when there is a sufficient demand
for such indications.” 8 Even more cautious are formulations concerning topics that
can really cost money, e. g., article 10, paragraph 2, on the use of minority languages
on the administrative level: “In areas inhabited by persons belonging to national minorities traditionally or in substantial numbers, if those persons so request and where
such a request corresponds to a real need, the Parties shall endeavour to ensure, as
far as possible to use the minority language in relations between those persons and
the administrative authorities.”
Not surprisingly, the Parliamentary Assembly of the Council of Europe came up
with harsh criticism of the wording of the convention: “It formulates a number of
vaguely defined objectives and principles, the observation of which will be an obligation of the Contracting States but not a right which individuals may invoke.” 9
Secondly, the deficiencies of signing, ratifying and implementing the convention
have to be mentioned: a) Apart from Andorra and the non-member State Belarus,
three other Council of Europe (and NATO) members, namely Belgium, Turkey and
France, have not signed the convention at all – and obviously have no intention of
doing so. Paris has stated that the recognition of national minorities among the citizens of France would contribute to the fragmentation of the grande nation and thus
be anti-constitutional. The specifically French concept of ‘nation’, it was said, leaves
no room for ‘national minorities’. André Liebich has aptly characterised the negative impact this stand has had on the new East European members of the Council of
7
8
9
Cf. Capotorti, Francesco and Rainer Hofmann, ‘Minorities’, Encyclopedia of Public International
Law, vol. 3, Amsterdam etc.: Elsevier, 1997, pp. 410–424, as well as Packer, John, ‘On the Definition
of Minorities’, in: The Protection of Ethnic and Linguistic Minorities in Europe, Eds. Packer, John
and Kristian Myntti. Turku: Institute for Human Rights. Abo akademi, 1997, pp. 23–65.
Framework Convention for the Protection of National Minorities and explanatory report. Convention
opened for signature on 1 February 1995, European Treaty Series No. 175. Strasbourg: Council of
Europe Publishing, 1995, p. 10.
Recommendation 1255 (1995), quoted by Alexanderson, Martin, ‘Why the Framework Convention
Should Be Ratified’, in: Mare Balticum [Copenhagen], no. 3, August 1997, p. 22.
From paper to practice
313
Europe; 10 b) Countries with considerable percentages of minorities such as Greece
or Bulgaria have signed, but not yet ratified, the convention. To them, any notion
of ‘national minority’ still smells of separatism and secession. Although there have
recently been some positive signs from both Sofia and Athens, it is currently unclear whether they will ever ratify; c) Countries such as Austria, Denmark, Estonia,
Germany, Macedonia and Slovenia have added to their ratifications interpretative
declarations listing those ethnic groups that in the eyes of the governments in question are to be labelled as ‘national minorities’ – thereby explicitly patronising some
communities and implicitly excluding others from benefitting from the convention.
A striking example is the declaration by the German government of 11 May 1995
which was renewed on 10 September 1997: “The Framework Convention contains
no definition of the notion of national minorities. It is therefore up to the individual
Contracting Parties to determine the groups to which it shall apply after ratification.
National Minorities in the Federal Republic of Germany are the Danes of German
citizenship and the members of the Sorbian people with German citizenship. The
Framework Convention will also apply to the members of the ethnic groups traditionally resident in Germany, the Frisians of German citizenship and the Sinti
and Roma of German citizenship.” 11 Croats, Portuguese, Greeks, Spaniards, Turks,
Italians et al. residing with or without German citizenship in Germany are thereby
excluded.
Another special case in this regard is Luxembourg which, already in signing the
convention, added the following declaration: “The Grand Duchy of Luxembourg understands by ‘national minority’ in the meaning of the Framework Convention, a
group of people settled for numerous generations on its territory, having the Luxembourg nationality and having kept distinctive characteristics in an ethnic and
linguistic way. On the basis of this definition, the Grand Duchy of Luxembourg is
induced to establish that there is no ‘national minority’ on its territory.” 12
Malta and Liechtenstein have made similar declarations, respectively reservations, adding that they “consider the ratification of the Framework Convention as an
act of solidarity in the view of the objectives of the Convention.” 13 Other countries
which have ratified the Convention have resisted the temptation to make declarations. This holds true even for countries with severe minority problems such as
Croatia, Cyprus, Great Britain, Moldova, Romania, Slovakia, Spain and Ukraine.
And the Russian Federation combined its ratification on 21 August 1998 with an
‘anti-declaration’: “The Russian Federation considers that no one is entitled to include unilaterally in reservations or declarations, made while signing or ratifying the
Framework Convention for the Protection of National Minorities, a definition of the
term ‘national minority’, which is not contained in the Framework Convention. In
10 Liebich, ‘Janus at Strasbourg’, p. 5, with reference to UN Doc. t;ICrr.411991, 754, 27 February 1991.
11 Framework Convention for the Protection of National Minorities, Strasbourg, 1.II.1995. Reservations
and Declarations. Council of Europe, European Treaties, European Treaty Series No. 157.
12 Ibid.
13 Ibid.
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314
Europaeica
the opinion of the Russian Federation, attempts to exclude from the scope of the
Framework Convention the persons who permanently reside in the territory of States
Parties to the Framework Convention and previously had a citizenship but have been
arbitrarily deprived of it, contradict the purpose of the Framework Convention for
the Protection of National Minorities.” 14 While this is targeted, of course, towards
Russians and Russian-speakers in the ‘Near Abroad’, i. e., in other successor states
of the Soviet Union, it can apply also to the successor states of Tito’s Yugoslavia.
Still, which national minorities exist in Europe and who exactly is a member of
them is decided by the governments. Although in the Framework Convention citizenship is not mentioned as a precondition almost all member States of the Council
of Europe agree that in fact it is. This is, of course, a highly problematic way to deal
with minority issues since it means that, for example, the large Russian minorities in
the Baltic States or the non-citizens parts of the equally sizeable Albanian minority
in Macedonia do not fall under the convention. And most governments are of the
opinion that it is up to them to ‘recognise’ ‘real’ national minorities thereby leaving
out those ethnic groups that in their view do not deserve to be called national minorities. The government of Denmark, for example, ‘recognises’ only the German
minority in the South of Jutland, not, however, the Inuit communities in and around
Copenhagen; Slovenia ‘recognises’ Italians and Hungarians, not Germans (or Austrians); Macedonia explicitly leaves out Bulgarians; and so on and so forth. What the
Permanent Court of International Justice in 1935 in a decision on Minority Schools
in Albania had ruled, namely that ‘the existence of minorities is a question of fact,
not of law’, is not reflected in the Framework Convention. 15
Thirdly, the problem of monitoring the implementation of the Framework Convention by those countries which have ratified it has to be tackled. It is a positive fact
that the Framework Convention, in contrast to a number of other conventions, has a
monitoring mechanism, yet it is a weak one. In 1995, the Parliamentary Assembly of
the Council of Europe warned: “Its implementation machinery is feeble, and there is
danger that, W fact, the monitoring procedures may be 1_Pft entirely to the government.” 16 The convention indeed provides that it is the Committee of Ministers which
shall monitor the implementation, and not an independent body, as is the case for
the ECHR. In monitoring the Framework Convention, the Committee of Ministers
will be assisted by an Advisory Committee. This Advisory Committee could play an
important role in the further development of the monitoring mechanism, as well as
in the implementation of the convention provided that it is able to emancipate itself
from the tutelage of the Committee of Ministers. However, when going through the
rules on the monitoring arrangements in general, and the composition, election and
appointment of the Advisory Committee in particular, as fixed in resolution (97) 10
14 Ibid.
15 Minority Schools in Albania (1935), Permanent Court of International Justice, Ser. A/B, No. 64, 17.
16 Recommendation 1255 (1995), quoted by Alexanderson,‘Why the Framework Convention Should
Be Ratified’, p. 22.
From paper to practice
315
of the Council of Europe of 17 September 1997 17, serious doubts arise. These critical
points of the monitoring mechanism are analysed in detail in two recent sets of recommendations on the implementation of the convention. The first one was launched
by the London-based NGO Minority Rights Group International 18, the second one
by the Danish-German European Centre for Minority Issues (ECMI) in Flensburg. 19
These recommendations are critical of the fact that the Advisory Committee members
are nominated by the individual governments and elected by the Council of Ministers, that it cannot go public on its own initiative and that it is even restricted as to its
possibilities actively to seek relevant information.
This criticism is no doubt justified, yet there are also some positive developments
concerning the Advisory Committee. While it indeed has to base its work primarily
on information supplied in state reports 20, it is entitled to receive and make use of
information provided by individuals, minority organizations, other NGOs and international organizations. Mention should also be made of the fact that the Committee of
Ministers elected as President of the Advisory Committee a specialist in international
minority legislation, the German Professor of international law Rainer Hofmann, and
as Vice-President the British human rights activist Alan Phillips who is the executive
director of Minority Rights Group International. 21
To cut a long legal story politically short: the Framework Convention for the Protection of National Minorities of the Council of Europe resembles a net which is not
only very wide-meshed but contains a great number of large holes. 22 Each government which intends to slip through this net will no doubt succeed. By naming the
document a ‘framework convention’ its legal weight has been diminished. Its wording is vague and the monitoring mechanism weak. For these reasons, critics have
17 [Council of Europe. Committee of Ministers], Resolution (97) 10: Rules adopted by the Committee
of Ministers on the monitoring arrangements under Articles 24 to 26 of the Framework Convention
for the Protection of National Minorities (Adopted by the Committee of Ministers on 17 September 1997 at the 601st meeting of the Ministers’ Deputies). Cf. also Weckerling, Matthias, ‘Der
Durchführungsmechanismus des Rahmenübereinkommens des Europarates zum Schutz nationaler
Minderheiten’, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift, vol. 24, nos. 23–24, 31 December 1997,
pp. 605–608.
18 [Minority Rights Group International], The Council of Europe’s Framework Convention for the Protection of National Minorities. Analysis and Observations on the Monitoring Mechanism. London:
MRG 1998.
19 ECMI Recommendations on the Implementation of the Council of Europe Framework Convention
for the Protection of National Minorities, Flensburg, Germany, 14 June 1998, at: http://www.ecmi.
de/activities/ifc-recommendations.htm, accessed: 05-10-2016.
20 On 30 September 1998, the Committee of Ministers adopted an ‘Outline for Reports to Be Submitted Pursuant to Article 25 Paragraph 1 of the Framework Convention for the Protection of National
Minorities’ (ACFC/INF(98)1).
21 For a list of the other members cf. Council of Europe, Introduction to the Framework Convention for
the Protection of National Minorities. Strasbourg, August 1998. H (98)5 rev. 1, p. 5.
22 Troebst, Stefan, ‘Grobmaschiges Netz mit vielen Löchern. Die Minderheiten-Konvention des Europarats nützt vielen Gruppen in der Praxis wenig’, Der Tagesspiegel [Berlin], no. 16.235, 30 January
1998, p. 8.
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316
Europaeica
labelled the convention ‘the worst of all worlds’. 23 On the other hand, it is exactly
the high degree of vagueness which leaves room for interpretations in a more positive
direction. The fact that the convention does not tie the ‘status’ of a national minority
to citizenship has already been mentioned. That means that non-citizens are not a
priori excluded from the protection granted by the convention. Also the non-definition of the term ‘national minority’ offers certain advantages when it comes to the
problematic distinction between ‘traditional national minorities’ and so-called ‘new
minorities’ of labour migrants, political émigrés, et al. While in some articles reference is made to ‘areas traditionally inhabited’ by minorities, the convention as such
does not explicitly require a longstanding link with the territory of the State in question for a community to be considered a national minority. 24 Poles in Germany or
Finns in Sweden are, or could one day be, such cases. This is a stepping stone for
considerably improving the impact of the convention in the future by broadening its
meaning.
There is also a political aspect which makes the Framework Convention a significant step in the right direction. The political scientist Martin Alexanderson stressed
that, in contrast to other international organisations which have placed minority issues high on their political agenda, such as the OSCE and the EU, the Council of
Europe is the only one which has successfully avoided double standards: ‘If ratified
by all member states, it [i. e., the Framework Convention] will hopefully re-establish
a certain equilibrium with regard to the protection of minorities in Eastern and Western Europe.’ 25 What applies to the newly independent states in Eastern Europe must
also apply to longstanding EU and NATO member states. In addition to the promotion of the integration of Eastern Europe into EU and NATO, the swift and complete
implementation of the Framework Convention for the Protection of National Minorities will contribute to the further Europeanization of Western Europe.
23 Gilbert, Geoff, ‘The Council of Europe and Minority Rights’, Human Rights Quarterly, vol. 18, 1996,
no. 1 (February), pp. 160–189 (quotation p. 189).
24 [MRG] The Council of Europe’s Framework Convention, p. 13.
25 Alexanderson, ‘Why the Framework Convention Should be Ratified’, p. 22. Cf. for a similar appeal
also Pan, Christoph, ‘Die “Rahmenkonvention”: Unterzeichnen, ratifizieren, umsetzen. Bausteine des
Europarates für die Erhaltung nationaler Vielfalt’, in: Pogrom [Göttingen], December 1997, p. 198.
Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik?
