Handout zum Seminar «Zur Arbeitsunfähigkeit verurteilt?

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SEMINARE
Zur Arbeitsunfähigkeit
verurteilt?
Die Weichen richtig stellen
Impressum
Wissenschaftliches Patronat
Prof. Dr. iur. Vincent Brulhart, Universität Lausanne
Dr. med. Beat Coradi, Zürich
Prof. Dr. med. Roger Darioli, CHUV, Lausanne
Prof. Dr. med. Niklaus Gyr, asim, Basel
Dr. med. Jörg Jeger, MEDAS, Luzern
Dr. med. Jürg Kesselring, Rehabilitationszentrum, Valens
Dr. med. Renato Marelli, Basel
Prof. Dr. iur. Erwin Murer, Universität Fribourg
Dr. med. Jean Perdrix, CHUV Lausanne
Redaktionelle Bearbeitung
Dr. med. Barbara Elke
Dr. med. Petra Genetzky
Herausgeber
Medical Tribune, Basel
Layout und Herstellung
Patrik Brunner (Leitung)
David Jentzen
Doris Tüscher
Druck
Dietschi AG, Olten
Mit freundlicher Unterstützung:
© swissprofessionalmedia AG, Medical Tribune, Basel (2007)
Einleitung
1.1. Definitionen
1.1.1. Arbeitsfähigkeit / Arbeitsunfähigkeit (AUF)
1.1.2. Definition Erwerbsunfähigkeit
1.1.3. Definition Invalidität
1.2. Bemessung des Invaliditätsgrades
1.3. Volkswirtschaftliche Bedeutung von Arbeitsunfällen
1.3.1. Arbeitsunfähigkeit
1.3.2. Invalidität
1.3.3. Zweite Säule
6
7
9
9
1.4.Wirtschaftliche Absicherung bei Arbeitsunfähigkeit und bei
dauernder Erwerbsunfähigkeit
1.5. Natürlicher und adäquater Kausalzusammenhang
1.6. Was ist neu an der 5. IV-Revision?
11
14
15
2. Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit
16
1.6.1. Früherfassung
1.6.2. Auskunftspflicht
2.1. Was ist Gesundheit ?
2.2. Unterschiedliche Krankheitsmodelle – Medizin und Recht
2.2.1. Medizinische Perspektive: bio-psycho-soziales Krankheitsbild
2.2.2. Juristische Perspektive
16
16
2.3. Gesichtspunkte zur AUF in der Arztpraxis
17
2.4. Faktoren für die Dauer von Arbeitsunfähigkeit
2.5. Das Dilemma des Hausarztes
20
20
2.6. Verhältnis zwischen Arzt und Patient.
21
2.3.1. Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit
2.3.2. Ausstellen von Arbeitszeugnissen in der Hausarztpraxis: Untersuchungen und Befragungen
2.5.1. Verhalten bei Patienten mit Anwalt
3. Frührehabilitation – oft vernachlässigt
25
4. Spezifische Krankheitsbilder
28
3.1. Auswirkungen der Arbeitsunfähigkeit
3.2. „Fear-Avoidance“-Teufelskreis
3.3. Der Hausarzt stellt die Weichen
4.1. Anhaltende somatoforme Schmerzstörungen
4.1.1.
4.1.2.
4.1.3.
4.1.4.
4.1.5.
Definition
Früherkennung
„Yellow flags“
Arbeitsunfähigkeit
Fibromyalgie
25
26
27
28
4.2. Low back pain
31
4.3. Kraniozervikales Beschleunigungstrauma
34
4.2.1. Guidelines Low back pain
4.2.2. Arbeitsunfähigkeit bei Rückenschmerzen
4.3.1.
4.3.2.
4.3.3.
4.3.4.
4.3.5.
Juristische Aspekte
Arbeitsfähigkeit
Prognose
Positive Motivation
Kosten in verschiedenen Ländern
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1.
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
Inhaltsverzeichnis
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
1. Einleitung
Die Ausgaben für Invalidität haben in den letzten Jahren massiv zugenommen. Unter dem wachsenden Kostendruck spürt der Hausarzt, dass seine
Entscheide immer kritischer hinterfragt werden.
Aber nicht nur aus ökonomischen Gründen, auch im Interesse des Patienten
sollte eine Invalidität vermieden werden. Diesem Ziel sollte gleichviel Beachtung geschenkt werden wie der Besserung der Symptome. Ob der Patient
schliesslich im Arbeitsprozess verbleiben kann, hat einen grossen Einfluss
auf sein psychisches und soziales Wohlbefinden. Besonders junge Menschen,
deren Anteil an den IV-Bezügern gestiegen ist, verlieren mit der Berentung
einen wichtigen Aspekt ihres Lebens.
Schon zu Beginn des Krankheitsprozesses sollte deshalb die Erhaltung der
Arbeitsfähigkeit ein wichtiges Therapieziel sein. Die Weichen dafür werden
früh gestellt. Je länger ein Patient arbeitsunfähig geschrieben wird und
seine Probleme nicht aktiv angegangen werden, desto schwieriger wird die
Rückkehr in die Arbeitswelt.
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Arbeit sollte nicht nur als schädigender Faktor angesehen werden, sondern
im Gegenteil als Teil der Therapie. In vielen Bereichen der Medizin sind die
Konzepte der Schonung und Bettruhe zugunsten der Frührehabilitation
verlassen worden. Patienten nach einem Herzinfarkt oder nach einer Hüftoder Knieprothesenoperation werden heute früh „belastet“.
Kaum ein Arzt ist sich bei der Verschreibung von Medikamenten nicht bewusst, dass Nebenwirkungen möglich sind. Diese sind auch auf Packungsprospekten sorgfältig aufgelistet. Zu selten wird bedacht, dass auch das
Arbeitsunfähigkeitszeugnis „Nebenwirkungen“ haben kann.
Um mehr Sicherheit in der Entscheidung über die Arbeitsunfähigkeit zu
erlangen, stehen in diesem Seminar folgende Aspekte im Vordergrund:
1. Unterschiedliche Krankheitsmodelle in Medizin und Recht
2. Gefahr der Medizinalisierung von sozialen Problemen
3. „Nebenwirkungen“ der Arbeitsunfähigkeit
4. Paradigmenwechsel Frührehabilitation
5. Umgang mit Patienten mit somatoformen Schmerzen, lumbalen Rückenschmerzen und nach HWS-Distorsionstrauma
1.1.1. Arbeitsfähigkeit / Arbeitsunfähigkeit (AUF)
Der Text des Allgemeinen Teils des Sozialversicherungsrechts (ATSG) ist im
Internet abrufbar.
Arbeitsunfähigkeit
„Arbeitsunfähigkeit ist die durch eine Beeinträchtigung der körperlichen,
geistigen oder psychischen Gesundheit bedingte, volle oder teilweise
Unfähigkeit, im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich zumutbare Arbeit
zu leisten. Bei langer Dauer wird auch die zumutbare Tätigkeit in einem
anderen Beruf oder Aufgabenbereich berücksichtigt.“
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
1.1. Definitionen
Juristische Definition
• Der Begriff der Arbeitsunfähigkeit im Sinne der Definition ist nur im Sozialversicherungsrecht anwendbar. Im Arbeitsrecht ist er aber teilweise
deckungsgleich.
• Es gibt auch Arbeitsunfähigkeitsbegriffe im privaten Taggeldversicherungsrecht. Sie können abweichen, weil sie vertraglich frei festgelegt
werden dürfen. Doch diese Begriffe scheinen sich in der Praxis jenen des
ATSG anzugleichen.
• Der in seinem Beruf Arbeitsunfähige ist nicht gezwungen, vorübergehend
eine andere Tätigkeit aufzunehmen. Anders als der Begriff der dauenden
Erwerbsunfähigkeit (d.h. Invalidität) bezieht sich hier die Unfähigkeit nur
auf die angestammte Berufstätigkeit. Erst wenn die Arbeitsunfähigkeit
lange dauert, wird auch die zumutbare Tätigkeit in einem anderen Beruf
oder Aufgabenbereich berücksichtigt.
• Die Arbeitsunfähigkeit ist also vorübergehender Natur. Vermag der Arbeitnehmer nicht mehr in den angestammten Beruf zurückzukehren,
sind Eingliederungsmassnahmen der IV zu ergreifen; vor allem ist eine
berufliche Umschulung zu prüfen. Erst wenn die Eingliederungsmassnahmen nicht zum Ziel führen, ist der Rentenanspruch zu prüfen.
• Der Begriff der Arbeitsunfähigkeit nach ATSG ist ein juristischer Begriff. Die
AUF darf nicht medizinisch-theoretisch festgelegt werden. Die Arbeitsunfähigkeit wird so bemessen, dass ein Vergleich angestellt wird zwischen
dem, was der Arbeitnehmer im gesunden Zustand in der Vergangenheit
http://www.admin.ch/ch/d/sr/8/830.1.de.pdf
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Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts. Art. 6
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
in seinem Beruf zu leisten vermochte und dem, was er nach Ausbruch der
Krankheit noch zu leisten vermag. Die Bemessung ist immer individuellkonkret, bei der Bemessung der Invalidität geht man ebenfalls individuell
konkret vor, jedoch ist die Invaliditätsbemessung selbst abstrakt und zukunftsorientiert.
