Word Pro - Trotzki.lwp - Internationale Sozialisten

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Trotzki
Duncan
Hallas
Tony Cliff
»Solange ich
atme, hoffe ich«
Für internationalen Sozialismus und Arbeiterdemokratie
Natalja Sedowa Trotzki
Bruch mit der
4. Internationale
Duncan Hallas
TROTZKI
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Natalja Sedowa
Trotzki
Bruch mit der
4. Internationale
!
Tony Cliff
»Solange ich atme
hoffe ich«
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Trotzki
- Duncan Hallas Im Mai 1940 schrieb Leo Trotzki einen Artikel mit dem Titel "Stalin trachtet nach
meinem Leben". Das war eine genaue Voraussage. Drei Monate später, am 20. August
hieb der stalinistische Agent Ramon Mercador, alias Frank Jackson, einen Eispickel in
den Schädel Trotzkis in Coyoacan, Mexiko.
Dieser Mord war der letzte der Massenmorde, mit denen die stalinistische Bürokratie
die Alte Garde der Bolschewisten liquidierte. Rykow, Lenins Nachfolger als Vorsitzender des Rats der Volkskommissare, wurde erschossen. Sinowjew, Vorsitzender der
Kommunistischen Internationale zu Lenins Lebzeiten wurde erschossen. Bucharin und
Pjatakow, nach Lenins Testament »die fähigsten der jungen Mitglieder des Zentralkomitees« wurden erschossen. Rakowski und Radek kamen um. In den "Arbeitslagern" der
Arktis verschwanden für immer zehntausende alter Parteimitglieder. Die Kämpfer, die
die Oktoberrevolution gemacht hatten, wurden praktisch ausgerottet.
Nur eine der führenden Persönlichkeiten der Jahre der Revolution und des Bürgerkriegs überlebte. Joseph Stalin, der Mann, dessen Absetzung als Generalsekretär der
Partei Lenin verlangt hatte, regierte nun Rußland despotischer als Iwan der Schreckliche
es jemals getan hatte.
Trotzki schrieb sein abschließendes Urteil über diese Ereignisse ein Jahr vor seinem
Tod. »Der Stalinismus mußte die führenden Kader der Bolschewisten zuerst politisch
und dann physisch auslöschen, um das zu werden, was er jetzt ist: ein Apparat der Privilegierten, ein Bremsklotz für den geschichtlichen Fortschritt, eine Agentur des Weltimperialismus.«
Die Hoffnungen der Oktoberrevolution waren durch den stalinistischen Terror beerdigt
worden. Das war kein übliche Konterrevolution. Die Landbesitzer, die Kapitalisten und
die Adligen aus dem Zarismus hatten ihre Besitztümer nicht zurückgewonnen. Stalin
gründete keine Dynastie, und die führenden Mitglieder der Bürokratie erwarben keine
legalen Ansprüche auf das "öffentliche" Eigentum. Doch das arbeitende Volk, die offiziell proklamierte "herrschende Klasse", war aller politischen Rechte beraubt, selbst der
kleinsten Rechte, die es sich unter dem Zarismus erkämpft hatte.
Die Gewerkschaften waren zu einem Züchtigungsinstrument der Arbeiterschaft geworden. Und was für eine Züchtigung! Am 28. Dezember 1938 unterzeichnete Stalin ein
Dekret, in dem festgelegt wurde, daß »Arbeiter oder Angestellte, die ihre Arbeitsstelle
ohne Erlaubnis verlassen, oder die sich schwerer Vergehen gegen die Arbeitsdisziplin
schuldig machen, der Vertreibung durch die Polizei aus ihrer Wohnung innerhalb von 10
Tagen unterliegen, ohne daß sie mit einer Unterkunft versorgt werden.« Die Arbeiter in
einem "Arbeiterstaat" wurden unter die Bedingungen frühkapitalistischer Rechtlosigkeit
gezwungen!
Dasselbe Dekret hob das Recht des Arbeiters auf einen bezahlten freien Tag nach
fünfeinhalb Monaten Arbeit auf und behandelte das Zuspätkommen wie folgt. »Ein
Arbeiter oder Angestellter, der sich schuldig macht, zu spät zur Arbeit zu kommen, zu
früh zu Mittag zu gehen oder zu spät zurückzukommen oder während der Arbeitszeit faul
ist, wird ohne Gerichtsverfahren abgeurteilt. Manager, die es versäumen, die Anklage zu
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erheben, »werden selbst entlassen oder angeklagt.« Das alles galt natürlich für den
"freien" Arbeiter. Für die wirklich hartnäckigen Missetäter gab es die Arbeitslager.
Große Ungleichheiten in den Löhnen wurden eingeführt. Selbstverständlich war das
kein Ergebnis von Verhandlungen. Leistungslohnsysteme wurden allgemein üblich.
Die privilegierten Bürokraten und Manager bekamen immer höhere Gehälter plus den
Vorrechten - Autos, Landhäuser, Ferien auf der Krim, u.ä.. Wie Stalin sagte: »Wir dürfen
nicht mit Phrasen über die Gleichheit spielen. Das ist ein Spiel mit dem Feuer.«
Aus der ersten erfolgreichen, eine ganze Nation umfassenden Arbeiterrevolution war
eine Gesellschaft entstanden, die die Ungleichheiten und die Unterdrückung des Kapitalismus wieder hervorbrachte, und die von einer eisernen Diktatur regiert wurde, nicht
von einer Diktatur der Arbeiterklasse, sondern einer Diktatur über die Arbeiterklasse.
Der ganze letzte Abschnitt von Trotzkis politischem Leben war dem Kampf gegen
diese Reaktion gewidmet. Er analysierte sie, erklärte ihre Ursachen und kämpfte dafür,
die revolutionäre sozialistische Tradition gegen den zermalmenden Druck des Stalinismus in Rußland und der ganzen Welt am Leben zu erhalten.
Trotzki wurde 1879 in der Ukraine als Sohn eines jüdischen Bauern geboren. Zu dieser
Zeit existierte im zaristischen Reich noch keine Arbeiterbewegung. Tatsächlich gab es
fast noch keine industrielle Arbeiterklasse.
Es gab einige wenige Familien des Großadels, eine etwas umfangreichere Schicht des
niederen Adels, die die Armee und den Staatsapparat besetzten, eine Mittelklasse aus
Händler, Anwälten, Ärzten, u.a. und eine riesige Landbevölkerung. Das war das russische Reich dieser Zeit, und darüber herrschte der Zar so absolut wie Ludwig XIV. in
Frankreich geherrscht hatte.
Es gab kein Parlament, keine freie Presse, keine Freizügigkeit, keine Gleichheit der
Bürger vor dem Gesetz. Bis 1861 war die große Masse des russischen Volkes, die
Landbevölkerung, unfreie Leibeigene gewesen, die das Land, auf dem sie geboren
waren, nicht verlassen durften und die von ihren Herren zusammen mit dem Land
gekauft und verkauft wurden.
Rußland war rückständig, mittelalterlich; so rückständig, daß es in vielem mehr dem
Frankreich vor der großen Revolution von 1789 glich als den kapitalistischen Ländern in
West- und Mitteleuropa. Aber ein großer Wandel stand bevor. In den Jahren von Trotzkis Kindheit und Jugend entwickelte sich in Rußland die Industrie sehr schnell, angeheizt
durch ausländische Anleihen und ausländische Techniker. Neue Klassen entstanden, eine
Kapitalistenklasse, die immer noch sehr viel schwächer war als im Westen, und eine
wirklich industrielle Arbeiterklasse.
Das Wachstum dieser Klassen bedeutete langfristig, daß das zaristische Regime nicht
bestehen bleiben konnte. Noch 1895 konnte ein zaristischer Finanzminister schreiben:
»Glücklicherweise besitzt Rußland keine Arbeiterklasse in gleichem Sinn wie der Westen;
folglich haben wir kein Arbeiterproblem.« Er hinkte schon seiner Zeit hinterher. 1837
gab es schon 103.000 Metallarbeiter in Rußland, 1897 waren es 642.000. 1914 gab es
schon 5.000.000 Arbeiter in einer Bevölkerung von 160.000.000.
Diese junge Arbeiterklasse entwickelte einen starken Kampfgeist. Es kam zu Massenkämpfen in einem Ausmaß, die mit nichts vergleichbar waren seit der heldenhaften
Periode der englischen Arbeiterklasse in den Jahren 1830 bis 1850. In den ersten Jahren
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dieses Jahrhunderts erschütterte eine Welle von Massenstreiks den Zarismus bis in seine
Grundfesten. Diese Massenstreiks führten zur Explosion von 1905.
