Prof. Dr. Dieter Görs - Universität Bremen

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Prof. Dr. Dieter Görs - Universität Bremen -
Vom Nutzen politischer Bildung
Vorbemerkung
Als Ergebnis der Lektüre mannigfaltiger Publikationen und politisch-aktueller Positionspapiere zum
Nutzen von Bildung bleibt auf die Frage nach dem Verständnis von Nutzen, Sinn und Ziel politischer
Bildung nur der »Augustinische Seufzer«:
»Wenn mich keiner fragte, weiß ich es; will ich es aber dem, der es mich fragt, erklären, so weiß ich es
nicht«.
Deshalb und weil ich Augustinus für viel klüger halte als die vielen Autoren, die über den Nutzen von
Bildung sich auslassen, kann und werde ich hier nur einige - mir diskussionswürdig erscheinende Aspekte zum »Nutzen von politischer Bildung«skizzieren.
Und zwar:
1. Einige Anmerkungen zum allgemeinen Verständnis von Weiterbildung
2. Offene, klärungsbedürftige Fragen zum Nutzen
3. Grundannahmen der Nützlichkeit
4. Aufgabenaspekte politischer Bildung
1. Einige Anmerkungen zum derzeitigen Weiterbildungsverständnis
Es gehört zu den - für mich - besonders auffallenden Widersprüchen und Merkwürdigkeiten der
gegenwärtigen bildungspolitischen Debatte, daß einerseits in diversen Positionspapieren von Parteien, Verbänden und in Regierungserklärungen die Notwendigkeit von Weiterbildung proklamiert
wird, um die gegenwärtigen und zukünftigen sozio-ökonomischen Herausforderungen bewältigen zu
können. Dabei wird aber Weiterbildung weitgehend nur noch als berufliche oder gar nur noch als
betriebliche Weiterbildung und als Instrument der Personalentwicklung identifiziert. Andererseits
wird z.B. im Zusammenhang mit der Deutung rechtsradikaler Aktivitäten oder der Interpretation von
Wahlergebnissen - von vielen politischen Repräsentanten - nach der politischen Bildung gerufen o-
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der ihr Versagen vorgeworfen. Aber sie erfährt in der politischen Praxis nur eine mangelhafte politische Förderung und Unterstützung durch Parteien, Parlamente etc. So spielt die politische Bildung
in den vorgelegten politischen Positionspapieren nur eine implizite, marginale oder eben gar keine
Rolle. Die Autoren des Zwischen- und des Abschlußberichtes der Enquéte-Kommission »Zukünftige
Bildungspolitik 2000« waren nicht in der Lage, in einem klaren thematischen Zusammenhang sich
zum Ziel und zur gesellschaftlichen Bedeutung von politischer Bildung zu äußern. Im »Bericht der
Bundesregierung zur politischen Bildung« (1991) werden zwar katalogartig Lernziele genannt, aber
die Notwendigkeit politischer Bildung wird weitgehend technologisch begründet. So heißt es dann
auch ziemlich lapidar: Sie »muß die Menschen befähigen, ... den angstfreien Umgang mit neuen
Technologien zu erlernen« (Bundestag 1991, S. 12). In der Regierungserklärung von Bundeskanzler
Schröder wird die Aufgabe politischer Bildung verschwiegen. Es wird aber betont:
»Wir wollen uns fit machen für die europäische Wissensgesellschaft. Darunter soll man sich nicht
eine Gesellschaft aus lauter Supergehirnen und Weißkitteln vorstellen. Wissensgesellschaft das
heißt: Qualifikationsgesellschaft ... Das ist der Grund, warum die Bundesregierung die Aufgabe einer Bildungs- und Qualifikationsoffensive rasch anpacken wird«.
Bildungs- bzw. Weiterbildungsoffensiven wurden im vergangenen Jahrzehnt immer wieder propagiert. Auch z.B. die Gewerkschaften haben diese Offensiven gewünscht, gefordert und unterstützt.
Offensive ist ein Begriff aus dem Militärischen.
Im Brockhaus (1894) heißt es sinngemäß: Eine Offensive ist ein Angriffsverfahren, mit dem Bestreben, den Zusammenstoß mit dem Gegner absichtlich herbeizuführen. Die Vorteile für den Angreifer
liegen darin, den Gegner durch Scheinbewegungen zu täuschen und die eigenen Krieger moralisch
zu beleben. Aber eine Offensive erfordert Opfer und muß im Gleichschritt der Bewegungen vollzogen werden, es muß mit der Entwicklung Schritt gehalten werden.