Anläufe der Europäischen Union zur Stiftung
einer erinnerungsbasierten Bürgeridentität
[2014]
Im September 2013 hat die Fachabteilung Struktur- und Kohäsionspolitik der Generaldirektion Interne Politikbereiche des Europäischen Parlaments ein umfangreiches
Themenpapier mit dem Titel „Europäisches historisches Gedächtnis: Politik, Herausforderungen und Perspektiven“ veröffentlicht, das zu dem Ergebnis kommt, die EU
habe seit dem Scheitern des Verfassungsvertrages und der Osterweiterung von 2004
verstärkt „Anstrengungen unternommen, ‚europäisches historisches Gedächtnis‘ zu
fördern, um dem europäischen Projekt zusätzliche Legitimität zu verleihen und die
Entwicklung einer europäischen Identität voranzubringen“. 1 Mittels „europäischer
Gedächtnispolitik“ und „europäischer Erinnerungspolitik“ werde seitdem zielstrebig
die „Schaffung eines gesamteuropäischen historischen Gedächtnisses“ zum „Zweck
der Gemeinschaftsbildung, insbesondere im Kontext rascher Veränderungen in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur“ betrieben, wobei „auf den Totalitarismus
des 20. Jahrhunderts und den Holocaust als Hauptelemente europäischer historischer
Erinnerung fokussiert wird“. 2 Dabei gelte es „die Erinnerung insbesondere an den
Nationalsozialismus und den Stalinismus wach zu halten, die als negative Gründungsmythen [der EU – S. T.] fungieren“. 3
Im Verlaufe des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts ist die Akzeptanz der
Europäischen Union bei den 500 Millionen EU-Bürgern deutlich gesunken. Die enlargement fatigue, ausgelöst durch Angst vor den Folgen der ersten Osterweiterung
2004 und Hiobsbotschaften aus den 2007 aufgenommenen Mitgliedsländern Rumänien und Bulgarien, hat das, was Immanuel Kant „interesseloses Wohlgefallen“
genannt hat und heute als permissive consensus firmiert, schwinden lassen. Diese
Ermüdung stellte sich ein durch das Zusammenwirken mit der Staatsschuldenkrise
im Euroraum, dem Fehlen einer medialen europäischen Öffentlichkeit sowie den
üblichen Vorwürfen von Demokratie- und Legitimationsdefizit, Bürokratismus und
Regelungswut „Brüssels“. Die EU – und hier vor allem ihr Parlament – hat darauf,
wie schon öfter in der Vergangenheit, mit verstärkten Versuchen eines Identifikationsmanagements reagiert. Der politisch unhandliche Terminus „Seele“ in der frü1
2
3
Europäisches Parlament. Generaldirektion Interne Politikbereiche. Fachabteilung B: Struktur- und
Kohäsionspolitik. Kultur und Bildung: Europäisches historisches Gedächtnis: Politik, Herausforderungen und Perspektiven. Themenpapier. Brüssel, September 2013, S. 6, URL: http://www.europarl.
europa.eu/RegData/etudes/note/join/2013/513977/IPOL-CULT_NT(2013)513977_DE.pdf; accessed: 09-10-2016.
Ebd., S. 3, 5, 38.
Ebd., S. 38.
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318
Europaeica
heren Pathosformel „Europa eine Seele geben“ wurde dabei durch die nicht minder
sperrigen Begriffe „Gewissen“ und „Gedächtnis“ ersetzt. Gemeint ist damit eine geschichtspolitische Konzeption, die im Zuge häufig kontroverser Parlamentsdebatten
der Jahre 2005–2009 über die Deutung des dramatischen 20. Jahrhunderts entwickelt
und im Zuge derer 2009 Anti-Totalitarismus als kleinster gemeinsamer Nenner aller
EU-Bürger identifiziert wurde. Die Erinnerung an die Gesellschaftsverbrechen der
Totalitarismen und an deren Opfer, so diese Vorstellung, soll den Angehörigen der
mittlerweile 28 EU-Nationalgesellschaften zum einen ein gleichsam „viktimes“ Gefühl der Zusammengehörigkeit vermitteln und zum anderen mit Blick auf Gegenwart
und Zukunft die EU-weit gemeinschaftliche aktive Ablehnung totalitarismusaffiner
Ideologien und Haltungen wie Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Nazitum, Kommunismus, Faschismus, Stalinismus, Autoritarismus, Demokratiefeindlichkeit befördern. Zu diesem Zweck wurde ein geschichtspolitisches Instrumentarium entwickelt,
das aus den Komponenten Gedenktage, Parlamentsentschließungen und Museen besteht.
Geschichtslose Vorgeschichte
Walter Hallstein, der erste Präsident der Europäischen Kommission, hat sich bei diesem Fahrplan zu europäischer Identitätsstiftung qua Geschichtspolitik mutmaßlich
im Grabe herumgedreht, hat er doch fünfzig Jahre zuvor eine gegenläufige Parole
ausgegeben:
Die Europäische Gemeinschaft hat keine Symbole, sie hat keine Flagge, keine Hymne,
keine Parade und keinen Souverän. Sie hat keine Integrationsmittel, die die Sinne ansprechen, das Auge, das Ohr. Das entspricht dem Stil unserer Gemeinschaft, dem Stil der
Sachlichkeit, der unpathetischen harten Arbeit. Unser Boden ist die Vernunft mehr als die
Emotion, unsere Stärke die begründete Erkenntnis mehr als der Mythos, unsere Kampfform
die Diskussion mehr als die Erregung von Leidenschaften. 4
Und in der Tat unternahm Brüssel zu Zeiten der Europäischen Gemeinschaft der
Sechs keinerlei Anstrengungen mit dem Ziel von Selbstvergewisserung, Identitätsfestigung und Kohärenzsteigerung. Dem Wiener Europa-Historiker Wolfgang
Schmale zufolge war die Identitätspolitik der Kern-EG im Zeitraum 1951–1986 eine
„vor-reflexive“, bis zur ersten Erweiterung von 1972 gar eine episodische, wobei
von einem expliziten Identitätsmanagement mittels Symbolen nicht die Rede sein
4
Zit. nach Hans Gresmann: Ein Europa der offenen Tür. Nicht Reißbrettplanung, sondern Fahrplan
der Vernunft, in: Die Zeit, 13. 4. 1962, URL http://www.zeit.de/1962/15/ein-europa-der-offenen-tuer,
letzter Zugriff: 05. 10. 2016. Noch ein halbes Jahrhundert später konstatierte der Berliner Europa-Historiker Hartmut Kaelble als Hallstein’sche Langzeitwirkung, „[d]ie europäische Identität wirkt daher
oft trocken, gefühlsarm, unsinnlich und weit mehr als nationale Identitäten wie eine Kopfgeburt“.
Vgl. Hartmut Kaelble: Europäische Identitäten, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 13 (2012),
S. 141–146, hier S. 144.
Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik?
319
konnte, geschweige denn von einer zielgerichteten Geschichtspolitik. 5 Erst der Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks veranlasste die Gemeinschaft der nun
Neun auf ihrem Kopenhagener Gipfeltreffen vom Dezember 1973 zur Formulierung
einer „Erklärung über die Europäische Identität“. Doch ungeachtet der Verwendung
von Begriffen wie „gemeinsames Erbe“, „Geschichte“ und „Vergangenheit“ handelte
es sich bei dieser Kopenhagener Erklärung um ein ausgesprochen gegenwarts- und
zukunftsbezogenes Dokument, das in erster Linie den „Zusammenhalt gegenüber der
übrigen Welt und die daraus erwachsenden Verantwortlichkeiten“ betonte. 6 Die EG
positionierte sich hier mittels Selbstverständigung vor allem nach außen – gegenüber
den USA und dem sowjetischen Machtbereich, auch gegenüber China und Japan –,
wobei der „innere Zusammenhalt“ und die „Wesenselemente“ europäischer „Einheit“
nachrangig waren. Mittelfristig aber kam dem Schweizer Politikwissenschaftler Tobias Theiler zufolge der Erklärung von 1973 entscheidende Bedeutung für die weitere
Identitätsfindung samt -stiftung der EWG/EG zu: „[B]y the 1980s this had led to the
appearance in Commission and EP discourse not only of shared European heritage,
a European identity and European values, but also, in places, of a European culture
and a European people.“ 7
Ein deutlicher Beleg dafür ist der 1985 veröffentlichte Bericht des Ad hoc-Komitees „On a People’s Europe“, der nach dem Komiteevorsitzenden, dem Italiener
Pietro Adonnino, benannt war. Er beinhaltete eine Reihe konkreter Vorschläge an
den Europäischen Rat zur Identitätsstiftung, darunter die Einführung eines bereits
1980 vorgeschlagenen EG-weit einheitlich gestalteten Führerscheins, eines europäischen TV-Kanals, einer „European Academy of Science, Technology and Art“, einer
„Euro-Lottery“, einer EG-Flagge, eines EG-Emblems, einer EG-Hymne, nationa5
6
7
Wolfgang Schmale: Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität, Stuttgart 2008, S. 121–126.
Das bedeutet allerdings nicht, wie Chiara Bottici und Benoît Challand unter Verweis auf die Präambel
zum Gründungsvertrag der Montanunion von 1951 hervorgehoben haben, dass es den Gründervätern
um Robert Schuman an Geschichtsbewusstsein gemangelt habe. Denn in der Präambel heißt es, die
Signatare seien „entschlossen, an die Stelle der jahrhundertealten Rivalitäten einen Zusammenschluß
ihrer wesentlichen Interessen zu setzen [sowie] durch die Errichtung einer wirtschaftlichen Gemeinschaft den ersten Grundstein für eine weitere und vertiefte Gemeinschaft unter Völkern zu legen, die
lange Zeit durch blutige Auseinandersetzungen entzweit waren“ [Hervorh. S. T.]. Vgl. Vertrag über
die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl vom 18. April 1951 (Auszüge),
URL: http://hdg.de/lemo/html/dokumente/JahreDesAufbausInOstUndWest_vertragEgks/index.html,
letzter Zugriff: 05. 10. 2014; Chiara Bottici, Benoît Challand: Imagining Europe. Myth, Memory, and
Identity, Cambridge 2013, S. 52 f. Die Formel von „der historischen Bedeutung der Überwindung
der Teilung des europäischen Kontinents“ in der Präambel des Maastricht-Vertrags von 1992 wurde
wörtlich in diejenige des Lissabon-Vertrags von 2007 übernommen.
Dokument über die europäische Identität (1973), in: Hagen Schulze, Ina Ulrike Paul (Hrsg.): Europäische Geschichte. Quellen und Materialien, München 1994, S. 280–283, hier S. 280.
Tobias Theiler: Political Symbolism and European Integration, Manchester u. a. 2005, S. 56. Vgl.
auch Oriane Calligaro: EU Action in the Field of Heritage. A Contribution to the Discussion on the
Role of Culture in the European Integration Process, in: Marloes Beers, Jenny Raflik (Hrsg.): National Cultures and Common Identity. A Challenge for Europe?, Brussels 2010, S. 87–98; Gudrun
Quenzel: Konstruktion von Europa. Die europäische Identität und die Kulturpolitik der Europäischen
Union, Bielefeld 2005.
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320
Europaeica
ler Briefmarken mit EG-Bezug sowie das Aufstellen von EG-Hinweisschildern an
den Außen- wie Binnengrenzen. 8 Während die symbol(polit)ischen Komponenten
des Adonnino-Berichts konsensfähig waren, waren es seine Institutionalisierungsvorschläge nicht.
Das Jahr 1986 sieht Schmale dann als Beginn einer „reflexiven Phase Europäischer Identitätspolitik“, die ihm zufolge auf sechs „Säulen“ ruht. Diese sind:
1. „Sichtbare Symbole europäischer Zusammengehörigkeit“ wie Flagge, Hymne und Europatag am 9. Mai;
2. die EU-Staatsbürgerschaft samt Wahlrecht zum Europäischen Parlament, kommunalem
Wahlrecht am Erstwohnsitz und anderes;
3. der Euro als (fast) gemeinsame Währung;
4. gemeinsame Werte wie Grund- und Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit,
Frieden;
5. „Gemeinsamkeitsstrategien“ wie gemeinsamer Markt und gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.
„Schließlich (Säule 6) betreibt die EU im Rahmen ihrer sehr weit gefassten Kulturpolitik Geschichtspolitik, um die identitätsstiftende Rolle von Geschichte zu nutzen. Diese
Politik äußert sich in einer Fülle von Maßnahmen: die Europaausstellungen, die Schaffung eines europäischen Museums, die Förderung von Publikationen, die Einrichtung einer
Verbindungsgruppe von europäischen Zeithistorikern, die Förderung von geisteswissenschaftlichen und kulturellen Projekten (Europa 2000; Rahmenprogramme), die gemeinsame Aufarbeitung des Holocaust.“ 9
Zu nennen wären des Weiteren Innovationen wie der 1985 eingeführte einheitliche
weinrote Reisepass mit der Aufschrift „Europäische Gemeinschaft“ (ab 1993 „Europäische Union“) in der jeweiligen Landessprache sowie der im Alltag der 28 wohl
auffälligste Bezug zur EU: Das europaweit einheitliche Design von Kfz-Kennzeichen
mit dem blau-gelben EU-Emblem, in welches das jeweilige Nationalitätszeichen
integriert ist. Überdies gibt es seit 1985 die Ausschreibung für eine „Kulturstadt
8
9
Ad hoc Committee „On a People’s Europe“: Report to the European Council, Milan, 28 and 29 June
1985, S. 33 (A 10.04 COM 85, SN/2536/3/85), URL: http://www.ombudsman.europa.eu/de/resources/historicaldocument.faces/de/4659/html.bookmark, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. Vgl. dazu
auch Cris Shore: Building Europe. The Cultural Politics of European Integration, London 2000,
S. 44–50.
Schmale: Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität, 2008, S. 127–130, hier S. 128. Vgl.
auch Kiran Klaus Patel: Europas Symbole. Integrationsgeschichte und Identitätssuche seit 1945, in:
Internationale Politik 59 (2004) 4, S. 11–18, der die Einführung von Fahne und Hymne der EG als
Reaktion auf die niedrige Wahlbeteiligung bei der Europawahl 1984 deutet (S. 16), sowie Shore: Building Europe, 2000, S. 40–66; Albrecht Riethmüller: Die Hymne der Europäischen Union, in: Pim den
Boer et al. (Hrsg.): Europäische Erinnerungsorte. Bd. 2: Das Haus Europa, München 2012, S. 89–
96; Hartmut Kaelble: European Symbols, 1945–2000: Concept, Meaning and Historical Change, in:
Luisa Passerini (Hrsg.): Figures d’Europe. Images and Myths of Europe, Brussels u. a. 2003, S. 47–
61; Markus Göldner: Politische Symbole der europäischen Integration. Fahne, Hymne, Hauptstadt,
Pass, Briefmarke, Auszeichnungen, Frankfurt am Main u. a. 1988.
Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik?
321
Europas“ (seit 1999 „Kulturhauptstadt Europas“) sowie seit 1987 den „Women of
Europe Award“. 10
Die einschlägigen Empfehlungen eines „Komitees der Weisen“, das Kommissionspräsident Jacques Delors infolge des verheerenden französischen Referendums
von 1992 unter der Leitung des ehemaligen belgischen EG-Kommissars Willy de
Clercq einsetzte, wurden hingegen nicht umgesetzt. Aufgabe des Komitees war es,
Vorschläge zur Optimierung der EG-Kommunikationspolitik zu machen, um so das
Image der Gemeinschaft und ihr Zusammengehörigkeitsgefühl zu verbessern. De
Clercq und seine Mitstreiter schlugen in ihrem 1993 vorgelegten Bericht unter anderem die Ausstellung einer EU-Geburtsurkunde für alle Neugeborenen, eine „Europäische Bibliothek und Museum“, eine „europäische Dimension“ in allen Schulbüchern und Curricula, einen hierarchisch über nationalen Auszeichnungen stehenden
EU-Verdienstorden, ein neues EU-Logo mit dem lateinischen Motto „In Uno Plures“
sowie regelmäßige, europaweit übertragene TV-Ansprachen des Kommissionspräsidenten an „die Frauen und die Jugend Europas“ vor. 11
‚Geschichte‘ als identifikatorischer Referenzrahmen indes blieb bis zur ersten
EU-Osterweiterung von 2004 bestenfalls schmückendes Beiwerk Brüsseler Politik,
eine Unterkategorie von ‚Kultur‘, wie auch der Primat des Europarats auf diesem
Politikfeld seitens Brüssels weitgehend unangetastet blieb. Ein Grund dafür war,
dass die Kommission in Brüssel auf das Stichwort ‚Geschichte‘ teilweise allergisch
reagierte. Dies ging auf das vernichtende Echo zurück, das eine EG-offiziöse Gesamtdarstellung zur Geschichte Europas aufgrund ihres dezidiert „christlich-abendländischen“ Tenors und heroisierend-triumphalen Tons ausgelöst hatte. 12 Das Buchprojekt war von der Kommission unterstützt und 1990 veröffentlicht worden. Mit
anderen Worten: An dem von Konflikten, Missverständnissen und Verweigerungshaltungen geprägten und primär bilateralen „Abgleich der nationalen Gedächtnisse“
(Dan Diner) im Mittel- und Osteuropa der 1990er-Jahre, wie ihn das Ende des Kalten Krieges und die verhandelten Transitionen von 1989/1991 an ermöglicht hatten,
war die EG/EU nur peripher beteiligt. Die italienische Zeithistorikerin Oriane Calligaro hat angemerkt, es sei bezeichnend gewesen, dass das Europäische Parlament
1993 zwar eine „Resolution on European and International Preservation of the Sites of Nazi Concentration Camps as Historical Memorials“ verabschiedete, indes
den Antrag eines deutschen Abgeordneten auf Einschluss von Gedenkstätten an den
Stalinismus abgelehnt habe. 13 Der Münchner Politikwissenschaftler Michael Weigl
10 Shore: Building Europe, 2000, S. 60–62, 87–122.
11 Ebd., S. 54–56.
12 Jean Baptiste Duroselle: Europe. A History of its Peoples, London 1990. Zur Geschichte dieses Flops
vgl. Theiler: Political Symbolism, 2005, S. 122–125; Shore: Building Europe, 2000, S. 59 f.; Norman
Davies: Europe. A History, Oxford 1996, S. 43 f.
13 Calligaro: EU Action in the Field of Heritage, 2010, S. 94 f. Vgl. auch European Parliament Resolution on European and International Preservation of the Sites of Nazi Concentration Camps as
Historical Memorials, 11 February 1993, in: Official Journal of the European Communities, C 72,
15. 3. 1993.
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Europaeica
vertritt daher die These, „dass sich die europäische Identitätspolitik zwar seit 1990
historisch umorientiert hat, dieser Wandel aber nicht dazu führte, Diktaturerfahrungen identitär breiten Raum einzuräumen, sondern im Gegenteil diese Erinnerungen
weiter an den Rand gedrängt worden seien.“ 14
In der Fixierung der EU auf die im Jahr 2000 kanonisierte „United in diversity“-Parole sieht er den Grund für das Ausbleiben eines „europäischen Identitätsangebots“, „welches als Dach über den regionalen und nationalen Identitäten fungieren
könnte“. Entsprechend konstatiert er, „den europäischen Identitätsangeboten mangelt
es seit dem Ende der Blockkonfrontation an einer stringent aus der Historie abgeleiteten Zukunftsvision für Europa, welche alle Bürger gleichermaßen emotionalisieren
und für Europa begeistern könnte.“ 15 Als Ursache für dieses Defizit an Identifikationsfolien führt der Berliner Europahistoriker Hartmut Kaelble an, dass die EU –
anders als die in ihr vereinten Mitgliedstaaten – keine einer Nationalgeschichte vergleichbare gemeinsame Geschichte aufweist:
Lacking are the typical ingredients of national history – a common war of independence,
a common period of defeat and suffering, a common period of subsequent reaffirmation of
the body politic, a history of common frontiers, and a common historical memory. (. . . )
Europe lacks a symbolic capital such as Paris or London. Brussels is an administrative center, but no capital with which to identify, for lack of what one would expect from a capital:
a purposeful architectural ensemble of buildings for the European Parliament, the European Commission, and the European Council; a European museum, a European opera and
theater, a European academy of sciences, a major European university, a European library,
European monuments, and European street names. 16
Daraus ist mit einiger Berechtigung zu schließen, dass die 1973 einsetzenden und
seit 1985 verstärkten Brüsseler Versuche, gleichsam auf dem Verordnungswege mit
administrativen Maßnahmen europäische Identität zu stiften, wenig wirksam waren.
Die von den genannten Autoren angeführte „Geschichtslosigkeit“ und Symbolarmut
beziehungsweise das „Mythendefizit“ 17 des europäischen Mehrebenensystems waren dann sicher mit ein Grund dafür, dass der clash of cultures of remembrance,
der die EU trotz der bereits 1989 erfolgten ‚Ansage‘ 2004 im Zuge ihrer Osterweiterung gleichsam unvorbereitet traf, hart ausfiel. Ein anderer Grund war ihr
tiefsitzender Okzidentalismus samt Transatlantismus. Die alte EG hatte kein Szenario für ein mögliches Ende des Ost-West-Konflikts entwickelt, geschweige denn
14 Michael Weigl: Europa neu denken? Zur historischen Umorientierung europäischer Identitätspolitik,
in: Katrin Hammerstein et al. (Hrsg.): Aufarbeitung der Diktatur – Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, Göttingen 2009, S. 177–188, hier
S. 178.
15 Michael Weigl: Europas Ringen mit sich selbst. Grundlagen einer europäischen Identitätspolitik, Gütersloh 2006, URL: http://www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xbcr/SID-924884BD-914FFCD2/
bst/Europas_Ringen_mit_sich_selbst.pdf, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.
16 Hartmut Kaelble: Identification with Europe and politicization of the EU since the 1980s, in: Jeffrey T. Checkel, Peter J. Katzenstein (Hrsg.): European Identity. Cambridge 2009, S. 193–212, hier
S. 207. Vgl. auch Ders.: Europäische Identitäten, 2012, S. 143 f.
17 Wolfgang Schmale: Scheitert Europa an seinem Mythendefizit?, Bochum 1997.
Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik?
323
für die von ihr rhetorisch mitunter invozierte „Wiedervereinigung des Kontinents“.
Und so wenig wie die postkommunistischen Gesellschaften über den europäischen
Integrationsprozess wussten, so wenig wussten die ‚alten‘ EU-Mitglieder über die
Aufnahmekandidaten „im Osten“. Für das Geschichtsbild der Brüsseler Akteure, für
die Geschichtspolitik des Parlaments und für das Identitätsmanagement der EU insgesamt hatte der Umstand, dass die gänzlich andere Sicht der Ostmitteleuropäer auf
die Diktaturen des 20. Jahrhunderts von 2004 an von diesen selbst im Europäischen
Parlament vorgetragen sowie im Streit mit Abgeordneten aus Westeuropa verteidigt
wurde, weitreichende Folgen.
Nach der Osterweiterung 18
Die zwischen Januar 2005 und Januar 2009 angenommenen Entschließungen des
Parlaments („zum Gedenken an den Holocaust sowie zu Antisemitismus und Rassismus“, 19 „zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa am
8. Mai 1945“, 20 „zum Gedenken an den Holodomor, die wissentlich herbeigeführte
Hungersnot von 1932/1933 in der Ukraine“ 21 sowie „zum serbischen Massaker an
8000 bosnischen Muslimen von 1995 in Srebrenica“ 22) bildeten den einen Teil
der neuen EU-Geschichtspolitik. Den anderen stellten zwei Parlamentsdebatten dar:
2005 wurde „Die Zukunft Europas 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg“ 23 behandelt und anlässlich des „70. Jahrestags des Staatsstreichs durch Franco in Spanien“
18 Im Folgenden stütze ich mich auf zwei eigene Vorstudien: Stefan Troebst: Der 23. August als euroatlantischer Gedenktag? Eine analytische Dokumentation, in: Anna Kaminsky, Dietmar Müller,
Stefan Troebst (Hrsg.): Der Hitler-Stalin-Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer, Göttingen 2011, S. 85–121; Ders.: Die Europäische Union als „Gedächtnis und Gewissen Europas“? Zur
EU-Geschichtspolitik seit der Osterweiterung, in: Etienne François et al. (Hrsg.): Geschichtspolitik in Europa seit 1989. Deutschland, Frankreich und Polen im internationalen Vergleich, Göttingen
2013, S. 92–155.
19 Entschließung des Europäischen Parlaments zum Gedenken an den Holocaust sowie zu Antisemitismus und Rassismus, 27. 1. 2005, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//
EP//TEXT+TA+P6-TA-2005-0018+0+DOC+XML+V0//DE, letzter Zugriff: 09. 10. 2016.
20 Entschließung des Europäischen Parlaments zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs
in Europa am 8. Mai 1945, 12. 5. 2005, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?type=
TA&reference=P6-TA-2005-0180&language=DE&ring=B6-2005-0290, letzter Zugriff: 09. 10. 2016.
21 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 23. Oktober 2008 zu dem Gedenken an den Holodomor, die wissentlich herbeigeführte Hungersnot von 1932/1933 in der Ukraine, 23. 10. 2008, URL:
http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+TA+P6-TA-2008-0523+0+
DOC+XML+V0//DE, letzter Zugriff: 09. 10. 2016.
22 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 15. Januar 2009 zu Srebrenica, 15. 1. 2009,
URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?type=TA&reference=P6-TA-2009-0028&
language=DE, letzter Zugriff: 09. 10. 2016.
23 Europäisches Parlament, Plenardebatten, 11. 5. 2005: Die Zukunft Europas 60 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=-//EP//TEXT+CRE+
20050511+ITEM-016+DOC+XML+V0//DE, letzter Zugriff: 09. 10. 2016.
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324
Europaeica
fand 2006 die zweite Debatte statt. 24 Dabei kam es zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten mit heftigen Wortgefechten zwischen ‚alten‘ westeuropäischen und
‚neuen‘ ostmitteleuropäischen Abgeordneten. Streitpunkt war die auf westeuropäischer Seite befürchtete Enthierarchisierung des Gedenkens der industriellen Vernichtung der Juden Europas durch den Nationalsozialismus zugunsten der von den
Osteuropäern geforderten Erinnerung an die stalinistischen Gesellschaftsverbrechen.
Der US-britische Europahistoriker Tony Judt hat die Wirkungen der osteuropäischen
Stalinismus-Erinnerung auf die sich erweiternde EU in seiner eindrücklichen Gesamtdarstellung Postwar. A History of Europe since 1945 wie folgt beschrieben:
With this post-Communist re-ordering of memory in eastern Europe, the taboo on comparing Communism with Nazism began to crumble. Indeed politicians and scholars started
to insist upon such comparisons. In the West this juxtaposition remained controversial.