Eine neue Form der Selbstregierung der Arbeiterklasse, der "Sowjet" oder der Arbeiterrat, wurde durch unbekannte russische Arbeiter erfunden. Eine Zeitlang bestand eine
"Doppelherrschaft", die Macht der Arbeiter, organisiert in den Sowjets, stand der in
Panik versetzten Regierung des Zaren gegenüber.
Das ganze Regime wankte. Aber schließlich konnte es seine Macht wieder aufrichten.
Die revolutionären Arbeiter standen der Bauernarmee gegenüber, und die Landbevölkerung war dem Zaren noch ergeben. Eine mörderische Unterdrückung folgte.
Trotzki wuchs mit der Bewegung heran. Während seiner Jugendzeit trat er einer
revolutionären Gruppe in Nikolajew bei, dem Südrussischen Arbeiterbund; 1898 wurde
er verhaftet, und er saß in verschiedenen Gefängnissen, bis er im Jahre 1900 nach
Sibirien deportiert wurde.
Im Sommer 1902 floh er, und im Herbst hatte er sich Lenin in London angeschlossen.
Zu dieser Zeit war Trotzki Marxist geworden und ein Schriftsteller mit einem gewissen
Ruf. Lenin hieß ihn willkommen und schlug vor, Trotzki in die Redaktion der Iskra (der
Funke) aufzunehmen, der Zeitung der sozialistischen Partei, die in London gedruckt und
nach Rußland geschmuggelt wurde.
Gegen den Vorschlag erhob das älteste Mitglied der Redaktion, Plechanow, Einspruch.
Plechanow war einer der Parteigründer und ein späterer Menschewist. Die russische
sozialistische Partei sollte sich in wenigen Monaten spalten, und die Beziehung zwischen
Lenin und einigen seiner Mitherausgeber war schon gespannt.
Die Partei bestand zu dieser Zeit aus einer Handvoll Emigranten in London, Zürich
und anderen europäischen Großstädten und einer Anzahl illegaler Gruppen von Arbeitern
und Studenten in einigen russischen Industriezentren und im sibirischen Exil.
Auf dem 2. Parteitag, der in Brüssel und dann in London 1903 abgehalten wurde, kam
es zur Spaltung. Die Spaltung entstand an einer an der Oberfläche vergleichsweise
unwichtigen organisatorischen Frage. Tatsächlich waren jedoch die zugrundeliegenden
Differenzen von lebenswichtiger Bedeutung.
Lenin und seine Gruppe (die die Bolschewisten, d.h. die Mehrheit, wurden) traten ein
für eine straff organisierte revolutionäre Partei, die fähig ist, Illegalität und Unterdrükkung zu überleben. Sie glaubten, daß allein die Arbeiterklasse im Bündnis mit den
Bauern den Zarismus stürzen könnte und »ihre Ersetzung durch die Republik auf der
Grundlage einer demokratischen Verfassung, die die Selbstherrschaft des Volkes
gewährleistet, d.h. die Konzentrierung der gesamten obersten Staatsgewalt in Händen
einer gesetzgebenden Versammlung, die aus Vertretern des Volkes besteht.« (Lenin's
"Entwurf für das Programm der sozialdemokratischen Partei Rußlands", 1902; Ges.
Werke, Bd.6, S.15)
Die Minderheit (Menschewisten) entwickelte die Auffassung, daß die russische
Kapitalistenklasse diesen Kampf anführen könnte, und sie befürworteten deshalb eine
lockere Organisation, die sich an halblegaler politischer Arbeit ausrichtete. Keine Seite
nahm an, daß eine sozialistische Revolution in einem Land möglich sei, daß so rückständig und unterentwickelt wie Rußland war. Diese sozialistische Revolution würde später
kommen, nach einer Periode kapitalistischer Entwicklung unter der demokratischen
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Republik.
1903 waren die Unterschiede nicht so klar wie sie es später wurden. Nicht alle verstanden vollständig die Folgen der Entscheidung, die sie trafen. Plechanow, der spätere
Führer des extrem rechten Flügels der Menschewisten, stand an der Seite von Lenin.
Trotzki stand in Opposition zu Lenin. Es war diese Entscheidung, von der er später sagte,
»das war der größte Irrtum meines Lebens«.
1905 konnten die revolutionären Emigranten zurückkehren. Trotzki, nun ein Menschewist, spielte eine große Rolle in der nicht erfolgreichen Revolution von 1905. Gegen
Ende des Jahres wurde er Vorsitzender des Petrograder Sowjets der Arbeiterdeputierten,
damals die wichtigste Arbeiterorganisation Rußlands.
Ihre Zerschlagung durch die wiedererstarkende zaristische Militär- und Polizeimaschine markierte den Wendepunkt der Revolution. Trotzki kam wieder ins Gefängnis.
Unter Drohung der Todesstrafe forderte er den Zaren von der Anklagebank aus heraus:
»Die Regierung hat schon längst mit der Nation gebrochen ... Was wir besitzen ist keine
nationale Regierungsgewalt, sondern ein Automat für Massenmorde«.
Die immer noch glimmende revolutionäre Bewegung machte die Regierung vorsichtig.
Der Hauptanklagepunkt - der bewaffnete Aufstand - wurde fallen gelassen. Aber Trotzki
und 14 andere wurden zu lebenslänglicher Verbannung nach Sibirien und zum Verlust
aller Bürgerrechte verurteilt.
In der Jahren der Reaktion nach 1906 verdorrten und verfielen die revolutionären
Organisationen, aufgerieben durch Polizeispitzel und unaufhörliche Unterdrückung. Die
menschewistischen Organisationen in Rußland verschwanden nahezu. Selbst Lenins
Gruppe schrumpfte auf einen Schatten ihrer früheren Stärke.
In den Emigrantenzirkeln entwickelten sich scharfe fraktionelle Auseinandersetzungen.
Trotzki gelang 1907 wieder die Flucht aus Sibirien, und er sah sich bald fast völlig
isoliert. Zurückgestoßen von der Wendung der Menschewisten nach Rechts und unfähig,
seine Feindseligkeit gegenüber den Bolschewisten zu überwinden, wurde er zum einsamen Wolf.
Seine einzige positive Leistung in diesen Jahren war die Ausarbeitung seiner Theorie
der "Permanenten Revolution". Ihr zentraler Gedanke war, daß die kommende Revolution in Rußland nicht auf der Stufe der "demokratischen Republik" stehen bleiben
könnte, sondern in eine Arbeiterrevolution für Arbeitermacht übergehe und sich mit den
Arbeiterrevolutionen in den fortgeschritteneren kapitalistischen Ländern verbünden
würde oder unterliegen müsse.
Das war nicht so sehr verschieden von Lenins späteren Vorstellungen. Doch Trotzkis
Mißtrauen und Antipathie gegenüber Lenin verhinderte, daß er seine Kraft mit der einzigen wirklich revolutionären Organisation, den Bolschewisten, verband.
Am 4. August 1914 wurde die Welt verwandelt. Der lang vorausgesagte imperialistische Krieg brach aus, und die Führer der großen sozialdemokratischen Parteien vergaßen
ihren Marxismus und Internationalismus und kapitulierten vor "ihren eigenen" Regierungen. Die Sozialistische Internationale zerbrach in Stücke.
In jedem kriegsführenden Land trennte sich die Bewegung in Überläufer zur Bourgeoisie und Internationalisten. Im September 1915 trafen sich 38 Delegierte aus 11 Ländern
in Zimmerwald in der Schweiz, um die Prinzipien des internationalen Sozialismus zu
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bekräftigen. Trotzki schrieb das internationale Manifest, das von dieser Konferenz
herausgegeben wurde.
In Zimmerwald waren Revolutionäre und Pazifisten. Es kam bald zum Bruch. Der
revolutionäre Kern wurde der Vorläufer der Dritten (Kommunistischen) Internationale.
In allen kriegsführenden Ländern wuchs die revolutionäre Opposition, aber in Rußland
kam der Ausbruch. Im Februar 1917 stürzten Massenstreiks und Demonstrationen den
Zaren. Es war die kämpfende Arbeiterklasse Petrograds, viele davon Bolschewisten, die
die Bewegung führte.