In der Weiterbildung, genauer in der politischen Bildung könnte oder müßte nun u.a. darüber reflektiert werden:
• Wer ist der Gegner der Offensive?
• Welche Funktion hat die Belebung des moralischen Elements durch eine Offensive?
• Wer sind die Opfer, und welche Scheinbewegungen täuschen die »Gegner«?
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• Wird der Gleichschritt der Bewegungen im Rahmen eines Bündnisses für Arbeit und Bildung abgestimmt?
»Wo Schritt gehalten wird« - so schreibt Karl-Heinz. A. Geißler - »geht es um Märsche - aber noch
kritischer ist, daß niemand sagt, wo die Schritte hingehen. Daß ‘Gleichschritt’ an sich ein Ziel sei,
sollte eigentlich durch die Erfahrung widerlegt sein«.
Trotz allem: Die aktuell dokumentierten politischen Überlegungen und das politische Interesse an
Weiterbildung scheinen sich primär nur an dem funktional Brauchbaren (Tietgens) zu orientieren.
Das liegt wohl daran, daß von den gesellschaftlich herrschenden Kräften auch von der überwiegenden Mehrheit der Akteure in der Weiterbildung die Kategorie »gesellschaftlicher Fortschritt« zuerst
mit der Vervollkommnung der wirtschaftlichen Entwicklung, des wirtschaftlichen Wachstums und der
Verbesserung technologischer Forschungsergebnisse gedacht wird. Zu den besonderen Merkwürdigkeiten gehört, daß ständig vom »Bedarf der Wirtschaft« ausgegangen und argumentiert wird. Der
Begriff »Wirtschaft« wird dabei als quasi neutraler Ausdruck genutzt, aber realiter wird er als Synonym für »Unternehmer« bzw. »Unternehmen« verwandt. Wer aber »Wirtschaft« sagt und Unternehmer meint, agiert auf der Ebene zur ideologischen Manipulation, um u.a. ökonomische Herrschaft etc. zu verschleiern. Denn zur »Wirtschaft« gehören im Prinzip alle Menschen - sei es als
Konsumenten, als abhängig Beschäftigte oder als Unternehmer.
Ein Aufgabenaspekt von politischer Bildung könnte nun darin gesehen werden, die ideologische
Wirksamkeit solcher Wörter/Begriffe und ihren gleichzeitigen scheinbar nicht ideologischen
Gebrauch durch adäquate Lernprozesse zu verdeutlichen. Das wäre ein Teilbeitrag zur Aufklärung,
zu realitätsbezogenem Denken und zur gesellschaftlich besseren Orientierung im Prozeß gesellschaftlichen Wandels.
Ich möchte daran erinnern, daß Fortschritt am Beginn der Volksbildung besonders auch um Siegeszug der Idee der Freiheit, der Gleichheit, der Aufklärung und der gesellschaftlichen Demokratie gebunden war. Diese Ideen scheinen nach und nach brüchiger geworden zu sein, wenn sich heute auf
Fortschritt nur noch Wirtschaftsstandort und Produktivitätszuwachs reimt. Geprägt durch ein solches
Denken, wird dann die Erwachsenenbildung zu einem Teil des Verdauungstrakts der Gesellschaft,
nicht aber zu ihrem Gehirn. Hier nun könnte ein weiterer Auftrag der politischen Bildung seinen Ansatzpunkt finden, um TeilnehmerInnen von den alltäglichen, vulgärökonomischen und subjektiven
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Befangenheiten zu lösen, damit Wirklichkeit als das begriffen werden kann, was sie ist und dabei die
Rationalität als primären und wesentlichen Erkenntniszugang fördert.
