Auszug: Mandel: Die Bürokratie - Internationale Sozialistische Linke

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■ Bürokratisierung der Arbeiterbewegung
Auszug aus:
Ernest Mandel: Die Bürokratie. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1976. S. 8–13
schen Reflex hiervon: sie neigen dazu, ihre Aktivität als ein
Ziel an sich anzusehen. Ebenso werden die Strukturen der
Organisationen, die anfangs als Mittel gedacht waren, bald
als Ziele an sich betrachtet. Das gilt vor allem für jene, die
sich am unmittelbarsten und nächsten mit diesen Organisationen identifizieren, die sich ständig in ihnen bewegen,
diejenigen, die den Apparat, die Hauptamtlichen, die zukünftigen Bürokraten darstellen.
Das führt uns zum Verständnis dessen, was der Herausbildung der Arbeiterbürokratie ideologisch und psychologisch zugrundeliegt: das Phänomen der Dialektik der partiellen Errungenschaften.
I. Entstehungsgeschichte des Phänomens der Bürokratie
Das Problem der Bürokratie in der Arbeiterbewegung stellt
sich zunächst unvermittelt als Problem des Apparats der
Arbeiterorganisationen: als Problem der Hauptamtlichen,
der intellektuellen Kleinbürger, die in den mittleren und
oberen Führungsfunktionen innerhalb der Arbeiterorganisationen auftauchen.
Solange die Arbeiterorganisationen auf sehr kleine
Gruppen, politische Sekten oder zahlenmäßig sehr schwache Selbstschutzvereine begrenzt sind, gibt es keinen Apparat, keine Hauptamtlichen, und das Problem kann sich
nicht stellen. In diesem Stadium konnte man höchstens die
Frage nach den Beziehungen zu den kleinbürgerlichen Intellektuellen stellen, die ihre Hilfe bei der Entwicklung dieser embryonalen Arbeiterbewegung anbieten.
Aber der Aufschwung der Arbeiterbewegung, das Entstehen politischer oder gewerkschaftlicher Massenorganisationen ist ohne das Entstehen eines Apparats von Hauptamtlichen, von Funktionären unvorstellbar. Wer aber Apparat und Funktionäre sagt, spricht bereits vom potenziellen Phänomen der Bürokratisierung. Von Anfang an sieht
man so eine der tiefsten Wurzeln des bürokratischen Phänomens auftauchen.
Die Arbeitsteilung in der kapitalistischen Gesellschaft
behält die manuelle Arbeit der Produktion dem Proletariat
und anderen Gesellschaftsklassen die Aneignung und Produktion der Kultur vor. Eine ermüdende, sowohl körperlich wie geistig erschöpfende Arbeit erlaubt es dem Proletariat nicht, sich in seiner Gesamtheit die fortgeschrittensten Ergebnisse der Wissenschaft anzueignen. Noch auch
kann es eine ständige politische und gesellschaftliche Aktivität entfalten. Die Lage des Proletariats im kapitalistischen Regime bringt eine kulturelle und wissenschaftliche
Unterentwicklung mit sich.
Die völlige Auflösung der Apparate in der Arbeiterbewegung würde sie zu einem absolut mittelmäßigen Primitivismus verdammen und ihren Sieg als kulturellen und gesellschaftlichen Rückschritt im Vergleich zu den Errungenschaften der kapitalistischen Welt erscheinen lassen. Der
Sozialismus, die Emanzipation des Proletariats, ist aber
nur durch die völlige Assimilation dessen vorstellbar, was
die vorsozialistische Wissenschaft auf dem Gebiet der Natur- und Gesellschaftswissenschaften an gültigem hinterlassen hat.
Die Entwicklung der Arbeiterbewegung macht unbedingt die Schaffung eines Apparats und Funktionäre erforderlich, die durch eine gewisse Spezialisierung versuchen,
die durch die proletarische Existenz entstandenen Lücke
innerhalb der Arbeiterklasse zu füllen.
