Psychologie aktuell: Der Griff nach dem Bewusstsein

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Psychologie aktuell: Der Griff nach dem Bewusstsein
12-05-11
Der Griff nach dem Bewusstsein
Lausanner Neurowissenschafter versprechen, das menschliche Gehirn innert zehn Jahren in
einem Supercomputer zu simulieren. Das Projekt stösst bei einigen Forschern auf Skepsis.
© Sebastian Kaulitzki Fotolia.com
Für Henry Markram ist keine Herausforderung zu gross. Er ist Professor für Neurobiologie an der ETH
Lausanne und will innerhalb von zehn Jahren das menschliche Gehirn mit einem Supercomputer
simulieren können. Damit sollen die Leistungen des Gehirns, aber auch seine Fehlfunktionen, die zu
psychischen oder neurodegenerativen Krankheiten führen, erklärt werden können; und Markram
schliesst nicht aus, dass eine solche Simulation Bewusstsein entwickeln könne. Man habe nun genug
Detailinformationen über das Gehirn gesammelt. Es sei an der Zeit, diese zusammenzubringen, sagt
er.
Computer ersetzt Experiment
Im Jahr 2005 hat Markram bereits einen Supercomputer angeschafft, um eine kleine Untereinheit der
Grosshirnrinde von jungen Ratten zu simulieren: die kortikale Säule. Das Vorhaben läuft unter dem
Namen Blue Brain Project. Mit dem Human Brain Project (HBP) geht Markram noch einen mächtigen
Schritt weiter. Er will, im übertragenen Sinn, nicht nur um die Erde fliegen, sondern bis zum Mond. Das
Ziel ist, eine technische Plattform aufzubauen, mit der Neurowissenschafter ihre Experimente virtuell
durchführen können, anstatt immer neue Hirnschnitte präparieren zu müssen.
Das Projekt wurde kürzlich als eines von sechs Kandidaten ausgewählt, die Chancen auf eine
Milliarde Euro Unterstützung durch die EU haben (siehe NZZ vom 5. 5. 11). Es erstaunt deshalb nicht,
dass Markrams Labor einem PR-Büro gleicht. Die Forschungsgruppe hat einen Pressesprecher, einen
Verantwortlichen für Wissenschaftskommunikation und mehrere Projektmanager. Ein Gespräch mit
Markram ist nur kurz zwischen Vorträgen und Abendessen möglich. Der Professor hat viel zu tun. Von
Postdocs durchs Labor geführt zu werden, sei nicht angebracht, da sie die Übersicht über das Projekt
nicht hätten, sagt er auf Anfrage.
Markrams Gruppe versucht, Teile des Gehirns möglichst detailgetreu im Computer abzubilden. Dabei
konzentriert sie sich auf die Grosshirnrinde, in der kognitive Prozesse und die Verarbeitung von
Sinnesinformationen ablaufen. Die Hirnrinde ist einige Millimeter dick und aus sechs übereinander
gelagerten Schichten aufgebaut, in der verschiedene Typen von Nervenzellen in unterschiedlicher
Dichte und Vernetzung angeordnet sind. Vertikal zu den Schichten geht man von einer säulenartigen
Struktur aus. In diesen Säulen sehen viele die Grundrecheneinheit des Gehirns, ähnlich wie ein
Mikrochip im Computer. Man nimmt an, dass diese Grundeinheiten bei allen Säugetieren sehr ähnlich
sind; und Markram geht davon aus, dass ihre Anzahl die Intelligenz einer Art massgeblich bestimmt.