II
2. Offen und unklare Fragen zur Klärung des politischen, sozialen und/oder ökonomischen Nutzens
Die wechselseitige Beziehung von Nutzen und Bildung läßt sich nicht so erfassen oder bestimmen,
als handle es sich um einen direkten kausalen Bezug. Immer müssen soziale Vermittlungsprozesse,
nicht nur Lernprozesse, mitbeachtet, mitbedacht werden, und es muß gefragt bzw. geklärt werden,
als was der Faktor Nutzen verstanden werden soll und welches Ziel Bildung zu erreichen hat. Die
scheinbar schlichte Frage nach dem Nutzen der Weiterbildung, insbesondere nach dem der politischen Erwachsenenbildung wird oft, gern und schnell gestellt. Sie impliziert aber eine Reihe von
weiteren Detailfragen, die einer Klärung bedürfen, um Antworten zu ermöglichen. Zumal die Nutzenfrage in einer Phase der politischen Auseinandersetzung um den Bestand ökonomischer Ressourcen und um die Verteilung von Finanzierungsmitteln zu einem politischen »Megathema« umfunktioniert wird oder werden kann. Denn die in der politischen Debatte populistische Verwendung
von Slogans - wie etwa »Ausgaben für Bildung sind Investitionen in die Zukunft von Gesellschaft
und Wirtschaft« birgt die Gefahr in sich, die dahinter stehenden politisch-ökonomischen Interessen
und Intentionen zu verdecken und zu verschleiern, Weiterbildung zu instrumentalisieren im Interesse nicht genannter oder nicht offen ausgewiesener Ziele. Zumal bisher keine im Ansatz erkennbare
empirische Beweisführung des ökonomischen Nutzens, z.B. des Kampfbegriffs: »Durch Weiterbildung die internationale Konkurrenzfähigkeit stärken«, vorgelegt wurde. Eine schlüssige, gar eine
umfassende Beantwortung der Nutzenfrage erfordert die Klärung - in der politisch-wissenschaftlichen Diskussion wenig beachteter Fragen. So wäre u.a. zu klären: Wie wird von wem für wen warum Weiterbildung angeboten und durchgeführt? Welche Weiterbildung ist gemeint, die betrieblichunternehmerisch organisierte, die kommerziell oder die nicht profitorientiert ausgerichtete, die mit
öffentlichen/staatlichen Mitteln geförderte? Ist der Nutzen der Träger, Einrichtungen, die der Veranstalter (also der »Anbieter«), der Dozenten, der nebenberuflichen Mitarbeiter und/oder der Teilnehmer im Blickfeld der Betrachtungen? Spielt auch die Qualität der verschiedenen Weiterbildungsveranstaltungen eine Rolle bei der Nutzenbewertung? Sicher! Dann müßten u.a. auch die positiven und
negativen Nutzenenffekte der jeweils spezifischen Didaktik und Methodik sowie die der Lernmaterialien mitbedacht und die zeitliche Dauer von Lernprozessen mit beachtet werden. Welche Ziele wer-
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den offiziell ausgewiesen und angestrebt? Denn nur, wenn die Ziele klar formuliert und offen ausgewiesen sind, können über den Nutzen Aussagen ermöglicht werden. Die Frage nach dem Nutzen
von Weiterbildung und/oder einzelner Maßnahmen ist möglicherweise zugleich Teil einer politischwissenschaftlichen Hackordnung im Rahmen der Mittelverteilung. Bei der Nützlichkeitsbetrachtung
von Weiterbildung und einzelnen Maßnahmen gilt es schließlich auch zu bedenken, daß die Beziehung zwischen Weiterbildungskosten »heute« (z.B. im laufenden Geschäfts-/Haushalts-/Rechnungsjahr) und dem Nutzen»morgen«, also dem zukünftigen Nutzen von Weiterbildung, derzeit
nicht thematisiert, geschweige denn bilanziert wird oder werden kann. Ökonomisch gesehen ist
Weiterbildung ein »zeitbeanspruchender Produktionsvorgang«, bei dem das Verhältnis zwischen
heutigen Kosten und morgigem Nutzen entscheidend ist. D.h. Kosten und Nutzen beziehen sich auf
verschiedene Zeitpunkte bzw. Zeiträume, denn an den Kostenerhebungszeitpunkt (-raum) schließt
sich die »Verwertbarkeit« des Nutzens von Weiterbildung (oft noch) nicht bruchlos an. Der Nutzen
stellt sich erst später ein. Es wären daher auch der »Gegenwartsnutzen« und der »Zukunftsnutzen«
von Weiterbildung genauer zu erläutern und differenzierter als bisher zu verdeutlichen. Eine solide
Wirtschaftlichkeitsbetrachtung muß der Weiterbildung, insbesondere wenn sie zukunftsorientiert
konzipiert wird, nicht nur einen Gegenwarts-, sondern insbesondere auch einen Zukunftsnutzen im
Sinne einer erst zukünftigen Bedürfnisbefriedigung zuzurechnen, der sich möglicherweise über die
gesamte Lebensarbeitszeitdauer von abhängig Beschäftigten erstrecken kann.
