„Gesund an Leib und Seele“– World Mental Health Day 2004

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2004 Juni
Forum
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Psychosomatik –
gibt es das?
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für
Regeneration - ein
vernachlässigter Aspekt
im Behandlungsprozess
die
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Psychiatrieregion
Hausarzt und Psychiatrie
– zwei Welten?
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Der psychiatrische
Patient auf
der Notfallstation
Winterthur
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Wir brauchen Zeit
für das Psychische im
Spitalalltag
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Kurz und bündig
„Gesund an Leib und Seele“– World Mental Health Day 2004
Lernen ist die nicht zu
bremsende Lieblingsbeschäftigung unseres
Gehirns. Zellen und
ihre Netzwerkschaltstellen - die
Synapsen - reichern sich an,
wenn Zebrafinken neue Gesänge
oder Taxifahrer den Stadtplan
lernen.
Ob sich psychiatrisches Können
ebenfalls in Karten der Hirnaktivität
abbildet, wird vielleicht auch einmal untersucht. Wichtig für uns ist
die Frage, wie all die lernbereiten Köpfe unseres Versorgungssystems eine intelligence amplification, ein kollektives Hirn, bilden
können.
Eine „Lernende Organisation“
forderten Grundversorger im
Winterthurer Psychiatriekonzept.
Die ipw - beauftragt, einen Superorganismus der Akteure zu fördern - nimmt diese Forderungen
ernst. Bescheiden ausgedrückt
suchen wir Formen, welche uns
ein Lernen und Verbessern im
gemeinsamen Wirken am psychiatrischen Patienten ermöglichen. Die „Synapse“ soll mit dazu
beitragen. Wir hoffen, unser Versorgungshirn tut es den Finken
und Taxifahrern gleich.
Dr. med. Andreas Andreae
Chefarzt ipw
Von Dr. med. Toni Berthel
Stv. Chefarzt ipw
Die World Federation of Mental
Health WFMH („Weltverband für seelische Gesundheit“, assoziiert mit der
WHO und UNO) will mit dem Weltgesundheitstag des psychisch Kranken am 10. Oktober 2004 wieder einmal darauf hinweisen, dass die
kartesianische Trennung von Psyche und Körper eine
falsche Prämisse im wissenschaftlichen und praktischen Verständnis von Gesundheit und Krankheitsbehandlung ist. „Mind and body are inseparable:
health is a complete state of well-being - and there
is no health without mental health.” Unser Gesundheitssystem folgt noch immer dem Mythos des Körper-Seele-Dualismus, gewichtet einseitig körperlich
Fassbares und benachteiligt psychisch Kranke sowie Patienten mit komplexen und chronifizierenden
Leiden.
Das Problem liegt aber noch anderswo. 2004 ist
ein olympisches Jahr und Baron de Coubertin,
dem „Erfinder“ der modernen olympischen Spiele,
ging es bekanntlich um den „gesunden Geist
in einem gesunden Körper“. Das olympische
Ideal steht dem Körper-Seele-Dualismus entgegen, aber ein anderer Dualismus ist heute die
Folge: Hier die körperlich und mental gestählten, bewunderten, gut bezahlten Sportstars, dort
unsere Patientinnen und Patienten mit vielen
körperlichen und seelischen Gebresten. Letztere
erhalten weder Applaus noch Wertschätzung. Ihr
Leiden darf heute sogar von rastlosen und
nimmermüden Politikern als Scheinkrankheit oder
Scheininvalidität abgewertet werden. Die Stätten,
in denen der gut funktionierende Körper zelebriert
wird, sind zu Konsum- und Fitnesstempeln ausgebaut worden. Immer häufiger geben sich auch
Spitäler ein solches Image. Die Orte, an denen
Menschen behandelt werden, die älter geworden
sind, sich ihre jungen Körper verstümmeln oder
ihre Muskeln von den Knochen hungern, werden
„ausgeblocht“ und „weggemerzt“. Mit der einseitigen
Betonung der maximalen Leistung, der optimalen Ef-
fizienz, der schlanken Staatsstrukturen kann vielen Pantanis, Sanierern
und „Staatsverschlankern“ der Geist - oder eben die Seele - verloren gehen. Gefühle, Freude, Trauer, Angst, Leidenschaft werden im und durch
den Körper ausgedrückt. Bei den einen im Ausdruck unendlicher Leistungsbreitschaft, bei den anderen in Spannungen, Schmerzen, chronischen Beschwerden. Die erfolgreiche Behandlung und Betreuung der
letzteren braucht Zeit und menschliche Zuwendung. Hier sind Körperliches und Psychisches stets untrennbar.
