12. intellektuelle behinderung - poekl-net

Werbung
117
12. INTELLEKTUELLE BEHINDERUNG
* = reduzierte Entfaltung intellektuell-kognitiver und sozial-adaptiver Fähigkeiten und
Fertigkeiten
* Abweichungen müssen bis zum späten Jugendalter festgestellt worden sein
* Hauptmerkmale:
-> verzögerte Orientierungsreaktion (ab dem frühen Kindesalter beobachtbar)
-> verzögerte Habituierung (ab dem frühen Kindesalter beobachtbar)
-> Beeinträchtigungen des Informationsflusses
-> des Aufmerksamkeitsprozesses
-> der Gedächtnisspanne
-> der Aneignung und Umsetzung von Problemlösestrategien
-> deutlicher Rückstand im Erwerb höherer kognitiver Fertigkeiten (z.B. sprachliche
Kompetenz)
-> oft Entwicklungsverzögerung der Motorik
-> Antrieb auffällig (entweder Trägheit oder Hyperaktivität)
-> mit zunehmendem Alter auffällig wegen stark verlangsamter Lernprozesse
-> eingeschränkte Generalisierungsfähigkeit
1) Definition der intellektuellen Behinderung:
* von Land zu Land unterschiedlich, innerhalb eines Landes je nach Anwendungszweck
unterschiedlich
* in den letzten Jahren Paradigmenwechsel:
-> anstatt vornehmlich die begrenzten kognitiven Fähigkeiten zu beachten -> eher
bedürfnisorientierte Erfassung und Einteilung
-> Wende durch Definitions- und Klassifikationssystem der AAMR (= American
Association on Mental Retardation)
* intellektuelle Behinderung:
-> = Einschränkung des gegenwärtigen Handlungsvermögens
-> vor dem 18. Lebensjahr beobachtbar
-> signifikant niedrige Intelligenz (2 Standardabweichungen unter dem Mittelwert)
UND deutliche Mängel in der sozial-adaptiven Kompetenz
> zur Messung der Intelligenz:
altersgemäßer, individuell vorgegebener, standardisierter Intelligenztest oder
aktueller Entwicklungstest
> zur Messung der sozial-adaptiven Kompetenz:
Adaptive Verhaltensskalen (= Adaptive Behavioral Scales)
-> biologischer Hintergrund der Behinderung wird mitberücksichtigt
118
* Feststellung der Behinderung:
-> diagnostische Abklärung der intellektuellen Behinderung
-> Analyse der Umweltressourcen
-> Analyse der affektiven Charakteristika
-> Analyse der Stärken und Schwächen des Betroffenen
=> Ziel = bedürfnisorientierte Unterstützung
* Obwohl Unterteilung der intellektuellen Behinderung nach Intelligenzgraden für Praxis
wenig brauchbar -> diese Unterteilung im Interesse der Forschung beibehalten:
-> IQ muß mindestens 2 Standardabweichungen unter dem Mittelwert liegen
-> IQ darf nicht höher als 65 - 70 sein (je nach Standardabweichung des verwendeten
Tests)
-> außerdem Berücksichtigung der sozial-adaptiven Kompetenz, dafür spezielle
Ratingskalen
-> IQ-Tests und Skalen zum sozial-integrativen Verhalten korrelieren hoch
miteinander (daher: für Gruppen sind diese beiden Maße relativ redundant;
für Einzelpersonen aber wichtige Info für Erstellung
individueller Förderpläne)
2) Epidemiologie, Verbreitung, Altersrelevanz:
* wird nur der IQ verwendet
-> Prävalenz = ca. 2,3% für mäßig Behinderte
= ca. 0,04 für stärker Behinderte (IQ unter 50) [lt. ICD-10]
* wird auch Kriterium „gestörte Anpassungsfähigkeit“ berücksichtigt:
-> Prävalenz = ca. 1 - 1,5%
* 85% leicht Behinderte
10% mittel Behinderte
5% schwer Behinderte
* 2/3 Männer und 1/3 Frauen
* psychische Störungen und Verhaltensprobleme bei Behinderten viel häufiger als bei
Nicht-Behinderten (Prävalenz = 30-40%); am höchsten bei Kindern und Jugendlichen mit
schwerer und schwerster geistiger Behinderung in Heimen
-> psychotische Störungen häufiger als in Normalbevölkerung
-> affektive und Persönlichkeitsstörungen seltener als in Normalbevölkerung
=>
bei schwerer und schwerster geistiger Behinderung ist eine psychopathologische
Abklärung wegen der Einschränkung von Sprache und Sprachverständnis nur
begrenzt möglich.