III
3. Zur Grundannahme der Nützlichkeit Weiterbildung
Zunächst ist daran zu erinnern, daß seit der protestantischen Reformation in Europa die individuelle
Bildung und das Bildungsniveau der Bevölkerung in Verbindung mit wirtschaftlichem Reichtum und
Nutzen diskutiert wird. Nutzen wird dabei zunächst quasi als ein Zentral begriff der neuzeitlichen
Aufklärung und der klassischen (bürgerlichen) politischen Ökonomie am Ende des 18. Jahrhunderts
intensiv thematisiert. In diesem Zusammenhang werden Nutzen, Nützlichkeit - zumindest ursprünglich - immer mit Relevanz, Sinn bzw. mit der Sinnfrage verstanden. »Nutzen ist ein Beziehungsbegriff, in dem ein positiv-produktives Verhältnis von etwas zu etwas artikuliert wird« (Lexikon der Aufklärung, S. 291).
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So hat z.B. Adam Smith (1776) im ausgehenden 18. Jahrhundert auf die ö k o n o m i s c h e Bedeutung von erworbenen Kenntnissen und Fertigkeiten für den einzelnen Menschen und die gesamte Gesellschaft verwiesen (vgl. Smith 1978, S. 232). Er favorisierte aus ökonomischen Gründen
den fachlich qualifizierten Menschen, »... der mit großem Aufwand an Mühe und Zeit für eine Beschäftigung ausgebildet wurde« (ebenda, S. 87).
Was viele ökonomisch orientierte Nachfolger von Smith und insbesondere die gegenwärtigen Adepten der »freien Marktwirtschaft« mit ihren Forderungen nach Marktlogik, Effizienz, Kostenmanagement, Controlling, Profit-Center etc. nicht mehr im Blick haben ist, daß er aber auch ausdrücklich
für eine staatlich geförderte allgemeine Erziehung der Bevölkerung - im Sinne des heutigen Verständnisses - von einer »politischen Bildung« plädiert. Er schreibt:
»Selbst wenn der Staat als solcher keinen Vorteil von der Schulausbildung für Menschen aus den
niederen Schichten haben sollte, so müßte er dennoch daran interessiert sein, daß sie nicht Analphabeten bleiben. Tatsächlich aber zieht er nicht unbeträchtlichen Nutzen daraus. Denn je gebildeter die Bürger sind, desto weniger sind sie Täuschen, Schwärmereien und Aberglauben ausgesetzt,
die in rückständigen Ländern häufig zu den schrecklichsten Wirren führen ...« (Smith 1978, S. 667,
vgl. auch S. 676).
Im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Nutzen der Erziehung und den gesellschaftlichen
Kosten vermerkt Smith (1776/1978) auch:
»Unsere Kaufleute und Unternehmer klagen zwar über die schlimmen Folgen höherer Löhne (und
Kosten), da sie zu einer Preissteigerung führen, wodurch ihr Absatz im In- und Ausland zurückgehe,
doch verlieren sie kein Wort über die schädlichen Auswirkungen ihrer hohen Gewinne. Sie schweigen einfach über die verwerflichen Folgen der eigenen Vorteile und klagen immer nur über die anderen Leute« (ebenda, S. 85).