Wie sieht es im Netzwerk der integrierten Versorgung unserer Psychiatrieregion aus? Welches sind die Erfahrungen, Standpunkte und Wünsche
der einzelnen Akteure, wenn es um die Beziehung zwischen Körper- lichem und Psychischem geht – in der Hausarztpraxis, in der Geronto- psychiatrie, in der Fachsprechstunde, im Spital? Im vorliegenden Forum
erlauben wir uns einen kleinen Streifzug, setzen einige Spots und lassen
das Gesagte für sich sprechen.
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Psychosomatik – gibt es das?
Von Dr. med. Beat R. Schaub
Praxis für Psychiatrie und Psychotherapie FMH
Als ich gebeten wurde, einen kurzen Artikel zum Thema des diesjährigen Weltgesundheitstages der psychisch Kranken zu schreiben, dachte ich zunächst an
die zahlreichen Patienten, die nach mehrfachen Abklärungen bei Spezialisten wegen unterschiedlicher Leiden
schliesslich in meine Sprechstunde verwiesen wurden. Es war ihnen zuvor mitgeteilt worden, es handle sich bei ihrem Leiden um eine funktionelle Störung mit psychischer Ursache. Die erste Interpretation der Betroffenen war häufig die, dass man z.B. ihre Rückenschmerzen bisher nicht
genügend ernst genommen hatte und sie nun abgeschoben würden. Diese Menschen waren zunächst weiterhin davon überzeugt, dass ein körperliches Problem Grund für ihr Leiden sei, dieses jedoch noch nicht gefunden wurde. Eine andere Betrachtungsweise musste in gemeinsamer
Arbeit in den Therapiestunden entwickelt werden.
Anstelle eines Ursache-Wirkung-Denkens würde ein Nebeneinander
seelischer und leiblicher Erscheinungen stehen.
In letzter Zeit wird man als niedergelassener Psychiater über verschiedene
(Marketing-)Kanäle darauf aufmerksam gemacht, dass Herzpatienten
häufig auch unter Depressionen leiden. Hier wird ein umgekehrter Schluss
gezogen: ein körperliches Leiden schafft psychische Symptome. In der
NZZ vom 18. Februar 2004 wird über Angststörungen berichtet: Neurowissenschafter in den USA fanden mit Hilfe der Positronenemissionstomographie (PET) bei Angstpatienten in drei bestimmten Gehirnregionen
bis zu einem Drittel weniger Serotonin-Rezeptoren als bei gesunden
Probanden. Die selbe Forschergruppe hatte dies auch bei depressiven
Patienten gezeigt. Ob jemand eine psychische Störung entwickelt, hängt
nun offenbar von der An- oder Abweseheit einzelner Rezeptoren
im Gehirn ab. Anscheinend ist also nur die genetische Veranlagung
und nicht etwa die Lebenserfahrung entscheidend für die Ausprägung einer Angststörung oder Depression. Die Interaktionen des untersuchten Gehirns mit seiner Umwelt scheinen unter diesem Blickwinkel
irrelevant. Man könnte sagen, dass hier psychische Phänomene oder
Symptome auf rein somatische Einheiten (Serotonin-Rezeptoren) reduziert werden.
Seit Descartes besteht der Dualismus Bewusstsein (Ich, Psyche) und
Materie (Körper, Soma). Mit ihm hat die Wissenschaftsgeschichte eine
sehr nachhaltige Wendung genommen. Salopp ausgedrückt kann (wis-
senschaftlich gesehen) nur sein, was vom Menschen erkennbar und somit
messbar ist. Damit haben die Psychiatrie und viele psychotherpeutische
Schulen ein Problem. Sie sind nicht wissenschaftlich, d.h. die Psychiatrie
nur, wenn sie sich als untergeordnetes Fach der Neurowissenschaften
sieht.
Andere Betrachtungsweisen mussten in den
Therapiestunden entwickelt werden.
Nehmen wir einmal an, es gibt keinen Dualismus Psyche und
Soma und keine Psychosomatik. Das heisst, dass „leben“ wieder
wie damals im Althochdeutschen mit „leiben“ beschrieben werden
könnte. Der Mensch drückt dann seine Haltung und Verhaltensweise,
oder besser, seine Existenzweise zu seiner Umwelt immer auch
leiblich aus. Ob in freudiger Erregung, unter Angst oder während heftigster Bauchschmerzen: wir sind, unter obiger Annahme, immer
auch dieses Leibliche, mit all den dazugehörenden einzelnen physiologischen (und psychologischen) Phänomenen. Von einem derartigen Blickwinkel aus verschwände die so strittige Grenze zwischen der
Welt der Psyche und der des messbaren Körperlichen. Anstelle eines Ursache-Wirkung-Denkens würde vielmehr ein Nebeneinander
seelischer und leiblicher Erscheinungen stehen. Persönlich bevorzuge
ich die Betrachtungsweise über das menschliche Dasein, bei welcher der
Mensch gesehen wird als Wesen, das bei all seinen Verrichtungen, in all
seinen Lebenssituationen „mit Leib und Seele“ dabei ist.
