Risiken des Ausstiegs - SVP Wohlen

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Die Weltwoche Nr. 16, 20. April 2011, Anselmo Pedroni
Essay
Risiken des Ausstiegs
Ein Verzicht auf die Kernenergie macht die Welt nicht weniger radioaktiv. Wer die
Sicherheit erhöhen will, sollte die Kerntechnologie nicht stoppen, sondern weiterentwickeln. Neue Anlagen sind nicht nur sicherer, sondern auch effizienter
als die alten.
Von Anselmo Pedroni
Kettenreaktion: Naturreaktor in Afrika. Bild: Nagra
Es gibt kein Gestein, kein Gewässer und kein Lebewesen, das nicht radioaktiv strahlt. Es
gibt auch keinen Unterschied zwischen «künstlicher» und «natürlicher» Radioaktivität. Die
Erklärung dafür ist simpel: Fast die gesamte Materie des Planeten Erde ist vor Urzeiten durch
Kernreaktionen entstanden. So gesehen bestehen wir Menschen physisch aus «radioaktivem
Abfall» einer längst untergegangenen Sternengeneration.
Die Nuklearindustrie produziert kein einziges Atom, das es in der Natur nicht auch gibt.
Kernreaktionen, die im KKW stattfinden, kommen sogar in der freien Natur vor. So werden
zum Beispiel im Meerwasser gelöste Uranatome durch Neutronen der kosmischen Strahlung
gespalten. In Afrika gibt es sogar einen Ort (Oklo, Gabun), wo die natürliche
Die Weltwoche Nr. 16, 20. April 2011, Anselmo Pedroni
Urankonzentration im Gestein so hoch war, dass sie spontan eine Kettenreaktion zündete und
eine Art natürlicher Kernreaktor entstand.
Tatsache ist, dass hohe Strahlendosen krank machen und tödlich sein können – und dass
geringe Dosen, denen alle Lebewesen auf Erden schon immer ausgesetzt waren, völlig
harmlos sind. Unser Körper verfügt über die Fähigkeit, Strahlenschäden laufend zu
beseitigen. Grösste Sorgen bereitet die Tatsache, dass Strahlung Mutationen im Erbgut
verursachen kann, die wiederum zu Krebs und Erbkrankheiten führen können. Doch, was
bedeutet das? Was ist hoch – und was ist gering?
Vorweg zu den famosen «Erbgutmutationen». Eine 2009 in der Zeitschrift Nature publizierte Untersuchung zeigt, dass auch unter gesund lebenden Menschen jedes Baby mit 100
bis 200 neuen Erbgutmutationen zur Welt kommt. Im Laufe seines Lebens kommen bei fast
jeder Zelle seines Körpers noch zusätzliche Mutationen hinzu. Ohne derartige Mutationen
wäre die Evolution des Lebens gar nicht möglich. Die meisten Erbgutmutationen sind ohnehin
rezessiv, das heisst, sie entfalten erst dann ihre (möglicherweise krank machende) Wirkung,
wenn zwei mutierte Kopien desselben Gens von Vater und Mutter geerbt werden.
Dies erklärt möglicherweise, warum gemäss umfangreicher Erhebungen der WHO die
Zahl der Krebsfälle und Erbkrankheiten nach der Katastrophe von Tschernobyl sehr gering
ausfiel. Die Frage, ab welcher Strahlendosis Gefahr droht, bleibt bis heute spekulativ. Deshalb
orientierte man sich bei den gesetzlichen Grenzwerten an der natürlichen Strahlung. Das ist
sinnvoll. Man muss sich aber stets bewusst sein, dass eine Überschreitung der Grenzwerte
nicht per se eine Gefährdung darstellt. Tatsache ist nämlich, dass die friedliche Nutzung der
Kernenergie eine Strahlenbelastung verursacht, die bis zu 5000-mal geringer ist als der
natürliche Mittelwert.
So ist auch die Vorstellung, dass nach Abschalten von Kernkraftwerken die radioaktive
Belastung sinken würde, eine Illusion. Das Gegenteil wäre der Fall. Weil zunächst mehr
fossile Brennstoffe verfeuert werden müssten, würde die Belastung vielmehr steigen. Denn
auch Erdöl, Erdgas und insbesondere Kohle enthalten Radon, Uran und Thorium. Diese Stoffe
verteilen sich nach der Verbrennung über die Luft und belasten unsere Körper bereits heute
drei- bis fünfmal stärker mit Radioaktivität als die friedliche Nutzung der Kernenergie.
Wenig bekannt ist auch die Tatsache, dass beim Erzabbau immer radioaktive Stoffe
freigesetzt werden. Der grösste Uranproduzent der Welt zum Beispiel, die Olympic Dam
Die Weltwoche Nr. 16, 20. April 2011, Anselmo Pedroni
Mine in Australien, fördert in erster Linie Industriemetalle; der Kernbrennstoff fällt lediglich
als «Abfall» oder «Nebenprodukt» an.
Der umfassende Umbau der heutigen Energie-Infrastruktur in eine mit erneuerbaren
Energien wie Wind und Sonne würde gigantische Mengen industrieller und exotischer
Metalle benötigen. Dadurch würde das Problem langlebiger radioaktiver Abfälle zusätzlich
verschärft. Ein Beispiel: Die von Windrädern benötigten Permanentmagnete werden aus
Erzen gewonnen, die typischerweise einen hohen Anteil an Thorium und Uran enthalten.
Diese Stoffe müssen ungenutzt als «Abfall» aufwendig entsorgt werden.
Nach dem Ausstieg aus der Kernenergie bliebe die Endlagerung langlebiger radioaktiver
Stoffe die einzige mögliche Option. Diese Option ist zu Recht umstritten. Lokale Interessen
und Staatsgrenzen werden wohl dazu führen, dass nicht der beste Standort, sondern der des
geringsten politischen Widerstands gewählt werden wird. Noch bedenklicher ist, dass wir
damit mögliche Probleme für kommende Generationen schaffen. Es bestehen allerdings gute
Aussichten, dass sich das Problem der Endlagerung erübrigt, wenn wir es zulassen, dass die
Nuklearindustrie konsequent weiterentwickelt wird.
So wie Automotoren dank dem technologischen Fortschritt den Kraftstoff immer besser
nutzen und weniger Umweltgifte ausstossen, so werden auch Kernkraftwerke mit jeder
Generation effizienter. Die Wissenschaft arbeitet heute an Reaktoren, die langlebige
radioaktive Abfälle, welche heute noch entsorgt werden müssen, als Brennstoff verwenden.
Am Ende würde ein kurzlebiger radioaktiver Reststoff zurückbleiben, der etwa 300 Jahre
gelagert werden muss.
Jede Energie hat Nachteile. Das grösste Problem der heutigen Energiedebatte liegt aber
darin, dass die Gefahren der Kernenergie im selben Mass aufgebauscht werden, wie man ihre
Vorteile ausblendet. Bei den Alternativszenarien ist es aus politischem Opportunismus genau
umgekehrt: Das Potenzial wird mutwillig überschätzt, genauso mutwillig verdrängt man die
Risiken und Nachteile.
Anselmo Pedroni, 52, ist Physiker, Geo- und Kosmochemiker. Er arbeitete in Forschung und Lehre am SIN
(heute Paul-Scherrer-Institut), an der ETH in Zürich, am Max-Planck- Institut in Mainz sowie an der Freien
Universität in Berlin.
Erschienen in der Weltwoche Ausgabe 16/11
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