Ganz grob gesprochen, könnte man sicherlich sagen,
dass mit dieser neuen Spezialisierung die Bürokratie entsteht: sobald sich einige Menschen beruflich und ständig
mit Politik und Gewerkschaften beschäftigen, ist latent
eben die Entwicklung von Bürokratie und Bürokratismus
möglich.
Diese Spezialisierung ruft auf einer tieferen Ebene Erscheinungen der Fetischisierung und der Verdinglichung
hervor. In einer auf Arbeitsteilung, auf übermäßiger Differenzierung der Aufgaben begründeten Gesellschaft, in der
die Arbeiter ihr ganzes Leben lang die gleichen Bewegungen ausüben, findet man in ihrem Verhalten den ideologi-
II. Die Dialektik der partiellen Errungenschaften
Als Materialisten können wir dieses Problem nicht von
dem der unmittelbaren materiellen Interessen trennen.
Hinter dem Problem der Bürokratie gibt es das der materiellen Privilegien und der Verteidigung dieser Privilegien.
Wenn man aber den Ursprung und die Entwicklung des
Problems verstehen will, würde man es sich allzu einfach
machen, wollte man es auf den alleinigen Aspekt der Verteidigung materieller Privilegien begrenzen. Das beste Gegenbeispiel ist die Entwicklung der Bürokratie in den
Kommunistischen Parteien, die nicht an der Macht sind
(Frankreich oder Italien) oder in halbkolonialen Ländern
(Brasilien), obwohl in einer bestimmten Epoche (der
schlimmsten des Stalinismus) selbst dort diese Erscheinungen in großem Umfang zutage traten. Heute übersteigen die Einkommen der hauptamtlichen in den kommunistischen Massenparteien nicht die der Facharbeiter und
stellen keine zu verteidigenden materiellen Privilegien dar.
Hingegen wirkt sich das Phänomen der Dialektik der partiellen Errungenschaften voll aus: die Identifizierung von
Ziel und Mitteln, des bürokratischen Individuums mit der
Organisation, wobei diese Identifikation zur tieferen Ursache eines konservativen Verhaltens wird, das in einen heftigen Gegensatz zu den Interessen der Arbeiterbewegung geraten kann.
Was bedeutet die Dialektik der partiellen Errungenschaften?
Diese Dialektik äußert sich in dem Verhalten derer, die
das Betreiben und den Sieg von Arbeiterkämpfen zur Eroberung der Macht in den kapitalistischen Ländern der
bloßen Verteidigung der bestehenden Arbeiterorganisationen unterordnen und die auf internationaler Ebene die
Ausweitung der Weltrevolution und die Entwicklung der
Kolonialrevolution der statischen Verteidigung der Sowjetunion und der [anderen] Arbeiterstaaten unterordnen. Sie
verhalten sich so, als seien die Elemente von Arbeiterdemokratie innerhalb der kapitalistischen Welt und das Vorhandensein von Arbeiterstaaten Ziele an sich, als wären sie
bereits die Vollendung des Sozialismus. Sie verhalten sich
so, als müsste jede neue Errungenschaft der Arbeiterbewegung absolut und zwingend der Verteidigung des bereits Bestehenden untergeordnet werden. Das schafft eine grundlegend
konservative Mentalität.
Der berühmte Satz des „Kommunistischen Manifests“
„Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten“
ist sehr tiefgründig. Man muss ihn als marxistischen
Grundsatz ansehen. Er bedeutet: das Proletariat hat die
Funktion der kommunistischen Emanzipation der Gesellschaft, weil die Proletarier nichts besitzen, was sie zu verteidigen haben. Sobald dies nicht mehr hundertprozentig
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ter den damaligen Bedingungen (Arbeitstag von 12 Stunden mit allem, was das bedeutet, völlige soziale Unsicherheit usw.), um Hauptamtlicher einer Arbeiterorganisation
zu werden, einen unbestreitbaren sozialen Aufstieg, sicherlich auch eine individuelle Emanzipation. Dennoch kam
man keineswegs in eine ideale Situation: Man konnte weder von Verbürgerlichung noch von Umwandlung in eine
privilegierte soziale Schicht sprechen. Die ersten Sekretäre
der Arbeiterorganisationen verbrachten einen guten Teil
ihres Lebens im Gefängnis und lebten in mehr als bescheidenen materiellen Verhältnissen; aber sie lebten trotzdem
in ökonomischer und sozialer Hinsicht besser als der damalige Arbeiter.