119
-> gravierende Verhaltensprobleme (z.B. Aggression, Selbststimulation,
Selbstverletzung) werden mit zunehmender intellektueller Behinderung häufiger
-> Selbstverletzung vor allem bei schwer und schwerst behinderten Kinder und
Jugendlichen (Prävalenz = 25%)
3) Ursachen:
* Intellektuelle Behinderung entsteht kumulativ aus biologischen und psychosozialen
(einschließlich kulturellen) Faktoren
* Je schwerer die Behinderung, umso bedeutender sind biologische Faktoren
* psychosoziale Faktoren = va. Deprivation (= gravierende Vernachlässigung und
Anregungsdefizite)
* kumulativer Effekt wirkt sich vor allem dann aus, wenn biologische Gefährdung (z.B.
durch Frühgeburt) auf mangelnde Förderung und soziale Benachteiligung trifft
-> unspezifische Ätiologie
-> Störungen in der frühen embryonalen Phase
(z.B. chromosomale Aberrationen, Infektionen)
-> psychosoziale Faktoren (MIT biologischer Gefährdung)
-> perinatale und Schwangerschaftskomplikationen
(z.B. virale Einwirkungen, Hypoxie)
-> Vererbung (metabolische Störungen, z.B. Tay-Sachs-Syndrom)
(z.B. Deviationen einzelner Gene wie bei der tuberösen Sklerose
oder chromosomale Störungen, z.B. durch Translokation bedingt)
-> Traumata in der frühen Kindheit
(z.B. physisches Trauma, Viruserkrankung)
35%
30%
15%
10%
5%
5%
4) Interventionen und Begleitungen
Intervention bei geistiger Behinderung läßt sich unterteilen in:
a) Förderprogramme bezüglich der intellektuellen Behinderung
(= Entwicklungsrehabilitation der intellektuellen Leistungsfähigkeit)
b) therapeutische Maßnahmen zur Reduktion der (begleitenden) Verhaltensstörungen
120
ad a) Förderprogramme:
* Geistige Behinderung galt lange Zeit als nicht behandelbar, ABER: das ist falsch!
* verbesserbar =
-> Sprache und Sprachverständnis
-> Zahl- und Mengenbegriff
-> Diskrimination visuell gebotener Reize
-> Explorationsverhalten
* Verhaltensorientierte Förderung orientiert sich nicht an der Diagnose „intellektuelle
Behinderung“, sondern am Entwicklungsstand; geht mit zunehmendem Alter in
begleitende Betreuung über
* intellektuelle Förderung möglichst früh; vor und außerhalb der Schule durch
Bezugspersonen unter Supervision eines professionellen Therapeuten
-> kontinuierliche Förderung mit hoher Übungsintensität
-> Übernahme der Förderprinzipien in den Erziehungsalltag
* individuell gestaltete Förderpläne
-> getrennte Pläne für weitgehend voneinander unabhängige Bereiche
-> kombinierte Pläne für leicht zu verbindende Übungsfunktionen
5) Verhaltensstörungen:
* Behandlung unterscheidet sich prinzipiell nicht von der der „Normalbevölkerung“
-> Lernprozesse werden initiiert (z.B. Verstärkung, Bestrafung, Löschung,
Diskrimination)
-> Einsatz von Methoden wie Ausformung, Verhaltensverkettung, Hilfestellung,
Reizüberblendung
* Besonderheiten bei intellektuell Behinderten:
a) intendierte Lernprozesse müssen auf dem kognitivem Niveau des Behinderten
ansetzen -> klar strukturiertes Kontingenzmanagement (unmittelbar auf das
relevante Verhalten folgende appetitive oder aversive Reize)
b) manche Verhaltensstörungen sind typisch für intellektuell Behinderte
-> erschweren die Integration, sind besonders zu berücksichtigen
c) müssen Strafreize angewendet werden (z.B. bei schwerer Selbstverletzung)
-> dürfen von Anfang an nicht zu milde sein -> dadurch wird Gewöhnung
vermieden (z.B. Kind beißt sich in die Hand -> muß 30x in die Hände klatschen =
„Überkorrektur“))
121
d) Hat Kind Angst vor seinen Autoaggression und sucht es Schutz davor -> Verhalten
nicht bestrafen, sondern Desensibilisierung der Angst
e) zuerst Stereotypien und Selbststimulationen bearbeiten -> sie behindern
Lernfortschritte! (z.B. kann hier auch „sensorische Extinktion“ eingesetzt werden,
d.h. Kind schlägt mit Kopf auf Tisch -> wird nur mit gepolsterten Tischen
konfrontiert)
f) nicht nur versuchen, unerwünschtes Verhalten zu reduzieren, sondern positives (=
mit dem unerwünschten Verhalten inkompatibles) Verhalten aufbauen!