1.1.2. Definition Erwerbsunfähigkeit
Erwerbsunfähigkeit
„Erwerbsunfähigkeit ist der durch Beeinträchtigung der körperlichen,
geistigen oder psychischen Gesundheit verursachte und nach zumutbarer
Behandlung und Eingliederung verbleibende ganze oder teilweise Verlust
der Erwerbsmöglichkeiten auf dem in Betracht kommenden ausgeglichenen
Arbeitsmarkt.“
Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts. Art. 7
1.1.3. Definition Invalidität
Invalidität
„Invalidität ist die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit
dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit.“
Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts. Art. 8, Abs. 1
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Invalidität bei Nichterwerbstätigen
„Volljährige, die vor der Beeinträchtigung ihrer körperlichen, geistigen
oder psychischen Gesundheit nicht erwerbstätig waren und denen eine
Erwerbstätigkeit nicht zugemutet werden kann, gelten als invalid,
wenn eine Unmöglichkeit vorliegt, sich im bisherigen Aufgabenbereich
zu betätigen.“
Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts. Art. 8, Abs. 1
Der Invaliditätsbegriff ist anwendbar in der IV, UV und der obligatorischen
beruflichen Vorsorge sowie der Militärversicherung. In der UV sind aber
als Ursachen nur Unfall und Berufskrankheit, nicht jedoch gewöhnliche
Krankheiten anerkannt.
Der Grad der Invalidität wird so bemessen, dass das Valideneinkommen
(Einkommen, das der Versicherte verdient hätte, wenn er nicht invalid geworden wäre) in Beziehung gesetzt wird zum Invalideneinkommen (Einkommen, das der Versicherte allenfalls in einer anderen Tätigkeit auf einem
ausgeglichenen Arbeitsmarkt trotz und mit seinem Gesundheitsschaden zu
verdienen in der Lage ist).
Beispiel
• Valideneinkommen: Ein Maurer könnte zum Zeitpunkt der Bemessung
im gesunden Zustand pro Monat 5000 CHF verdienen. (Das Einkommen
ist hypothetisch, weil der letzte, tatsächlich verdiente Lohn schon längere
Zeit zurückliegen kann).
• Invalideneinkommen nach Eingliederung: CHF 2'500 (hypothetisch, denn
man kann ihn nicht zwingen, tatsächlich zu arbeiten).
• Invaliditätsgrad somit 50%.
• Berechnung der IV-Rente: Die Höhe der Rente richtet sich nach Höhe und
Dauer der einbezahlten Beiträge.
Generell gilt der Grundsatz „Eingliederung vor Rente“ sowohl in der Invalidenversicherung als auch in der Unfall- und der Militärversicherung: Es
darf keine Rente beansprucht werden, bevor nicht versucht worden ist, die
versicherte Person wieder einzugliedern.
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
1.2. Bemessung des Invaliditätsgrades
IV-Grad
Rentenanspruch
Maximal
Minimal
Ab 70 %
Ganze Rente
CHF 2210.–
CHF 1105.–
60 – 69 %
Dreiviertel Rente
CHF 1658.–
CHF 829.–
50 – 59 %
Halbe Rente
CHF 1105.–
CHF 553.–
40 – 49 %
Viertel Rente
CHF 553.–
CHF 276.–
0 – 39%
keine Rente
Stand 2007
1.3. Volkswirtschaftliche Bedeutung von Arbeitsunfällen
1.3.1. Arbeitsunfähigkeit
Das jährliche Absenzvolumen der arbeitstätigen Bevölkerung der Schweiz
beträgt 265 Mio. Stunden (= ca. 70 Stunden pro vollzeitbeschäftigte Person), davon 3/4 wegen Krankheit und/oder Unfall. Dies entspricht 85‘000
Vollzeitstellen.
http://www.bbaktuell.ch/pdf/bba3902a.pdf Bundesamt für Statistik
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Höhe der Rente
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
10
1.3.2. Invalidität
Von 1997–2006 hat die Anzahl Bezüger von IV-Renten und Zusatzrenten
von 174’000 auf 256’000 Personen zugenommen. Hingegen ist die Zahl der
Neurenten seit 2003 rückläufig, doch die Gesamtzahl der IV-Rentenbezüger
steigt weiter an. Zugenommen hat insbesondere auch die Invalidität in der
Alterskategorie der 30- bis 44-Jährigen. Die regionalen Unterschiede in der
Schweiz sind enorm und bewegen sich zwischen 3,5 % der Bevölkerung in
Nidwalden und 8,7 % in Basel-Stadt.
Zugenommen hat auch der Prozentsatz der Renten, der aufgrund von psychischen Störungen zugesprochen wird. In dieser Diagnosegruppe sind die
jungen Rentner besonders häufig zu finden. Patienten, die aufgrund von
psychischen Leiden invalide geworden sind, lassen sich besonders schwer
wieder in den Arbeitsprozess eingliedern. Oft erfüllen sie die Anforderungen
eines modernen Arbeitsplatzes nicht.
Die Gesamtausgaben der IV betrugen 2005 fast 11,6 Mia. CHF, die Einnahmen
9,8 Mia CHF. Es resultierte ein Defizit von 1,7 Mia. CHF.
1.3.3. Zweite Säule
Die vermehrten Invalidenrenten belasten nicht nur die IV, sondern auch die
zweite Säule der beruflichen Vorsorge (BVG) und das UVG. Die beruflichen
NeurentenbezügerInnen 2005 in der Schweiz
nach Ursache und Alter
in ‰
10
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8
6
4
2
0
18/19 20-24 25-29
30-34 35-39 40-44 45-49
Geburtsgebrechen
Psychische Erkrankung
Knochen- und Bewegungsorgane
Nervensysteme
50-54 55-59 60-64
Tumore
Kreislaufsysteme
Andere Krankheiten
Unfälle
Grafik 6.3.3 der IV Statistik: www.bsv.admin.ch
1.4. Wirtschaftliche Absicherung bei Arbeitsunfähigkeit
und dauernder Erwerbsunfähigkeit
Geldleistungen in den Sozialversicherungen
in % Krankheit
100
Unfall
ev. Lohnfortzahlung
K
r
a
n
k
e
n
t
a
g
g
e
l
d
60
40
20
0
E
BVG
IV
1 J. 2 J.
11
Komplementärrente
BVG
AHV
L
o
h
n
UVGTaggeld
IV
UVG-IV
AHV
Soltermann, SVV, Vortrag asim 2006
Patientinnen und Patienten sind für den Fall einer vorübergehenden Arbeitsunfähigkeit oder aber dauernden Erwerbsunfähigkeit (Invalidität) sehr
unterschiedlich versichert. Die in Aussicht stehende Höhe der Sozialversicherungs- und anderer Leistungen vermag unter Umständen auch die Beziehung zwischen Arzt und Patient zu beeinflussen. Da die sozialen Unfallversicherungen meist sehr viel höhere Leistungen als die Krankenversicherung
ausschütten, kann ein Arbeitnehmer, der in der sozialen Unfallversicherung
obligatorisch versichert ist, ein (verständliches) Interesse daran haben, dass
seine gesundheitliche Beeinträchtigung als Unfallfolge anerkannt wird, beispielsweise als posttraumatische psychogene Störung und nicht als Krankheit
im Sinne einer „gewöhnlichen“ psychischen Störung. Denn wenn die Unfallversicherung für den vorübergehenden Arbeitsausfall zuständig ist, beträgt
der Anspruch auf Taggelder 80 % des letzten Monatsgehalts, während bei „gewöhnlicher Krankheit“ unter Umständen einzig ein Anspruch auf eine zeitlich
sehr beschränkte Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers besteht.
OR Art. 324a
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80
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
Vorsorgeeinrichtungen sind grundsätzlich an die Entscheide der IV gebunden. Um die stetig steigenden Invalidenrenten zu bezahlen, mussten die
Beiträge der Versicherten und der Arbeitgeber erhöht werden.
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
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Nicht alle Arbeitnehmer sind für Taggeld versichert. Ebenso sind nicht alle
Arbeitnehmer BVG-versichert. Da ein bestimmtes Jahreseinkommen erreicht
werden muss, sind vor allem Teilzeiterwerbstätige nicht versichert.
Im Falle einer Invalidität kann der Unterschied zwischen den Leistungen bei
Krankheit und bei Unfall noch sehr viel extremer ausfallen.
Kategorien Erwerbstätige – Nichterwerbstätige
• Bei Erwerbstätigen wird unterschieden zwischen unselbstständig oder
selbstständig Erwerbstätigen.
• Nichterwerbstätige: unmündige Kinder*, Pensionierte*, Hausfrauen und
Hausmänner. (*Kinder und Pensionierte können aber ebenfalls erwerbstätig sein. Sie werden arbeits- und sozialversicherungsrechtlich den Erwerbstätigen gleichgesetzt.)
• Bei teilzeiterwerbstätigen Hausfrauen und Hausmännern wird die Bemessung
der Invalidität nach der „gemischten Methode“ vorgenommen. Der Einkommensvergleich wird mit dem sogenannten „Betätigungsvergleich“ kombiniert.