Von Anfang an waren die Führer der Sowjets der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten in der Lage gewesen, die brüchige Fassade der "Provisorischen Regierung"
einzureißen und die Macht zu übernehmen. Aber das taten sie nicht, weil sie in ihrer
Mehrheit Menschewisten und Sozialrevolutionäre (die Bauernpartei) waren, die glaubten,
daß eine "demokratische Republik" notwendig sei, um das Wachstum des Kapitalismus
möglich zu machen und damit die Grundlage für den Sozialismus in einer fernen Zukunft
zu legen. Das bedeutete Fortsetzung des Krieges und "Disziplinierung" der Arbeiter und
Bauern.
Selbst einige der Bolschewisten schwankten, insbesondere Kamenew und Stalin, die
zwei Mitglieder des Zentralkomitees, die aus Sibirien geflohen waren, um die Verantwortung für die Partei in Petrograd zu übernehmen. Aber als Lenin im April zurückkehrte, wollte er nichts damit zu tun haben.
"Nieder mit der Provisorischen Regierung", "Frieden, Land und Brot" waren seine
Parolen. Zunächst in der Minderheit in seiner eigenen Partei, gewann Lenin zuerst die
Partei und dann die Mehrheit in den Sowjets für seine revolutionäre Position. Das war
durchaus die gleiche wie Trotzkis "Permanente Revolution", und im Juli trat Trotzki mit
einer Gruppe ehemaliger Menschewisten in die bolschewistische Partei ein.
Im Herbst unterstützte die Mehrheit der Arbeiter die Bolschewistischen. Unter der
Parole "Alle Macht den Räten" wurde die Provisorische Regierung gestürzt. In Petrograd
hob sich kaum eine Hand, um sie zu unterstützen.
Die nächsten Jahre waren die Jahre von Trotzkis größtem Ruhm. Zunächst als Volkskommissar für Außenpolitik und dann als Volkskommissar für das Kriegswesen war er
als zweiter Mann hinter Lenin der bewegende Geist der Revolution.
Das waren die Jahre des revolutionären Optimismus. Alles schien möglich. Obwohl die
Sowjetregierung verzweifelt gegen die massive ausländische Intervention kämpfen
mußte - die Armeen von 14 Mächten kämpften gegen die Revolution - und gegen die
vom Ausland bewaffneten und finanzierten Weißen Armeen, schien ganz Europa am
Rande der Revolution.
Revolutionäre Sowjetregierungen wurden in Ungarn, Bayern, Finnland und Lettland
errichtet. Der deutsche Kaiser, der österreichische Kaiser und der türkische Sultan
wurden gestürzt.
Ganz Deutschland schien kurz vor der Roten Revolution. In Italien lähmten Massenstreiks und gewaltsame Demonstrationen den kapitalistischen Staat.
Selbst der besonnene Lenin schrieb 1918 »Die Geschichte hat uns, den russischen
arbeitenden und ausgebeuteten Klassen, die ehrenvolle Rolle des Vorreiters der internationalen sozialistischen Revolution gegeben; und heute können wir klar sehen, wie
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weit die Revolution gehen wird. Die Russen begannen; die Deutschen, Franzosen und
Engländer werden sie beenden und der Sozialismus wird siegreich sein.«
Für Trotzki gab es keine Zweifel. Dies war der »letzte Konflikt«. Als die Dritte Internationale 1919 gegründet wurde, schrieb er in ihrem ersten Manifest: »Die Opportunisten, die vor dem Weltkrieg die Arbeiter aufgefordert haben, sich zu mäßigen zum
Wohle des allmählichen Übergangs zum Sozialismus ... verlangen wieder vom Proletariat Selbstverleugnung ... Finden diese Predigten Gehör innerhalb der arbeitenden
Massen, dann wird die kapitalistische Entwicklung in neuen, noch konzentrierteren
und grausamen Formen auf den Knochen mehrerer Generationen restauriert werden mit der Aussicht auf einen neuen und unvermeidlichen Weltkrieg. Das ist für die
Menschheit glücklicherweise nicht mehr möglich.«
In der Tat, der Erfolg der deutschen Revolution stand auf Messers Schneide. Die sich
bekämpfenden Kräfte waren nahezu gleich stark. Ein Sieg hätte den Weg Europas und
der Weltgeschichte verändert. Eine Niederlage bedeutete den Triumph der Reaktion,
nicht nur in Deutschland, sondern auch in Rußland.
Denn der Bürgerkrieg hatte die schon rückständige russische Wirtschaft ruiniert und
die russische Arbeiterklasse auseinandergetrieben. Die Weiße Konterrevolution wurde
geschlagen, weil die große Mehrheit des russischen Volkes, die Landbevölkerung,
wußte, daß die Revolution ihnen das Land gegeben hatte, und eine Restauration ihnen es
wieder nehmen würde.
Doch am Ende des Bürgerkriegs hatten die Arbeiter an Macht verloren, weil sie als
Klasse vernichtet worden waren. 1921 war die Zahl der Arbeiter in Rußland auf
1.240.000 gefallen. Petrograd hatte 57,5 Prozent seiner Bevölkerung verloren. Die
Produktion aller industriellen Güter war auf 13 Prozent des schon schlechten Standes von
1913 gefallen. Das Land war ruiniert, hungerte, und wurde nur zusammengehalten durch
die Partei und durch den während des Bürgerkriegs entwickelten Staatsapparat.
Diese Lage war nicht vorausgesehen worden. Zur Zeit des Brest-Litowsker-Friedensvertrags mit Deutschland 1918 schrieb Lenin: »Das ist eine Lehre, denn es ist eine
absolute Wahrheit, daß wir ohne die deutsche Revolution verloren sind.« Denn es war
keine Frage, daß die russische Arbeiterklasse, eine kleine Minderheit mit einer schwachen ökonomischen Grundlage, auf Dauer nicht einen Arbeiterstaat aufrechterhalten
konnte, ohne die russische Wirtschaft mit der eines entwickelten sozialistischen Lande zu
verbinden.
Später auf dem 3. Weltkongreß der Dritten Internationale 1921 bezog sich Lenin
wieder auf diesen Gesichtspunkt.
»Es war uns klar, daß ohne die Unterstützung der internationalen Weltrevolution der
Sieg der proletarischen Revolution unmöglich ist. Schon vor der Revolution und auch
nachher dachten wir: Entweder sofort oder zumindest sehr rasch wird die Revolution
in den kapitalistischen entwickelten Ländern stattfinden, oder aber wir müssen
zugrunde gehen.«
»Trotz dieses Bewußtseins taten wir alles, um das Sowjetsystem unter allen Umständen
und um jeden Preis aufrechtzuerhalten, denn wir wußten, daß wir nicht nur für uns,
sondern auch für die internationale Revolution arbeiten.«
1921 war die internationale Revolution zurückgeschlagen und das kommunistische
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Regime stand vor einer weiteren hoffnungslosen Krise. Die Bauernmassen, befreit von
der Furcht vor der Herrschaft der Gutsherren, gerieten in eine gewaltsame Opposition.
Bauernaufstände in Tambow, der Kronstädter Aufstand und die Streiks zu seiner Unterstützung zeigten dem Regime, daß es nicht länger die Unterstützung der Volksmassen
genoß. Es war dabei, eine Diktatur [der Partei, IS] über die Bauernschaft und die
Überbleibsel der Arbeiterklasse zu werden.
Ein Rückzug war unvermeidlich. Seit 1921 schuf die "Neue Ökonomische Politik"
(NÖP) von neuem einen inneren Markt und gab der Bauernschaft die Freiheit, für den
Profit zu produzieren, zu kaufen und zu verkaufen, wie sie wollte. Die private Produktion
von Konsumgütern mit Profit wurde ebenfalls erlaubt, und die Großindustrie in Staatsbesitz wurde angewiesen, nach kommerziellen Gesichtspunkten zu arbeiten.
Das Ergebnis war eine langsame, aber beständige wirtschaftliche Erholung bei gleichzeitiger Massenarbeitslosigkeit, von der immer mindestens ein Fünftel der langsam
wieder auflebenden industriellen Arbeiterklasse betroffen war. Und es entstand aus der
breiten Masse der Landbevölkerung eine Klasse kapitalistischer Bauern, die Kulaken.
Mitte der zwanziger Jahre erreichte das Wirtschaftsergebnis den Stand von 1913 und in
einigen Fällen wurde es überschritten. Zu dieser Zeit hatte sich das Gleichgewicht der
sozialen Kräfte grundlegend verändert.