Regeneration – ein vernachlässigter körperlich-seelischer Aspekt
im Behandlungsprozess
Von Markus Halmer
Pflegefachmann Psychiatrie, Stationsleiter Therapiestation,
Gerontopsychiatrisches Kompetenzzentrum ipw
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In Anlehnung an das Konzept der Salutogenese möchte
ich mich der Frage nach der Bedeutsamkeit von
Regeneration in der Psychiatrie widmen. Mich leitet hier
die Frage: Wieviel Aktivität braucht ein Patient, um wieder
zur persönlichen Autonomie zurückzufinden? Im Idealfall gelingt es einem
Behandlungsteam, mit seinen Patienten einen Therapieplan auszuhandeln,
der nicht nur reflektierte Aktivitäten, sondern auch reflektierte Regenerationszeiten beinhaltet. Unter Regeneration verstehe ich ein Verhalten, das mehr
Energie bringt, als dass es kostet (= positive Energiebilanz/ Erholungsgrad).
Wem aber welches Regenerationsverhalten am meisten Erholung bringt,
ist wohl von Mensch zu Mensch verschieden und muss somit individuell
ermittelt werden. In der folgenden Falldarstellung bedeutete dies etwa
tägliche Atemübungen, aktives Musikhören oder den wöchentlichen
Besuch des Gottesdienstes. Der Patient musste sein Regenerationsverhalten neu entdecken, um zunehmend fähig zu werden, sich mit sich
selbst und seinen Verhaltensweisen auseinanderzusetzen.
Unter Regeneration verstehe ich ein Verhalten,
das mehr Energie bringt, als dass es kostet.
Herr X., 55 Jahre alt, wurde mit der Diagnose „Depression“ auf der
Therapiestation aufgenommen. Bis vor drei Jahren war er beruflich sehr
erfolgreich tätig, ging schonungslos mit sich um. Er hatte dann einen
Schlaganfall erlitten, dessen Folge eine deutliche Störung seiner kognitiven Fähigkeiten nach sich zog. Nun entstand zunehmend eine Diskrepanz
zwischen seinen ursprünglichen Rollenauffassungen und seinen aktuellen Fähigkeiten. Diese Spannung stieg weiter, bis hin zur Blockade und
persönlichen Isolation des Patienten, der schliesslich in eine tiefe
Depression fiel.
„Was raubt mir Energie, und woran merke ich das?“ und „Was gibt mir
Kraft, bzw. wie regeneriere ich mich?“. Die Bezugsperson reflektierte mit
Herr X. wöchentlich sein Aktions- und Regenerationsverhalten, regte ihn
zum Experimentieren mit neuen Verhaltensweisen an und erarbeitete mit
ihm Methoden zur Selbstreflexion.
Bereits die ersten geplanten Regenerationszeiten im Tagesablauf von
Herr X. zeigten vor allem für ihn erstaunliche Wirkungen: Sein subjektives Befinden stieg innerhalb von wenigen Tagen an, seine Konzentrationsfähigkeit verbesserte sich kontinuierlich, und nach einigen Tagen war
er wieder fähig, im stationären Rahmen seine Aktivitäten des täglichen
Lebens autonom zu erledigen. In der folgenden Zeit begann Herr X.
sowohl mit seiner Konzentrations- als auch seiner Regenerationsfähigkeit
zu experimentieren. Nach sechs Monaten war Herr X. wieder in der Lage,
selbständig längere Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu organisieren und durchzuführen, in Stresszeiten in Einkaufszentren Kommissionen
zu erledigen und sich im Rahmen von Trainingswochenenden bei sich zu
Hause komplett selbst zu versorgen. Nach zwei weiteren Monaten der
Konsolidierung konnte Herr X. nach Hause entlassen werden.