Direct comparisons between Hitler and Stalin were not the issue; few now disputed the
monstrous quality of both dictators. But the suggestion that Communism itself – before and
after Stalin – should be placed in the same category as Fascism and Nazism carried uncomfortable implications for the West’s own past, and not only in Germany. To many western
European intellectuals, Communism was a failed variant of a common progressive heritage. But to their central and east European counterparts it was an all too successful local
application of the criminal pathologies of twentieth-century authoritarianism and should be
remembered thus. Europe might be united, but European memory remained deeply asymmetrical. 25
In der Debatte vom 11. Mai 2005 aus Anlass des 60. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkriegs versuchte der amtierende EU-Ratspräsident, der Luxemburger JeanClaude Juncker, in seinem Eröffnungsstatement die geschichtspolitische Balance zu
wahren. Einerseits hob er den Beitrag der „Soldaten der Roten Armee“ zur „Befreiung Europas“ vom Nationalsozialismus hervor und sagte:
Welch ungeheure Verluste! Wie viele Leben wurden abrupt abgebrochen in Russland, das
für die Befreiung Europas 27 Millionen Tote gab! Niemand muss – wie ich es tue – große
Liebe für das eigentliche Russland, das ewige Russland empfinden, um anzuerkennen, dass
Russland große Verdienste für Europa erworben hat. 26
Andererseits sprach er die ganz andere historische Erfahrung Ostmitteleuropas an:
24 Europäisches Parlament, Plenardebatten, 4. 7. 2006: Jahrestag des Staatsstreichs durch Franco
in Spanien, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef= -//EP//TEXT+CRE+
20060704+ITEM-004+DOC+XML+V0//DE, letzter Zugriff: 09. 10. 2016.
25 Tony Judt: Postwar. A History of Europe since 1945, New York 2005, S. 826. Ebd., S. 165–225,
beschreibt Judt die seitens der Sowjetunion oktroyierte Stalinisierung des östlichen Mitteleuropa wie
die partielle Selbststalinisierung westeuropäischer Gesellschaften wie Italien und Frankreich. Zum
neueren Forschungsstand vgl. Michael Geyer, Sheila Fitzpatrick (Hrsg.): Beyond Totalitarianism.
Stalinism and Nazism Compared, Cambridge 2009.
26 Europäisches Parlament, Plenardebatten, 11. Mai 2005. Junker entging dabei, dass die Rote Armee
keine „russische“, sondern eine sowjetische, das heißt ihrer ethnischen Zusammensetzung nach vor
allem eine ukrainische, kasachische, belarussische war.
Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik?
325
Doch die Anfang Mai 1945 wieder erlangte Freiheit wurde nicht überall in Europa in gleichem Maße spürbar. Wir in unserem westlichen Teil Europas, die wir fest in unseren alten
Demokratien etabliert waren, konnten nach dem Zweiten Weltkrieg in Freiheit leben, in
einer wieder erlangten Freiheit, deren Preis wir kannten. Doch diejenigen, die in Mitteleuropa und in Osteuropa lebten, kamen nicht in den Genuss der Freiheit, die wir fünfzig Jahre
lang erlebten. Sie waren einem fremden Gesetz unterworfen. Die baltischen Länder, deren
Ankunft in Europa ich begrüßen möchte und denen ich sagen möchte, wie stolz wir darauf
sind, dass sie nun zu uns gehören, wurden gewaltsam in ein fremdes Staatsgebilde eingegliedert. Sie erlebten nicht die pax libertatis, sondern die pax sovietika, die ihnen fremd
war. Diese Völker, diese Nationen, die von einem Unglück in das andere stürzten, haben
mehr gelitten als alle anderen Europäer. Den anderen mittel- und osteuropäischen Ländern
war nicht das außergewöhnliche Maß an Selbstbestimmung vergönnt, in dessen Genuss wir
in unserer Region Europas kamen. Sie waren nicht frei. Sie mussten sich einem System
unterordnen, das ihnen aufgezwungen wurde. 27
In der anschließenden Aussprache, welche der konservative polnische Abgeordnete
Wojciech Roszkowski, von Beruf Zeithistoriker und Ökonom, 28 als „vielleicht die
wichtigste Debatte über die europäische Identität, die wir seit Jahren geführt haben“,
bezeichnete, wandte sich der französische Kommunist und Parlamentsveteran Francis Wurtz vehement gegen eine „Entschuldigung von Naziverbrechen durch einen
Verweis auf die stalinistischen Verbrechen“, da „der Nazismus keine Diktatur oder
Tyrannei unter anderen war, sondern vielmehr ein vollständiger Bruch mit der gesamten Zivilisation“. Dem hielt das ungarische FIDESZ-Mitglied József Szájer entgegen:
„Wer einen unschuldigen Gefangenen aus dem einen Gefängnis befreit und ihn in ein
anderes sperrt, ist ein Gefängniswärter und kein Befreier.“ Nahezu sämtliche Abgeordnete aus Ostmitteleuropa betonten, dass der 8. Mai 1945 ohne Kenntnis dessen,
was am 23. August 1939 geschah, nicht zu verstehen sei. Roszkowski wandte sich
explizit gegen die russländische Geschichtspolitik mit ihrer Relativierung des Hitler-Stalin-Pakts und der Verbrechen des Diktators selbst. 29 Die am 12. Mai 2005
angenommene „Entschließung des Europäischen Parlaments zum 60. Jahrestag des
Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa am 8. Mai 1945“ invozierte entsprechend
die „Erinnerung daran, dass das Ende des Zweiten Weltkriegs für einige Nationen
eine erneute Diktatur, diesmal durch die stalinistische Sowjetunion, bedeutete“. 30
27 Ebd.
28 Roszkowski, Autor zahlreicher Untersuchungen, Gesamtdarstellungen und Schulbücher zur polnischen Zeitgeschichte, hat bereits vor 1989 unter dem Pseudonym „Andrzej Albert“ eine seinerzeit
viel beachtete mehrbändige Geschichte Polens im 20. Jahrhundert in Solidarność-nahen Untergrundverlagen veröffentlicht (Najnowsza historia Polski, 1918–1980, Warszawa 1983).
29 Europäisches Parlament, Plenardebatten, 11. Mai 2005.
30 Entschließung des Europäischen Parlaments zum 60. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in
Europa am 8. Mai 1945, 12. 5. 2005. Bezeichnenderweise hatten sich Debatten des Europäischen
Parlaments vor der ersten Osterweiterung, etwa über die Gültigkeit der Beneš-Dekrete des Beitrittskandidaten Tschechische Republik, nicht in Resolutionsform niedergeschlagen. Vgl. Christian
Domnitz: Die Beneš-Dekrete in parlamentarischer Debatte. Kontroversen im Europäischen Parlament
und im tschechischen Abgeordnetenhaus vor dem EU-Beitritt der Tschechischen Republik, Münster
2007.
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Europaeica
Dass lediglich 49 Abgeordnete gegen die Entschließung stimmten – bei 33 Enthaltungen und 463 Ja-Stimmen –, lag nicht zuletzt an einer kurz zuvor getätigten
Äußerung des Staatspräsidenten der Russländischen Föderation, Vladimir V. Putin.
Auf einer Pressekonferenz in Moskau hatte er den Hitler-Stalin-Pakt als „eine persönliche Angelegenheit zwischen Stalin und Hitler“ abgetan und die im Geheimen
Zusatzprotokoll vereinbarte territoriale Aufteilung Ostmitteleuropas zwischen dem
‚Dritten Reich‘ und der Sowjetunion als bloße „Rückgabe“ von Gebieten, die Sowjetrussland im Vertrag von Brest-Litovsk 1918 an Deutschland hatte abtreten müssen,
bezeichnet. 31
Die Kluft zwischen Europaparlamentariern aus Ost und West wurde in der Plenardebatte vom 4. Juli 2006 zum 70. Jahrestag des Staatsstreichs durch General Francisco Franco in Spanien 1936 besonders deutlich. Der rechtsnationale polnische
Abgeordnete Maciej Marian Giertych bezeichnete dabei den Caudillo als Retter Mittel- und Westeuropas vor der „kommunistischen Pest“:
Die Existenz von Persönlichkeiten wie Franco (. . . ) in der europäischen Politik hat für
den Erhalt traditioneller europäischer Werte gesorgt. Solche Staatsmänner gibt es heute
nicht mehr. Bedauerlicherweise sind wir Zeugen eines historischen Revisionismus, der alle
Dinge, die traditionell und katholisch sind, in einem ungünstigen Licht darstellt, und alles,
was weltlich und sozialistisch ist, in einem günstigen Licht. Wir sollten nicht vergessen,
dass der Nazismus in Deutschland und der Faschismus in Italien auch sozialistische und
atheistische Wurzeln haben. 32
Es war nicht zufällig ein deutscher Abgeordneter – der seit 2012 als EU-Parlamentspräsident amtierende Sozialdemokrat Martin Schulz –, der seinen polnischen Kollegen scharf attackierte: „Das, was wir gerade gehört haben, ist der Geist von Herrn
Franco. Es war eine faschistische Rede, die im Europaparlament nichts zu suchen
hat.“ 33
31 V. Putin o pakte Molotova-Ribbentropa: „Chorošo ėto bylo ili plocho – ėto istorija“ [V. Putin über
den Molotow-Ribbentrop-Pakt: „Ob das gut war oder schlecht – es ist Geschichte“], in: Regnum. Informacionnoe agentstvo, 10. 5. 2005, URL: http://www.regnum.ru/news/451397.html, letzter Zugriff:
05. 10. 2016. Unter Bezug auf die Verurteilung des Paktes samt Zusatzprotokoll durch den Zweiten
Kongress der Volksdeputierten der erodierenden UdSSR am 24. 12. 1989 hatte Putin überdies verärgert angefügt: „Was will man denn noch? Sollen wir das jedes Jahr wieder verurteilen? Wir halten
dieses Thema für abgeschlossen und werden nicht mehr darauf zurückkommen. Wir haben uns einmal dazu geäußert und das genügt.“ (Ebd.) Vgl. auch Tat’jana Timofeeva: „Ob gut, ob schlecht, das
ist Geschichte“. Russlands Umgang mit dem Hitler-Stalin-Pakt, in: Osteuropa 59 (2009) 7–8, S. 257–
271; sowie Jutta Scherrer: Der Molotow-Ribbentrop-Pakt – (k)ein Thema der russischen Öffentlichkeit und Schule, in: Kaminsky, Müller, Troebst (Hrsg.): Der Hitler-Stalin-Pakt 1939, 2011, S. 155–
173; Wolfram von Scheliha: Der Pakt und seine Fälscher. Der geschichtspolitische Machtkampf in
Russland zum 70. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts, in: Ebd., S. 175–197.
32 Europäisches Parlament, Plenardebatten, 4. 7. 2006.
33 Ebd.
Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik?
327
Eine weitere Zuspitzung erfuhr der Ost-West-Streit 2007 während der Verhandlungen des Rates über einen Rahmenbeschluss zu Rassismus und Xenophobie. 34 Polen und die baltischen Staaten verlangten, Massenmord, Deportation, Großen Terror
und GULag in der Sowjetunion unter Stalin explizit mit in den Entwurf aufzunehmen,
und forderten ein europaweites Verbot der Billigung, Leugnung oder Verharmlosung
dieser Verbrechen. Immerhin konnten sie beim Rat einen Teilerfolg erzielen, denn
im April 2007 vereinbarten die Justiz- und Innenminister der 27 dazu Folgendes:
Der Rat ersucht die Kommission, innerhalb von zwei Jahren nach Inkrafttreten des Rahmenbeschlusses zu prüfen, und dem Rat Bericht zu erstatten, ob ein zusätzliches Instrument
benötigt wird, um das öffentliche Billigen, Leugnen oder gröbliche Verharmlosen von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen mit unter Strafe zu
stellen, wenn sich die genannten Straftaten gegen eine Gruppe von Personen richten, die
sich durch andere Kriterien definieren als durch Rasse, Hautfarbe, Religion, Abstammung
oder nationale oder ethnische Herkunft, wie etwa sozialer Status oder politische Verbindungen. 35
Nur Eingeweihte konnten darin den Bezug auf kommunistische Gesellschaftsverbrechen erkennen. Darüber hinaus wurde angekündigt, die Kommission werde „eine
öffentliche europäische Anhörung zu von totalitären Regimen begangenen Völkermordverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen“
durchführen und „gegebenenfalls einen Vorschlag für einen Rahmenbeschluss zu
diesen Verbrechen unterbreiten“. 36 Diese Anhörung fand unter der slowenischen
EU-Ratspräsidentschaft am 8. April 2008 in Brüssel statt. Geladen waren primär
ostmitteleuropäische Experten, und im Zentrum standen kommunistische Staatsverbrechen. 37 Die anwesenden EU-Parlamentarier aus Ostmitteleuropa übermittelten
anschließend dem Rat einen aus acht Punkten bestehenden Aktionsplan, in dem unter
anderem die „Gründung einer europäischen Stiftung, die (. . . ) Forschungsinstitutionen einzelner Länder, die sich auf Fragestellungen zur totalitären Gewaltherrschaft
spezialisiert haben, bei der Vernetzung unterstützt“ sowie „die Erstellung von Konzepten für ein europäisches Museum über totalitäre Regime und für ein Denkmal,
das die Opfer dieser Regime rehabilitiert und ihnen ein angemessenes Gedenken
zuteilwerden lässt“, angeregt wurden. Besonderer Symbolgehalt kam dabei den Forderungen nach „Einrichtung eines europäischen Gedenktags für die Opfer totalitärer
Gewaltherrschaft (zum Beispiel am 23. August, dem Datum, an dem der Molotow-
34 Rahmenbeschluss 2008/913/JI des Rates vom 28. November 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung
bestimmter Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, URL: http://
eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/ALL/?uri=CELEX:32008F0913, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.
35 Rat der Europäischen Union: Mitteilung an die Presse. 2749. Tagung des Rates. Justiz und Inneres, Luxemburg, 19./20. 4. 2007 (8364/07, Presse 77), S. 25, URL: http://www.consilium.europa.eu/
uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/jha/93799.pdf, letzter Zugriff: 13. 7. 2014.