Adam Smith, der prominenteste Vertreter der klassischen politischen Ökonomie hat, - wie auch
später andere Vertreter dieser »Schule«/»Denkrichtung« - im allgemeinen nicht nur den wirtschaftlichen Nutzen betont, sondern u.a. in seinem Werk »Theorie der ethischen Gefühle« (1759), den gesellschaftlichen Nutzen von Erziehung bzw. Bildung aufgezeigt. Indem hier »Nutzen« noch nicht - im
Gegensatz zur gegenwärtig vorherrschenden Ideologie der ökonomischen Neo-Klassik - im bloß uti-
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litär-wirtschaftlichen Sinne, sondern vielmehr gedacht wird als Maßstabsfunktion für Erziehung des
Menschen zum Menschen, könnte dieses Nutzenverständnis erneut entfaltet werden, unter Beachtung der aktuellen sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen. Es könnte als ein Element von gesellschaftlichem Nutzen der politischen Bildung produktiv thematisiert werden. Denn das gegenwärtig dominierende »neo-klassische Paradigma« kennt nur den »eindimensionalen« ökonomischen
Nutzen; Überlegungen zur »moralischen Ökonomie« bleiben ausgeklammert, »sind fremd«. Dem
derzeit vorherrschenden Paradigma der neo-klassischen Ökonomie, das in alle Poren der Bildungsund Gesellschaftspolitik eingedrungen ist, liegt die utilitaristische und rationalistische Vision des radikalen, egoistischen Individualismus zugrunde, ohne umfassendere sozio-kulturelle Einbindung. In
das neo-klassische Paradigma - so schreibt Etzioni (1994) - sind »soziale, politische und kulturelle
Faktoren (nicht) integriert ...« (S. 25), »die Rolle der Klasse, der Macht und der gesellschaftlichen
Strukturen (wird) ignoriert« (S. 34).
Trotz einer Vielzahl theoretischer Konstrukte - in der Vergangenheit und der Gegenwart - zur Erläuterung von objektivem und subjektivem Nutzen wird der Nutzenbegriff weder in der politischen Diskussion noch in der fachwissenschaftlichen Literatur und schon gar nicht in der betrieblichen Praxis
einheitlich und eindeutig gebraucht. Nutzen ist in der weiterbildungspolitischen Debatte ein politischer Kampfbegriff, er wurde zu einem politisch bekennenden Schlüsselbegriff degradiert, um den
Rahmen abzustecken, in dem argumentiert werden kann und soll. Anzumerken bleibt hier: Die Nutzendiskussion gibt Anlaß zu der sicher trivialen, aber nichtsdestoweniger wichtigen Feststellung:
Weiterbildungs p o l i t i k ist vor allem in erster Linie P o l i t i Köln. Denn bei weiterbildungspolitischen Fragen, Strategien und Konzepten geht es ebenso wie in anderen Politikfeldern um Fragen
der Macht, der Interessen und der Ziele verschiedener gesellschaftlicher Gruppen. Auch in der
Weiterbildungspolitik und -praxis geht es um politische Auseinandersetzungen, um Konflikte, um die
Konfrontation von Alternativen und um die Suche nach sozialen Kompromissen.
4. Aufgaben und Nutzenaspekte politischer Bildung
Ich möchte nun versuchen, einige Aspekte politischer Bildung und der zu vermittelnden bzw. zu
erwerbenden Kompetenzen zu skizzieren. Zunächst verweise ich darauf, aus meiner Sicht ist Bildung ein konstitutives Element von politischer Bildung. D.h. Bildung - politische Bildung besteht
nicht primär aus Anpassung oder/und aus der Aufnahme und Anhäufung von Informationen, Wis-
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sen, Kenntnissen und Fertigkeiten. Sie ist nicht identisch mit der Verkündigung von politischen Vorgängen, um Folgebereitschaft zu erzielen. Bildung bezieht sich in besonderer Form auf die rationale
und emotionale Verarbeitung und Verwertung von Wissen, Erkenntnissen und Erfahrungen im persönlichen und kollektiven Verhalten. »Bildung, konkret politische Bildung, hat in erster Linie etwas
mit gesellschaftlicher Orientierung zu tun« (Negt, 1970), S. 46), die zur Offenlegung, zur Enthüllung
der Voraussetzungen, Bedingungen und Erscheinungen konkreter gesellschaftlicher Formationen
und Strukturen beitragen muß. Diese Bildung bezieht sich auf die aktive Auseinandersetzung mit
der Umwelt - oder anders ausgedrückt - sie ermöglicht die aktive Auseinandersetzung mit dem sozialen Dasein -, das bedeutet dann u.a. »Aufklärung« und Loslösung von Unmündigkeit. Damit wird
das in Bildung intendierte Versprechen auf Freiheit und Selbstbestimmung deutlich. Politische Bildung ist aus dieser Überlegung heraus nicht als zweckfrei oder neutral zu verstehen. Sie ist - stets
auf bestimmte politisch-gesellschaftliche Ziele gerichtet. Ein Ziel ist - wie es z.B. heute vor 40 Jahren
Carlo Schmidt in einem Vortrag vor dem politischen Forum der staatsbürgerlichen Bildungsstelle des
Landes NRW formulierte: »Die Politik, den Staat vermenschlichen, an politisch-gesellschaftlichen
Entscheidungsprozessen mitzuwirken und damit einem Willen nur dann zu gehorchen, wenn dieser
Wille von ihm (dem Menschen) mitbestimmt werden konnte« (dtv 261, S. 55ff.).