In der Arbeit mit psychiatrischen Patienten stelle ich fest, dass dem
Aspekt der Regeneration in der Alltagsgestaltung oft zu wenig Bedeutung beigemessen wird (abgesehen vom nächtlichen Schlaf, der mit
allen Mitteln herbeigeführt wird). Ziel muss es sein, einen Tagesrhythmus zu entwickeln, der eine Ausgewogenheit zwischen Aktivität und
Regeneration in sich birgt. Eine wesentliche Aufgabe der Pflege ist es,
den Patienten dabei behilflich zu sein, ihr Selbstpflegeverhalten im Bereich Erholung zu verbessern und durch Experimentieren wirksamere
Methoden der Energiegewinnung zu entdecken.
Als er bei uns auf der Therapiestation eintrat, zeigte Herr X. ein Bild der
Hilflosigkeit, nässte ein, konnte sich nicht selbst an- und ausziehen. Im
zwischenmenschlichen Kontakt wirkte er ratlos, litt unter Wortfindungsstörungen, wirkte blockiert. Seine Konzentrationsfähigkeit war so gut
wie nicht vorhanden. Auch beklagte Herr X. teilweise sensorische Ausfälle in Armen und Beinen sowie eine generelle Schwäche. Die Schwerpunktfragen im achtmonatigen Pflegeprozess lauteten unter anderem:
Hausarzt und Psychiatrie - zwei Welten?
Von Dr. med. Georg Angele
Praxis für Allgemeinmedizin FMH
„Herr Doktor, jetzt müssen Sie schön lächeln!“ Kurz danach blitzt es zweimal hell auf. Etwas überrumpelt sehe
ich mich zu Beginn dieser Sprechstunde einer „Fotografin“ gegenüber. Widerspruch ist zwecklos, und ich
fühle mich auch geschmeichelt, dass jemand ein Foto von mir machen will.
Strahlend bringt die 35-jährige Patientin zwei Aufnahmen zur nächsten
Konsultation mit. Die Bilder sind überaus gelungen. Das Fotografieren sei
nämlich ihr Hobby. Wenn es nur nicht so teuer wäre. Dass beim nachfol-
genden Gespräch der Zeitplan nicht ganz eingehalten werden kann, ist
selbstverständlich. Nach bald zwanzig Jahren hausärztlicher Praxistätigkeit komme ich so zu den ersten Bildern aus meinem Beruf, der doch mein
Leben zu einem grossen Teil prägt.
Warum erzähle ich Ihnen diese Geschichte? Ich lernte diese Patientin als
Hausarzt einer psychiatrischen Einrichtung, „Betreutes Wohnen Elgg“,
kennen. Die sechzig meist jüngeren, psychisch kranken Menschen beiderlei Geschlechts wohnen für einige Monate bis Jahre in verschiedenen
Wohngruppen in Elgg und Umgebung. Der leitende Arzt
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einer psychiatrischen Klinik deckt die Behandlung der Grundkrankheit
ab. Für körperliche Erkrankungen bin ich zuständig. Diese Aufteilung entspricht nicht gerade dem Bild der integralen seelischen und körperlichen
Betreuung, wie ich sie mir bei einem Hausarzt vorstelle. Heute, nach sechs
Jahren Erfahrung mit dieser Lösung, hat sie mich vollständig überzeugt.
Gerade bei den sehr komplexen Lebens- und Krankheitsgeschichten bin
ich froh, einen kompetenten Partner für die psychiatrischen Probleme
zu haben. Andererseits kann ich mich völlig auf die oft schwierige körperliche Seite konzentrieren. Viele Bewohner sind ehemalige oder noch
aktive Suchtkranke. So betreue ich einige HIV-Patienten, die ich sonst
nie sehen würde. Ich lernte die verschiedenen Selbstverletzungsformen
kennen und musste mich auch in Problemstellungen wie die Akromegalie,
eine seltene Hormonstörung, einarbeiten.
Was mir fehlt ist leider öfters ein Feedback.
Die Zusammenarbeit mit meinem psychiatrischen Kollegen oder den Betreuern ist klar geregelt. Wir treffen uns immer wieder zum Gedankenaustausch, ungezwungen bei einem Essen oder anderen Aktivitäten.
