Was ist „ADHS“? Dr. med. M. Berger Januar 2010 ADHS, die Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, scheint zu einem gravierenden Problem in verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft - Familie, Schule, Beruf - anzuwachsen. Viele Therapeuten verstehen ADHS schlicht als Folge eines „gestörten“ Stoffwechsels der Überträgerstoffe im Gehirn (Neurotransmitter). Sie leiten daraus die Notwenigkeit ab, mit Medikamenten zu behandeln, die in diesen Stoffwechsel eingreifen (z.B. Ritalin). Andere, sagen wir mehr ganzheitlich orientierte Fachleute, betrachten das Thema eher „multifaktoriell“. Sie möchten auch bei der Behandlung die verschiedenen Facetten des Problems berücksichtigen und sehen in der Anwendung von Psychopharmaka keine (langfristige) Lösung. Die unterschiedliche Betrachtung beginnt häufig bereits bei der Frage, wer hat eigentlich ADHS? Wann handelt es sich um eine „exzentrische“ Variante normalen Verhaltens - abweichend vom „mainstream“? Wann liegt tatsächlich eine gravierende Störung oder gar eine Krankheit vor? Dieser Artikel soll Ihnen einen Überblick über die verschiedenen Aspekte des Themas geben, damit Sie sich in der z.T. hitzigen Diskussion um die ADH-Störung eine eigene Meinung bilden können. 2 1. Was ist ADHS? ADHS gilt als eine Störung bei der laut, medizinischer Definition, verschiedene Veränderungen im Verhalten der Betroffenen bestehen: • eine Störung der Konzentration („AufmerksamkeitsDefizit“) • eine ausgeprägte (Bewegungs-) Unruhe („Hyperaktivität“) • große Schwierigkeiten, das eigene Verhalten angemessen zu steuern („verminderte Impulskontrolle“) Voraussetzung für die Diagnose ADHS ist, dass das gestörte Verhalten in unterschiedlichen Situationen und verschiedenen Lebensbereichen auftritt (Familie, Schule, Freizeit) und die Symptome bereits im Vorschulalter auffielen. Die Hoffnung, die „Krankheit werde sich auswachsen“, ist leider oft unzutreffend. Bei einem großen Teil (bis zu 50 %) der betroffenen Kinder und Jugendlichen bleibt die Störung, wenn auch in veränderter Form, bis ins Erwachsenenalter bestehen. Fast 2/3 aller Kinder und Jugendlichen mit ADHS leiden zusätzlich Depressionen, unter Ängsten, begleitenden Tic – („komorbiden“) Störungen und / oder Problemen, so wie genannten Teilleistungsstörungen (Lese-, Rechtschreibe-, Rechen - Störungen). Bei starker Ausprägung der Symptome fällt es meist nicht schwer, die Diagnose zu stellen. Bei milderen Erscheinungen besteht allerdings eine große „Grauzone“. Leider gibt es keinen einfachen, exakten, zuverlässigen Test auf ADHS. Ein zu hoher Blutzuckerspiegel, bei einem Zuckerkranken, kann sehr einfach durch eine Blutuntersuchung bestimmt werden. Die Diagnosestellung ADHS ist deutlich aufwendiger. Sie beruht auf verschiedenen diagnostischen Maßnahmen. Wenn Eltern für ihre Kinder eine Diagnosestellung anstreben, liegt häufig bereits ein Problem vor. Entweder ist der häusliche Frieden gestört oder die Eltern wurden z.B. von Erziehern oder Lehrern auf das Verhalten ihrer Kinder 3 angesprochen. In diesen Fällen besteht, unabhängig von der Frage ob eine echte ADH - Störung vorliegt, Handlungsbedarf! Immer dann, wenn es zu erheblichen negativen Folgen im familiären, sozialen, schulischen und/oder beruflichen Umfeld kommt, benötigen diese Kinder und Jugendlichen und meist auch ihre Eltern Unterstützung durch eine Beratung oder Behandlung - egal ob ADHS diagnostiziert werden kann oder nicht! 1.1. ADHS eine Stoffwechselstörung? Betrachtet man ADHS als eine Stoffwechselstörung auf dem Boden einer vererbten Veranlagung, dann können die Symptomen als Folge einer gestörten Reizweiterleitung im Gehirn erklärt werden. Im Netzwerk der Nervenzellen werden Nachrichten über „Botenstoffe“ weitergeleitet. Man kann sich die Verbindungsstellen zwischen den Nervenzellen wie eine Zugbrücke über einen Burggraben vorstellen. Ist die Brücke unten, können Kuriere passieren, ist sie oben, ist der Informationsstrom Nervenbotenstoffe oder blockiert. Neurotransmitter Diese Kuriere bezeichnet. Die werden Störung als des Gleichgewichtes der Neurotransmitter ist eine gängige Hypothese bei rein somatischer Betrachtung des Themas. 