Was für eine Gesellschaft war im Entstehen? Schon 1920 hatte Lenin argumentiert:
»Der Genosse Trotzki spricht vom "Arbeiterstaat". Mit Verlaub, das ist eine Abstraktion. Als wir 1917 vom Arbeiterstaat schrieben, war das verständlich; sagt man aber
jetzt zu uns: "Wozu und gegen wen soll die Arbeiterklasse geschützt werden, wo es
doch keine Bourgeoisie gibt, wo wir doch einen Arbeiterstaat haben," so begeht man
offensichtlich einen Fehler. ... Wir haben in Wirklichkeit nicht einen Arbeiterstaat,
sondern einen Arbeiter- und Bauernstaat. Das zum ersteren ... Aber nicht genug damit,
aus unserem Parteiprogramm ist bereits ersichtlich, daß ... unser Staat ein Arbeiterstaat mit bürokratischen Auswüchsen ist.«
Seitdem wucherten die "bürokratischen Auswüchse" außerordentlich, und die
herrschende Partei war sehr stark gewachsen, und die herrschende Partei selbst war
bürokratisiert worden. In Abwesenheit einer Arbeiterklasse mit der Stärke, dem Zusammenhalt und dem Willen zu herrschen, mußte die Partei die Klasse ersetzen, und der
Parteiapparat ersetzte zunehmend die Parteimitglieder.
Eine neue Gruppe von "Apparatschiks" war neben den Kulaken und dem "NÖP-Mann"
(Kleinkapitalist) entstanden. Trotzki beschreibt in einer seiner schlagendsten Wendungen
die Politik als »Kampf um das Mehrprodukt«. Zwischen diesen drei Gruppen entwickelte
sich ein Kampf über den Köpfen der Masse der armen Bauern und gegen die Arbeiterklasse.
Dieser Kampf spiegelte sich in den Reihen der nun bürokratisierten Partei, insbesondere unter ihren Führern. Trotzki, der nun gründlich aufgeschreckt war durch die Rechtsentwicklung, wurde der Hauptsprecher einer Strömung, die den Kampf aufnahm für die
Demokratisierung der Partei und die Wiederbelebung der Sowjets als die wahren Organe
der Arbeiter und Bauern. Diesen Kampf hatte Lenin in den letzten Monaten seines
Lebens begonnen.
Ein wesentlicher Teil des Programms der Linken Opposition (wie Trotzkis Gruppe
genannt wurde) war eine schnellere und geplantere Entwicklung der russischen Industrie.
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Für Marxisten war es keine Frage, daß die Demokratisierung nicht erfolgreich sein
konnte ohne eine Zunahme der Zahl, des Selbstvertrauens und des "spezifischen
Gewichts" der Arbeiterklasse.
Gegner der Linken war eine rechte Strömung, deren Sprecher Bucharin wurde. Er trat
ein für Stabilität, für Akkumulation "im Schneckentempo" und für die Priorität, die
Bauernschaft einschließlich der Kulaken zufrieden zu halten.
Und es gab eine dritte Strömung, das "Zentrum", das die Apparatschiks, die Bürokraten vertrat. Es war damals mit der Rechten verbündet. Seine führende Persönlichkeit war
J.W.Stalin, ein alter Bolschewist, ein fähiger Organisator und ein Mann mit schrankenlosem Ehrgeiz und eisernem Willen.
Stalin schweißte die Bürokratie zu einer Klasse zusammen, ihrer eigenen Interessen
bewußt und mit einer eigenen Ideologie - des "Sozialismus in einem Land".
Die Perspektive der Opposition war die einer friedlichen Reform. Sie dachte, der
Druck der Ereignisse und die Opposition könnte die Partei und das Land reformieren.
Im Ergebnis zeigte sich das Ausmaß der bürokratischen Degeneration in der Leichtigkeit, mit der die Opposition besiegt wurde. Obwohl sie einige der hervorragendsten
Mitglieder der Partei in ihren Reihen hatte, und ihr nach 1926 die Gruppe um Sinowjew,
Lenins engster Mitarbeiter im Exil, und Krupskaja, Lenins Witwe, wie auch die "ultralinke" demokratisch-zentralistische Gruppe, beitraten, wurde sie mit überwältigender
Mehrheit auf Parteitreffen, vollbesetzt mit Stalins Ja-Sagern, niedergestimmt.
Im Oktober 1927 wurden Trotzki und Sinowjew aus der Partei ausgeschlossen. Bald
begann für sie und tausend andere Oppositionelle die Reise in die Verbannung. Die
Opposition war zerschlagen worden, und von ihren Verbannungsorten sagten ihre Führer
eine schreckliche Gefahr von Rechts voraus.
Der Sowjetische "Thermidor", der Sturz der Partei durch die Vertreter der Kulaken und
NÖP-Leute drohte. Tatsächlich stand das Regime vor einer Gefahr von Rechts. 1928
führten die Kulaken, ermutigt durch die Beseitigung der Linken, einen Kornstreik herbei,
eine Hortungsaktion, die die Städte mit dem Hungertod konfrontierte. Die Auswirkungen
zeigten, wie stark die Partei - und die Opposition - sich bei der Einschätzung der rivalisierenden Kräfte verschätzt hatte.
Die Bürokratie führte einen gewaltsamen Kurswechsel durch. Nach Jahren der Befriedung der reichen Bauern griff sie zur Zwangskollektivierung, der "Beseitigung der
Kulaken als einer Klasse."
Unter der Maske der Einparteien-Herrschaft regierte eine kleine Clique von Bürokraten
Rußland. Und sie wurden bald die Marionetten eines einzigen Mannes. 1930 war Stalin
der neue Zar, wenn auch nicht der Form, so doch den Tatsachen nach.
Mit der Zwangskollektivierung war ein wahnsinniges Programm der verstärkten
Industrialisierung verbunden. Pläne, die die ehrgeizigsten Entwürfe der optimistischsten
Mitglieder der Opposition weit übertrafen, wurden in Gang gesetzt, nur um von anderen,
noch weitreichenderen übertroffen zu werden. »Erfülle den 5-Jahres-Plan in 4 Jahren«
war die Parole.
Der Mann, der sich gestern über die bescheidenen Pläne der Opposition lustig machte ,
weil er sie für utopisch hielt, wollte nun die fortgeschrittensten kapitalistischen Länder in
wenigen Jahren »einholen und überholen«.
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Der erste 5-Jahres-Plan hatte Erfolg, indem er die Grundlage für eine industrielle
Gesellschaft legte. Er erreichte das durch die allerbrutalste Ausbeutung der Arbeiter und
Bauern. Die Reallöhne fielen drastisch. Die drakonisch reglementierten "freien" Arbeiter
wurden ergänzt durch ein Heer von Zwangsarbeitern, meistens ehemalige Bauern, die
unter erschreckenden Bedingungen bei Großbauprojekten beschäftigt wurden. Jede Spur
von demokratischen Rechten verschwand. Ein ausgewachsenes totalitäres Regime
entstand.
Diese Ereignisse lösten die vertriebene Opposition auf. Viele von ihren bekanntesten
Mitglieder machten ihren Frieden mit Stalin.
Auf dem anderen Extrem kamen viele Mitglieder an der Basis der Opposition dazu, mit
den "Demokratischen Zentralisten" übereinzustimmen, daß eine neue Revolution nötig
sei. »Die Partei« schrieb Viktor Smirnow, ein Führer der Demokratischen Zentralisten,
»ist ein stinkender Leichnam«.
Seiner Meinung nach war der Arbeiterstaat Jahre zuvor zerstört und der Kapitalismus
restauriert worden. Trotzki konnte keine dieser Vorstellungen akzeptieren. Gegen die
Kapitulanten bestand er auf der Notwendigkeit der Sowjetdemokratie. Gegen die Linke
bestand er auf der Möglichkeit friedlicher Reformen.
Das war eine unrealistische Einschätzung, und Trotzki gab sie 18 Monate später auf.
Der Anstoß zu diesem Wandel ging von den Ereignissen in Deutschland aus. Die linke
Opposition beschäftigte sich mindestens ebenso stark mit der Politik der Kommunistischen Internationale wie mit der Politik in Rußland.
In ihren frühen Jahren war die Dritte Internationale weit davon entfernt, ein Werkzeug
Moskaus zu sein. Aber mit dem Zurückweichen der revolutionären Stimmung in Europa
banden sich die Parteien immer stärker an die überlebende "Sowjet"herrschaft und
wurden zunehmend von ihr abhängig.
Ratschläge aus Moskau wurden die wichtigste Quelle für ihre politischen Ideen.
Zunehmend mischte sich die russische, und folglich von Apparatschiks, beherrschte
Exekutive der Internationale in das politische Leben der nationalen Parteien ein.