Alle Patienten haben sich einverstanden erklärt, dass wir uns gegenseitig über die Befunde und Therapien informieren. Nach jedem Besuch
geht eine Faxmitteilung an die Betreuer, die dann die somatischen
Medikamente in der Praxis abholen. Die Betreuung der Bewohnerinnen
und Bewohner von „Betreutes Wohnen Elgg“ ist für mich und meine
Praxismitarbeiterinnen eine Bereicherung und gibt oft Anlass zum
Schmunzeln. Aber auch die andere Seite will ich nicht verheimlichen. Die
meisten Kranken des Betreuten Wohnens zeigen ausgeprägte Verhaltensauffälligkeiten und können am Empfang und im Wartezimmer schon mal
für Unruhe und Stress bei den Praxisassistentinnen sorgen, besonders
wenn sie warten müssen. Ich hoffe, dass ich nun nicht den Eindruck
erweckt habe, ich würde mich in meiner Praxistätigkeit nur mit psychia-
trischen Patienten auseinandersetzen. Hauptsächlich bin ich nämlich als
„gewöhnlicher“ Hausarzt auf dem Lande tätig und betreue vom Säugling
bis zu sehr alten Menschen alle, die Bedarf haben.
Das Einbeziehen der Sinnfrage von
Krankheiten führt mich oft in zeitliche Not.
Bei den sogenannten „Normalen“ bin ich meist Psychiater und Somatiker
in einem, wie es eigentlich bei einem Arzt üblich sein sollte. Gerne
greife ich aber in Krisensituationen auf das KIZ der Integrierten
Psychiatrie Winterthur zurück. Froh war ich auch schon über die
Spezialsprechstunden an der Poliklinik, z.B. für Anorexie- und Bulimiepatientinnen. Jugendliche mit Adoleszentenkrisen, deren Behandlung
meine Fähigkeiten zum Teil übersteigt, verweise ich gerne an die Beratungsstelle für Jugendprobleme an der Trollstrasse. Meist aber suche
ich die Zusammenarbeit mit den niedergelassenen Psychologen oder
Psychiatern. Was mir fehlt ist leider öfters ein Feedback, da von den
ambulanten Einrichtungen meist keine schriftlichen Berichte verschickt
werden.
Aus Freude an der Vielfalt der menschlichen Begegnungen mache ich
am liebsten alles selber. Sei dies das Nähen einer Wunde, das Impfen
der Kinder, verbunden mit der Beratung der Eltern, die Suizidprophylaxe
bei Informationen in der Sekundarschule oder die „kleine Psychotherapie“
bei Ehekrisen, der midlife crisis oder den Reaktionen auf die Mitteilung
schwerer Erkrankungen. Das Einbeziehen der Sinnfrage von Krankheiten
führt mich in meiner Sprechstunde oft in zeitliche Not. Trotzdem kann und
will ich diese Fragen nicht übergehen.
Mein Praxisfoto bleibt mir als schöne Erinnerung an eine dieser
Begegnungen.
Der psychiatrische Patient auf der Notfallstation
Von Dr. med. Ursula Huber
Internistische Oberärztin, Notfallstation am KSW
Fast täglich wird mir als Oberärztin von der medizinischen Notfallstation ein psychiatrischer Notfall angemeldet. Meist wird die Patientin oder der Patient als
„psychischer Ausnahmezustand“ angekündigt. Es
ist interessant, welche Diagnosen sich wirklich hinter
diesem Sammelbegriff verstecken: Es kann sich um einen schwer psychotischen Menschen handeln, einen Menschen in einer Krise wegen eines belastenden Ereignisses, einen Drogenpatienten, einen intoxikierten
Patienten oder gar um jemanden, der auf Grund einer medikamentösen
Therapie oder somatischen Erkrankung psychische Symptome entwickelt hat. Die Ankündigung eines Patienten mit psychischem Befund löst
unterschiedliche Gefühle aus. Dieser Patient braucht mehr Geduld; Laborresultate lösen selten das Problem. Er ist vielleicht sehr unruhig, will
sogar weglaufen. Er benötigt eine intensivere Aufsicht als der somatische
Patient; falls es ihm schlecht geht, reicht eine Monitorüberwachung nicht
aus. Es ist schwierig, dem Patienten mit psychiatrischem Befund auf der
Notfallstation, wo so viel Hektik herrscht, überhaupt gerecht zu werden.
Man weiss nie, ob der Herzinfarktpatient nebenan nicht vor der Verlegung
auf die Intensivstation noch Rhythmusstörungen hat, sich die Bronchitis
plötzlich verschlechtert, und.. und…
Der psychiatrische Patient tritt meist per Ambulanz ein. Er ruft selbst an,
oder Nachbarn, Mitmenschen oder die Polizei avisieren Hilfe über die
Nummer 144. Glücklicherweise sind die traumatischen Einlieferungen
eher selten. Damit meine ich diejenigen Patienten, die gegen ihr Einverständnis festgehalten werden müssen. Solche Situationen lösen sowohl
Angst beim Patienten als auch beim Personal aus. Andererseits ist es
hier für mich augenscheinlich, wie das Procedere festzulegen ist: dieser
Patient muss in die Akutpsychiatrie verlegt werden, einen Psychiater brauche ich nicht erst zu bemühen.