36 Ebd.
37 Vgl. dazu den Anhörungsbericht: Peter Jambrek (Hrsg.): Crimes Committed by Totalitarian Regimes, Ljubljana 2008, URL: http://www.crce.org.uk/lessons/Articles/eu_hearing.pdf, letzter Zugriff:
05. 10. 2016.
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328
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Ribbentrop-Pakt geschlossen wurde)“ und nach „Durchsetzung des Grundsatzes der
Gleichbehandlung und der Nicht-Diskriminierung für die Opfer sämtlicher totalitärer
Regime“ zu. 38
Die gesteigerte geschichtspolitische Aktivität des Parlaments in den Jahren 2005
und 2006 hatte unmittelbare Wirkung auf die weiterhin ‚westeuropäisch‘ dominierte
und geschichtspolitisch auf das Holocaustgedenken fokussierte EU-Kommission.
Diese Wirkung manifestierte sich in neuen zeithistorisch orientierten Förderprogrammen. So veröffentlichte die Kommission 2005 die Ausschreibung „Special Events
within the framework of a European Union democracy campaign following the
60th anniversary of the liberation from fascism“. Im Rahmen der Förderlinie „Remembrance“ wurden fünf Pilotprojekte in Italien und Deutschland gefördert. 39 2006
wurde das Programm „Bürgerinnen und Bürger für Europa“ aufgelegt, welches im
Zeitraum 2007–2013 „die aktive Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern am europäischen Integrationsprozess fördern“ sowie „das Verständnis der europäischen
Bürger /innen füreinander stärken“, vor allem aber „Bürgerinnen und Bürgern die
Entwicklung eines europäischen Identitätsgefühls ermöglichen“ sollte. 40 Eine von
vier Programmkomponenten trägt den Titel „Aktive europäische Erinnerung“. Sie
weist einerseits Bezüge zu den geschichtspolitischen Eckpfeilern der Programmatik
des EU-Parlaments auf, betont aber andererseits das Weltkriegsgedächtnis gegenüber
der Kommunismuserinnerung:
1. Aktion 4: Aktive europäische Erinnerung
2. Jahrzehnte des Friedens, der Stabilität und des Wohlstands trennen Europa von den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. Um jedoch sicherzustellen, dass sich die Fehler der
Vergangenheit nicht wiederholen, dass die Gegenwart gewürdigt und für die Zukunft vorgesorgt wird, ist es wichtig, die Erinnerung an diese Zeit wach zu halten.
3. Die größten Kriege des letzten Jahrhunderts hat Europa weit hinter sich gelassen, und sie
werden sicherlich in noch weitere Ferne rücken, wenn die letzten Überlebenden gestorben
sind. Die traumatisierenden Ereignisse liegen schon so lange zurück, dass die Grundwerte
der EU, wie Freiheit, Demokratie und Achtung der Menschenrechte, leicht als selbstverständlich hingenommen werden.
4. Die geschichtliche Erfahrung des Nationalsozialismus und des Stalinismus unterstreicht
jedoch, wie wichtig und kostbar unsere heutigen demokratischen Werte sind. Durch das Gedenken der Opfer sowie die Erhaltung der Stätten und Archive in Bezug auf Deportationen
38 Ebd., S. 313 f. (Contribution of the 1st European hearing on „Crimes Committed by totalitarian regimes“, Brussels, 8 April 2008). Die deutsche Übersetzung ist zitiert nach Sandra Kalniete: Europa
muss sich über die Bewertung der Totalitarismen in seiner Geschichte des 20. Jahrhunderts verständigen, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2009, S. 359–369, hier S. 368 f.
39 European Commission: About the Citizens for Europe Programme: Pilot Projects, 12/09/2011, URL:
http://ec.europa.eu/citizenship/about-the-europe-for-citizens-programme/overview/action-4-activeeuropean-remembrance/remembrance_projects_en.htm, letzter Zugriff: 09. 10. 2016.
40 Europäische Kommission: Das Programm Europa für Bürgerinnen und Bürger: Programmziele und
-prioritäten, URL: http://ec.europa.eu/citizenship/about-the-europe-for-citizens-programme/programme-objectives-and-priorities/index_de.htm, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.
Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik?
329
sowie durch zahlreiche andere Aktionen können die Europäer, insbesondere die jüngeren
Generationen, aus diesen dunklen Kapiteln der Geschichte Lehren für die Gegenwart und
Zukunft ziehen.
5. Durch die Erinnerung an die Gräueltaten und Verbrechen der Vergangenheit können
die Bürger über die Ursprünge der EU und die Geschichte der Europäischen Integration
nachdenken, die den Frieden ihrer Mitglieder gewahrt und zur Sicherung ihres heutigen
Wohlstands beigetragen hat. Darauf aufbauend, können die Menschen einen Weg zu der
Art von Europa skizzieren, in dem sie in Zukunft leben möchten. Dies ist der Grundgedanke der Aktion 4: ‚Aktive europäische Erinnerung‘. (. . . )
6. Die Ziele von Aktion 4 setzen sich aus folgenden Bestandteilen zusammen: ‚Aktionen,
Diskussionen und Überlegungen zur europäischen Bürgerschaft und zur Demokratie, zur
Wertegemeinschaft und zur gemeinsamen Geschichte und gemeinsamen Kultur fördern‘
und ‚Europa den Bürgern näher bringen, indem europäische Werte und Errungenschaften
gefördert werden und gleichzeitig die Erinnerung an die Vergangenheit Europas bewahrt
wird‘.
7. Es werden Projekte zur Erhaltung von Stätten von historischem und sozialem Interesse
in Verbindung mit dem Nationalsozialismus und Stalinismus, wie etwa der Konzentrationslager des Zweiten Weltkriegs, gefördert. Die Erinnerung an die Erfahrungen jener, die
den Krieg erlebten – und an die Millionen von Toten –, soll den jetzigen Generationen,
insbesondere der Jugend, helfen, das Opfer ihrer Vorfahren zu verstehen. 41
Die Genfer Politikwissenschaftlerin Annabelle Littoz-Monnet sieht in einer mit „The
EU Politics of Remembrance“ betitelten Analyse von 2011 in diesem Programm
einen Ansatz der Kommission zur zielgerichteten „Konstruktion eines europaweiten Narrativs, das als Identifikationsmarker für europäische Bürger fungieren kann“.
Dabei verweist sie darauf, dass das Programm auf Englisch „Active European Remembrance“ heißt, wobei der Terminus „remembrance“ im Gegensatz zum gängigeren Begriff „memory“ an sich bereits Aktion enthalte. 42 Unter Verwendung eines als
„memory frame“ bezeichneten Interpretationsmusters – „defined here as shared interpretative lenses through which the past is made sense of by certain actors“ 43 – sieht
sie als Folge der Osterweiterung in der EU einen heftigen Widerstreit zweier solcher
„Erinnerungsrahmen“, deren einen sie „Holocaust as Unique“ und den anderen „Hitler and Stalin as equally Evil“ nennt. Ihr zufolge waren die „Erinnerungsrahmen“ der
1970er- und 1980er-Jahre, nämlich „the ‚Common Heritage‘ Frame“, „the ‚Founding
41 Europäische Kommission: Das Programm Europa für Bürgerinnen und Bürger. Aktion 4: Aktive
europäische Erinnerung, URL: http://eacea.ec.europa.eu/citizenship/programme/action4_de.php,
letzter Zugriff: 09. 10. 2016. Zur modifizierten Fortsetzung des Programms 2014–2020 – mit einem
Schwerpunkt auf „Geschichtsbewusstsein und europäische Bürgerschaft“ – vgl. Europäisches Parlament. Generaldirektion Interne Politikbereiche, Europäisches historisches Gedächtnis, 2013, S. 17.
42 Annabelle Littoz-Monnet: The EU Politics of Remembrance, Genf 2011, S. 4 f., URL: http://graduateinstitute.ch/webdav/site/international_history_politics/shared/working_papers/WPIH_9_LittozMonnet.pdf, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. Vgl. auch Dies.: The EU Politics of Commemoration PostEastern Enlargement, in: Bruno Arcidiacono et al. (Hrsg.): Europe Twenty Years after the End of the
Cold War. The New Europe, New Europes?, Bruxelles u. a. 2012, S. 63–78.
43 Littoz-Monnet: The EU Politics of Remembrance, 2011, S. 4.
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Event‘ Frame“ und „the ‚Grand Moments of European Integration‘ Frame“, im Vergleich dazu deutlich weniger erfolgreich oder sogar erfolglos. 44
In den 1990er-Jahren gewann der geschichtspolitische Holocaust-Bezug europaweit an Prominenz und führte im Januar 2000 zur Erklärung des Stockholmer
Internationalen Forums über den Holocaust. 45 Diese wurde von acht EU-Staaten,
den USA, Israel, Argentinien, Norwegen sowie Ungarn, Litauen, Polen und der
Tschechischen Republik unterzeichnet. Dass die Erklärung starke Auswirkungen
auf die Geschichtspolitik der EU hatte, belegt Littoz-Monnet mit einer Äußerung
von Beate Winkler, vormals Direktorin des European Monitoring Centre on Racism
and Xenophobia in Wien, vom Sommer 2005: „The Shoah is the traumatic experience of Europe’s recent history. It has driven the EU’s founders to build an united
and peaceful Europe and thus been at the very root of European integration.“ 46
Noch bevor der Rückbezug auf den Holocaust als gleichsam neuer Gründungsmythos der EU einem Praxistest unterworfen wurde, setzte laut Littoz-Monnet die
Rivalität mit dem ‚osteuropäischen‘ Interpretationsmuster ein, welches Nationalsozialismus und Kommunismus als Bezugsrahmen nahm. Die Politikwissenschaftlerin
misst dem Kommissionsprogramm deutlich größere Bedeutung bei als den beschriebenen Parlamentsinitiativen, ebenso schreibt sie der Kommission, hier vor allem der
Generaldirektion Bildung und Kultur, als Akteur einen höheren Stellenwert zu als
Abgeordnetengruppierungen und Fraktionen. 47
So plausibel diese Interpretation auch ist, so groß ist zugleich der Unterschied
in der Transparenz der Geschichtspolitiken von Parlament und Kommission. Während die Meinungsbildungs- und Konsensfindungsprozesse der EU-Parlamentarier
quellenmäßig fassbar sind, sind die kommissionsinternen Diskussions- und Entscheidungsprozesse von außen kaum einsehbar. Entsprechend beschränkt sind die
Analysemöglichkeiten, und entsprechend häufig greifen Forscher zur nicht immer
unproblematischen Methode des Akteursinterviews. 48
44 Ebd., S. 10–14.
45 Vgl. dazu den Wortlaut unter URL: https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2000/maerz/stockholmer-erklaerung-des-internationalen-forums-ueber-den-holocaust-v, letzter Zugriff: 05. 10. 2016;
Michael Jeismann: Schuld – der neue Gründungsmythos Europas? Die Internationale Holocaust-Konferenz von Stockholm (26.–28. Januar 2000) und eine Moral, die nach hinten losgeht, in: Historische
Anthropologie 8 (2000) 3, S. 454–458; Daniel Levy, Natan Sznaider: Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt am Main 2001, S. 210–216; Jens Kroh: Transnationale Erinnerung.
Der Holocaust im Fokus geschichtspolitischer Initiativen, Frankfurt am Main 2008.
46 Beate Winkler: Introduction to Session 2, „Education on the Holocaust and on anti-Semitism“, in:
OSCE Conference on Anti-Semitism and on Other Forms of Intolerance. Consolidated Summaries.
Cordoba, 8 to 9 June 2005, S. 99–103, hier S. 99, URL: http://www.osce.org/cio/16526, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.
47 Littoz-Monnet: The EU Politics of Remembrance, 2011, S. 17–24.
48 Zur Spezifik von Interviews mit EU-Kommissionsbeamten vgl. Shore: Building Europe, 2000, S. 7–
11.
Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik?
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Die Resolution des Europäischen Parlaments „zum Gewissen
Europas und zum Totalitarismus“ von 2009
Im europäischen Jubiläums- und Gedenkjahr 2009 – unter anderem 20 Jahre ‚friedliche Revolution‘ in Mittel- und Osteuropa, 60 Jahre Europarat, 70 Jahre HitlerStalin-Pakt und Beginn des Zweiten Weltkriegs, 90 Jahre Pariser Friedenskonferenz – setzte die Europäische Union in Gestalt ihres Parlaments ein ambitioniertes
geschichtspolitisches Zeichen. In der „Entschließung des Europäischen Parlaments
vom 2. April 2009 zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus“ 49 lehnten die Abgeordneten jegliche Art von totalitären Ideologien und Diktaturen sowie autoritären
Regimen, Rassismus, Antisemitismus, Faschismus, Nationalsozialismus, Kommunismus und Stalinismus ab und machten diese zum gemeinsamen Nenner der nationalen Erinnerungskulturen der 27 EU-Mitglieder sowie zum Grundpfeiler einer
Kommission und Rat zugleich aufgetragenen systematischen EU-Geschichtspolitik.