Es wird also festgestellt, wie weit der Gesundheitsschaden zu Einschränkungen
in den Haushaltstätigkeiten wie Putzen und Waschen führt.
Nichterwerbstätige
• Vorübergehende Arbeitsunfähigkeit wegen Krankheit oder Unfall: keine
obligatorische Versicherung. Eine allfällige Ersatzperson im Haushalt
muss selbst finanziert werden.
• Freiwillige Taggeldversicherung bei Krankenkassen und Privatassekuranz
möglich.
• Bei dauernder Unfähigkeit im Aufgabenbereich, also Invalidität, sind
Nichterwerbstätige nur bei der IV versichert, d.h. sie können einzig eine
IV-Rente beanspruchen (zur Zeit pro Jahr maximal rund 26'000 CHF).
• Sehr selten wird eine freiwillige Versicherung abgeschlossen. Die obligatorische berufliche Vorsorge ist nur für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zugänglich.
Selbstständig Erwerbstätige
• Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit oder Unfall: nicht obligatorisch versichert. Meist ist aber eine freiwillige Taggeldversicherung abgeschlossen
worden. Selbstständig Erwerbstätige, die Arbeitgeber sind, können sich
freiwillig im Rahmen der sozialen Unfallversicherung versichern.
• Invalidität: Einzig im Rahmen der Invalidenversicherung und nicht auch der UV
oder beruflichen Vorsorge obligatorisch versichert. Selbstständig Erwerbstätige,
die Arbeitgeber sind, können sich freiwillig in der sozialen Unfallversicherung
und in der beruflichen Vorsorge versichern, wobei dann aber nur unfall- und
berufskrankheitsbedingte Invaliditäten versicherbar sind.
1.5. Natürlicher und adäquater Kausalzusammenhang
Der Kausalzusammenhang ist in allen Sozialversicherungszweigen bedeutsam, die Leistungen bei Gesundheitsschädigungen oder Tod entrichten.
Hauptsächlich stellt sich die Frage, ob ein Ereignis für einen Erfolg die
Ursache darstellt, ob also beispielsweise ein Unfall die Invalidität verur­
sacht hat oder ob in Wirklichkeit eine Krankheit dominiert. Bei der ersten
Variante leistet die UV, bei der zweiten nicht, es sei denn, die Krankheit
ist eine Berufskrankheit.
• Der natürliche Kausalzusammenhang bezieht sich auf das Verhältnis
von Ursache und Wirkung im naturwissenschaftlichen Sinne, geht aber
OR Art. 324a
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
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Unselbstständig Erwerbstätige
• Bei Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit (ausser Berufskrankheit): Es besteht nur ein gesetzlicher Anspruch auf Lohnfortzahlungspflicht gemäss
OR. Dieser ist zusätzlich zeitlich relativ eng beschränkt. Über 70 % aller
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind aber einer kollektiven Taggeldversicherung unterstellt, welche der Arbeitgeber abgeschlossen hat.
Diese Taggeldversicherungen zahlen maximal bis 720 Taggelder zu 80 %
des letzten Monatslohnes aus.
• Bei Unfall und Berufskrankheit ist ab dem dritten Tag ein Taggeld von
80 % des letzten Monatslohnes geschuldet, weil die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer obligatorisch UV-versichert sind. Dieses Taggeld wird
unter Umständen jahrelang ausgerichtet, bis es allenfalls zu einer Berentung kommt. Bei weniger als 8 Arbeitsstunden pro Woche sind aber nur
Berufsunfälle versichert.
• Invalidität durch Krankheit: Arbeitnehmer hat Anspruch auf eine Rente
der Invalidenversicherung sowie auf sogenannte Komplementärrente der
beruflichen Vorsorge, so dass er mit Hilfe beider Renten unter Umständen
bis 90% des letzten Jahreslohnes ersetzt erhält.
• Invalidität durch Unfall: Arbeitnehmer hat Anspruch auf eine Rente der
Invalidenversicherung plus Komplementärrente der Unfallversicherung,
so dass er sehr häufig mit Hilfe beider Renten 90% des letzten Jahreslohnen ersetzt erhält.
• Theoretisch besteht kein Unterschied zwischen den Komplementärrenten
der beruflichen Vorsorge und der Unfallversicherung. Beide decken die
Differenz zwischen dem Total der Invalidenrenten und 90% des letzten
Jahreslohnes ab. Praktisch aber deckt die Komplementärrente der UV
immer die Differenz zwischen der IV-Rente und 90% des letzten Jahreslohnes, die berufliche Vorsorge aber nicht.
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
14
darüber hinaus, da juristisch auch ein Unterlassen Ursache einer Wirkung
sein kann. Der natürliche Kausalzusammenhang ist meistens einfacher
festzulegen als der adäquate. Als ursächlich für ein bestimmtes Ereignis
gilt jede Bedingung, ohne die ein bestimmtes Resultat nicht oder nicht
zur gleichen Zeit eingetreten wäre.
• Ein Beispiel: Der Sturz vom Baum gilt als Ursache der Verletzung, unter der
Voraussetzung, dass wenn er nicht stattgefunden hätte, die Verletzung
nicht vorhanden wäre. Bei körperlichen Verletzungen genügt für die Zurechnung in den allermeisten Fällen das Vorliegen der bloss natürlichen
Kausalität.
• Der adäquate Kausalzusammenhang ist ein juristischer Begriff. Er dient
der Bewertung, ob und in welchem Umfang eine Haftung akzeptiert wird.
Die Ursachen gelten dann als rechtlich erheblich,
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„... wenn sie nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge
und der allgemeinen Erfahrung geeignet sind, den eingetretenen Erfolg zu bewirken ...“
Bei psychischen Störungen beziehungsweise psychogenen nach Unfällen
kommt die Rechtsanwendung nicht darum herum, den natürlichen Kausalzusammenhang immer auf seine Adäquanz beziehungsweise Angemessenheit zu überprüfen.
Das hat damit zu tun, dass psychische Störungen nicht objektivierbar sind
und deshalb - im Unterschied zu somatischen Leiden - allein mit Hilfe des
natürlichen Kausalzusammenhanges rechtlich nicht belegt werden können.
Die normalerweise durch den Arzt beurteilte natürliche Kausalität führt
in diesen Fällen somit nicht zum Ziel. Die Lösung besteht darin, dass die
medizinisch festgestellten Fakten einem Werturteil unterworfen werden:
Es wird nämlich geprüft, ob ein adäquater Kausalzusammenhang vorliegt,
ob es mit andern Worten nach Beurteilung der Gesamtheit der Umstände
„angemessen“ ist, die vorhandene Arbeits- oder Erwerbsunfähigkeit der
psychischen Störung zuzuschreiben oder nicht. Die Adäquanzbeurteilung
obliegt in der Regel dem Rechtsanwender. In den vorliegenden Fällen wird
aber stark auf die Vorgaben des Arztes abgestellt.
Das Bundesgesetz über die Invalidenversicherung ist im Internet abrufbar
(http://www.admin.ch/ch/d/sr/831_20/index.html). In diesem Abschnitt
sind Passagen, die neu definiert wurden, aufgeführt. Die Änderungen sind
kursiv.
1.6.1. Früherfassung
Zur Meldung, die nicht mit der formellen Anmeldung verwechselt werden
darf, sind neu auch berechtigt: Die behandelnden Ärzte und Chiropraktoren der versicherten Person. Diese müssen die versicherte Person vor der
Meldung darüber informieren.
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
1.6. Was ist neu an der 5. IV-Revision?
15
1.6.2. Auskunftspflicht
Verfahren vor erfolgter formeller Anmeldung bei der IV:
„Die IV-Stelle informiert die versicherte Person über Zweck und Umfang
der beabsichtigten Datenbearbeitung. Sie fordert die versicherte Person
auf, den Arbeitgeber, Leistungserbringer (hier auch Ärzte), Versicherungen
sowie Amtstellen generell zu ermächtigen, alle Auskünfte zu erteilen und
alle Unterlagen zur Verfügung zu stellen, die für die Abklärung im Rahmen
der Früherfassung erforderlich sind.
Verfahren nach erfolgter formeller Anmeldung bei der IV:
Sobald eine versicherte Person bei der IV einen Leistungsanspruch geltend
gemacht hat, ermächtigt sie die in der Anmeldung erwähnten Personen und
Stellen, aber auch Leistungserbringer (Ärzte), den Organen der Invalidenversicherung alle Auskünfte zu erteilen und alle Unterlagen zur Verfügung zu
stellen, die für die Abklärung von Leistungs- und Regressansprüchen erforderlich sind. Diese Personen und Stellen sind zur Auskunft verpflichtet.