Es ist schwierig, dem Patienten mit psychiatrischem
Befund auf der Notfallstation gerecht zu werden.
Schwieriger wird es bei der Frau, die ihren Ehemann vor einer
Woche verloren hat und nun hyperventilierend auf den Notfall kommt.
Muss ich jetzt den Psychiater holen? Einfach zuhören und Verständnis
zeigen? Lösungen für die nächsten Tage finden? Soll ich einfach eine Packung Lexotanil verschreiben und ich habe meine Ruhe? Eigentlich
ja eine schöne Aufgabe, einem Menschen im Trauerprozess beizustehen. So lerne ich einen Menschen auf eine sehr intensive Art und Weise
kennen, habe Einsicht in seine Einstellung zum Leben und kann manchmal sogar etwas für mich persönlich mitnehmen. Wenn ich nur mehr Zeit
hätte….
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Viele Patientinnen und Patienten befinden sich aus vielen Gründen in
einer schwierigen Krise. Wenn an ein Nachhausegehen nicht zu denken
ist, stellt sich die Frage, ob ein stationärer Aufenthalt das Richtige ist.
Seit der Eröffnung des Kriseninterventionszentrums KIZ gibt es in
Winterthur eine gute Alternative zur Klinik. Motivierte Patienten kann ich
hier auch ohne psychiatrisches Konsilium einweisen. Häufig aber geht
es vorher darum, die Suizidalität abzuklären oder eine ambulante
Therapie einzuleiten. Vielleicht kann ein Patient nicht akzeptieren,
dass seine Beschwerden einen psychischen Ursprung haben, und er
reagiert mit Abwehr. In dieser Situation ist eine Fachperson sicher angesagt, und ich ziehe unseren psychiatrischen Konsiliarius bei.
Das bunte Bild der psychiatrischen Patienten macht die Arbeit spannend.
Es liegt mir daran, dass wir somatisch tätigen Ärzte und Fachpersonen
unseren Menschenverstand einsetzen, uns Zeit nehmen und versuchen,
dem psychisch kranken Menschen - selbst in Extremsituationen - gerecht
zu werden.
Wir brauchen Zeit für das Psychische im Spitalalltag
Von Dr. med. Jan Martz
Oberarzt Konsiliar- und Liaisonpsychiatrie und
Essstörungen, Psychiatrische Poliklinik am KSW
Als Konsiliarpsychiater bin ich im Spital ab und zu beim
abendlichen Kurzrapport der medizinischen Klinik
dabei. Da werden zuerst die Namen der Patientinnen
und Patienten vom Chefarzt in den Saal gerufen, die
im Verlauf des vergangenen Tages eingetreten sind. Die zuständige Assistenzärztin deklamiert in wenigen Worten, mit welcher Diagnose der Patient hospitalisiert wurde und wie lange der Spitalaufenthalt voraussichtlich dauern wird. Mich beeindruckt dabei die Stimmung von Effizienz und
Zuversicht. Ich stelle mir vor, wie dies für den Patienten der Anfang einer
kurzen und intensiven Zeit darstellt, in der ein ihn in seiner Existenz bedrohendes Problem mit grosser Fachkompetenz und ausgefeilter Technik
abgeklärt und oft auch gelöst werden kann.
Ich komme mir manchmal wie ein Fremdkörper vor, wenn ich mir
mitten in der Betriebsamkeit des Spitals Zeit nehme, einen
Menschen und seine Geschichte kennen zu lernen.
Manchmal jedoch gerät dieser Prozess ins Stocken. Kürzlich wurde ich zu einer betagten Dame gerufen, die nach monatelangem
häufigem Erbrechen ganz abgemagert ins Spital gekommen war. In der
Magenspiegelung wurden mehrfache gutartige Geschwüre festgestellt,
die mit säurehemmenden Medikamenten behandelt wurden. Der Patientin
ging es auch bald wieder besser: das Erbrechen hörte auf und sie begann, wieder an Gewicht zuzunehmen. Als nach zehn Tagen anlässlich
eines Gesprächs mit den Angehörigen der baldige Austritt aus dem Spital
thematisiert wurde, musste die Patientin plötzlich wieder im Schwall erbrechen. Die Angehörigen beschrieben verschiedene Probleme und regten
eine psychiatrische Untersuchung an.
So lernte ich diese, mir sofort sympathische Frau kennen. Die Begegnung mit einem Psychiater im Spital war für sie unerwartet und irritierend.