1.2. Psychologische Erklärung für ADHS Psychologische Modelle betonen die Bedeutung der Lebenssituation, die auf eine vorhandene Veranlagung, eine „seelische Empfänglichkeit“ einwirkt. Wenn es an der Fähigkeit mangelt, mit belastenden Lebensumständen umzugehen, kann sich bei entsprechender Veranlagung ADHS – Verhalten entwickeln. [weitere Informationen finden Sie in der langen Version des Artikels] 4 2. Diagnostik Wie bereits mehrfach erwähnt, ist der Übergang von „normal“ zu „krank“ gerade bei ADHS häufig nicht scharf zu bestimmen. Die Grenzlinie hängt stark von der Bewertung des Umfeldes (z.B. Familie, Schule) ab. Was ist gesellschaftlich akzeptiert? „Wiewohl es keine klare Grenzlinie zwischen Tag und Nacht gibt, würde dennoch niemand bestreiten, dass ein Unterschied besteht." Dieser Satz von E. Burke charakterisiert gut die Situation bei ADHS. Die Sicherung der Diagnose ist nicht einfach anhand eines klar krankhaften Untersuchungsbefundes möglich. Blut-, Röntgen- oder andere „technische“ Untersuchungen sind nicht entscheidend. In einigen Fällen ermöglichen diese Untersuchungen allerdings eine Abgrenzung von anderen Störungen (z.B. Schilddrüsenüberfunktion). Die Diagnostik auf ADHS kann verschiedene Maßnahmen umfassen: • Gespräche („Anamnese“) mit den Betroffenen und den Bezugspersonen • Fremdbeurteilung anhand von Fragebögen (z.B. Kindergarten, Schule) • „Psychologische Testungen“ mit standardisierten Verfahren • Körperliche Untersuchung - ggf. technische Untersuchungen (z.B. Blut, EEG) • Erfassen begleitender („komorbider“) Störungen [weitere Informationen finden Sie in der langen Version des Artikels] Bei der Bewertung ist immer die Auswirkungen des Verhaltens entscheidend: möglicherweise weist Jemand eine „kompensierte ADHS-Veranlagung“ auf, es besteht eine Tendenz zu ADHS-Verhalten - der Alltag (familiär, schulisch, beruflich) wird dennoch ausreichend gut bewältigt! Die Diagnostik muss also letztlich auch die Frage klären, ob eine Bandlung notwendig ist. Bedarf es einer Behandlung, sollte die Diagnostik auch bereits Hinweise für eine positive Unterstützung liefern: 5 wo liegen die Stärken des Betroffenen, die es zu fördern gilt, wo die positiven Ressourcen für die weitere Entwicklung? 3. Behandlung Je nach vorliegender Situation können verschiedene Behandlungsformen einzeln oder miteinander kombiniert durchgeführt werden. Entscheidend ist, dass die Behandlung auf jeden Betroffenen individuell zugeschnitten wird. Das Ziel einer Behandlung besteht immer darin, die Symptome nicht nur oberflächlich zurückzudrängen (wie mit Psychopharmaka). Eine ganzheitliche, umfassende Behandlung berücksichtigt möglichst viele Facetten des Problems. Es wird eine tief greifende und dauerhafte Stabilisierung des Verhaltens angestrebt. 3.1. Aufklärung Der Patient und / oder die Bezugspersonen werden zu „Experten im Umgang mit der (eigenen) Krankheit“. Mündige und gut informierte Betroffene sind besser in der Lage, die häufig bestehende Hilflosigkeit im Umgang mit der Erkrankung und den belastenden Folgen zu bewältigen. 3.2. Psychologische Unterstützung Es bestehen verschiedene Konzepte für eine psychologisch orientierte Unterstützung. Ja nach Art und Ausprägung der Symptomatik und den Möglichkeiten vor Ort können verschiedene Behandlungsformen zur Anwendung kommen: Problemlöse-Training, Selbstmanagement-Training, Lerntherapie u.a. Systemische Sozialeskompetenz-Training, Familientherapie, integrative 6 3.3. Elterntraining Das impulsive und unruhige Verhalten betroffener Kinder und Jugendlicher führt häufig zu einer Überbelastung der Eltern. Verunsicherung in Bezug auf die „richtige“ Erziehung, Überforderung und Hilflosigkeit sind oft die Folgen. Konflikte eskalieren und keiner findet einen Ausweg. Das Elterntraining unterstützt die Eltern, einen für die Familie passenden „Erziehungsstil“ zu finden. Es hilft Konflikte in der Familie zu entschärfen. Elterntrainings müssen nicht auf Eltern beschränkt sein. Jeder, der mit Kindern oder Jugendlichen zu tun hat (Lehrer, Erzieher, Sozialpädagogen, Verantwortliche in Selbsthilfegruppen u.a.), kann für seinen Bereich profitieren. [weitere Informationen finden Sie in der langen Version des Artikels] 3.4. Weitere Hilfsangebote Sofern notwendig können weitere unterstützende Maßnahmen sinnvoll sein, z.B. Ergotherapie, Logotherapie oder die Behandlung von Teileistungsstörungen (Lese-, Rechtschreib-, Rechenschwäche). 