Die ungewöhnlich lange und streckenweise regelrecht geschichtsphilosophische
Entschließung wurde mit 553 Ja-Stimmen bei nur 44 Nein-Stimmen und 33 Enthaltungen angenommen. Obwohl sie das geschichtspolitische Grundsatzdokument
der osterweiterten Union darstellt, blieb sie von den Öffentlichkeiten der Mitgliedstaaten weitgehend unbemerkt. Der symbolische Kern der Entschließung ist die
Erklärung universaler Zuständigkeit für „Geschichte“, „Erinnerung“, „Gedächtnis“
und „Gedenken“ seitens des EU-Parlaments, wobei die opake Formel vom „Gewissen Europas“ im Titel durchaus als Selbstproklamation gedeutet werden kann: Das
Europäische Parlament sieht sich selbst als das „Gewissen Europas“, als moralische
Instanz der EU, in dessen Zuständigkeitsbereich nicht nur die damals 27 Mitgliedstaaten fallen, sondern das „größere“ Europa. Der großen rhetorischen Geste steht
eine einzige konkrete – und unvergleichlich bescheidenere – Forderung gegenüber:
eine „Plattform für das Gedächtnis und das Gewissen Europas“ bei „Verstärkung
der bestehenden einschlägigen Finanzierungsinstrumente“ (Punkte 13 und 14) aufzubauen. 50
Dieses Ungleichgewicht von Rhetorik und Konkretion wird durch einen merkwürdigen Einerseits-andererseits-Duktus noch unterstrichen: Einerseits seien „völlig
49 Entschließung des Europäischen Parlaments vom 2. April 2009 zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus. Brüssel, 2. April 2009, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=
-//EP//TEXT+TA+P6-TA-2009-0213+0+DOC+XML+V0//DE, letzter Zugriff: 13. 7. 2014.
50 Die gleichfalls konkrete Forderung der Erklärung des 23. August – dem Tag der Unterzeichnung
des als Hitler-Stalin- beziehungsweise Molotow-Ribbentrop-Pakt bekannten deutsch-sowjetischen
Nichtangriffspakts samt Geheimen Zusatzprotokoll von 1939 – zum „europaweiten Gedenktag an
die Opfer aller totalitären und autoritären Regime“ (Punkt 15) war dabei lediglich die Wiederholung
einer Erklärung des Parlaments aus dem Vorjahr. Vgl. Erklärung des Europäischen Parlaments zur
Ausrufung des 23. August zum Europäischen Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nazismus. Brüssel, 23. September 2008, URL: http://www.europarl.europa.eu/sides/getDoc.do?pubRef=
-//EP//TEXT+TA+P6-TA-2008-0439+0+DOC+XML+V0//DE, letzter Zugriff: 09. 10. 2016. Siehe
dazu Troebst, Der 23. August als euroatlantischer Gedenktag?, 2011; Ders.: Der 23. August 1939.
Ein europäischer Lieu de mémoire?, in: Osteuropa 59 (2009) 7–8, S. 249–256.
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objektive Auslegungen historischer Tatsachen nicht möglich“ (Punkt A), andererseits existierten aber durchaus „falsche Auslegungen der Geschichte“ (Punkt E). Und
zum einen seien „während des 20. Jahrhunderts in Europa Millionen von Opfern
von totalitären und autoritären Regimen deportiert, inhaftiert, gefoltert und ermordet“ worden, wohingegen andererseits „der einzigartige Charakter des Holocaust
nichtsdestoweniger anerkannt werden muss“ (Punkt G). Ganz offensichtlich werden
hier in einer Art Kompromisslösung entgegengesetzte Ansichten zusammengeführt.
Zum Teil leidet darunter die Verständlichkeit: Der beispielsweise in Punkt 10 postulierte Sachverhalt, dass völlig unterschiedliche und terminologisch diffuse Dinge
wie „eine angemessene Bewahrung der historischen Erinnerung, eine umfassende
Neubewertung der europäischen Geschichte und eine europaweite Anerkennung aller historischen Aspekte des modernen Europa die europäische Integration stärken
werden“, kann nur mit gutem Willen als bloß kryptisch bezeichnet werden. Dass
Kompromissfindung zu sinnentleerten Forderungen führen kann, belegt augenfällig
Punkt 6, dessen Postulat nach Zugang zu den „Archive[n] der ehemaligen internen
Sicherheitsdienste, der Geheimpolizei und der Nachrichtendienste“ durch die Bedingung minimiert wird, es müsse sichergestellt sein, „dass dieser Prozess nicht zu
politischen Zwecken missbraucht wird“. Wer soll darüber eine Entscheidung treffen
und welche „politischen Zwecke“ sind hier gemeint?
Regelrecht unvermutet nimmt sich auch die konkrete Aufforderung an Rat und
Kommission in Punkt 11 aus, „die Tätigkeiten nichtstaatlicher Organisationen wie
etwa Memorial in der Russischen Föderation, die aktiv darum bemüht sind, Dokumente im Zusammenhang mit den während der stalinistischen Zeit verübten Verbrechen ausfindig zu machen und zusammenzutragen, zu unterstützen und zu verteidigen“. So begründet in moralischer wie politischer Hinsicht das Eintreten für die
russländische Nichtregierungsorganisation Memorial auch ist, so naheliegend wäre
doch die Nennung vergleichbarer NGOs in anderen autoritären oder mit Demokratiedefiziten behafteten EU-Nachbarstaaten wie Belarus, Marokko oder der Türkei samt
der Forderung nach Unterstützung und Verteidigung auch dieser zivilgesellschaftlichen Akteure gewesen. Desgleichen hätte man Kritik am Umgang mit den archivalischen Hinterlassenschaften diktatorischer Regime in EU-Mitgliedstaaten wie zum
Beispiel Spanien oder Griechenland erwartet, wo der Quellenzugang selbst den in
Punkt A genannten „Berufshistorikern“ massiv erschwert, gar verwehrt wird. Auch
tritt gerade durch die Fokussierung auf die Diktaturen des 20. Jahrhunderts und ihre
Massenverbrechen das gänzliche Ausblenden der Kolonialverbrechen Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, der Niederlande, Belgiens, Italiens, Portugals und
Spaniens umso deutlicher hervor, wären hier doch vor allem Westeuropäer angesprochen. Zugleich machen der Verweis auf die Russländische Föderation und die
impliziten Bezüge auf die Ukraine, Serbien sowie Bosnien und Herzegowina in der
Präambel deutlich, dass der geschichtspolitische Zuständigkeitsbereich der EU-Parlamentarier ihrem Selbstverständnis zufolge mitnichten an den EU-Außengrenzen
endet.
Ungeachtet der genannten Disparität, Exzentrik und Simplifizierung handelt es
sich bei der Entschließung vom 2. April 2009 dennoch zumindest streckenweise
Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik?
333
um ein ebenso differenziertes wie eindrückliches Dokument. Einer ‚Einkaufsliste‘
gleich bietet es Anknüpfungspunkte für ganz unterschiedliche geschichtspolitische
Postulate und Strategien. Es benennt nicht zuletzt die hochgradig divergierenden
historischen Erfahrungen der Bürger der ‚alten‘ und ‚neuen‘ EU-Mitgliedstaaten im
20. Jahrhundert, vor allem diejenigen widerständigen Verhaltens im ehemaligen sowjetischen Hegemonialbereich. Der institutionalisierten Geschichtswissenschaft im
EU-Raum kann dies als willkommene Argumentationshilfe im nationalen Rahmen
sowie als vielversprechender Anknüpfungspunkt für finanziell unterfütterte institutionelle Verdichtung auf europäischer Ebene dienen.
Der Entschließung des EU-Parlaments vom 2. April 2009 war am 18. März
eine auf Initiative der tschechischen Ratspräsidentschaft im Europäischen Parlament
durchgeführte öffentliche Anhörung zum Thema „European Conscience and Crimes
of Totalitarian Communism: 20 Years After“ unmittelbar vorausgegangen. 51 Der
Titel der Anhörung knüpfte dabei an die „Prague Declaration on European Conscience and Communism“ vom 3. Juni 2008 an. Diese war von den Teilnehmern einer
internationalen Konferenz unter Organisation der Regierung der Tschechischen Republik erlassen worden. Zu ihnen zählten Václav Havel, Vytautas Landsbergis und
Joachim Gauck, des Weiteren vor allem tschechische Politiker und Intellektuelle.
Die Deklaration enthielt zahlreiche Elemente der Entschließung von 2009, wie „die
Anerkennung des Kommunismus als integraler und schreckenerregender Teil der
gemeinsamen Geschichte Europas“, die Forderung nach Institutionalisierung, Musealisierung und Kommemoralisierung der Erinnerung an den Kommunismus durch
ein „Institut des Europäischen Gedächtnisses und Gewissens“, ein „paneuropäisches
Museum /Memorial für die Opfer aller totalitären Regime“ sowie den 23. August „als
Tag des Gedenkens an die Opfer sowohl des nationalsozialistischen wie der kommunistischen Regime in derselben Art, wie Europa der Opfer des Holocaust am 27. Januar gedenkt“. 52 Der hier wie in der Entschließung von 2009 stark unterstrichene
Symbolgehalt des 23. August als Tag der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen
Nichtangriffsvertrags (Hitler-Stalin-Pakt oder Molotow-Ribbentrop-Pakt) samt Geheimem Zusatzprotokoll zur Aufteilung Ostmitteleuropas von 1939 schlug sich bereits vor der Entschließung von 2009 in einer eigenen „Erklärung des Europäischen
51 Zum Programm der Anhörung vgl. URL: http://www.ustrcr.cz/en/hearing-in-the-european-parliament-on-the-crimes-of-communism, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.
52 Prague Declaration on European Conscience and Communism. Prag, 3. Juni 2008, URL: http://www.
praguedeclaration.eu, letzter Zugriff: 09. 10. 2016. Zum 27. Januar – Tag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee 1945 – als globalem Gedenktag vgl. Harald
Schmid: Europäisierung des Auschwitz-Gedenkens? Zum Aufstieg des 27. Januar 1945 als „Holocaustgedenktag“ in Europa, in: Jan Eckel, Claudia Moisel (Hrsg.): Universalisierung des Holocaust?
Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive, Göttingen 2008, S. 174–
202; Aleida Assmann: 27. Januar 1945: Genese und Geltung eines neuen Gedenktags, in: Etienne
François, Uwe Puschner (Hrsg.): Erinnerungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis
zur Gegenwart, München 2010, S. 319–334.
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Parlaments zur Ausrufung des 23. August zum Europäischen Gedenktag an die Opfer
von Stalinismus und Nazismus“ vom 23. September 2008 nieder. 53
Die Parlamentsentschließung „zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus“
wurde bereits am 15. Juni 2009 vom Rat billigend zur Kenntnis genommen, jedoch
die Kommission lediglich „ersucht“, zur Umsetzung „alle bestehenden einschlägigen Finanzinstrumente (unter anderem das Programm ‚Europa für Bürgerinnen und
Bürger‘) in vollem Umfang zu nutzen“. 54
Akteure der neuen EU-Geschichtspolitik
‚Architekten‘ der neuen EU-Geschichtspolitik waren (und sind mehrheitlich weiterhin) der konservative deutsche Europaparlamentspräsident der Jahre 2007 bis 2009,
Hans-Gert Pöttering, und sein bis Januar 2012 amtierender Nachfolger, der aus der
Solidarność-Bewegung kommende polnische Liberale Jerzy Buzek. Dieser war es
auch, der 2009 in einer Veranstaltung des Parlaments zum 70. Jahrestag des Hitler-Stalin-Pakts die ostmitteleuropäische Interpretation der Geschichte Europas im
20. Jahrhundert in deutlichen Worten ins Gedächtnis rief:
Polen wurde zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion geteilt; Finnland verlor
10 % seines Territoriums und 12 % seiner Bevölkerung; Ost- und Nordrumänien sowie
die drei baltischen Staaten wurden direkt von der Sowjetunion annektiert. Von insgesamt
ca. 6 Millionen Esten, Litauern und Letten wurden schätzungsweise bis zu 700.000 Personen deportiert. In Polen wurden 1,5 Millionen Menschen deportiert; davon kamen 760.000,
darunter viele Kinder, ums Leben. Wenn wir uns diese Zahlen vergegenwärtigen, können
wir uns das ganze Ausmaß der tragischen Vergangenheit vorstellen. Jeder zehnte männliche
Erwachsene wurde verhaftet; viele von ihnen wurden im Zuge einer politischen Strategie
umgebracht, die auf die Vernichtung der einheimischen Eliten abzielte. (. . . ) Wir können
diese Opfer niemals vergessen, da sie uns eindringlich daran erinnern, wo wir herkommen,
und uns verdeutlichen, wie viel wir mittlerweile erreicht haben. 55
Und von 1939 ausgehend schlug er den Bogen über 2004 bis 2009:
53 Erklärung des Europäischen Parlaments zur Ausrufung des 23. August zum Europäischen Gedenktag
an die Opfer von Stalinismus und Nazismus. Zum Stellenwert des Pakts in den nationalen Erinnerungskulturen im Europa der Gegenwart vgl. Stefan Troebst, Dietmar Müller: Der Hitler-StalinPakt 1939 in der europäischen Geschichte und Erinnerung. Eine Einführung, in: Kaminsky, Müller,
Troebst (Hrsg.): Der Hitler-Stalin-Pakt 1939, 2011, S. 11–35; Dan Diner: Gegenläufige Gemeinsamkeiten. Der Pakt als Ereignis und Erinnerung, in: Ebd., S. 37–46; Ines Keske, Thomas Klemm,
Dietmar Müller: 1939 – Pakt über Europa. Der Hitler-Stalin-Pakt in der Geschichte und Erinnerungskultur Ostmitteleuropas, in: Ebd., S. 257–286.
54 Rat der Europäischen Union: Mitteilung an die Presse. 2950. Tagung des Rates. Allgemeine Angelegenheiten und Außenbeziehungen. Außenbeziehungen. Luxemburg, den 15. Juni 2009. 10938/09
(Presse 173), 17, URL: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/gena/
108878.pdf, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.