Bundesgesetz über die Invalidenversicherung 831.20 Art. 3 b
(Art. 59 Abs. 2)
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Gibt die versicherte Person diese Ermächtigung nicht, so kann ein Arzt des regio­
nalen Ärztlichen Dienstes die erforderlichen Auskünfte bei den behandelnden
Ärzten der versicherten Person einholen. Diese sind von ihrer Schweigepflicht
entbunden. Der Arzt beurteilt, ob Massnahmen zur Frühintervention nach
Artikel 7d angezeigt sind und informiert die IV-Stelle, ohne die medizinischen
Auskünfte und die Unterlagen weiterzuleiten.“
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
16
2. Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit
2.1. Was ist Gesundheit?
Die WHO-Definition der Gesundheit definiert den „optimal möglichen Zustand“ als Norm. Bei strenger Auslegung müsste ein grosser Anteil aller
Menschen als krank bezeichnet werden. Die Definition nach Bircher hingegen definiert die Gesundheit als Einklang zwischen Anforderung und
Ressourcen. Mit diesem Modell lässt sich erklären, wieso sich auch ein älterer
Mensch mit Behinderungen gesund fühlen, während ein scheinbar gesunder
junger Mensch unter den Belastungen zusammenbrechen kann.
Definition Gesundheit
Gesundheit ist ein Zustand von vollständigem psychischem, geistigem
und sozialem Wohlbefinden und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit.1
Gesundheit ist ein dynamischer Zustand von Wohlbefinden, bestehend
aus einem bio-psycho-sozialen Potenzial, das genügt, um die alters- und
kulturspezifischen Ansprüche des Lebens in Eigenverantwortung zu befriedigen. Krankheit ist ein Zustand, bei dem das Potenzial diesen Ansprüchen
nicht genügt. (Bircher)2,3
1 WHO 1948
2 Bircher J, Med Health Care Phiols 2005; 8(3): 335-341
3 Bircher J, Wehkamp KH: Das ungenutzte Potenzial der Medizin.
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Verlag Rüffer und Rub, Zürich (2006)
2.2. Unterschiedliche Krankheitsmodelle – Medizin und Recht
2.2.1. Medizinische Perspektive: bio-psycho-soziales Krankheitsbild
Das bio-psycho-soziale Krankheitsmodell sieht sowohl biologische als auch
psycho-soziale Faktoren als Ursache für die Entstehung, respektive ungünstigen Entwicklung einer Krankheit. Das Krankheitsmodell ist somit umfassender, aber auch bis zu einem gewissen Grad subjektiv.
Psychische und soziale Faktoren spielen für die Arbeitsfähigkeit eine
­wesentliche Rolle. Sie können aber nicht somatisch-medizinisch angegangen, also „medizinalisiert“ werden, sondern erfordern gezielte soziale
­Interventionen.
Engel ca. 1970
2.2.2. Juristische Perspektive
Die Medizin ist auf den bio-psycho-sozialen Gesundheitsbegriff angewiesen.
Demgegenüber geht das Sozialversicherungsrecht vom blossen bio-psychischen
Krankheitsbegriff aus. Dies hat mit dem System der Sozialversicherung zu tun.
Im Falle von „sozialen“, d.h. nichtmedizinischen Faktoren, welche bei der versicherten Person zu einem Schwächezustand führen (beispielsweise zu Arbeitslosigkeit), ist weder die Kranken- noch die Unfall- oder die Militärversicherung
zuständig, sondern andere Sicherungssysteme, beispielsweise die Arbeitslosenversicherung oder als letztes Auffangnetz die öffentliche Sozialhilfe.
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
Der Arzt sollte mit dem Patienten nicht nur auf der biomedizinischen Achse
kommunizieren, sonst reden sie aneinander vorbei. Der Patient wird in seiner
Überzeugung bestärkt, dass seine Beschwerden eine (nicht diagnostizierte)
somatische Ursache haben. Auch immer neue Abklärungen und Therapien
werden dem Patienten nicht helfen, sondern seine Hilflosigkeit gegenüber
dem unerklärlichen Zustand fördern.
Erst wenn sich der Arzt auch der sozialen Faktoren bewusst ist, kann er eine
Beziehung zum Patienten aufbauen. Dabei muss er aber durchaus den Konflikt mit ihm aushalten und die Ressourcen des Patienten stärken.
17
Argumentation der Rechtsprechung
• Durch soziale Umstände bedingte krankhafte Störungen bessern sich
wieder, wenn die sozialen Stressoren wegfallen.
• Psycho-sozial bedingte krankhafte Störungen entsprechen deshalb nicht
der Definition des langdauernden Gesundheitsschadens.
• Deshalb benützt die Rechtsprechung weiterhin das bio-psychische
• Ausnahme: Wenn soziale Faktoren (z.B. Arbeitslosigkeit) eine Krankheit
verschulden, was aber nicht leichthin anzunehmen ist.
2.3. Gesichtspunkte zur AUF in der Arztpraxis
2.3.1. Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit
Viele Patienten, die mit einem Leiden die Praxis aufsuchen, zeigen eine
Kombination von somatischen Beschwerden und ungünstigen sozialen
Begleitfaktoren. Oft sind es nicht allein die biologisch-somatischen oder
psychiatrischen Befunde, sondern ein Ungleichgewicht zwischen den Anforderungen des Lebens und des persönlichen Potenzials, welches die Patienten
dekompensieren lässt.
Jeger J, Therapeutische Umschau 2007; 64(2007):415-423
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Krankheitsmodell und klammert soziale Faktoren aus.
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
18
In der Akutphase kann die Arbeitsunfähigkeit kurzfristig auch ohne den
Nachweis von objektivierbaren Befunden bescheinigt werden. Der Arzt kann
damit auch Leistungen der Versicherungen, wie Taggelder, auslösen.
Für die Bescheinigung einer länger dauernden Arbeitsunfähigkeit oder gar
Erwerbsunfähigkeit verlangt das Sozialversicherungsrecht, dass diese auf
einen objektivierbaren Gesundheitsschaden von erheblicher Schwere mit
schlechter Prognose abgestützt werden kann. Die angegebenen subjektiven Beschwerden müssen mit objektivierbaren Befunden untermauert
werden können. Soziale Gründe sind als krankmachende Faktoren bei der
Invalidenversicherung nicht versichert (Abgrenzung gegenüber der Arbeitslosenversicherung und der Sozialhilfe).
IV-fremde Faktoren: nicht IV-versichert
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• soziale Faktoren
• findet keine Stelle
• ist zu alt
• ist ungeschult oder gar Analphabet
• ist unzufrieden am Arbeitsplatz
• hat Schwierigkeiten mit dem Chef oder mit den Kollegen
• Doppelbelastung Haushalt / Erwerb
• reine Klagen über Symptome
Bei chronischen Beschwerden medizinisch unklarer Ätiologie werden oft
intensive Bemühungen unternommen, in der Hoffnung, eine konkrete somatische Ursache zu finden. Wiederholte radiologische, rheumatologische,
neurologische und psychiatrische Abklärungen werden angeordnet, die oft
ergebnislos verlaufen, bei den Betroffenen zu Frustrationen und leider auch
zu gehäuften Arztwechseln führen. In dieser verworrenen Situation werden
dann gehäuft Gutachten nötig, um über allfällige Leistungsansprüche entscheiden zu können. In der Schweiz beziffern sich die Gutachterkosten auf
rund 200 Mio. CHF pro Jahr.
Jede länger dauernde AUF, die vielleicht sogar in eine Rente mündet, hat
einmal ihren Anfang genommen. Eine lang dauernde, wiederholt verlängerte AUF ohne therapeutisches Konzept ist einer der Hauptrisikofaktoren
für diese verhängnisvolle Entwicklung. Zunehmend wird klar, dass eine AUF,
die als Entlastung für den Patienten gedacht war, für ihn zu einem Bumerang werden kann. Wie bei jeder therapeutischen Massnahme gilt auch für
Arbeitsunfähigkeitszeugnisse, dass der Nutzen gegen einen potenziellen
Schaden sorgfältig abgewogen werden muss. Oft ist lange nicht zu arbeiten
für die Gesamtsituation gefährlicher als zu arbeiten!
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
2.3.2. Ausstellen von Arbeitszeugnissen in der
Hausarztpraxis – Untersuchungen und Befragungen
• 9 % (bis 25 %) aller Konsultationen führen zu einem Arbeitsunfähigkeits­
attest. (Rund 10 % der Patienten der Policlinique CHUV).
• Die Initiative geht in über 90 % der Fälle vom Patienten aus.
• Nur 6 % der Patientenforderungen werden abgelehnt10.
• Atteste werden in 87 % der Fälle ausgestellt, auch wenn diese aus Sicht
des Arztes nicht indiziert sind.
• 6 % der Patienten lehnen ein Attest ab, wenn ein solches vom Arzt vorgeschlagen wird.
19
Referenz Darioli R.
10 Englund L, Scand J Prim Health Care; 2000; 18(2) 81–86
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Der Hausarzt hat die wichtige, aber sehr schwierige Aufgabe, ungünstige
Entwicklungen früh zu erkennen und frühzeitig entsprechende Massnahmen zur beruflichen Reintegration anzustreben. In der Praxis ist das Problem
sehr komplex. Verschiedene Parteien versuchen Druck auf den Arzt auszuüben: Der Patient, sein soziales Umfeld, der Arbeitgeber, der den Arbeitnehmer vielleicht gar nicht zurück will, und die Versicherungen. Auch kann
eine 50%ige Arbeitsfähigkeit in der täglichen Umsetzung am Arbeitsplatz
Schwierigkeiten generieren.