Zögernd berichtete sie mir von verschiedenen Belastungen in ihrer Situation und erzählte aus ihrer Lebensgeschichte. Sie betonte jedoch ihre
Zuversicht, zu Hause wieder zurecht zu kommen und zeigte vorläufig kein
Interesse, psychiatrisch-psychotherapeutische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Mit ihrer Erlaubnis rief ich ihre Tochter an und besprach mit ihr die
Möglichkeiten von unterstützenden Massnahmen nach der Heimkehr der
Patientin. Die anschliessende Besprechung mit dem Abteilungsarzt trug
massgeblich zu dessen Fallverständnis bei.
Wenn während eines Spitalaufenthalts Probleme auftauchen, die sich nicht
klar eingrenzen lassen, kann es Aufgabe des Konsiliarpsychiaters sein,
hier den Horizont zu erweitern. Geschichte und Beziehungen der Patientin sollen integriert und Lösungen gemeinsam mit ihren Bezugspersonen
gesucht werden. Die Lösungen haben dann meist ebensoviel mit dem
Leben ausserhalb des Spitals zu tun wie mit der Diagnose, welche zur
Einweisung führte. Solche Arbeit braucht jedoch viel Zeit, und die Zeit im
Spital ist knapp und teuer. So komme ich mir manchmal wie ein Fremdkörper vor, wenn ich mir mitten in der Betriebsamkeit der Abteilung Zeit
nehme, einen Menschen in seinen Bezügen zu seiner Geschichte und seiner Mitwelt kennen zu lernen. Diese Zeit ist aber kein Luxus, sondern eine
Notwendigkeit, um komplexe Probleme besser verstehen und bewältigen
zu können.
Notizen
Impulstagung der Pro Mente Sana Schweiz und Integrierte
Psychiatrie Winterthur. Die Tagung findet am 18. November 2004 in
Winterthur unter dem Titel „Psychiatrie ohne Betten? – Möglichkeiten
und Grenzen der aufsuchenden Hilfe“ mit Referaten, Workshops und
Podiumsdiskussion statt. Zielpublikum sind Fachleute, Angehörige und
Betroffene.
Anmeldung und Infos: Pro Mente Sana Zürich, Tel. 01 361 82 72,
www.promentesana.ch
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WerkPunkt VESO - Verein für Sozialpsychiatrie Region Winterthur. Die Werkstatt Konkordia und die Werkstatt Lichtblick haben sich
zum neuen Arbeitszentrum WerkPunkt VESO zusammengeschlossen
und sind in neue Räumlichkeiten gezogen:
WerkPunkt VESO, Pflanzschulstrasse 17, 8400 Winterthur,
Tel. 052 234 80 00, mail: [email protected]
ESPAS neu in Winterthur. Unter einem Dach mit dem WerkPunkt
VESO bietet ESPAS Berufsmassnahmen und geschützte Arbeitsplätze
im Bürobereich an.
ESPAS, Stiftung für wirtschaftliche und soziale Integration Erwerbsbeeinträchtigter, Pflanzschulstrasse 17, 8400 Winterthur,
Tel. 052 234 77 77, www. espas.ch
ipw Info
Neuer Leiter Geriatrische Versorgungseinheit. Dr. med. Christian
Kandler, Facharzt für Allgemeinmedizin und Geriatrie, wird Leiter der
Geriatrischen Versorgungseinheit im Gerontopsychiatrischen Kompetenzzentrum (GPKS) in der Klinik Schlosstal. Per 9. August 2004 übernimmt er die Nachfolge von Dr. Roland Wellauer, der ab 1. April 2004 die
Ärztliche Leitung des städtischen Alters- und Pflegeheims Adlergarten
angetreten hat. Neben der somatischen Versorgung der ipw obliegt
Christian Kandler die direkte Leitung der Assessmentstation.
Dr. med. Winfried Uhde, vorher Oberarzt in der Klinik Schlössli, Oetwil
am See, hat per 1. Mai 2004 die Funktion als Oberarzt und Betriebsleiter
der Psychotherapiestation Villa von ipw übernommen.
Sanierungsprogramm 04 und ipw. Die Sparmassnahmen des
Kantons haben ipw schwer getroffen. 100 Menschen verlieren innerhalb
der nächsten drei Jahre ihre Stelle. Dies, weil die Geriatrische
Langzeitpflege nun endgültig in die Verantwortlichkeit der Gemeinden und Städte übergeht und auf vier der geplanten sechs geronto-psychiatrischen Spezial-Stationen in der Klinik Schlosstal
verzichtet werden muss. Für die betroffenen Mitarbeitenden sind
intern alle möglichen Hilfsmassnahmen getroffen worden. Der Sozialplan für die 2004 Betroffenen wird dem Regierungsrat noch vor den
Sommerferien zum Entscheid zugestellt. Um die zum Teil notwendige
Umplatzierung von Betagten der geriatrischen Langzeitpflege kümmert
sich ein internes Bewohnermanagement.