55 Der Präsident des Europäischen Parlaments: 70. Jahrestag des Molotow-Ribbentrop-Paktes. Brüssel,
14. Oktober 2009, URL: http://www.sitepres.europarl.europa.eu/president/en-de/press/speeches/sp2009/sp-2009 – October /speeches-2009 – October–5.html, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.
Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik?
335
[A]ls die neuen Mitgliedstaaten vor fünf Jahren beitraten, brachten wir unsere eigene Geschichte und unsere eigenen Geschichten mit; eine dieser tragischen Geschichten war der
‚Molotow-Ribbentrop-Pakt‘. (. . . ) Heute sind wir ein wiedervereinigter und zusammengehöriger Kontinent, weil wir unsere Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg und aus dem Pakt,
der ihn möglich gemacht hat, gezogen haben. 56
Genauso wichtig wie die ‚Architekten‘ (und die zahlreichen ‚Bauarbeiter‘) waren
aber auch die ‚Poliere‘ aus den jetzt zehn ostmittel- und südosteuropäischen Mitgliedstaaten stammenden Parlamentarier, hier vor allem die Abgeordneten Tunne
Kelam (Estland), Vytautas Landsbergis (Litauen), József Szájer (Ungarn) und Sandra
Kalniete (Lettland). Die fünfjährige Arbeit dieser ostmitteleuropäischen Lobbyisten
für eine neue Geschichtspolitik und ihrer west-, süd- und nordeuropäischen Verbündeten in Gestalt der Entschließung von 2009 hatte vor allem zwei konkrete Folgen.
Die eine war im Mai 2010 der Zusammenschluss von 35 Abgeordneten des EU-Parlaments zu einer informellen interfraktionellen Gruppe („Intergroup“) mit der Bezeichnung „Reconciliation of European Histories. For a better understanding of Europe’s
shared history“. Zu dieser zählen sachkundige und bedeutende Mitglieder wie der
niederländische Osteuropahistoriker Bastiaan Belder, die ungarische Minderheitenrechtsexpertin Kinga Gál oder der bereits genannte Pöttering sowie überwiegend
Parlamentarier, die sich seit 2004 auf dem Feld der Geschichtspolitik profilieren
und maßgeblich am Zustandekommen der programmatischen Dokumente zum Holodomor, zum 23. August, zu Srebrenica sowie zum „Gewissen Europas und zum
Totalitarismus“ beteiligt gewesen sind. 57 Vorsitzende der Gruppe ist die lettische Abgeordnete Sandra Kalniete, die in Deutschland bekannt wurde durch ihre Rede zur
Eröffnung der Leipziger Buchmesse 2004, in der sie Nationalsozialismus und Stalinismus als „gleichermaßen verbrecherisch“ bezeichnet hat, 58 und durch ihr Buch
über die eigene Familiengeschichte in der sowjetischen Verbannung. 59 Die frühere
Außenministerin und kurzzeitige EU-Kommissarin nannte als Impulse für die Gründung der Parlamentariergruppe „das mangelnde genuine öffentliche Interesse an einer Beschäftigung mit dem sowjetischen Totalitarismus“ in der „westlichen Linken“
56 Ebd.
57 Siehe dazu die Website der Gruppe Reconciliation of European Histories. For a better understanding
of Europe’s shared history, URL: http://eureconciliation.wordpress.com, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.
58 Sandra Kalniete: Altes Europa, neues Europa. Rede zur Eröffnung der Leipziger Buchmesse am
24. März 2004. URL: http://www.die-union.de/reden/altes_neues_europa.htm, letzter Zugriff:
05. 10. 2016. Zur Kontroverse zwischen Kalniete und dem Vizepräsident des Zentralrats der Juden
in Deutschland, Salomon Korn, vgl. Stefan Troebst: Von Nikita Chruščëv zu Sandra Kalniete. Der
lieu de mémoire „1956“ und Europas aktuelle Erinnerungskonflikte, in: Comparativ 16 (2006) 1,
S. 150–170.
59 Sandra Kalniete: Ar balles kurpēm Sibı̄rijas sniegos. Riga 2001 (Dt.: Mit Ballschuhen im sibirischen
Schnee. Die Geschichte meiner Familie, München 2005). Vgl. dazu: „Ich werde nie ein ganz freier
Mensch sein“. Sandra Kalniete über den GULag, das Elend ihrer Familie und die Gleichgültigkeit des
Westens, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 13. 11. 2005; Boris Barth: Staatlicher Terror,
kollektive Erinnerungs- und Geschichtspolitik – Sandra Kalnietes „Mit Ballschuhen im sibirischen
Schnee“, in: Neue Politische Literatur 52 (2007), S. 25–36.
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im Allgemeinen sowie die „Verweigerungshaltung“ der Sozialisten im EU-Parlament
im Besonderen. 60
Die andere konkrete Folge der Lobbyarbeit war eine deutlich stärkere Koordination aller geschichtspolitischen Aktivitäten der Union samt deren Bündelung,
wobei die Machtverhältnisse zwischen Parlament, Kommission und Rat sowie die
Beschränkungen des EU-Haushalts berücksichtigt werden mussten. Nachdem die
Kommission auf Drängen des Rates sowie unter dem Druck des Parlaments bereits
im November 2007 ein Seminar zur Frage „How to deal with the totalitarian memory of Europe: Victims and reconciliation“ durchgeführt hatte, gab sie 2009 eine
umfangreiche Untersuchung mit dem Titel „Study on how the memory of crimes
committed by totalitarian regimes in Europe is dealt with in the Member States“ in
Auftrag, die Anfang 2010 vorlag. 61 Sie bildete die Grundlage für den Kommissionsbericht „The memory of the crimes committed by totalitarian regimes in Europe“, der
im Dezember 2010 Parlament und Rat zugeleitet wurde. Darin listete die Kommission die Förderprogramme auf, über die Geld für Maßnahmen geschichtspolitischer
Art beantragt werden konnte, und verwies dabei vor allem auf das 2007 eingerichtete
Förderfeld „Aktive europäische Erinnerung“. Innerhalb dessen Rahmen, so die Kommission, könne auch die vom Parlament geforderte „Plattform für das Gedächtnis und
das Gewissen Europas“ finanziert werden. Konkrete Finanzzusagen enthielt der Bericht indes nicht. Immerhin stellte er für den Zeitraum 2014–2020 eine Fortführung
bei vergrößertem Finanzvolumen in Aussicht. 62 Davor umfasste diese Förderlinie
„lediglich vier bis fünf Prozent des Programmbudgets, im Jahr 2009 etwa 1,9 Millionen Euro“, also eine im EU-Rahmen erdnussartig kleine Summe. 63
Unter Bezug auf den genannten Kommissionsbericht von 2010 und die Parlamentsentschließung von 2009 zog der Rat 2011 eigene „Schlussfolgerungen zum
Gedenken an die Verbrechen totalitärer Regime in Europa“, 64 in denen er zwar
60 Kalniete: Europa muss sich über die Bewertung der Totalitarismen in seiner Geschichte des 20. Jahrhunderts verständigen, 2009, S. 363–366.
61 Carlos Closa Montero: Study on how the memory of crimes committed by totalitarian regimes in
Europe is dealt with in the Member States, Madrid, January 2010, URL: http://ec.europa.eu/justice/
doc_centre/rights/studies/docs/memory_of_crimes_en.pdf, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.
62 European Commission: Report from the Commission to the European Parliament and to the
Council: The memory of the crimes committed by totalitarian regimes in Europe (COM 2010,
783 final), Brussels, 22. 12. 2010, URL: http://ec.europa.eu/commission_2010 – 2014/reding /pdf /
com%282010%29_873_1_en_act_part1_v61.pdf, letzter Zugriff: 13. 7. 2014.
63 Christine Wingert-Beckmann: Die EU-Förderung „Aktive europäische Erinnerung“, in: Jahrbuch für
Kulturpolitik 9 (2009), S. 188 f. In der Tat wurde auf Intervention des für Kultur und Bildung zuständigen Parlamentsausschusses diese Haushaltslinie beträchtlich erhöht – auf 57 Mio. Euro –, und
dies mit der expliziten Begründung eines kausalen Zusammenhangs „zwischen Geschichtsbewusstsein und europäischer Identität“. Hier zit. nach Europäisches Parlament. Generaldirektion Interne
Politikbereiche, Europäisches historisches Gedächtnis, 2013, S. 17–19.
64 Council of the European Union: Council conclusions on the memory of the crimes committed by
totalitarian regimes in Europe. 3096th Justice and Home Affairs Council meeting, Luxembourg, 9
and 10 June 2011, URL: http://augusztus23.kormany.hu/council-conclusions-on-the-memory-ofthe-crimes-committed-by-totalitarian-regimes-in-europe, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.
Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik?
337
die geschichtspolitischen Forderungen des Parlaments im symbolischen Bereich –
23. August – akzeptierte, aber auf die institutionellen (und die damit verbundenen finanziellen) Konsequenzen mit dem Verweis auf bestehende EU-Fördermöglichkeiten
unverbindlich antwortete. Damit gaben sich Sandra Kalniete und ihre parlamentarischen Mitstreiter aber nicht zufrieden. Hartnäckig traten sie für eine neue EU-Geschichtspolitik ein, und dies mit Erfolg, wie die weiteren Entwicklungen des Jahres
2011 – das erstmalige Begehen des neuen EU-Gedenktags 23. August unter polnischer Ratspräsidentschaft in Warschau sowie die Gründung der „Plattform für das
Gedächtnis und das Gewissen Europas“ in Anwesenheit der Regierungschefs Polens,
der Tschechischen Republik und Ungarns am 14. Oktober in Prag – zeigten.
An den Feierlichkeiten am 23. August 2011 in Warschau nahmen neben dem amtierenden EU-Ratspräsidenten und polnischen Premierminister Donald Tusk EU-Parlamentspräsident Buzek und Justizkommissarin Vivian Reding als Vertreterin der
EU-Kommission sowie etliche Justizminister der Mitgliedstaaten und aus Kroatien
teil. Ein politisch bedeutsames Signal setzte die „Warschauer Erklärung aus Anlass
des Europäischen Gedenktags für die Opfer totalitärer Regime“, in welcher die Signatare, nämlich Buzek für das Parlament und die Vertreter der Justizministerien
von 15 EU-Staaten (neben ostmitteleuropäischen Vertretern waren auch solche aus
Frankreich, Griechenland, Italien, Portugal, Spanien und Schweden anwesend), eine
enge Verbindung zwischen der Erinnerung an die Opfer von Verbrechen in totalitären Vergangenheiten und der Notwendigkeit der justiziellen Aufarbeitung dieser
Gewaltakte postulierten. 65 Bei aller starken Rhetorik enthielt diese Erklärung keine
einzige Forderung oder Konkretisierung. Hatten 2011 Staaten wie Polen, Ungarn und
Kroatien den 23. August erstmals als offiziellen Feiertag begangen, ließ die Aufmerksamkeit bereits 2012 deutlich nach. Immerhin führte Slowenien damals den
Gedenktag neu ein.
Die genannte Verbindung zwischen Totalitarismuserinnerung und gerichtlicher
Aufarbeitung kennzeichnet auch die Programmatik und das Agieren der „Plattform
für das Gedächtnis und das Gewissen Europas“. Deren Gründung erfolgte nach mehrjähriger Lobbyarbeit nicht zuletzt deshalb in Prag, weil das Plattform-Sekretariat
dem staatlichen tschechischen Institut zum Studium totalitärer Regime (Ústav pro
studium totalitních režimů) angegliedert ist. Die Plattform, deren Finanzierung anschubweise aus Mitteln der Visegrád-Kooperation (V 4) der vier mitteleuropäischen
EU-Mitglieder Tschechische Republik, Slowakei, Ungarn und Polen erfolgt, hat derzeit 43 Mitgliedsorganisationen aus Ostmittel- und Südosteuropa sowie aus Deutschland. Ihr Präsident Göran Lindblad ist ein ehemaliger konservativer Abgeordneter im
schwedischen Reichstag. 66 Hauptziele der Plattform sind dem Übereinkommen der
Gründer zufolge:
65 Warsaw Declaration on the Occasion of the European Day of Remembrance for Victims of Totalitarian Regimes, 23rd of August 2011, URL: http://www.memoryandconscience.eu/wp-content/uploads/
2011/08/warsaw_declaration.pdf, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.
66 Vgl. die Website der Plattform: URL: http://www.memoryandconscience.eu, letzter Zugriff:
05. 10. 2016, deren Geschäftsführerin die tschechische Biologin Neela Winkelmann-Heyrovská ist.