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
2.4. Faktoren für die Dauer von Arbeitsunfähigkeit
20
• Alter, Schmerzstärke, frühere Arbeitsunfähigkeit ( je länger die frühere
Episode, desto länger die aktuelle Arbeitsunfähigkeit).
• unsichere Arbeitsverhältnisse, betriebliche Umstrukturierungen.11
• Einschätzung des Arztes, dass ein „Risiko für lange Arbeitsunfähigkeit“
vorliegt (self-fulfilling prophecy).
• Die subjektive Einschätzung des Patienten ist viel wichtiger als objektive
Befunde.12
• Finanzielle Anreize durch Versicherungssysteme.13
Verbesserungspotenziale bei der AUF-Beurteilung:
• AUF-Zeugnis muss wie ein Medikamentenrezept betrachtet werden: Es
hat auch Nebenwirkungen.
• Der Verordnung muss ein klares Konzept zugrunde liegen.
• Keine AUF bis auf weiteres.
• Der Verlauf ist sorgfältig zu überwachen und die Verordnung nötigenfalls
anzupassen.
• Der Patient sollte den Kontakt zu seiner Arbeitsstelle nicht verlieren. Lieber möglichst lange Präsenzzeit am Arbeitsplatz mit geringerer Belas­
tungsintensität. Im Zweifelsfall zeitliche und leistungsmässige Belastbarkeit beschreiben.
Arbeitsfähigkeit – wichtige Faktoren
1. Physische und mentale Fähigkeiten
2. Adaptive Ressourcen
Medizinische
Komponente
Abklärung
medizinisch
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3. Wille/Motivation
4. Familiäre Situation
5. Sozio-kulturelle Situation
6. Alter/Berufsbildung
7. Rolle und Vorteile aus
Versicherungsleistungen
8. Zufriedenheit im Beruf
9. Perspektiven/Chancen im Arbeitsmarkt
10. Verständnis Arbeitgeber
11 Theorell T: Occup Environ Med. 2003 Sep;60(9):E9.
12 Fleten N BMC Public Health. 2004 Oct 12;4:46
13 Engström_2002
Abklärung
sozial
beruflich
In erster Linie ist der behandelnde Arzt seinem Patienten verpflichtet. Seine
Entscheidungen haben auch weitreichende finanzielle Konsequenzen. Die
Interessen des Patienten laufen oft den Interessen der Versicherung entgegen. So kann es schwierig werden, eine neutrale Stellung einzunehmen.
Falls der Hausarzt einen Interessenskonflikt spürt, sollte er die Sachlage von
einer neutralen Instanz prüfen lassen. Denn es ist nicht die Aufgabe des
behandelnden Arztes zu entscheiden, welche Kasse schliesslich gegenüber
dem Patienten zahlungspflichtig ist.
Gegenüber dem Patienten sollte man zum Ausdruck bringen, dass man
für die Betreuung weiterhin die Anlaufstelle bleibt, dass der betreuende
Arzt aber kein Versicherungsfachmann ist. Vorschlag einer möglichen Begründung: „Ich weiss nicht, wer für Ihre finanziellen Belange zuständig ist,
gerne lasse ich Sie von einem Versicherungsspezialsten beraten, bevor Sie
in Schwierigkeiten geraten.“
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
2.5. Das Dilemma des Hausarztes
21
2.5.1. Verhalten bei Patienten mit Anwalt
Folgende Aspekte sind zu berücksichtigen:
• Der Patient hat ein Anrecht auf Einsicht in seine Krankengeschichte, ausser den persönlichen Bemerkungen des Arztes, die zum Beispiel nur der
Erinnerung an bestimmte Gegebenheiten dienen.
• Handschriftliche Notizen müssen nicht transskribiert werden.
• Der Versicherte hat kein Anrecht darauf, dass sein Anwalt (oder sein behandelnder Arzt) bei einer allfälligen Begutachtung anwesend ist (es
gibt kein Anrecht auf Verbeiständung). Dazu besteht ein Entscheid des
Bundesgerichts14.
14 BGE Urteil I 650/05, 14.8.2006
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Laut der 5. IV-Revision ist der Arzt angehalten, Patienten mit einer drohenden
Chronifizierung ihres Leidens frühzeitig zu melden. Das Ziel ist primär eine
Rehabilitation und Wiedereingliederung. Spätestens nach vier bis sechs Wochen sollte er sich an den Vertrauensarzt wenden. Möglicherweise setzt die
Versicherung (Taggeldversicherung, SUVA) auch einen Case-Manager ein.
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
2.6. Verhältnis zwischen Arzt und Patient
22
Der Hausarzt ist häufig die erste Anlaufstelle des Patienten. Das Verhältnis
Arzt-Patient wird von der ersten Konsultation an geprägt. In der akuten
Phase ist es wichtig, dass somatische Leiden adäquat abgeklärt werden. Aber
auch der Gesprächsführung und damit der Gestaltung der Arzt-PatientenBeziehung ist von Anfang an Aufmerksamkeit zu schenken.
Wichtig ist, dass der Arzt dem Patienten zuhört. In einer ersten Phase sollte
er ihn nicht unterbrechen, sondern frei reden lassen. Er sollte nicht nur auf
„medizinisch wichtige Einzelheiten“ achten, sondern auch vermeintliche
Nebensächlichkeiten bemerken und dort auch nachhaken. Häufig verbergen
sich hinter solchen Aussagen tiefere Probleme. Hier nachzufragen, kann den
Weg zum Patienten öffnen.
Beispiel: „Die Schmerzen machen mich immer so nervös“. Fragt man hier
nach, kommt man eventuell beruflichen oder familiären Problemen auf
die Spur.
Das ärztliche Gespräch
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• unstrukturiertes Interview
• Zuhören
• „naives“ Nachfragen
• bestätigendes Rückmelden
• eigene Selektion vermeiden
• Zusammenfassen des Gesagten
• Spiegeln der Gefühle
Marelli R.
2. Funktionelle Beschwerden: Diese Patienten haben zwar auch somatische
Befunde, wie degenerative Veränderungen und reaktive Muskelverspannungen, psychische oder soziale Belastungen tragen aber dazu bei, dass
die Patienten den Schmerz intensiver erleben oder schlechter verarbeiten
können. Oft leiden sie zudem unter Ängsten. Im Gespräch muss nun der
Hausarzt die Probleme ansprechen und den Patienten beraten und führen, wie er mit den Schmerzen umgehen kann. Wichtig ist hier die Hilfe
zur Selbsthilfe statt die Hoffnung auf eine (Wunder-)Heilung.
3. Somatoforme Störungen im eigentlichen Sinn: Diese Patienten haben oft
akzentuierte Persönlichkeitszüge, sind z.B. besonders zwanghaft, übergewissenhaft oder auch histrionisch. Droht ein chronischer Verlauf, sollte der
Arzt den Patienten möglichst motivieren können, einem psychiatrischen
Konsilium zuzustimmen.
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
Grob lassen sich vier Patientengruppen unterscheiden:
1. Somatisches Problem. Diese Patienten bedürfen primär einer somatischen
Therapie. Aber auch sie können Schwierigkeiten im Umgang mit ihren
Schmerzen aufweisen.
23
4. Psychiatrische Leiden, die mit Schmerzen einhergehen können, wie gewisse Formen der Schizophrenie oder eine Depression. Diese Patienten
sollen einem Psychiater überwiesen werden.
Schmerz – Patientengruppen
Klare somatische Ursache
Primär medizinische Behandlung
Somatoforme Schmerzen i.e.S.
Patienten für psychiatrisches
Konsilium gewinnen
Psychiatrische Erkrankung
Beratung, Führung des Patienten
Überweisung an einen Psychiater
Marelli R. 20. Kolloquium auf dem See der Luzerner Höhenklinik Montana, 2007
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Funktionelle Schmerzen
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
24
Führung des Patienten mit funktionellen Schmerzen
Der Patient sollte erfahren:
• Der Patient hat nicht „nichts“, sondern Schmerzen, deren Ursachen gutartig sind.
• Der Verlauf kann wellenförmig sein. Schmerzen können immer wieder
auftreten.
• Soziale und familiäre Probleme können die Schmerzen verstärken. Die Erklärung, dass psychische Belastungen zu muskulären Verspannungen führen, die dann wiederum die Schmerzen verstärken, ist auch für ­Patienten
verständlich.
• Der Arzt sollte den eigenen Ärger und seine eigene Hilflosigkeit erkennen
und aushalten.
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Kontrolluntersuchungen
Die Kontrolluntersuchungen bei Schmerzpatienten sollten in regelmässigen Abständen erfolgen und von der aktuellen Schwere der Symptomatik
unabhängig sein. Damit soll vermieden werden, dass der Schmerz in der
Bedeutung verstärkt wird.
Die AUF sollte nur jeweils für eine kurze Zeitspanne ausgestellt und nur bei
Bedarf verlängert werden.
3.1. Auswirkungen der Arbeitsunfähigkeit
Neue Rehabilitationskonzepte: Rehabilitation, Wiederangewöhnen
Lange galt „Schonung“ als heilsam. Patienten nach einem Herzinfarkt verbrachten Tage im Bett und Wochen im Spital, ebenso Patienten nach Prothesenoperationen. Heute verlässt ein Patient nach einem Herzinfarkt bereits
nach etwas mehr als einer Woche das Spital. Patienten nach einer Hüftgelenksimplantation dürfen sogar sofort auf dem operierten Bein stehen.