Die Lausanner Forscher fingen damit an, die zellulären Details einer kortikalen Säule in einem Teil der
Hirnrinde von Ratten aufzuzeichnen, die Informationen des Tastsinns verarbeiten. In Hirnschnitten
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stimulierten sie mit einzelnen Elektroden Neuronen, während sie in benachbarten Nervenzellen mit
weiteren Elektroden massen, ob diese Zellen durch das stimulierte Neuron aktiviert wurden. Dadurch
erhielten sie Aufschluss über die Vernetzung der Nervenzellen. Nach der elektrischen Messung
spritzten sie einen Farbstoff in die Neuronen, um ihre Form und ihren Verlauf unter dem Mikroskop
verfolgen zu können. Die Forscher konnten aber nicht alle der ungefähr 10 000 Neuronen einer
kortikalen Säule auf diese Weise vermessen. Deshalb wurden die verschiedenen Typen im Modell
vielfach kopiert und nach statistischen Kriterien in den verschiedenen Schichten angeordnet. Die
zahlreichen Kontaktstellen zwischen den Neuronen (Synapsen) sind zu klein, um unter dem
Lichtmikroskop gesehen zu werden. Folglich mussten deren Position und Anzahl ebenfalls nach
statistischen Methoden berechnet werden.
In Computeranimationen, die Markram gern an Vorträgen zeigt, kann man nun die elektrische Aktivität
der Neuronen in dieser kortikalen Säule einer Ratte bestaunen. Wie in echten Hirnschnitten können
auch im Modell virtuelle Elektroden gesetzt und Messungen gemacht werden. Der Vorteil gegenüber
den Hirnschnitten ist, dass alle modellierten Neuronen gleichzeitig beobachtet werden können; der
Nachteil ist, dass es eben nur ein Modell ist.
Die Simulation läuft auf einem Supercomputer mit über 8000 Prozessoren etwa ein Prozessor pro
Neuron. Für das Human Brain Project soll nun ein grösserer Computer konstruiert werden, dies in
Zusammenarbeit mit den grossen Herstellern IBM, Intel und Cray. Eine Firma darf dann zwei Stück
davon liefern: einen Hauptcomputer, der im deutschen Jülich stehen soll, und einen
Entwicklungscomputer, der am Hochleistungsrechenzentrum in Manno bei Lugano stehen soll. Um die
grossen Datenmengen für die Simulierung des menschlichen Gehirns verarbeiten zu können, muss
der neue Supercomputer etwa tausendmal schneller als der schnellste von heute sein.
Im HBP möchte man schrittweise vorgehen und erst Hirnregionen, dann ganze Gehirne simulieren,
zuerst kleine Gehirne, dann grössere: von der Ratte zur Katze, zum Affen und schliesslich zum
Menschen. Gleichzeitig sollen die Details bis hin zur molekularen Ebene verfeinert werden. Zum
Beispiel sollen die Ionenkanäle in der Zellmembran, welche die elektrische Aktivität weiterleiten,
berücksichtigt werden. Die gesamte Erkenntnis von etwa zehn Millionen wissenschaftlichen Artikeln
der Neurobiologie soll laut Markram systematisch und automatisch analysiert und in das Modell
eingefügt werden. Auf Kritik an der Machbarkeit seines Mondflugs geht Markram nicht ein.
Keine Resultate publiziert
Wie viele Projekte mit hohen Zielen oder Visionen löst auch Markrams Vorhaben unter Kollegen
teilweise grosse Skepsis aus. Viele wollen sich aber nicht offen dazu äussern. Sie seien nicht auf dem
neusten Wissensstand bezüglich des Projekts oder fühlten sich nicht kompetent genug auf dem
Gebiet, lautet die Begründung. Rodney Douglas, Kevan Martin und Richard Hahnloser vom Institut für
Neuroinformatik der ETH und der Universität Zürich haben es dennoch gewagt. In einem Leserbrief an
den «Tages-Anzeiger» beklagten sie sich unter anderem über die Verschwendung öffentlicher Gelder.
Hahnloser sagte gegenüber der NZZ: «Es ist ungeheuerlich, für Projekte, die ins Blaue schiessen,
Hunderte von Millionen auszugeben.» Wie viel Geld die ETH Lausanne für das Blue Brain Project
zwischen 2005 und 2011 bezahlte, gab sie auf Anfrage nicht bekannt. Der Supercomputer allein
kostete zehn Millionen Franken.