6) Störungskonzepte der Verhaltensprobleme:
3 Modelle:
-> lerntheoretische Modelle
-> organische, biochemische Theorien
-> Verhaltensstörungen als Korrelate allgemeiner psychischer Erkrankungen
a) Lerntheoretische Modelle:
operante Lerntheorien:
Verhaltensstörungen = Varianten gelernten Verhaltens, bei denen primär auf die
funktionale Verknüpfung von 3 Elementen geachtet wird:
-> A - antecendents (vorhergehende Reizbedingungen)
-> B - behavior (interessierendes Verhalten)
-> C consequences (darauf folgende Konsequenzen)
1. positives Verstärkermodell:
* Störverhalten wird als operantes Verhalten betrachtet, das durch positive Verstärkung
(meist
soziale Verstärkung -> im unmittelbaren Anschluß an das Störverhalten erfolgt meist
soziale
Zuwendung durch Eltern, Lehrer, Betreuer) aufrechterhalten wird
* soziale Zuwendung kann die Häufigkeit von Störverhalten (sogar von Selbstverletzungen)
erhöhen!
2. Modell der intrinsischen Verstärkung:
Störverhalten
* produziert Empfindungen, die unmittelbar verstärkende Wirkung haben
* dient dem Ausgleich eines homöostatischen ZNS-Disequilibrium (körpereigene
Opiattheorien)
122
3. Modell der negativen Verstärkung:
Störverhalten kann wirksames Vermeidungsverhalten sein -> um unangenehmen Aufgaben
oder gefürchteten Situationen zu entgehen (z.B. Selbstverletzungen, Wutanfälle, aggressive
Attacken, Zerstören von Gegenständen)
b) Verhaltensprobleme als Symptome allgemeiner Psychopathologie:
Verhaltensstörungen treten gehäuft mit psychiatrischen Erkrankungen auf -> z.B. aggressives
Verhalten bei depressiven geistig Behinderten 4x so häufig wie bei nicht geistig behinderten
Depressiven.
c) organische und biochemische Grundlage:
* Selbstverletzungsverhalten tritt z.B. bei mindestens 3 organisch verursachten Syndromen
auf:
-> Lesch-Nyhan-Syndrom
-> Cornelia-DeLange-Syndrom
-> Smith-Margenis-Syndrom
* Stereotypes Verhalten (Händeringen) tritt auf beim Rett-Syndrom
7) Zur Effektivität von psychologischen Interventionen:
* verhaltenstherapeutische Intervention erzielt gute Erfolge, ABER: abhängig von
individuellen Problemen des Betroffenen und von der Intensität der Betreuung
* intellektuelle Förderung:
-> strukturierte Lernprogramme (individuelle auf Entwicklungsstand und laufend
geprüfte Fortschritte abgestimmt) ermöglichen Verbesserung einzelner Funktionen
-> Lernprogramme müssen kontinuierlich über längere Zeit, in kleinen Schritten
durchgeführt werden
-> Einbeziehung der Bezugspersonen
-> langfristige Einbindung der Lerninhalte in den Erziehungsalltag
* Verhaltensstörungen:
-> ähnliche Intensität wie bei den Lernprogrammen
-> Übernahme der Maßnahmen in die Erziehung
-> Supervision der Eltern („Kotherapeuten“)
-> Pläne müssen in operationalisierter Form als Kontingenzmanagement gestaltet
werden
-> für aggressives und selbstverletzendes Verhalten Erfolgsquoten von 45-75% (va.
wenn Kombination von aversiven und nicht-aversiven Verfahren)
-> Erfolgsquote bei der Behandlung von inadäquater Kommunikation = 35-40%
Herunterladen