Der Mythos vom "sowjetischen Vaterland" wurde für europäische und asiatische
Kommunisten immer wichtiger. Nach und nach wurden die unabhängigen Geister und
die ernsthafteren Marxisten aus der Führung entfernt. Es dauerte 10 Jahre, bis die
Weltbewegung zur Fremdenlegion Moskaus heruntergekommen war. 1929 war der
Prozeß vollendet.
Während der Block "Rechte-Zentrum" Rußland regierte, wurde die Politik der Internationale nach rechts gedrängt. Halbrefomistische Politik wurde gefördert, und das führte
zu einer Anzahl von vermeidbaren Niederlagen.
Die Opposition kritisierte scharf die Politik der Kommunistischen Internationale und
versuchte, Verbindungen mit abweichenden Mitgliedern der ausländischen Parteien
aufzunehmen. Aber nachdem Stalin seine früheren "rechten" Verbündeten in Rußland
ausgeschaltet hatte, machte die kommunistische Internationale eine heftige Linkswendung, eine wahnsinnige Linkswendung. Eine Periode der "allgemeinen revolutionären
Offensive", die "dritte Periode" wurde verkündet.
Die Theorie des "Sozialfaschismus" wurde erfunden. Die Sozialdemokratie war
"sozialfaschistisch", Gruppen links von ihr waren "linke Sozialfaschisten".
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In Deutschland, wo eine sehr reale Gefahr des Faschisten bestand, führte diese Position
zur Ablehnung jedes gemeinsamen antifaschistischen Widerstandes mit der Sozialdemokratie und der unter ihrem Einfluß stehenden Gewerkschaften. Denn diese waren selbst
Faschisten! In der Tat, jeder, der nicht ein loyaler Stalinist war, war ein Faschist:
»Deutschland lebt schon unter faschistischer Herrschaft«, sagte die Tageszeitung der
KPD. »Hitler kann die Dinge nicht schlimmer machen als sie schon sind.«
Trotzki, seit 1929 im Exil in der Türkei, schrieb gegen diese unheilvolle Politik einige
seiner brillantesten Schriften. Wenn Vernunft die stalinistischen Führer der KP hätte
bewegen können, wäre Hitler geschlagen worden - die Gelegenheit bestand. Eine siegreiche Einheitsfront war möglich. Aber die stalinistischen Führer waren jenseits jeder
Vernunft. Die einzige Stimme, die sie hörten, war die von Stalin, die anstimmte: »Sozialdemokratie und Faschismus sind keine Gegensätze: sie sind Zwillinge.«
Die deutsche Arbeiterbewegung wurde zerschlagen. Die Kommunistische Partei ergab
sich ohne einen Kampf. Hitler kam an die Macht und die Vorbereitung des 2. Weltkrieges begann.
Diese schreckliche Niederlage veranlaßte Trotzki zum Bruch mit der Internationalen.
»Eine Organisation, die nicht durch den Donnerkeil des Faschismus aufgerüttelt wird,
ist tot und kann nicht wiederbelebt werden.«
Bald darauf gab er seine reformistische Position gegenüber Rußland auf. Eine neue
Revolution ist notwendig, um die bürokratische Diktatur zu beseitigen.
Doch er änderte nicht seine Ansicht, daß Rußland ein "degenerierter Arbeiterstaat" sei.
Die wenigen verbliebenen Jahre seines Lebens klammerte er sich an diese Abstraktion ein "Arbeiterstaat", in dem die Arbeiter nicht nur keine Macht haben, sondern in dem die
Arbeiter der elementarsten politischen Rechte beraubt sind. Dieser Irrtum hatte einen
nachhaltigen und verderblichen Einfluß auf die revolutionäre Linke.
Trotzki war nun fast allein. Bald nach der deutschen Katastrophe begannen die großen
Säuberungen in Rußland. Stalin festigte seine persönliche Herrschaft durch einen
Massenmord an früheren Kapitulanten, den früheren Rechten und den meisten seiner
eigenen früheren Helfer.
Alle wurden wie Trotzki als Agenten Hitlers, Konterrevolutionäre, Spione und
Saboteure öffentlich angeklagt. Eine Serie grotesker "Schauprozesse" fand statt, in denen
bekannte Führer der Revolution aus Lenins Zeit dazu gebracht wurden, ihre Schuld - und
die des Monstrums Trotzki - zuzugeben.
Ein Klima wurde erzeugt, in dem es für Trotzki unmöglich wurde, Arbeiter auf dem
linken Flügel zu beeinflussen. »Die stalinistische Bürokratie hat es jetzt erreicht, sich
selbst mit dem Marxismus gleichzusetzen... Kämpferische französische Dockarbeiter,
polnische Bergleute und chinesische Guerrillakämpfer sahen gleichermaßen in denjenigen, die in Moskau herrschten, die besten Kenner der sowjetischen Interessen und die
verläßlichsten Anwälte des Weltkommunismus.«
Die Kommunistische Internationale pendelte nun wieder nach rechts. Stalins Außenpolitik verlangte das Bündnis mit den "westlichen Demokratien". Die "Volksfront" - die
Unterordnung der Arbeiterparteien unter liberale und "fortschrittliche" Konservative war die neue Linie.
Das ermöglichte Stalin, eine weitere Revolution abzuwürgen - Spanien. Trotzki nannte
TROTZKI - 12
die spanische Niederlage "die letzte Warnung". Die gesamte Energie in den letzten
Jahren seines Exils in Frankreich, Norwegen und dann in Mexiko verwandt er darauf,
den Kern einer neuen Internationalen, der Vierten, zu schaffen. Ihre Gründungskonferenz
fand 1938 im Schatten der zahlreichen Niederlagen der Arbeiterklasse statt. Trotzki sollte
nur noch zwei Jahre leben.
Es war seine unvergängliche Leistung, die Tradition des revolutionären Marxismus in
den Jahrzehnten, in der sie fast von ihren vorgeblichen Trägern ausgelöscht wurde, am
Leben zu erhalten.
Trotzki war weit davon entfernt, unfehlbar zu sein. Lenin hatte in seinem Testament
von Trotzkis »zu weitreichendem Selbstvertrauen« geschrieben, und es war Trotzkis
Unglück in seinen letzten Jahren, daß nur wenige seiner Anhänger fähig waren, unabhängig zu denken.
Daß er seine Genossen überragte, war gleichzeitig seine Stärke und seine Tragödie.
Vielleicht hätte niemand anders der Isolation und den Angriffen Widerstand leisten
können, wie er es tat.
Sein Beitrag zum revolutionären Sozialismus und zur Arbeiterbewegung ist unübertroffen. Er war einer der Handvoll wahrhaft großen Persönlichkeiten, die die Bewegung
hervorgebracht hatte.
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TROTZKI - 13
Leo Davidowitsch Bronstein (Trotzki)
Am 25. Oktober 1879 in Janowka (Gouv. Cherson), Ukraine, als Sohn eines jüdischen
Mühlenpächters geboren.
Am 20. August 1940 in Mexiko gestorben.
1886 Besuch der deutsch-jüdischen Schule in Gromoklej.
1888 Besucht die Schule "Zum Heiligen Paulus" in Odessa. Lernt dort Deutsch und
Französisch.
1896 Macht in Nikolajew das Abitur mit Auszeichnung. Erste Kontakte zu revolutionären Zirkeln. (Verwirft den Marxismus).
1897 Gründet den "Süd-Russischen Arbeiterbund".
1898 Auflösung des "Arbeiterbundes". Gefängnis in Cherson und Odessa.
1899 Bekenntnis zu Karl Marx. Zu 4 Jahren Verbannung verurteilt.
1900 Heiratet Alexandra Sokolowskaja.
1901 Nimmt den Namen Trotzki an. Illegal in Österreich. Im Oktober in London.
1904 Schreibt die Broschüren
"Unsere politischen Aufgaben" und "Vor dem 9. Januar".
1905 Illegal in St. Petersburg. Vorsitzender des ersten Sowjets. Wird im Dezember
verhaftet. Schreibt mit Parvus das "Finanzmanifest".
1907 Flieht aus Sibirien über St. Petersburg nach Finnland, von dort nach Deutschland.
1908 Gibt in Wien »für einfache Arbeiter« die Zeitung 'Prawda' heraus.
1911 Auf dem Parteitag der SPD in Jena.
1913 Begegnung mit Stalin in Wien.
1914 Tagung der II. Internationale in Brüssel. Wendet sich gegen Lenins Taktieren.
Wieder in Wien. Im August mit der Familie in der Schweiz.
1915 Zimmerwalder Konferenz. Verfasser des "Manifest". Lenin in Paris. Versöhnung
mit Trotzki.