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1) to increase public awareness about European history and the crimes committed by totalitarian regimes and to encourage a broad, European-wide discussion about the causes and
consequences of totalitarian rule, as well as about common European values, with the aim
of promoting dignity and human rights,
2) to help prevent intolerance, extremism, anti-democratic movements and the recurrence
of any totalitarian rule in the future,
3) to work toward creating a pan-European documentation centre /memorial for victims of
all totalitarian regimes, with the aim of commemorating the victims and raising awareness
of the crimes committed by those regimes. 67
Am 5. Juni 2012 organisierte die Plattform in Brüssel eine erste öffentliche Veranstaltung zum Thema „Legal Settlement of Communist Crimes“ mit Referenten
aus Ostmitteleuropa, Großbritannien, Dänemark, den Niederlanden, Österreich, der
Schweiz und Deutschland, an der Pöttering, Buzek, Kalniete, Lindblad und andere
teilnahmen. Anknüpfend an eine im Januar 2012 in Prag von 17 mittel- und osteuropäischen Opferverbänden veröffentlichte „Declaration 2012“, in welcher „a just
punishment of communist criminals and abolition of all benefits they still enjoy“
gefordert wurde, 68 formulierte Lindblad das Ziel der Konferenz wie folgt:
We have a large unresolved issue in the free and democratic Europe of today. There are
innumerable victims of Communist crimes and persecution living among us, brave people
who fought, resisted and dissented the dictatorship, most of whom have not seen appropriate moral restitution and rehabilitation in society, let alone economic compensation for
the suffering they had to endure. At the same time, the perpetrators are enjoying unbroken
careers and economic benefits based on their service and active support for the totalitarian
regime. We hope that the legal experts present will help us to understand whether it is possible to achieve justice and what kind of tribunal would be required. Can an existing court
be used, given additional jurisdiction, or is there a need for a new international court? 69
Mit anderen Worten: Die in der Plattform-Bezeichnung verwendete Formel „Gedächtnis und Gewissen Europas“ ist weniger in einem breiteren, erinnerungskulturellen Kontext zu sehen als vielmehr in einem engen strafrechtlichen. Wie die bisherigen Plattform-Aktivitäten gezeigt haben, ist deren Hauptanliegen eine gerechte
Strafe für kommunistische Staatsverbrechen. Ob sich die Initiative mit dieser thematischen Engführung einen Gefallen tut, muss dabei ebenso offen bleiben wie die
Erfolgschance der Forderung nach einem internationalen Strafgerichtshof für „kom67 Agreement establishing The Platform of European Memory and Conscience, Prague, 14 October 2011, S. 3, URL: https://www.bstu.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/Statut_Platform_of_
European_Memory_and_Conscience.pdf?__blob=publicationFile, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.
68 Declaration 2012, URL: http://www.ustrcr.cz/en/declaration-2012, letzter Zugriff: 05. 10. 2016. Vgl.
dazu auch den Band einer 2010 in Prag organisierten Tagung: Crimes of the Communist Regimes. International Conference. An Assessment by Historians and Legal Experts. Proceedings, Prague 2011.
69 Göran Lindblad: Greetings to the participants, in: International Conference „Legal Settlement of
Communist Crimes“. European Parliament, Brussels, 5 June 2012, Programme, S. 2, URL: http://
www.memoryandconscience.eu/wp-content/uploads/2012/05/PROGRAMME-BOOKLET1.pdf, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.
Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik?
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munistische Verbrechen“. Kalniete und ihre ostmitteleuropäischen Mitstreiter sind
damit im Begriff, in einen geschichtspolitischen Seitenpfad einzubiegen, der sich als
Sackgasse erwiesen könnte. So groß bei den Abgeordneten der Alt-EU-Staaten das
Verständnis für das Anliegen einer Kommunismusfolgen einschließenden EU-Erinnerungskultur ‚auf Augenhöhe‘ auch ist, so gering ist die Bereitschaft, sich für einen
neuen europäischen Gerichtshof zu verkämpfen.
In ihrer zitierten Analyse „The EU Politics of Remembrance“ hat Annabelle Littoz-Monnet die These aufgestellt, EU-Kommission und Europaparlament agierten als
Antagonisten in einem EU-internen geschichtspolitischen Wettbewerb, den sie „‚The
Holocaust as Unique‘ vs. ‚Hitler and Stalin as equally Evil‘“ nennt und in dem sie
das erstgenannte Lager (noch) im Vorteil sieht. Dafür kann sie mit gewichtigen Argumenten aufwarten: So gingen im Jahr 2009 75 Prozent aller Zuwendungen aus dem
Fonds „Aktive europäische Erinnerung“ der Kommission an Projekte, die sich auf
den Zweiten Weltkrieg bezogen und damit den Holocaust direkt oder indirekt thematisierten, desgleichen acht Prozent an Projekte, die sowohl Nationalsozialismus als
auch Kommunismus behandelten, und nur 17 Prozent an Vorhaben zu den Verbrechen des Stalinismus. Des Weiteren führt sie an, dass der genannte Rahmenbeschluss
des Rates vom 28. November 2008 zur strafrechtlichen Bekämpfung bestimmter
Formen und Ausdrucksweisen von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gegen Rassismus und Xenophobie kommunistische Massenverbrechen nicht – wie von Polen
und anderen gefordert – in die Definition von Verbrechen gegen die Menschlichkeit
einschließt. Darüber hinaus verweist sie auf die von der Kommission 2010 beschlossene Errichtung einer „European Holocaust Research Infrastructure (EHRI)“, welche
19 Institutionen in 13 EU-Staaten sowie in Israel umfasst. 70 Auch im zivilgesellschaftlichen Bereich sieht sie die Totalitarismus-Fraktion EU-weit im Hintertreffen:
Old EU states, the Left, and civil society organisations dealing with the memory of the
Holocaust have, so far, dominated the remembrance struggle. They could do so not only
because they were active and well-organised, but also because they benefited from the
presence of a powerful meta-narrative in Europe, which laid the emphasis on the role of
the Holocaust in the very definition of European identities, both at the domestic and at the
European level. 71
Ob diese Einschätzung vom Oktober 2011 auch weiterhin gültig ist, erscheint fraglich: Die besagte Plattform ist formell gegründet, sie hat ihre Tätigkeit aufgenommen,
verfolgt ein konkretes Ziel – die Einrichtung eines neuen Strafgerichtshofs – und
wird mit Unterstützung von EU-Parlamentariern und ihren Verbündeten in der Brüsseler Bürokratie versuchen, auf die einschlägigen EU-Förderprogramme, vor allem
auf dasjenige der „Aktiven europäischen Erinnerung“, zuzugreifen. Diesem Drängen wird sich die Kommission schon aus Paritätsgründen auf Dauer nicht verweigern können. Andererseits besitzt die Kommission fraglos den größeren Einfluss,
70 Littoz-Monnet: The EU Politics of Remembrance, 2011, S. 24–26. Vgl. auch die EHRI-Website
www.ehri-project.eu/, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.
71 Ebd., S. 27.
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um geschichtspolitische Initiativen umzusetzen. Dies geschieht bislang hinter den
Kulissen – durch Entscheidungen über Mittelvergabe und entsprechende Bewilligungen vor allem an Antragsteller, welche die Holocaust-Erinnerung pflegen und /oder
schwerpunktmäßig den Zweiten Weltkrieg thematisieren. Insofern handelt es sich
hier um einen ungleichen Kampf einer zwar sichtbaren, aber politisch wie institutionell schwachen Parlamentarierriege gegen weitgehend anonyme Interessengruppierungen von Bürokraten in den Generaldirektionen für Bildung und Kultur sowie für
Kommunikation der EU-Kommission. Allerdings hat das Parlament als Institution
seit 2007 ein Eisen im Feuer, mit dem es bei geschickter Handhabung der Kommission die Schau stehlen könnte. Gemeint ist natürlich das sowohl noch in Bau wie in
Konzipierung befindliche Haus der Europäischen Geschichte (House of European
History) in Brüssel. 72 Das als Testlauf hierzu geltende Parlamentarium im Untergeschoss des Parlamentsgebäudes in der Rue Wiertz gibt einen Vorgeschmack auf
Multimedialität und Interaktivität der geplanten Dauerausstellung, die wohl auch im
in Sichtweite gelegenen Museumsgebäude im Léopold-Park vorherrschen werden. 73
Schluss
Zwei Dinge gilt es festzuhalten: Zum einen sind landläufige, auch in Tageszeitungen
reproduzierte Ansichten wie diejenige, „europäische Erinnerungskultur und Erinnerungspolitik“ seien „kein Thema, für das sich die Fraktionen im Europäischen
Parlament oder in irgendeiner Abteilung der Europäischen Kommission wirklich zu
interessieren scheinen“, überholt. 74 Parlament, Kommission und Rat der EU haben
im Gegenteil Geschichtspolitik als Werkzeug für Identitätsmanagement nicht nur
erkannt, sondern bereits eingesetzt, und dies teils koordiniert, teils aber auch in Konkurrenz zueinander. Dass sie es zugleich für interne Statuskämpfe nutzen, liegt dabei
in der Natur der Sache.
Zum anderen aber sind das weitgehend folgenlose Proklamieren eines EU-weiten Gedenktags 23. August, die Gründung eines vollmundig mit „Plattform für das
Gedächtnis und das Gewissen Europas“ bezeichneten losen und unterfinanzierten
Zusammenschlusses etlicher nationaler Institutionen, die mit dem Archivgut der
72 Vgl. dazu Claus Leggewie: Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt, München 2011, S. 46–48, 72, 182–188, 216–219; Wolfram Kaiser, Stefan Krankenhagen,
Kerstin Poehls: Europa ausstellen. Das Museum als Praxisfeld der Europäisierung, Köln u. a. 2012,
S. 35–38, 58 f., 80–84, 147–151, 174; Stefan Troebst: Eckstein einer EU-Geschichtspolitik? Das Museumsprojekt „Haus der Europäischen Geschichte“ in Brüssel, in: Deutschland Archiv 45 (2012),
S. 746–752.
73 S. dazu die Website Parlamentarium. Das Besucherzentrum des Europäischen Parlaments, URL:
http://www.europarl.europa.eu/visiting/de/parlamentarium.html, letzter Zugriff: 05. 10. 2016; Matthias Krupa: Parlamentarium: Europa gucken. 3000 Quadratmeter und 21 Millionen Euro für die
schöne Seite der EU. Ein Besuch im Brüsseler Parlamentarium, in: Die Zeit, 18. 10. 2011.
74 Vera Lengsfeld: Last oder Chance? Die Aufarbeitung von Diktaturen und die Probleme des gemeinsamen Erinnerns, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. 5. 2012.
Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik?
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Repressionsapparate staatssozialistischer Regime befasst sind, ja selbst die holocaustgedenkaffine „Aktion 4: Aktive europäische Erinnerung“ des Kommissionsprogramms „Bürgerinnen und Bürger für Europa“ vergleichsweise bescheidene, da öffentlich kaum wahrgenommene, überdies ‚preiswerte‘ Unternehmungen. Das Erstellen einer überzeugenden Konzeption eines europäischen Geschichtsmuseums samt
didaktisch-professioneller Umsetzung hingegen, das als Portal im Wortsinne Besucher aus ganz Europa und dem Rest der Welt anziehen und beeindrucken sowie überdies gesamteuropäische, auf die EU zielende Identifikationswirkung erzielen soll, ist
unvergleichlich schwieriger. Insofern dürfte das Haus der Europäischen Geschichte,
dessen Eröffnung für Ende 2015 angekündigt ist, der Prüfstein für die ‚neue‘ EU-Geschichtspolitik werden. Seine Vor- und Entstehungsgeschichte bestätigt allerdings
gängige Vorwürfe an „Brüssel“ wie Demokratiedefizit und Intransparenz von Entscheidungen: Das der Dauerausstellung zugrunde liegende Konzeptionspapier „Aufbau eines Hauses der Europäischen Geschichte. Ein Projekt des Europäischen Parlaments“ war bis zu seiner Veröffentlichung im Sommer 2013 streng vertraulich 75
und entsprechend gab es weder im Parlament noch in der europäischen Öffentlichkeit
eine Diskussion darüber, was wie in dem neuen Museum gezeigt werden soll und was
seine Botschaft sein wird. All dies wird in der besagten Konzeptbroschüre unter dem
Rubrum „Das Zentrale Narrativ der Dauerausstellung“ als beschlossen und nicht verhandelbar vorgestellt, und zwar in Gestalt einer an Vico erinnernden Zyklenabfolge
von „Europa im Aufstieg“ über „Finsternis über Europa“ und „Das geteilte Haus“
zur „Überwindung der Grenzen“ und einem lichten „Ausblick“. Die Reaktionen auf
die für 2015 geplante Eröffnung des Brüsseler Hauses der Europäischen Geschichte
sind zwar nicht zu prognostizieren, doch allein die geheimniskrämerische Entstehungsgeschichte garantiert besonders kritische Begutachtung durch Bürger, Medien
und Politik.
Die geschichtspolitischen Debatten im Europäischen Parlament samt Entschließungen hingegen dürften auch weiterhin kaum mediales wie öffentliches Interesse
finden, was überdies für die von der Kommission mit bescheidenen Summen geförderten erinnerungskulturelle Projekte gilt. Und eine geschichtspolitische Großtat wie
die Proklamierung des 23. August zum Europäischen Gedenktag an die Opfer von
Stalinismus und Nazismus kann mit einiger Berechtigung als Misserfolg, bezeichnet
werden, waren doch nicht breite Zustimmung, sondern demonstratives Desinteresse
einerseits wie heftiger Streit andererseits die Folge. Gemeinschaftsbildung durch Geschichtspolitik sieht anders aus.
Bleibt die grundsätzliche Frage, ob Geschichtspolitik transnationaler Akteure
überhaupt Kollektividentitäten stiften kann, ob nicht ‚Geschichte‘ an das Kollektiv
75 Europäisches Parlament. Generaldirektion Kommunikation: Aufbau eines Hauses der Europäischen
Geschichte. Ein Projekt des Europäischen Parlaments, Brüssel 2013. Eine 2008 erarbeitete Vorläuferkonzeption war anfänglich gleichfalls vertraulich und wurde erst zwei Jahre später ins Netz gestellt.
Vgl. Sachverständigenausschuss des Hauses der Europäischen Geschichte: Konzeptionelle Grundlagen für ein Haus der Europäischen Geschichte, URL: http://www.europarl.europa.eu/meetdocs/
2004_2009/documents/dv/745/745721/745721_de.pdf, letzter Zugriff: 05. 10. 2016.
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