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
3. Frührehabilitation –
oft vernachlässigt
25
Wenn Patienten grosszügig krank geschrieben werden – als kurzfristige
Entlastung gedacht – kann sich dies langfristig für den Patienten schädlich
auswirken. Wird nach lang dauernder Arbeitsunfähigkeit, die unter Umständen in einen Stellenverlust mündet, das Rentenbegehren des Patienten
schliesslich abgelehnt, kann der Patient in Schwierigkeiten geraten.
Bei Arbeitsunfähigkeit erfolgt aufgrund des Schonverhaltens des Patienten
relativ früh eine physische und psychische Dekonditionierung. Der muskuläre Zustand verschlechtert sich. Nach einigen Wochen Arbeitsunfähigkeit
ohne festen Tagesrhythmus können schon geringe Anforderungen Probleme
bereiten.
„Arbeiten ist gefährlich“
„Nichtarbeiten ist gefährlicher“
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Paradigmenwechsel !
�
�
Vermeidungsverhalten
Genesung
�
Schmerzen
Schmerzen, Angst
vor Bewegung,
erneute Verletzung
�
Verletzung
�
�
Katastrophisierung
Konfrontation
�
�
26
• Nichtgebrauch
• Depression
• Behinderung
�
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
Fear – Avoidance – Teufelskreis
Keine Angst
Gordon Waddell: The Back Pain Revolution. Churchill Livingstone, 2nd ed. (2004)
3.2. „Fear-avoidance“-Teufelskreis
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Dem Patienten muss vor allem auch die Angst genommen werden, dass die
Aktivität und die Arbeit sein Leiden verschlimmern. Das „Fear-avoidance“Verhalten wurde als ein wichtiger Faktor für die Chronifizierung von Beschwerden erkannt.
Typisch für das „Fear-avoidance“-Verhalten sind:
• negative Wertung von internen und externen Stimuli, negative Affektivität und Angst,
• Ängstlichkeit
• muskuläre Inaktivität
• verantwortlich für die Dekonditionierung
Mitarbeit des Patienten
Rehabilitation ist ein aktiver Prozess, der auch die Mitarbeit des Patienten
erfordert. Die Arbeit kann als Teil der Rehabilitation angesehen werden.
Durch die Arbeit werden eine ganze Reihe günstiger sozialer Verhaltensweisen gefördert und der Patient behält einen geordneten Tagesablauf sowie
ein strukturiertes soziales Umfeld.
entwerten
schonen
fördern
Ein Kranker kann
nichts leisten
fordern
überfordern
quälen
Mit gutem Willen
kann jeder arbeiten
Zumutbarkeits-Skala (Jeger 2007)
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
Wo liegt das richtige Mass an «Zumutung»?
27
Aspekte der Arbeit
positive
• Tagesstruktur
• soziale Kontakte
• Sinn und Identität
• Selbstwertgefühl:
krankmachende
• Berufskrankheiten
• arbeitsassoziierte Krankheiten
eigenen Lebensunterhalt verdienen
3.3. Der Hausarzt stellt die Weichen
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Die Handlungsweise des Hausarztes hat oft weitreichende Auswirkungen.
Schon die ersten Begegnungen mit dem Patienten können den Krankheitsverlauf beeinflussen. Grundsätzlich sollte alles versucht werden, um dem
Patienten seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu bewahren.
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
4. Spezifische Krankheitsbilder
28
4.1. Anhaltende Somatoforme Schmerzstörungen
4.1.1. Definition
Patienten mit anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen leiden über
Monate an anhaltenden schweren Schmerzen, für die keine oder wenig
relevante somatische Veränderungen gefunden werden können. Diese Patienten haben häufig mehrere Ärzte besucht und verschiedene Therapien
ausprobiert. Nur falls relevante psychische Probleme vorliegen, darf von
einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung gesprochen werden.
Die Krankheit ist nach ICD-10 als Syndrom definiert. Dabei wird keine diagnostizierbare somatische Ursache vorausgesetzt. Dieser deskriptive Ansatz
hat Vorteile in der Definition dieses komplexen multifaktoriellen Krankheitsbildes, aber auch Nachteile bezüglich Objektivierbarkeit.
Damit unterscheidet sich die Definition der somatoformen Schmerzstörung von einem naturwissenschaftlich erklärbaren Leiden wie beispielsweise einem Diabetes mellitus, der auch durch eine bekannte Ätiologie und
­Pathogenese definiert ist.
ICD-10: somatoforme Störung
• ein andauernder, schwerer und quälender Schmerz
• durch einen physiologischen Prozess oder eine körperliche Störung
nicht vollständig erklärt
• Auftreten in Verbindung mit schwerwiegenden emotionalen Konflikten
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oder psychosozialen Belastungen
4.1.2. Früherkennung
Es gilt zu verhindern, dass somatoforme Schmerzstörungen in eine Invalidität münden. Deshalb ist es wichtig, frühe Hinweise auf eine Chronifizierung
zu erkennen und anzugehen. Wenn dies nicht geschieht, kommt es häufig
zu Arztwechseln, ergebnislosen Abklärungen, erfolglosen Behandlungen,
missglückten „Dolorektomien“. All das belastet den Patienten und verursa- cht unnötige Kosten.
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
4.1.3. „Yellow flags“15
Die Gefahr einer Chronifizierung körperlicher Affektionen besteht vor allem
bei psychologischen Störungen und sozialen Schwierigkeiten. Der Patient
zeigt in diesen Situationen oft typische Anzeichen: „yellow flags“. Besonders
­hellhörig sollte man werden bei Aussagen wie „ich kann wohl nie mehr arbeiten ...“. Die Patienten beschreiben den Schmerz meist sehr emotional.
Die Patienten, die schon längere Zeit Schmerzen verspüren, suchen nicht
selten dann einen Arzt auf, wenn sich die sozial belastende Situation oder
der berufliche oder familiäre Konflikt zuspitzt. Der Patient hat das Gefühl,
körperlich krank zu sein. Psycho-soziale Probleme als Ursache werden häufig
kategorisch verneint. Es besteht die Gefahr, dass der Arzt auf die unbewusste
Abwehr seines Patienten eingeht und diese übernimmt. Psychische Konflikte
werden dabei ausgeklammert, die notwendige Auseinandersetzung wird
vermieden.
29
Yellow flags beim Patienten
• ausgeprägte Angst, Gespanntheit
• hypochondrische Befürchtungen, innere Unruhe
• funktionelle Störungen, Kopfschmerzen, Verspannungen im Schultergürtel
• psychische Symptome, paranoide Vorstellungen, Therapieabbrüche,
„illness behaviour“, Selbstschädigungstendenzen
• Mitleid, Barmherzigkeit
• Verpflichtungsgefühl
• Ambivalenz
• Abneigung und Ärger
• Frustration und Aggression
• Enttäuschung und Ohnmacht
Yellow flags im sozialen Umfeld
• Wie geht die Familie mit dem Patienten um?
• Sind Sozialkompetenzen des Patienten in der Familie erhalten?
• Invalide Vorbilder in der Familie?
• Bestehen noch Aktivitäten in der Freizeit?
• Werden ausserhäusliche Kontakte weiter gepflegt?
15 R. Marelli Signale im gelben Bereich, Schweizerische Ärztezeitung 2004;85:2037 - 2039
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Yellow flags beim Arzt
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
30
„Diese Patienten können sowohl den behandelnden Arzt als auch den psychiatrisch-psychotherapeutischen Sachverständigen hilflos machen. Der letzte
Weg wird dann oft in der Berentung gesehen, wobei eine solche Massnahme
keineswegs dazu führen muss, dass die Symptomatik gebessert wird“.16
4.1.4. Arbeitsunfähigkeit
Der Patient strebt oft die Bescheinigung einer Arbeitsunfähigkeit an, weil
die körperliche Schonung seinem „Krankheitskonzept“ entspricht: Angst
vor dem wiederholten Schmerz und auch davor, dass sich Arbeit und körperliche Aktivität negativ auf seine körperliche Verfassung auswirken. Hier
hat der Arzt die sehr wichtige Aufgabe, ihn diesbezüglich zu beruhigen. Es
ist wichtig, dem Patienten zu vermitteln, dass er die Arbeit nicht erst wieder
aufnehmen kann, wenn „alles“ gut ist.
Kriterien des Bundesgerichts17 für die Anerkennung eines Krankheitswerts
bei anhaltender somatoformer Schmerzstörung
Die anhaltende somatoforme Schmerzstörung gilt grundsätzlich nicht als
invalidisierend im juristischen Sinne. Ausnahmen sind:
• Ein psychiatrisches Gutachten attestiert psychische Komorbidität oder
• chronische körperliche Begleiterkrankungen,
• Verlust der sozialen Integration,
• Konfliktentlastung durch ausgeprägten primären Krankheitsgewinn,
• mehrjähriger Verlauf mit unveränderter oder progredienter Symptomatik,
• unbefriedigende Behandlungsergebnisse,
• gescheiterte Rehabilitation.