So richtig und wichtig es sein kann, bisherige staatliche Förderungsregelungen zu überdenken und
es auch zweckmäßig sein kann, daß eine Stiftung in Gütersloh die Manuskriptentwürfe zum »Megathema Bildung« dem Bundespräsidialamt zur Verfügung stellt - um Power für Zukunftsinvestitionen zu begünstigen, so notwendig ist es aber gerade in der politischen Bildung, die bedingenden
Ursachen der möglichen Rückständigkeit von Bildung zu klären. Denn durch das Scheitern und den
abrupten Abbruch des »Wagnis Demokratie« und der Bildungsreform wurde der schon vor drei
Jahrzehnten sichtbar gewordene Modernisierungsrückstand verdrängt und nicht behoben. Wobei
auch der damalige Minister in Baden-Württemberg, Roman Herzog, am Scheitern von Bildungsreformbestrebungen nicht unbeteiligt gewesen ist. Verdrängung - auch die der fortschrittlichen bildungspolitischen Vorstellungen des Bildungsrates zur Integration von beruflicher und politischer Bildung - ist Ausdruck der »Realitätslosigkeit der Realpolitik« der Mitte (Negt/Kluge 1992, S. 153).
Durch Verdrängung werden geschichtliche Lernprozesse sowie Aufklärung der Menschen verhindert, historisch bedingte Ursachen und deren Auswirkungen auf die Gegenwart nicht begriffen. Politische Bildung ohne Gedächtnis aber wäre Schulung, Training, Abrichtung oder bloße Anpassung
an den Strukturwandel und den »paßgenauen Bedarf der Wirtschaft«!
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Nun haben wir in Deutschland ein besonders interessantes, gutes historisches Beispiel für eine
nicht primär kapitalverwertend orientierte Bildungsreform: W. v. Humboldt sah im 18. Jahrhundert
keinen Sinn darin, z.B. den Militärhaushalt zu erhöhen, sondern die Volksbildung zu reformieren und
zu verbreitern, denn nicht die technischen, ökonomischen Fächer stellte er in den Mittelpunkt, sondern die Philosophie wurde in das Zentrum der Berliner Universitätsgründung gerückt. Daraus ist
abzuleiten, daß gerade in einer Krisensituation verbunden mit gesellschaftlichen Umbrüchen, die
politische und geisteswissenschaftliche Bildung nicht zu verengen, sondern zu erweitern wäre. Denn
in Krisensituationen nimmt der Deutungs-, der Erklärungsbedarf einer Gesellschaft zu, um Orientierungsschwierigkeiten zu überwinden. Daraus leite ich ab, daß ein aktuelles, aber zugleich auch ein
grundsätzliches Bildungselement auf den Erwerb von Orientierungskompetenz ausgerichtet sein
sollte. »Eine Kompetenz, um Beziehungen zwischen den Dingen und Verhältnissen herzustellen,
um orientierende Zusammenhänge zu stiften« (vgl. Negt 1989, S. 263).
Diese Orientierungskompetenz korrespondiert mit weiteren Elementen von politischer Bildung: u.a.
mit einer
- historischen Kompetenz der - technologisch-ökonomischen Kompetenz
Politische Bildung ist konfrontiert mit immer neuen Begrifflichkeiten, wie z.B. »Mediengesellschaft«,
»Hightech-Gesellschaft«, »Just in time-Weiterbildung« oder »Lernende Organisation«, mittels derer
versucht wird, etwas zu beschreiben, aber nicht zu analysieren. Diese schlagwortartigen gesellschaftlichen Kennzeichnungen lenken allerdings vielfach davon ab, daß es noch alte ungelöste
Herausforderungen und Probleme gibt. Sie vernachlässigen z.B. die Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche, die Wirtschaftsdemokratie, die sozialen Ungleichheiten und Benachteiligungen im Bildungssystem sowie die Probleme von sozialen, politischen und religiösen Minderheiten.