– Psychologisch und ideologisch ist es offensichtlich für einen überzeugten Sozialisten und Kommunisten unendlich
angenehmer, den ganzen Tag über für seine Ideen und Ziele zu kämpfen als stundenlang mechanische Bewegungen
in einem Betrieb auszuführen und zu wissen, dass man damit im Endeffekt dazu beiträgt, den Klassengegner zu bereichern. Es ist unbestreitbar, dass dieses Phänomen des sozialen Aufstiegs die treibende Kraft eines latenten Keims
der Bürokratisierung enthält: wer diese Position innehat,
will sie möglichst behalten. Das führt dazu, dass Hauptamtliche ihre Stellung gegen alle verteidigen, die sie durch
das Rotationsprinzip von Organisationsmitgliedern auswechseln möchten.
b) Das Auftauchen sozialer Privilegien von anfangs materiell nur beschränktem Ausmaß, gewinnt bereits größeren Umfang, wenn diese Massenorganisationen beginnen,
Positionen zwangsweise innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu besetzen. Man muss dann Parlamentarier,
Gemeinderäte oder Gewerkschaftssekretäre benennen, die
auf höherer Ebene mit den Arbeitgeberverbänden verhandeln und damit in gewissem Maße mit ihnen verkehren
können. […]
In der kapitalistischen Gesellschaft, die ihre eigenen
„moralischen Werte“ und ihre eigene Einflusszone hat, ist
es unmöglich, eine ideale kommunistische Gesellschaft zu
errichten, auch nicht innerhalb der Arbeiterbewegung.
Man kann sie innerhalb eines außerordentlich bewussten
Kaders von Revolutionären entwickeln; aber in einer zahlenmäßig starken Arbeiterbewegung, innerhalb der bürgerlichen Demokratie, ist die gegenseitige Durchdringung mit
der kapitalistischen Gesellschaft unvermeidbar; ihre Versuchungen sind stark, und die Übernahme „kommunistischer“ Regeln wird immer schwieriger. So taucht dann die
Tendenz zur Bürokratisierung auf: die gegen die Gefahren
privilegierter Positionen bewusst aufgerichteten Hindernisse verschwinden, wodurch der Weg für diese Tendenz
immer mehr freigemacht wird.
c) In der letzten historischen Phase kann die Dialektik
innerhalb bestimmter großer Arbeiterorganisationen sogar
bis zur letzten Konsequenz führen. Es kann hierbei zu einem völligen Wandel der politischen Orientierung, zu einer
bewussten Integration in die bürgerliche Gesellschaft und
zur Klassenzusammenarbeit kommen.
Die Wurzeln der Bürokratie verzweigen sich rasch. Ein
Teil der Führer arbeitet bewusst mit der Bourgeoisie zusammen und ordnet sich in die kapitalistische Gesellschaft
ein. Die vom sozialistischen Bewusstsein gegen die Bürokratisierung errichteten Hindernisse verschwinden; die
Privilegien mehren sich; die sozialdemokratischen Parlamentarier geben nicht mehr einen Teil ihres Gehalts an ihre Organisation ab und begnügen sich nicht mit dem Gehalt eines Hauptamtlichen; sie schaffen sich in der Arbeiterklasse eine „Wählerkundschaft“, eine Klientel. Von diesem Zeitpunkt an kann sich die bürokratische Entartung
nur noch verstärken.