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Prognosekriterien nach Foerster
• psychiatrische Komorbidität
• chronische körperliche Erkrankungen
• Verlust der sozialen Integration (Scheidung, Arbeitslosigkeit)
• mehrjähriger Verlauf bei unveränderter oder progredienter Symptomatik
• gescheiterte Rehabilitationsmassnahmen
• ausgeprägter sozialer „Krankheitsgewinn”
Keine Checkliste
Einzelfall komplex
Hilfe für Strukturierung des Vorgehens
Foerster 2004
16 F oerster K: Die psychiatrische Beurteilung von Patienten mit neurotischen und somatoformen Störungen im Rahmen der gesetzlichen
Rentenversicherung Psych Prax 1993; 20:15-17
17 Das Eidgenössische Versicherungsgericht ist heute die Sozialversicherungsrechtliche Abteilung des Eidgenössischen Bundesgerichts
4.1.5. Fibromyalgie
Die Fibromylagie wird meist ebenfalls zu den somatoformen Schmerzstörungen gerechnet. Sie hat meist kein oder ein geringes organisches Substrat.
Für die Anerkennung der Fibromyalgie als Ursache der Invalidität gelten die
gleichen Kriterien wie für die anhaltende somatoforme Schmerzstörung.
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
In der Regel wird bei Patienten mit einer anhaltenden somatoformen
Schmerzstörung oder Fibromyalgie ein Rentenbegehren abgelehnt, ausser
wenn eine psychiatrische Komorbidität, beispielsweise eine Persönlichkeitsstörung oder eine Depression besteht. Die Rechtssprechung beruft
sich dabei auf prognostische Kriterien. Diese sind aber klinische Tools und
nicht in jedem Fall wissenschaftlich validiert. Zudem werden sie durch die
Rechtssprechung nicht im ursprünglichen Sinne verwendet.
31
In den letzten Jahren hat die Diagnose „Low back pain“ stark zugenommen,
mit entsprechend hohen Kosten für medizinische Leistungen, Arbeitsausfall
und Berentung.
Dabei sind Rückenschmerzen in der Allgemeinbevölkerung18 weit verbreitet:
• 8 von 10 Erwachsenen hatten schon einmal Rückenschmerzen.
• 65 % hatten im letzten Jahr Rückenschmerzen.
• 48 % davon gingen deswegen zum Arzt.
• Rückenschmerzen sind der zweithäufigste Grund für das Fehlen am
Arbeitsplatz.
Kommt ein Patient mit Rückenschmerzen zum Arzt, müssen klinische Hinweise
für eine spezifische Ursache gesucht werden. Sind sogenannte „Red flags“
vorhanden, sollte eine weitere Abklärung in die Wege geleitet werden.
Viel häufiger, in 80 bis 90 % aller Fälle, handelt es sich aber um unspezifische
Rückenschmerzen. Eine weitere Abklärung ist nicht unbedingt erforderlich,
sondern es kann ein Therapieversuch von einigen Wochen gemacht werden.
Bei unspezifischen Rückenschmerzen ist die Korrelation zwischen degenerativen Zeichen im Röntgenbild und der Stärke der Symptome gering.
In einer prospektiven Studie über drei Jahre waren Veränderungen im MRI
nicht signifikant mit einem häufigeren Auftreten von Rückenschmerzen
verbunden. Die höchste Signifikanz hatte eine initiale Depression19.
18 NFP 26P, Untersuchung bei 20 bis 65-Jährigen.
19 Jarvik J.G. et al., Three-year incidence of low back pain in an initially asymptomatic cohort: clinical and imaging risk factors. Spine, 2005.
30(13): p.1542-8 discussion 1549 aus Therapeutische Umschau 2007 G. Risi
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4.2. Low back pain
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
32
Ungünstige körperliche Belastungen sind vor allem Hebebelastungen, Torsionsbelastung, Vibrationsexposition und die Arbeit mit flektiertem Oberkörper. Viel bedeutender aber bezüglich des Chronifizierungsrisikos von
Rückenschmerzen sind die psychosozialen Faktoren.
4.2.1. Guidelines Low back pain20
Akute Kreuzschmerzen, „Red flags“
Mit einer gezielten Anamnese und Untersuchung sollten Hinweise auf eine
spezifische Ursache gesucht werden. Sind sogenannte „Red flags“ vorhanden, muss weiter abgeklärt werden.
„Red flags“ bei Rückenschmerzen
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• Alter <20 oder >55
• kürzliches schwereres Trauma
• konstanter, progressiver, nicht mechanischer Schmerz
• Thoraxschmerz
• Osteoporose
• längerdauernde systemische Steroideinnahme
• Immunsuppression, Drogenabusus, HIV
• Fieber, schlechter Allgemeinzustand und systemisches Unwohlsein
• Anamnese einer Tumorerkrankung
• ungewollter Gewichtsverlust
• persistierender Verlust der lumbalen Flexionsbeweglichkeit
• neurologische Grunderkrankung
• Strukturdefizite, Anomalien
Royal College of General Practitioners. Clinical guidelines for the management of acute
low back pain: London. Royal College of General Practitioners 1996 and 1999
Aus Michael G. Gengenbacher, Hans A. Schwarz, Schweiz Med Forum 2005; 5: 249–251
20 Keel P, Schwarz H, Brem P, Operschall C, SMF 2007;7:514-519
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
„Low Back pain“ und Gesprächsführung
Sind keine „Red flags“ vorhanden, ist eine weitergehende somatische
Abklärung nicht notwendig. Wichtig ist, wie man die fehlenden somatischen Befunde dem Patienten vermittelt. Der Patient verspürt seine
Schmerzen. Die Aussage, dass „nichts“ gefunden wurde, nährt seine Angst
vor einer schwerwiegenden, nicht erklärbaren oder noch nicht gefundenen Ursache. Immer weitere Abklärungen können ihn darin bestärken.
Besser ist es, wenn dem Patienten die Gutartigkeit seines Leidens klar
gemacht werden kann. „Normale altersentsprechende Abnutzungserscheinungen“ kann eine befriedigende Erklärung sein. Der Patient sollte
auch informiert werden, dass die Beschwerden wellenförmig verlaufen
können, und dass seine aktive Mitarbeit bei der Bewältigung eine entscheidende Rolle spielt.
33
Die medikamentöse Therapie in der Akutphase sollte grosszügig gehandhabt werden. Häufig wirkt sich auch eine Instruktion zur Selbstbehandlung
mit kalten und warmen Packungen günstig aus. Dabei sollte möglichst rasch
die normale körperliche Aktivität wieder aufgenommen werden. Die Arbeitsunfähigkeit sollte kurz und klar begrenzt werden.
4.2.2. Arbeitsunfähigkeit bei Rückenschmerzen
Erstaunlicherweise dauert bei Patienten mit Rückschmerzen und radikulärer
Symptomatik die Arbeitsunfähigkeit nur halb so lang wie bei unspezifischen
Rückenschmerzen. Dass viele Langzeit-Arbeitsunfähigkeitsatteste für Rückenschmerzen ohne objektivierbare Befunde erfolgen, wurde bereits vor
über zwanzig Jahren publiziert: Vällfors fand eine 70%ige Rate.21
Eine (zu lange) Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit beeinflusst die Prognose
des weiteren Verlaufs negativ. Der Patient sollte möglichst früh – zumindest
teilzeitlich – zurück an die Arbeit, weil sonst sehr rasch eine Dekonditionierung
eintritt. Der Patient muss motiviert werden, dass eine Rückkehr zur Arbeit
auch mit Restbeschwerden möglich ist. Oft hat er Angst, dass die bei der
Arbeit notwendige körperliche Anstrengung sein Leiden verschlechtert. Der
Arbeitgeber soll aber ebenfalls zur Kooperation angehalten werden.
21 Scand J Rehabil Med Suppl. 1985;11:1-98.
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Subakute Phase – „4 Wochen-Grenze“
Bessern sich die Schmerzen nicht innert drei bis vier Wochen, sollte zuerst noch
einmal eine spezifische Ursache geprüft werden. Gleichzeitig muss aber auch
gezielt nach Risikofaktoren für einen chronischen Verlauf gesucht werden.
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
4.3. Kraniozervikales Beschleunigungstrauma
34
Mit dem Begriff „Schleudertrauma“ wird eigentlich der Unfallmechanismus
bezeichnet. Das Krankheitsbild ist mit „kraniozervikales Beschleunigungs­
trauma“ besser definiert. Jedes Jahr werden in der Schweiz etwa 10 000
kraniozervikale Beschleunigungstraumen gemeldet. Etwa 10 % der Patienten
zeigen einen protrahierten oder chronischen Verlauf, verbunden mit einem
hohen Invaliditätsrisiko22.
Behandlung Grad 1 und 2
Patienten mit einem kraniozervikalen Beschleunigungstrauma Grad 1 und
2 haben eine gute bis sehr gute Prognose.