3.5. Ernährungsberatung Unsere Ernährungsgewohnheiten und der tägliche Speiseplan können bei ADHS eine Rolle spielen. Die Ernährungsweise ist nicht der eigentliche Auslöser für ADHS, es bestehen jedoch Hinweise darauf, dass die richtige Auswahl der Lebensmittel in manchen Fällen die Symptome beeinflussen kann. Der Hirnstoffwechsel (insbesondere bei Kindern) soll optimiert Konzentrationsleistung verbessert werden. [weitere Informationen finden Sie in der langen Version des Artikels] und die 7 3.6. Behandlung mit Psychopharmaka [eine ausführliche Darstellung dieser Wirkstoffe finden Sie in der langen Version des Artikels] Versteht man ADHS als vererbte Störung im Stoffwechsel der Nervenbotenstoffe, basiert die medikamentöse Behandlung mit Psychopharmaka im Kern darauf, das Ungleichgewicht der Nervenbotenstoffe zu normalisieren. In Deutschland wird überwiegend der Wirkstoff Methylphenidat (Ritalin®, Equasym®, Medikinet®, Concerta®) verordnet. Methylphenidat verändert insbesondere die verfügbare Dopaminmenge zwischen den Nervenzellen. Die Wirkung von Psychopharmaka ist rein „symptomatisch“. Einige Symptome können akut besser werden, die mittel - oder langfristige Dynamik der Erkrankung bleiben letztendlich unbeeinflusst. Betroffene können nach Entlastung durch Psychopharmaka sogar eher davon abgehalten werden, ihre Lebenssituation „aufzuarbeiten“. Eine Empfehlung, die suggeriert, die Anwendung dieser Wirkstoffe sei bei Lernproblemen angezeigt und aus einem „langsamen Lerner“ werde so ein Musterschüler, ist bedenklich. Die Verordnungshäufigkeit von Methylphenidat ist in den letzten Jahren stark gestiegen. In 5 Jahren, von 1995 bis 1999, stieg die Verschreibung um das 40 fache! Angesichts dieser unglaublichen Zunahme besteht der Verdacht einer häufig missbräuchlichen bzw. nicht angezeigten Verordnung und Einnahme dieser Wirkstoffe. Viele Stimmen fordern deshalb eine Beschränkung bzw. stärkere Kontrolle der Substanzen. Anwendung von Methylphenidat und ähnlicher 8 Zum September 2009 wurde die Anwendung von Medikamenten, die Methylphenidat enthalten (beispielsweise Ritalin®), eingeschränkt. Diese dürfen nur noch verordnet werden, wenn die Diagnose ADHS gesichert ist. Die Diagnosestellung darf sich dabei nicht nur auf die Anwesenheit einzelner Symptome stützen. Darüber hinaus müssen erfolglose Behandlungsversuche mit anderen Verfahren (z.B. Psychologische Unterstützung) vorangegangen sein und die medikamentöse Therapie soll im Rahmen einer therapeutischen Gesamtstrategie erfolgen! 3.7. Homöopathische Behandlung Die Homöopathie ist ein eigenständiges, klar strukturiertes Heilverfahren. Sie wurde von Dr. Samuel Hahnemann begründet (1755 - 1843). Die konventionelle medikamentöse Behandlung mit Psychopharmaka zielt auf eine Linderung von Krankheitssymptomen, letztlich ohne die Krankheit in ihrem Kern zu beeinflussen. Im Gegensatz hierzu versteht sich die Homöopathie als Regulationstherapie, körperliche und seelische Prozesse sollen nachhaltig harmonisiert werden. Eine dauerhafte Symptombehandlung ist dann nicht mehr oder nur noch in Krisensituationen notwendig. Darin liegt die große Chance der homöopathischen Behandlung. Studien zur Behandlung von ADHS durch Homöopathie bestätigen die positiven Erfahrungen mit dieser Behandlung. Die homöopathische Behandlung ist immer ein ganz individuelles Vorgehen („Konstitutionelle Homöopathie“). Für jeden Patienten wird die geeignete Verordnung während Fallaufnahme“) Symptome und Gewohnheiten, eines ausgewählt. persönlichen längeren Dabei Gespräches werden Eigenarten die des („homöopathische typischen Betroffenen individuellen erörtert, z.B. Vorlieben oder Abneigungen u.a. Auf diese Art und Weise entsteht ein Gesamtbild des kranken Menschen. Darauf aufbauend wird das homöopathische Arzneimittel verschrieben.