wahr ist, sobald ein Teil des Proletariats (sei es die Arbeiterbürokratie oder aber die im Proletariat der entwickelten
imperialistischen Länder entstandene Arbeiteraristokratie)
eine Organisation oder ein Lebensniveau besitzt, die den
ursprünglichen Nullpunkt – das „Nichts“ – überschritten
haben, besteht die Gefahr, dass sich eine neue Mentalität
entwickelt. Es stimmt nicht mehr, dass das Proletariat
nichts mehr zu verteidigen hätte. In jeder neuen Aktion
muss man das Für und Wider gegeneinander abwägen:
bringt die ins Auge gefasste Aktion nicht die Gefahr mit
sich, statt positiven Gewinn zu erzielen, bereits Errungenes
zu verlieren?
Darin lag, bereits vor dem Ersten Weltkrieg, die eigentliche Wurzel des bürokratischen Konservatismus in der sozialdemokratischen Bewegung sowie der Bürokratisierung
der Arbeiterstaaten, selbst vor der extremen Entartungsform der stalinistischen Ära.
Diese Dialektik der partiellen Errungenschaften muss
als echt dialektisch begriffen werden: das ist kein scheinbarer, durch eine Formel auflösbarer Widerspruch. Hier geht
es um einen echten, auf wirklichen Problemen beruhenden, dialektischen Widerspruch. Wenn auch der bürokratische Konservatismus, der den revolutionären Kampf in
den kapitalistischen Ländern ablehnt und der sich unter
dem Vorwand, dies gefährde die bestehenden Errungenschaften, weigert, die Revolution international weiterzutreiben, offensichtlich den Interessen des Proletariats und
des Sozialismus abträglich ist, so ist der Ausgangspunkt
dieser Haltung, die Notwendigkeit, das Errungene zu verteidigen, ein wirkliches Problem.
„Wer die vorhandenen Errungenschaften nicht zu verteidigen versteht, wird niemals neue machen“ (Trotzki). Aber
es ist falsch, von vornherein anzunehmen, und darin steckt
der Konservatismus, dass jeder bedeutende Sprung der
Revolution nach vorne, sei es im Landes- oder Weltmaßstab, automatisch die vorherigen Errungenschaften bedrohe. Diese Haltung charakterisiert den eigentlichen und ständigen Konservatismus sowohl der reformistischen wie der stalinistischen Bürokratien.
Diese Dialektik der partiellen Errungenschaften bildet
zusammen mit dem Phänomen der Fetischisierung in einer
auf übertriebener Arbeitsteilung beruhenden Gesellschaft
eine der tiefsten Wurzeln der Tendenz zur Bürokratisierung. Diese Tendenz ist unzertrennlich mit der Entwicklung der Arbeitermassenbewegung in dieser historischen
Epoche der Zersetzung des Kapitalismus und des Übergangs zur sozialistischen Gesellschaft verbunden. […]
III. Die bürokratischen Privilegien
Man darf natürlich auch nicht in den entgegengesetzten
Fehler zum Vulgärmaterialismus verfallen und das Problem ausschließlich auf entferntere soziologische Ursachen
reduzieren, indem man es völlig von seinem materiellen
Unterbau trennt. Die Tendenz zum Konservatismus seitens der Führung und der Hauptamtlichen der Arbeiterorganisationen hängt auch mit den materiellen Vorteilen und
Privilegien zusammen, die diese Funktionen mit sich bringen. Diese gesellschaftlichen Vorrechte sind gleichzeitig
Autoritäts- und Machtprivilegien, denen die Menschen
große Bedeutung beimessen.
a) Betrachtet man das Problem in seiner ursprünglichen
Form, geht man also von den Apparaten der ersten Arbeiterorganisationen, der Gewerkschaften und der sozialdemokratischen Parteien vor dem Ersten Weltkrieg aus, dann
erscheinen die bürokratischen Privilegien in zweierlei Weise:
– Für Arbeiter und Arbeitersöhne bedeutete damals das
Ausscheiden aus dem Produktionsprozess, besonders un-
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