Zur Behandlung des Patienten mit einem Schleudertrauma Grad 1 oder 2
hat sich deshalb eine Expertengruppe auf eine Empfehlung in der Akutsituation geeinigt23:
• weder bagatellisieren, noch dramatisieren,
• genaue Anamnese, Hilfestellung mit Dokumentationsbogen für Erstkonsultation der SIM,24
• den Patienten ermutigen, dass in den meisten Fällen das Leiden abklingt
• Therapie: Analgetika für die Akutphase,
Schleudertrauma – Grade
Nackenbeschwerden (Schmerz, Steifigkeit, Schmerzen) plus
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• Grad I: keine somatischen Befunde
• Grad 2: muskelskeletale Zeichen (Bsp. verminderte Beweglichkeit)
• Grad 3: neurologische Zeichen
(fehlende oder abgeschwächte Sehnenreflexe, motorische oder
sensible Ausfälle)
• Grad 4: Fraktur oder Luxation
Bei allen Graden weitere Symptome möglich: Schwindelgefühle,
Tinnitus, Kopfschmerzen, Gedächtnisstörungen
Strebel H.M., Ettlin Th. et al., Schweizer Arbeitsgruppe Schweiz Med Forum; 2002, S1119-1125
22 Stöckli H.R. et al., Schweiz Med Forum 2005;5:1182-1187
23 Strebel H.M. et al., Empfehlungen einer schweizerischen Arbeitsgruppe, Schweiz Med Forum 2002;1119-1125
24 Download unter http://www.svv.ch/index.cfm?id=7176
4.3.1. Juristische Aspekte25
Bei einer Distorsion der HWS müssen auch nicht objektivierbare Gesundheitsschäden geltend gemacht werden. Ein Anspruch auf Leistung besteht
dann, wenn ein Katalog typischer Symptome vorhanden ist. Die „typischen
Symptome“, wie beispielsweise Kopfschmerz, Müdigkeit, Schlafstörung, Konzentrationsstörung, Vergesslichkeit und Reizbarkeit können allerdings auch
ohne Schleudertrauma vorkommen und Symptomen anderer Krankheiten,
beispielsweise dem „chronic fatigue syndrome“ frappant ähnlich sein26.
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
• Zusatzbelastungen, die den Heilungsverlauf ungünstig beeinflussen,
frühzeitig erkennen,
• aktives Alltagsverhalten anregen: Hilfe zur Selbsthilfe,
• Physiotherapie: Instruktion zu ergonomischem Verhalten und schmerzfreier Selbstmobilisation,
• Kein Kragen für Grad 1 und 2.
35
Diese Annahmen werden denn auch in der deutschen Rechtsprechung (und
in einigen anderen europäischen Ländern) umgesetzt und eine natürliche
Kausalität zwischen Unfall und geltend gemachten Beschwerden bei einer
Geschwindigskeitsänderung Delta-V unter 10 km/h verneint. In der Schweiz
muss das Opfer nur den Nachweis einer natürlichen Kausalität erbringen. Dies
ist aber noch keine adäquate Kausalität. Dieser Entscheid wird dem Richter
überlassen.
Zahlreiche Patienten, die sich wegen eines Schleudertraumas in ärztliche
Behandlung begeben, sind bereits über Internet, von der Opferhilfe oder
durch Anwälte auf ihre Rechte hingewiesen worden.
25 Chappuis G, Soltermann B, Schweiz Med Forum 2006;6:398-406
26 Jenzer G, Klinische Aspekte und neurologische Begutachtung beim Zustand nach Beschleunigungsmechanismus an der Halswirbelsäule.
Nervenarzt 1995;66:730–735
27 B
erry H, Chronic Whiplash Syndrome as a Functional Disorder Arch Neurol 2000; 57: 592–594
28 E
isenmenger W, Die Distorsion der Halswirbelsäule – Anmerkungen zur Rechtssprechung aus biomechanischer und rechtsmedizinischer
Sicht. Festschrift anlässlich des 65. Geburtstages von Generalbundesanwalt Kay Nehm, 2.2. 2006
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Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass bei einer Geschwindigkeitsänderung Delta-V unter 10 km/h (durch die Kollision auf ein stillstehendes Auto bedingte Änderung der Geschwindigkeit von o auf 10 km/h) eine
sehr geringe Wahrscheinlichkeit besteht, dass allfällige Verletzungen der
Halswirbelsäule durch eine Aufprallkollision ausgelöst werden. Selbst bei
höheren Werten sind Verletzungen mit daraus resultierenden Symptomen
nicht zwangsläufig27, 28.
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
36
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Dokumentationsbogen für Erstkonsultation nach kranio-zervikalem
Beschleunigungstrauma29
4.3.2. Arbeitsunfähigkeit
Die Arbeitsunfähigkeit ist abhängig vom initialen Schweregrad der Verletzung, den aktuellen Beschwerden und den beruflichen Belastungen.
Richtwerte: In der ersten Woche kann der Patient arbeiten, wenn keine
Akutsymptome und Ruheschmerzen vorhanden sind. Nach Abklingen der
Entzündungsreaktion können viele Patienten auch mit mässigem Ruheschmerz arbeiten.
Wenn immer möglich, sollte der Patient früh zumindest ein Teilzeitpensum
aufnehmen. Dies kann in therapeutischer Absicht geschehen, damit er den
Kontakt zum beruflichen Umfeld beibehält und um die Gefahr einer Entwicklung in Richtung Invalidisierung zu verringern.
Beim Schleudertrauma Grad 1 und 2 sollte es aus medizinischen Gründen
eigentlich nicht zu einer länger dauernden Arbeitsunfähigkeit kommen.
29 Download unter http://www.svv.ch/index.cfm?id=7176
30 Spitzer WO et al., Quebec Task Force, Spine 1995;20(Suppl.):2S–73S.
31 M
itverfasser der in diesem Text erwähnten Studie: (*Keller, Hiltbrunner, Dill, Kesselring, „Reversible neuropsychological deficits after mild
traumatic brain injury“, J Neurol Neurosurg Psychiat 2000; 68: 761–764)
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
4.3.4. Positive Motivation
In einer Studie der Klinik Valens wurde versucht, das Potenzial der „positiven
Motivation“ nachzuweisen, indem die neuro-psychologischen Leistungen
von Patienten mit einem Schleudertrauma und eine „mild traumatic brain
injury“ (MBI) mit solchen nach einer strukturellen Hirnverletzung und einer
Kontrollgruppe verglichen wurden31. Den Betroffenen wurde nach einer ersten Untersuchung mitgeteilt, dass sie auf Grund der gezeigten Leistungen
nicht mehr autofahrtauglich seien; es wurde ihnen aber angeboten, die Untersuchung zu wiederholen. Bei dieser Zweitmessung zeigten die Patienten
mit Schleudertrauma Verbesserungen um mehr als 50 %. Die Resultate der
Hirnverletzten blieben gleich oder waren sogar schlechter, und die der Kontrollpersonen zeigten keine Verbesserungen, weil ihre Leistungen ja schon
in der Erstmessung „normal“ gewesen waren. Die Studie wurde zunächst
mit der Begründung abgelehnt, die Patienten seien erpresst worden. Tatsache aber war, dass ihr Potenzial aufgedeckt werden konnte und man es als
Aufgabe ansah, dieses gemeinsam mit ihnen zu nutzen.
Es ist eine wichtige ärztliche Aufgabe, die Ressourcen der Patienten zu stärken.
Patienten fühlen sich oft als Opfer der Unfallsituation. Sie wurden ja auch von
hinten angefahren. Trotzdem muss man mit den Patienten versuchen, diese
Opfersituation zu überwinden und die Genesung aktiv zu fördern.
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4.3.3. Prognose
Eine Studie der Quebec Task Force30 hat gezeigt, dass nach einer Woche 22 %
und nach vier Wochen 47 % der Betroffenen die Arbeit wieder aufnehmen
konnten. Nach einem Jahr bezogen noch knapp 2 % eine Entschädigung
wegen Arbeitsunfähigkeit. In der Schweiz hingegen sind die Zahlen deutlich
ungünstiger.
ARBEITSUNFÄHIGKEIT
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4.3.5. Kosten in verschiedenen Ländern
Gemäss einer vergleichenden Studie des CEA (Comité Européen des Assurances) sind die Häufigkeit und der Schadenaufwand der leichten HWSVerletzungen in der Motorfahrzeughaftpflichtversicherung in den verschiedenen Ländern in Europa sehr unterschiedlich. Während die Schweiz
bezüglich der Häufigkeit im Mittelfeld liegt, ist sie bei den Kosten absoluter Spitzenreiter: Mit 35 000 Euro pro Fall ist sie doppelt so teuer wie
die zweitteuersten Niederlande, der europäische Durchschnitt beträgt
gerade mal 9 000 Euro. Dieser durchschnittliche Schadensaufwand pro
Fall entspricht in der Schweiz 0,5 Mia CHF pro Jahr oder 40% aller Leistungen, die für Körperschäden in der Motorfahrzeughaftpflichtversicherung
erbracht werden. Die CEA-Studie kommt zum Schluss, dass nicht nur medizinische Gründe, sondern auch gesellschaftliche und kulturelle Aspekte
bei dieser Entwicklung eine Rolle spielen. Diese Vermutung gilt auch innerhalb der Schweiz, wo der Röstigraben auffallend ist, sind doch die Kosten
für„Schleudertraumen“ in der Deutschschweiz ungleich höher.
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