Gesamtangebot des Gerontopsychiatrischen Kompetenzzentrums (GPKS). Die Klinik Schlosstal wird weiterhin den gerontopsychiatrischen Akutbehandlungsbedarf sowie den Therapie- und
Rehabilitationsbedarf abdecken. Neben den bestehenden Angeboten
- Akutstation, Therapiestation, Gerontopsychiatrisches Ambulatorium
und Tagesklinik (GAT), Assessmentstation und Geschlossene Station A
(für Demenzerkrankte mit klinisch-psychiatrischen Zusatzproblemen) werden neu eine Slow Stream Rehabilitationsstation und eine zweite
geschlossene Abteilung aufgebaut. In der Slow Stream Station erhalten
ältere, psychisch kranke Menschen Gelegenheit, in einem für sie angemessenen langsameren Tempo ihre Ressourcen zu trainieren, um dann
an einem passenden Ort leben zu können. Die Geschlossene Station B
wird Platz bieten für ältere, psychisch Erkrankte, die für ihre Rehabilitation mehr Zeit und den Schutz des geschlossenen Rahmens
benötigen. Der Betrieb der beiden neuen Stationen wird Anfang 2005
aufgenommen.
Regionale Psychiatriekommission
Winterthur
Die Regionale Psychiatriekommission (RPK) dient als Plattform aller
Dienstleistungserbringer und Betroffenen in der Psychiatrieregion
Winterthur. Deren Vertreter unterstützen die Koordination der
psychiatrischen Angebote und fördern den Informationsaustausch zu
Themen und Fragestellungen der psychiatrischen Versorgung unserer
Region. Die Ende 2002 von Grund auf neu formierte RPK Winterthur tagt in der Regel zwei Mal pro Jahr. Der Ausschuss nimmt
die Vorbereitung und weiteren Geschäfte wahr. Vertreten sind
Entscheidungsträger folgender Organisationen: ipw Integrierte Psychiatrie Winterthur (Dr. A. Andreae), Kantonsspital Winterthur
(Prof. Dr. P. E. Ballmer), Vereinigung Winterthurer PsychiaterInnen
(Dr. U. Dedial), PsychotherapeutInnen-Verein Region Winterthur
(Frau lic. Phil. M. Fischer), Verein für Sozialpsychiatrie VESO
(Kantonsrat H. Fahrni), Departement Soziales der Stadt Winterthur (E. Schedler, Sozialamt; A. Paintner, Alter und Pflege),
Ärztegesellschaft Winterthur-Andelfingen (Dr. Ch. Bovet), Verein
Angehöriger Schizophreniekranker/Psychisch Kranke (VASK;
Frau V. Diserens).
Im letzten Jahr wurden nebst dem Informationsaustausch insbesondere folgende Themen diskutiert: Priorisierung von Entwicklungszielen für die nächsten zwei Jahre (Versorgungsplanung), Strategien zur Koordination in der Altersversorgung, Aktivierung des Themas
Migrationspsychiatrie. In Zukunft sollen die Frontakteure in der regionalen Psychiatrieversorgung über jährliche Impulstagungen zur Entwicklung bzw. Optimierung von Angeboten im Netzwerk gewonnen
werden. Die erste Impulstagung zum Thema Migrationspsychiatrie
wird von einer Arbeitsgruppe vorbereitet und im 4. Quartal 2004
durchgeführt.
Ernst Schedler, Präsident RPK Winterthur
IMPRESSUM: Ausgabe: 1/2004 Auflage: 3500 Exemplare Erscheint: 3 x jährlich Satz und Gestaltung: Kurt Seiler, Zürich Druck: Fotorotar Egg/ZH
Herausgeberin: ipw Integrierte Psychiatrie Winterthur, Postfach 144, 8408 Winterthur. Telefon 052 224 35 31, [email protected]
Redaktion: Dr. med. Andreas Andreae (Vorsitz), Helmut Bernt, Susanne Gimmi, med. pract. Christof Kempgen, Sibylle Schröder
Anmerkung der Redaktion: Zu Gunsten der Leserfreundlichkeit wurde im vorliegenden Forum auf eine konsequente männliche und weibliche Schreibweise verzichtet.
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