Solche modern und fortschrittlich anmutenden Globalkonzepte leben von den nicht gelösten gesellschaftlichen Problemen und den unvollendeten Reformen, also »von dem, was nicht durchgesetzt
wurde, was nicht ausgetragen werden konnte« (Negt 1989), S. 73). Eine historische Kompetenz
zielt darauf ab, das »soziale Gedächtnis«, die »Erinnerungsfähigkeit« (Negt) zu erhalten. Dem Gedächtnisverlust folgt die Unfähigkeit zur Zukunftsgestaltung, es fehlt die »Kraft zur Utopie« (Negt).
Denn utopisches Denken ist unlösbar verbunden mit Sozialkritik, mit der Kritik am Bestehenden und
dem Aufzeige, daß es zukünftig anders, besser sein kann. Politische Utopien der sich konstituierenden Arbeiterbewegungen im 19. Jahrhundert waren eine Antwort auf die sozialen, politischen Folgen der Kapitalentfaltung und des Industrialisierungsprozesses, u.a. verbunden mit der Hoffnung,
die »Herrschaft des Menschen über den Menschen« zu überwinden. Utopisches Denken in der Ar-
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beiterbewegung hat die gesellschaftliche, ökonomische Modernisierung nachhaltig geprägt und vorangetrieben. Wenn man nicht (mehr) utopisch denken kann, dann ist das Fortschrittsdenken behindert. »Die Zerstörung der Erinnerungsfähigkeit ist jedoch für jede Emanzipationsbewegung absolut
ruinös« (Negt 1989, S. 267). Da nun »soziales Gedächtnis und Utopiefähigkeit ... zwei Seiten derselben Sache sind«, (ebenda) ist der Erwerb von historischer Kompetenz ein unabdingbares Bildungselement für die abhängig Arbeitenden.
Historische Kompetenz ist die Fähigkeit und das Wissen, zu erkennen, daß Wirklichkeit veränderbar
und damit entwickelbar ist durch Menschen, die Subjekte sind und perspektivisch denken und handeln können. Eine Vervollständigung von politischer Weiterbildung wird sicher erst möglich durch
integrierte systematische Einbeziehung der Vermittlung von technologisch-ökonomischen Grundkenntnissen und durch die Entwicklung von sozialen, humanen Problemlösungsfähigkeiten, verbunden mit Formen des forschenden Lernens. Eine so verstandene Bildung könnte sich an den grundlegenden Überlegungen zur polytechnischen Bildung orientieren, die im 18. Jahrhundert auf der Höhe der europäischen Aufklärung thematisiert und ansatzweise in verschiedenen westeuropäischen
Ländern praktiziert wurde. Ich erinnere hier nur an die breiten naturwissenschaftlichen Diskussionen
in der frühen Arbeiterbewegung um »wie es hieß - »die Welt zu erkennen und zu verstehen«.
Eine technologisch-ökonomische Kompetenz zielt ab u.a. auf die Auseinandersetzung mit der populistischen Notwendigkeitsbehauptung, »Wirtschaft und Technik seien unser Schicksal«. Es geht
nicht um die bloße Vermittlung von technisch-ökonomischem Funktionswissen und nicht um die bloße Technik- und Ökonomiebetrachtung. Betrachtung allein bezieht sich quasi nur auf die »Oberfläche«, die Erscheinung und ermöglicht noch keine Transparenz. Das Ziel ist vielmehr, die Fähigkeit,
die Kompetenz zu entfalten, die bedingenden und bestimmenden Ursachen technischökonomischen Nutzens und Wandels zu begreifen. Das erfordert zunehmend analytisches Denken
und Abstraktionsfähigkeit sowie die Fähigkeit, in zeitlich langfristigen Perspektiven zu denken und
zu handeln.