1916 Ausweisung aus Frankreich. Mit dem Schiff in die USA.
1917 In New York. Nach der Märzrevolution wieder in Rußland. Zusammen mit Lenin
Vorbereitung des Umsturzes. Wird Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten. Führer der bolschewistischen Friedensdelegation in Brest-Litowsk.
1925 Bis Januar Volkskommissar für Krieg und Marine.
1926 Ausschluß aus dem Politbüro.
1927 Verbannung nach Turkestan.
1929 Ausweisung aus der Sowjetunion. Lebt in der Türkei. Beendet die Schriften
"Mein Leben" und die "Geschichte der russischen Revolution".
1935 Erhält Einreisevisum für Norwegen. Beendet sein letztes Buch "Verratene
Revolution".
1936 Anschlag auf sein Haus.
1937 In Mexiko. Gorki, Scholochow, Ehrenburg, Dreiser, Feuchtwanger, Barbusse und
Aragon verlangen seinen Tod.
1938 Arbeitet an einer "Lenin-Biographie". Sein jüngster Sohn wird in Workuta ermordet.
1940 Falsche Polizeibeamte überfallen sein Haus. Er entkommt.
Am 20. August schlägt Jackson-Mercador Trotzki mit einem Eispickel nieder.
Trotzki stirbt am Tage darauf.
TROTZKI - 14
Natalia Sedowa Trotzki
Bruch mit der 4. Internationale
(Der folgende Text ist ein Brief, den Natalja Trotzki 1951 an die Führung der Vierten
Internationale und die Führung der Socialist Workers Party (SWP)1 schrieb, in dem sie
jede politische Verbindung mit diesen Organisationen abbrach. Der Brief wurde zuerst in
der amerikanischen Presse veröffentlicht.)
An das Exekutivkomitee der Vierten
Internationale
An das Politische Komitee der SWP (USA)
Genossen,
ihr wißt genau, daß ich mit Euch in den letzten fünf oder sechs Jahren seit dem Ende
des Krieges und schon vorher nicht übereingestimmt habe. Die Haltung, die Ihr zu den
wichtigen Fragen der jüngsten Zeit eingenommen habt, zeigt mir, daß Ihr auf Euren
politischen Irrtümern besteht und sie vertieft, anstatt sie zu korrigieren. Auf Eurem Weg
habt Ihr den Punkt erreicht, wo ich nicht länger schweigen oder mich auf private Proteste
beschränken kann. Ich muß meine Auffassung öffentlich darlegen.
Der Bruch, zu dem ich mich genötigt sehe, ist für mich schwerwiegend und schwierig,
und ich kann ihn nur ernstlich bedauern. Aber es gibt keinen anderen Weg. Nach langen
Überlegungen und Zögern über eine Frage, die mir außerordentliche Sorgen bereitet,
muß ich Euch sagen, daß ich keinen anderen Weg sehe als den, öffentlich zu erklären,
daß unsere Meinungsverschiedenheiten es mir unmöglich machen, noch länger in Euren
Reihen zu bleiben.
Die Gründe für diesen meinen letzten Schritt sind den meisten von Euch bekannt. Ich
wiederhole sie hier kurz nur für diejenigen, denen sie nicht vertraut sind und berühre nur
die Differenzen von grundlegender Bedeutung und nicht die Differenzen um Fragen der
Tagespolitik, die sich auf diese grundlegenden Differenzen beziehen oder aus ihnen
folgen.
Von alten und überlebten Formeln besessen fahrt Ihr fort, den stalinistischen Staat als
einen Arbeiterstaat zu bezeichnen. Ich kann und werde Euch darin nicht folgen.
Im Grunde genommen hat L.D.Trotzki in jedem Jahr seines Kampfes gegen die
usurpartorische stalinistische Bürokratie wiederholt, daß dieses Regime sich unter den
Bedingungen einer verzögerten Weltrevolution und der Eroberung aller politische
Position durch die Bürokratie nach Rechts entwickelt. Wieder und wieder hat er darauf
hingewiesen, wie die Festigung des Stalinismus in Rußland zur Verschlechterung der
wirtschaftlichen, politischen und sozialen Lage der Arbeiterklasse und zum Triumph
1
Die Socialist Workers Party ist die Sektion der Vierten Internationale in den USA
TROTZKI - 15
einer tyrannischen und privilegierten Bürokratie führte. Wenn diese Entwicklung anhält,
sagte er, wird es mit der Revolution zu Ende und die Restauration des Kapitalismus
erreicht sein.
Dies ist es, was sich unglücklicherweise ereignet hat, wenn auch in neuen und
unerwarteten Formen. Es gibt kaum ein Land in der Welt, wo die ursprünglichen Ideen
des Sozialismus und ihre Vertreter so barbarisch gehetzt werden. Es sollte jedermann
klar sein, daß die Revolution durch den Stalinismus vollständig zerschlagen wurde. Ihr
jedoch fahrt fort zu behaupten, daß Rußland unter diesem unaussprechlichen Regime
immer noch ein Arbeiterstaat ist. Ich sehe darin einen Angriff auf den Sozialismus. Stalinismus und der stalinistische Staat haben nicht das Geringste gemeinsam mit einem
Arbeiterstaat oder mit Sozialismus. Sie sind die schlimmsten und die gefährlichsten
Feinde des Sozialismus und der Arbeiterklasse.
Ihr haltet daran fest, daß die Staaten Osteuropas, über die der Stalinismus während und
nach dem Krieg seine Vorherrschaft errichtet hat, ebenfalls Arbeiterstaaten sind. Das ist
das Gleiche wie zu sagen, der Stalinismus hat eine revolutionäre sozialistische Aufgabe
durchgeführt. Ich kann und will Euch darin nicht folgen.
Nach dem Krieg, ja bevor er endete, entwickelte sich in diesen osteuropäischen
Ländern eine revolutionäre Massenbewegung. Aber es waren nicht die Massen, die die
Macht gewannen, und es waren keine Arbeiterstaaten, die durch ihren Kampf errichtet
wurden. Die stalinistische Konterrevolution gewann die Macht und indem sie die arbeitenden Massen, ihre revolutionären Kämpfe und ihre revolutionären Ziele strangulierte,
machte sie diese Länder zu Vasallen des Kremls.
Indem Ihr der Meinung seid, die stalinistische Bürokratie habe in diesen Ländern
Arbeiterstaaten errichtet, schreibt Ihr der stalinistischen Bürokratie eine fortschrittliche
und sogar revolutionäre Rolle zu. Indem Ihr diese monströse Lüge gegenüber der Vorhut
der Arbeiter propagiert, leugnet Ihr alle entscheidenden Gründe für das Bestehen der
Vierten Internationale als einer Weltpartei der sozialistischen Revolution. In der Vergangenheit waren wir immer der Ansicht, daß der Stalinismus eine konterrevolutionäre Kraft
ist, im vollen Sinn dieses Begriffes. Ihr sagt das nicht mehr. Aber ich werde weiterhin
darauf bestehen.
1932 und 1933 erklärten die Stalinisten, um ihre schamlose Kapitulation vor Hitler zu
rechtfertigen, daß es nicht viel ausmachen würde, wenn die Faschisten an die Macht
kämen, weil der Sozialismus nach und durch die Herrschaft des Faschismus kommen
würde. Nur unmenschliche Scheusale ohne die Spur sozialistischen Denkens oder
Geistes haben auf diese Weise argumentieren können. Nun, ungeachtet der revolutionären Ziele, die Euch bewegen, haltet Ihr daran fest, daß die despotische stalinistische
Reaktion, die in Europa triumphiert hat, einer der Wege ist, mit denen man vielleicht zum
Sozialismus kommt. Diese Sicht bezeichnet einen unheilbaren Bruch mit den tiefsten
Überzeugungen, an denen unsere Bewegung immer festgehalten hat und die ich weiter
teilen werde.
Ich sehe mich außerstande, Euch in der Frage des Titoistischen Regimes in Jugoslawien zu folgen.2 Die ganze Sympathie, die ganze Unterstützung von Revolutionären und
2
1948 kam es zum Bruch zwischen Stalin und Tito. Tito war nicht länger bereit, die
Entwicklung der jugoslawischen Wirtschaft den Bedürfnissen der russischen Wirtschaft
TROTZKI - 16
selbst aller Demokraten sollte dem jugoslawischen Volk zu Gute kommen, das entschieden den Anstrengungen Moskaus Widerstand leistet, es und sein Land in ein Lehen zu
verwandeln. Die Zugeständnisse, die das jugoslawische Regime jetzt gezwungen ist, dem
Volk zu machen, müssen voll ausgenützt werden. Doch Eure ganze Presse widmet sich
einer unentschuldbaren Idealisierung der Titoististischen Bürokratie, für die es keinen
Grund in der Tradition und den Prinzipien unserer Bewegung gibt.