Fragwürdig sei ausserdem, dass die Resultate nicht publiziert worden seien, bemängeln die drei
Zürcher Forscher. Das meiste, was sie über die Resultate erfahren hätten, stamme aus einem von
Markrams Vorträgen, die im Internet heruntergeladen werden können. Markram reagiert auf diesen
Vorwurf ungehalten, dies sei das offenste Projekt auf dem Planeten. Er habe die Zürcher etwa
sechsmal eingeladen, und sie seien nicht gekommen. Dies wird von den drei Forschern wiederum
bestritten.
Markram erklärt, er sei voll damit beschäftigt, die Plattform aufzubauen. Publizieren sei nicht seine
Priorität. Die grobe Methode habe er schon publiziert, und erste Resultate seien auf mehrere Artikel
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verteilt worden. Douglas, Martin und Hahnloser kritisieren jedoch, dass dies experimentelle Arbeiten
seien, die keine wissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Simulation enthielten. Martin findet schon
den theoretischen Ansatz des Projektes verfehlt, nach dem sich aus einer Simulation etwas völlig
Unerwartetes und zudem Verständliches herausbilden soll. Alles, was eine Simulation je generieren
oder erklären könne, sei Ausdruck der programmierten Regeln des Modells, sagt Martin. Der Output
müsse auf irgendeine Weise schon in der Logik des Systems enthalten sein, die der Programmierer
vorgebe. Deshalb könne ein Modell nichts erklären, was ausserhalb seines Rahmens liege.
Unterstützung trotz Kritik
Mit seiner virtuellen Plattform möchte Markram den Einfluss von Wirkstoffen auf geistige Krankheiten
wie Autismus testen und auf diese Weise Tierversuche vermeiden. Das klinge gut, sei aber extrem
fragwürdig, meint Klaus Pawelzik, Professor für theoretische Physik an der Universität Bremen. Man
müsse so viele Annahmen für Parameter am Modell machen, dass man nicht sicher sein könne, ob
ein beobachteter Effekt von dem virtuellen Wirkstoff komme oder durch eine der unzähligen
Annahmen verursacht worden sei.
Markram sieht sein Hirnmodell bestätigt, weil er dort Muster neuronaler Aktivitäten beobachten kann,
die auch im echten Gehirn typisch sind, zum Beispiel Gamma-Oszillationen. Das sind rhythmische
Aktivitäten in einer bestimmten Frequenz. Pawelzik erstaunt das nicht besonders. Ihm würden zwei
Neuronen reichen, um Gamma-Oszillationen zu generieren, wenn er die Parameter richtig gesetzt
habe.
Alexander Borst vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried hält die Versprechung, mit
Hilfe der Simulation Krankheiten verstehen zu können und Medikamentenforschung ohne
Tierversuche zu betreiben, auch für überzogen. Man wisse nicht einmal, ob die Verbindungen
zwischen Neuronen statistischer Natur seien oder ob es auf individuelle Verbindungen ankomme, sagt
Borst. Hingegen gesteht er Markram durchaus zu, durch sein Projekt schon heute viele nützliche
experimentelle Methoden entwickelt zu haben. Und trotz ihren Bedenken haben Pawelzik und Borst
gemeinsam mit anderen Forschern des Bernstein-Netzwerkes Computational Neuroscience Markram
in einem Brief ihre Unterstützung zugesagt. Auch wenn es zum Mond vielleicht nicht reichen wird, so
sind immerhin schon Satelliten in der Umlaufbahn.
www.nzz.ch/nachrichten/hintergrund/wissenschaft/der_griff_nach_dem_bewusstsein_1.10537455.html
Vogeley, K., Fuchs, T., Heinze, M. (Hrsg.): Psyche zwischen Natur und Kultur
Pabst, Lengerich/Berlin, 204 Seiten, ISBN 978-3-89967-519-1
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