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5. Zusammenfassende Schlußbemerkung
Die Vermittlung und der Erwerb der von mir hier knapp skizzierten und noch zu ergänzenden Kompetenzen erfordern zwangsläufig eine Integration von politischer und beruflicher Bildung. D.h. Weiterbildung hätte Lernprozesse zur »Entdeckung« grundsätzlicher sozio-ökonomisch-technischer Zusammenhänge zu ermöglichen. Die durch die Medien, durch die fachspezifische schulische und berufliche Bildung und durch die arbeitsteilig organisierte Produktion begünstigte Fragmentierung des
Wissens, der Erfahrungen und des Bewußtseins führen dazu, daß die konkrete soziale Realität, die
Totalität des gesellschaftlichen Daseins und die Gesamtbedingungen der Produktion und Reproduktion nicht mehr als Einheit erkannt und begriffen wird. »Die Zerstörung der zusammenhängenden (Gesellschafts-) und Weltauffassung ist zu einem wesentlichen Herrschaftsmittel geworden«
(Negt 1989, S. 263). Eine inhaltliche Trennung in allgemeine, berufliche und politische Weiterbildung
- so wie sie auch in Weiterbildungs- und Bildungsurlaubsgesetzen, Förderungsrichtlinien sowie im
AFG/SGB zum Ausdruck kommt, hat die isolierte Betrachtung sozialer Lebensbereiche zur Folge
und trennt willkürlich, was real verflochten ist und sich gegenseitig bedingt.
Die unterschiedliche, voneinander abweichende inhaltliche Umschreibung von politischer, beruflicher und allgemeiner Weiterbildung in den verschiedenen Gesetzen kann den Eindruck erwecken,
es gäbe für die abhängig Arbeitenden in ihrem sozialen Dasein mehrere nicht miteinander verbundene, gegeneinander abgegrenzte und isoliert nebeneinander bestehende gesellschaftliche Sphären. Eine solche bildungstheoretische und in der Weiterbildung praktizierte Sphärentheorie kann den
Eindruck erwecken, als wäre einerseits die politische Bildung wesensmäßig für die Vermittlung von
Kenntnissen zur Teilnahme am politisch-gesellschaftlichen Leben in Parteien, Organisationen usw.
sowie für die Übernahme von »staatsbürgerlichen Aufgaben« maßgebend und andererseits ganz
»natürlich« die berufliche Weiterbildung für den Erwerb von Fähigkeiten zur Ausübung beruflicher
Tätigkeit im Betrieb allein zuständig. Ganz so, als wären Betrieb und Arbeitsprozeß ein »politikfreier« oder politisch neutraler Raum, in denen nur fachliche Qualifikationen und berufliche Mobilität zur
Anwendung kommen oder kommen sollen. Ein solches Bildungsverständnis geht implizit davon aus,
daß die Hauptakteure der wirtschaftlichen Entwicklung die Unternehmen sind, die vom ökonomischen Rationalismus geprägt, gewinn- bzw. kapital- und zukunftsorientiert handeln bzw. handeln
lassen. Dieses Verständnis geht dann wie selbstverständlich davon aus, daß es eine ständige Weiter- und Höherentwicklung der industriellen Zivilisation gibt oder/und geben muß. Daher müssen - so
die zu kritisierende Auffassung - »die Menschen« - genauer: die Arbeitskräfte - auch ständig neu
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lernen, in immer größerem Umfang Produkte und Dienstleistungen neu zu erzeugen und zu
verbrauchen. Das wiederum erfordert, daß sich die Arbeitskräfte primär wachstumsinduzierte Qualifikationen aneignen müssen, damit die Entfaltung neuer Märkte möglich wird. Folglich wird Weiterbildung einem ökonomisch utilitaristischen Prinzip untergeordnet und als allgemeine »Zukunftsinvestition« in den »technisch-ökonomischen Fortschritt« proklamiert. In der Weiterbildungspolitik hat
sich dieses Verständnis als Fügung in das scheinbar Unabänderliche und als Akzeptanz der Selbstverständlichkeit von ökonomischer Expansion in einer »modernen Welt« niedergeschlagen. Es wird
nicht ausreichend reflektiert, - aber genau das wäre Aufgabe einer integrierten politisch-beruflichen
Weiterbildung -, zu reflektieren und aufzuzeigen, daß die ungebremste Dynamik der industriellen
Produktion und der marktvermittelten Warenproduktion in einer komplexen, hochentwickelten Gesellschaft für die Menschen und die Natur kontraproduktiv ist, ja, selbstzerstörerisch wirkt. Es sollte
aber nicht verdrängt werden, daß Bildung, Volksbildung, Lesegesellschaften und auch Teilbereiche
der Wissenschaften im Zusammenhang mit der europäischen Aufklärung mit zu den wichtigsten gesellschaftlichen Kräften gehörten, die herrschende Ideen und Politiken zu relativieren in der Lage
waren. Die zugleich auch Freiheitsräume durch beharrliches Zurückdrängen von Repression geschaffen haben.
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