Diese Bürokratie ist nur eine Kopie der alten stalinistischen Bürokratie in neuer Form.
Sie wurde erzogen in den Ideen, der Politik und der Moral der GPU (Stalins Geheimpolizei). Ihre Herrschaft unterscheidet sich von Stalins Herrschaft in keinem grundlegenden
Gesichtspunkt. Es ist absurd zu glauben oder zu lehren, daß sich aus dieser Bürokratie
heraus eine revolutionäre Führung des jugoslawischen Volkes entwickeln wird, oder daß
sie in einer anderen Weise entstehen kann als im Kampf gegen diese Bürokratie.
Am allerwenigsten zu unterstützen ist Eure Haltung zum Krieg. Der Dritte Weltkrieg,
der die Menschheit bedroht, stellt die revolutionäre Bewegung vor die schwierigsten
Probleme, die verwickeltsten Situationen, die schwerwiegendsten Entscheidungen.
Unsere Position kann nur nach der ernsthaftesten und freiesten Diskussion bezogen
werden. Aber angesichts aller Ereignisse der jüngst vergangenen Jahre macht Ihr Euch
weiter zum Anwalt der Verteidigung des stalinistischen Staates und verpfändet die ganze
Bewegung. Selbst heute noch unterstützt Ihr die Armeen des Stalinismus in dem Krieg,
den das gequälte koreanische Volk erduldet. 3 Ich kann und will Euch darin nicht folgen.
Vor langer Zeit, 1927, erklärte Trotzki als Antwort auf eine verräterische Frage Stalins
im Politbüro seine Ansichten wie folgt: »Für das sozialistische Vaterland, ja! Für das
stalinistische Regime, nein!« Das war 1927. Heute, 23 Jahre später, hat Stalin vom sozialistischen Vaterland nichts übrig gelassen. Es ist ersetzt worden durch die Versklavung
und Erniedrigung des Volkes durch die stalinistische Selbstherrschaft. Das ist der Staat,
den Ihr empfehlt, im Krieg zu verteidigen, den Ihr schon in Korea verteidigt.
Ich weiß sehr gut, wie oft Ihr wiederholt, daß ihr den Stalinismus kritisiert und ihn
bekämpft. Aber die Tatsache ist, daß Eure Kritik und Euer Kampf ihren Wert verlieren
und zu keinem Ergebnis kommen können, weil sie von Eurer Position der Verteidigung
unterzuordnen. Tito und die jugoslawische KP wurden deshalb wegen "antisowjetischer"
und "nationalistischer" Haltung aus der Kominform ausgeschlossen.
3
Mit Beendigung des 2. Weltkriegs entstanden in Korea zwei Staaten, die von Marionettenregimes der USA im Süden und der UdSSR im Norden beherrscht wurden. 1950 kam
es zum offenen Krieg in Korea. Die nordkoreanischen Truppen scheinen als erste in den
Süden einmarschiert zu sein, allerdings nach einer Reihe scharfer Provokationen des
Südens. Die USA versuchte ganz Korea zu erobern. Ihr Ziel war die vollständige
Kontrolle über die Küsten des Pazifischen Ozeans, den sie seit dem 2. Weltkrieg kontrollierte. Besonders dringend erschien diese Absicherung nach dem Sieg der chinesischen
Revolution. Das Ziel der UdSSR war ebenfalls eine Kontrolle Koreas, um die Hegemonie der USA über Japan zu verhindern und die östliche Flanke der UdSSR abzusichern.
Die UdSSR griff selbst nicht militärisch in den Konflikt ein - sie schickte die Chinesen
für sich auf das koreanische Schlachtfeld. Daß dieser Krieg nur ein Krieg zwischen den
beiden Großmächten war, auf dem Boden Koreas und unter unendlichem Leid der koreanischen Bevölkerung, zeigt der Friedensschluß 1953. Sofort nachdem sich die USA und
die UdSSR geeinigt hatten, war der Krieg beendet.
TROTZKI - 17
des stalinistischen Staates bestimmt werden und ihr untergeordnet sind.
Wer immer dieses Regime barbarischer Unterdrückung verteidigt, egal mit welchen
Motiven, gibt die Prinzipien des Sozialismus und Internationalismus preis.
In der Nachricht, die mir von der jüngsten Tagung der SWP geschickt wurde, schreibt
Ihr, daß Trotzkis Ideen Euer Wegweiser bleiben. Ich muß Euch sagen, ich lese diese
Worte mit großer Bitterkeit. Wie Ihr aus dem oben Geschriebenen sehen könnt, sehe ich
nicht seine Ideen in Eurer Politik. Ich habe Vertrauen in seine Ideen. Ich bleibe
überzeugt, daß der einzige Weg aus der gegenwärtigen Lage die soziale Revolution ist,
die Selbstbefreiung des Weltproletariats.
Natalja Sedowa Trotzki
Mexiko, D.F., 9. Mai 1951
TROTZKI - 18
Das revolutionäre Erbe Trotzkis - 50 Jahre nach seiner Ermordung
»Solange ich atme hoffe ich«
- Tony Cliff Keiner der großen politischen Persönlichkeiten unserer Bewegung wurde mehr
verfolgt und verleumdet als Trotzki. Sein Leben war eine Kombination besonders
heroischer und tragischer Ereignisse. Nicht nur Trotzki wurde von einem Agenten
Stalins ermordet. Seine erste Frau wurde in Sibirien ermordet, ebenso wurden alle
seine vier Kinder ermordet oder zum Selbstmord gedrängt. Von seinen Enkelkindern überlebten nur zwei.
Er war in den ersten 4 Jahrzehnten dieses Jahrhunderts aktiv. Seine umfangreichen
Schriften behandeln jedes bedeutende internationale Ereignis dieser Zeit und sind eine
Quelle der Inspiration von Anfang bis Ende.
Am Anfang des Jahrhunderts schrieb Trotzki: »Solange ich atme, habe ich Hoffnung.
Solange ich atme, werde ich für die Zukunft kämpfen, jene leuchtende Zukunft, in der die
Menschen Herren über den fließenden Bach ihrer Geschichte sein werden und ihn in den
grenzenlosen Horizont der Schönheit, Freude und Glück lenken.« Dieser Geist gab ihm
die Energie für mehr als 40 von großen Siegen und noch schlimmeren Niederlagen
gekennzeichneten Jahren. Aber es reicht nicht aus zu diskutieren, was ihn inspirierte.
Wichtig sind vor allem die aus seinen Inspirationen folgenden Resultate.
Im Alter von 26 Jahren war er der Vorsitzende des Petrograder Sowjets, dem ersten
Arbeiterrat auf der Welt. In dieser Zeit produzierte er seinen bedeutenden theoretischen
Beitrag, die Theorie der "Permanenten Revolution".
Seit Marx wurde akzeptiert, daß die weiterentwickelten Länder in der Welt den zurückgebliebenen Ländern ihre künftige Entwicklung zeigen.
Deswegen würde Deutschland Englands Entwicklung folgen und Rußland dementsprechend Deutschlands. Trotzki betonte, daß die einzelnen Länder sich nicht in einem
Vakuum entwickeln, sondern als ein Teil des internationalen Weltsystems des Kapitalismus.
Weil alle Länder Teil dieses Weltsystems sind, wird ihre Entwicklung in zweierlei
Hinsicht beeinflußt. Erstens durch das von Trotzki so benannte "Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung". "Ungleichmäßig" bedeutet ganz einfach, daß sich die verschiedenen
Länder mit unterschiedlicher Geschwindigkeit entwickeln. Sie entwickeln sich nicht
parallel, sondern ein Land entwickelt sich schnell, ein anderes langsam. Zweitens: Da die
Länder aber Teil eines Weltsystems sind, haben sie eine gemeinsame Entwicklung, was
er die "kombinierte Entwicklung" nannte.
Das bedeutet, daß einzelne Länder zwar ihre eigenen nationalen Bedingungen haben,
aber nichtsdestotrotz in ihrer Entwicklung von internationalen Beziehungen und
Zwängen geprägt sind. So haben die eingeborenen amerikanischen Indianer keine
Entwicklung von der Stein- über die Bronzezeit zum Gewehr nach 50.000 Jahren vollzogen. Vielmehr übersprangen sie ganze Entwicklungsstufen und ihre Kultur verband sich
mit dem durch die europäische Zivilisation eingeführtem Gewehr.
Ähnlich war Rußland 1905 wirtschaftlich rückständig, in manchen Gebieten hingegen
fortgeschritten. Es war rückschrittlich, weil Millionen von russischen Bauern wie in
TROTZKI - 19
mittelalterlichen Zeiten lebten und hölzerne Pflüge gebrauchten.
Aber gleichzeitig gab es dort die größten Fabriken der Welt. Die Putilow-Metallbetriebe hatten 40.000 Beschäftigte. Keine vergleichbare Fabrik stand in den USA,
England oder Deutschland. Diese Situation spiegelte sich in den Erwartungen und Ideen
der Arbeiter wider. Sie kombinierten ihre Rückständigkeit mit den fortgeschrittensten
Ideen dieser Zeit.
In England brauchte es Generationen, bevor die Arbeiter den 8-Stunden Tag forderten.
Der jungen Arbeiterklasse in Rußland fehlte es an Erfahrung, aber sie kam sofort auf die
Idee des 8-Stunden Tages. Nicht nur das, sondern sie gingen viel weiter als das, was die
Arbeiter in England zu dieser Zeit diskutierten. Der Slogan des Petrograder Sowjet von
1905 war "8-Stunden und ein Gewehr".
Es dauerte Jahre in England, bis Frauen Gewerkschaftsmitglieder werden konnten.
Obwohl z.B. die "Amalgamated Society", die Metallergewerkschaft in England, bereits
1852 gegründet wurde, war es Frauen erst 1943 erlaubt, beizutreten. Dazu hatte es also
91 Jahre und 2 Weltkriege gebraucht. In Rußland waren die Frauen von Anfang an in
den Gewerkschaften. Deshalb sah Trotzki in der kommenden russischen Revolution die
Kombination zweier Extreme in der Entwicklung des Kapitalismus.
Die Anfänge des Kapitalismus sind die Zeit der Bauernaufstände. In Rußland gab es
gleichzeitig sowohl die Bauernaufstände wegen des Beginns des Kapitalismus als auch
die proletarische Revolution - das Ende des Kapitalismus. Aber Bauern sind keine Arbeiter. Sie haben eine andere Haltung zum Leben. Sie sind keine kollektiv organisierte
Klasse, sondern wollen das Land in individuelle Einheiten privaten Eigentums aufteilen.
Im Gegensatz dazu sagen Arbeiter nicht : »Laßt uns die Putilow-Fabrik in 40.000 Teile
aufteilen, dann kann jeder sein kleines Stück Maschine mit nach Hause nehmen«.
Deshalb würde die Revolution sich aus einer Kombination jener beiden Extreme entwikkeln, aber unter Führung der städtischen Arbeiterklasse.
Die Oktoberrevolution von 1917 bestätigte Trotzkis Theorie vollkommen. Diese
Theorie bildete die Grundlage für Trotzkis Schlußfolgerung, daß die Idee vom
"Sozialismus in einem Land" reaktionär sei. Die Natur des Kapitalismus als Weltsystem bedeutet, daß man ihm nirgends entrinnen kann. Trotzkis Opposition gegen die Idee
des "Sozialismus in einem Land", wurzelte in seinem Internationalismus, der Theorie von
der "Permanenten Revolution".
Die Lebenstragödie Trotzkis lag darin, daß allein die Richtigkeit von Ideen nicht
unbedingt ihren Sieg bedeutet. Ideen werden nur zu einer materiellen Kraft, wenn sie von
Millionen Menschen aufgenommen werden. Über Jahre hinweg wuchs so Trotzkis
Position: Er organisierte den Oktoberaufstand, führte die fünf Millionen Soldaten umfassende Rote Armee und er stand an der Spitze der "Komintern", der kommunistischen
Weltbewegung mit ihren Millionen von Anhängern. 1920 gab es etwa in der Tschechoslowakei 350.000 Mitglieder, in Deutschland eine halbe Million.
Aber mit der Niederlage der deutschen Revolution 1923 folgte die Isolation der Russischen Revolution. Die Niederlage der Weltrevolution führte zu einem abnehmenden
Selbstvertrauen der Arbeiterklasse. Die Verbindung zwischen Trotzkis Ideen und der
unmittelbaren Entwicklung der Arbeiterklasse wurde immer schwächen
Aber die schlimmste Niederlage für die Arbeiterbewegung war Hitlers
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Machtübernahme 1933. Sie wog genauso schwer wie der Sieg von 1917. Seit mehreren
Jahren hatte Trotzki argumentiert, daß Hitler deutsche Arbeiter ermorden und ihre
Organisationen zerstören würde, wenn es der Arbeiterklasse nicht gelinge, ihre Kräfte zu
vereinigen, um ihn zu stoppen.
Zu dieser Zeit war die Linke gespalten, in die Sozialdemokratie, die den Widerstand
nicht organisieren konnte und die Kommunistische Partei, die Stalins Linie befolgte,
wonach Sozialdemokratie und Faschismus Zwillinge seien. Trotzki argumentierte
dagegen, daß die Sozialdemokratie das Kind des aufsteigenden Kapitalismus sei,
während der Faschismus das Resultat des niedergehenden Kapitalismus sei. Weiter
behauptete Stalin, daß sich Sozialdemokratie und Faschismus wohlwollend gegenüber
stünden, weil sie dem selben Herren dienen - dem kapitalistischen System.
Trotzkis Forderung nach einer "Einheitsfront" war hingegen richtig. Die Tragödie lag
in dem Abgrund, der zwischen den großen Zielen und den beschränkten Mitteln ihrer
Verwirklichung klaffte. Als Hitler die Macht in Deutschland übernahm, gab es in
Deutschland nur 100 Trotzkisten. Mit diesen 100 Trotzkisten konnte keine Einheitsfront
erzwungen werden.
Trotzki war mehr und mehr isoliert. Jener Trotzki, der einst fünf Millionen in der
Roten Armee und Millionen in der Kommunistischen Internationale leitete, führte
jetzt nur noch winzige Gruppen von Anhängern. Sie konnten nicht aus ihrer Isolation
ausbrechen, weil Hitlers Sieg eine massive Stärkung Stalins bedeutete. Die Demoralisierung war so groß, daß die Arbeiter nach irgendeinem Halt vor dem Abgrund suchten. Der
Stalinismus wurde zu einer Art Religion.
In diese Zeit fallen Trotzkis größte Leistungen. Jetzt, in den dreißiger Jahren, versuchte
er die revolutionäre Tradition praktisch aus dem Nichts heraus wiederaufzubauen. Was
Trotzki in diesen Jahren so großartig machte, war seine Fähigkeit, seine Leiden in Kraft,
in brillante Schriften über eine Vielzahl von Fragen umzuwandeln.
Die Spanische Revolution, der langanhaltende Kampf in China selbst nach der Niederlage der Revolution in den Zwanzigern, der Klassenkampf in den USA, die Entwicklung
des russischen Regimes, Philosophie waren seine Themen bis zum Ende seines Lebens,
und er bewies dabei eine Offenheit, die ihn vollständig von seinen heutigen "orthodoxen"
Anhängern unterscheidet. Gleichzeitig verband Trotzki seine Analyse mit dem unaufhörlichen Streben nach dem Aufbau revolutionärer Organisation.
Trotzki machte in den 30er Jahren in seiner Analyse und in seinen politischen
Einschätzungen viele Fehler. Wir können über diese Fehler diskutieren und aus ihnen
lernen, aber sie sind nichts im Vergleich zu Trotzkis positiven Beiträgen. Er suchte auf
der ganzen Welt Einzelne, um eine neue Generation die marxistische Tradition zu lehren.
Er brachte diese Generation dazu, marxistische Ideen nicht einfach nur aufzunehmen,
sondern aktiv in den Klassenkampf einzugreifen. Trotzkis Schriften aus den 30er Jahren
sind eine unverzichtbare Quelle für uns. Sie sind unser Ausgangspunkt in dem Versuch,
die revolutionäre sozialistische Tradition vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs des
Stalinismus in der ganzen Welt wiederaufzubauen. Ein Revolutionär zu sein heißt, über
die Möglichkeiten der Zukunft der Menschheit nachzudenken.
Für lange Zeit waren Trotzkis Ideen kaum sichtbar, aber nach fünf Jahrzehnten des
Stalinismus sind sie noch immer lebendig. Trotzki ist eine Brücke in die Zukunft. Die
kommenden Jahrzehnte werden seine sein.
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