Die operative Behandlung von Streckdefiziten am Kniegelenk

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Operative Orthopädie
und Traumatologie
Die operative Behandlung von Streckdefiziten am Kniegelenk
Denise Freiling, Philipp Lobenhoffer1
Zusammenfassung
Operationsziel
Wiederherstellung der Streckung des Kniegelenks, insbesondere bei posttraumatischem und postoperativem
Streckdefizit.
Indikationen
Chronische Streckdefizite des Kniegelenks über 10°.
Kontraindikationen
Lokale, mechanische und intraartikuläre Ursachen wie Zyklops, Ossifikationen, Fehlpositionierung von Bohrkanälen
nach Ersatz des vorderen Kreuzbandes. Diese erfordern
ein lokales Vorgehen.
Spastische Beugekontrakturen.
Fehlende Compliance.
Akute oder chronische Entzündungen.
Unzureichende Weichteilverhältnisse im Bereich des Operationsgebiets.
Operationstechnik
Gegebenenfalls diagnostische Arthroskopie zum Ausschluss von rein intraartikulären, lokalen Ursachen der Bewegungsstörung. Anteriore Miniarthrotomie am medialen Rand der Patellarsehne. Resektion aller fibrosierten
Anteile des Hoffa-Fettkörpers. Zweiter Hautschnitt posteromedial. Inzision des medialen Retinakulums zwischen
dem Hinterrand des Innenbandes und dem posteromedialen Schrägband. Posteromediale Arthrotomie zwischen
Ansatz des Musculus adductor magnus und Innenmeniskushinterhorn. Lösen aller Briden im posterioren Gelenkabschnitt. Komplette Ablösung der posterioren Gelenkkapsel vom Femurschaft (posteriore Kapsulotomie).
Weiterbehandlung
Bettruhe (Toilettengang erlaubt). Anlage einer dynamischen Streckschiene (z.B. Dynasplint®, CDS® Forte, Fa.
Albrecht, Stephanskirchen) postoperativ für 4–6 Wochen
täglich 6–8 h. Adäquate Schmerztherapie nach dem
WHO-Schema (Weltgesundheitsorganisation). Manuelle
Lymphdrainage und Muskelstimulation (EMS-Gerät) verringern den postoperativen Schmerz und die Schwellung.
Ab dem 2. postoperativen Tag zweimal täglich Physiotherapie. Keine Flexionsübungen während der 1. postoperativen Woche. 15 kg Teilbelastung für 4–6 Wochen. Nach
Entlassung aus der stationären Therapie täglich Physiotherapie.
Ergebnisse
121 Patienten wurden im Zeitraum von 1990 bis 2000 in
der beschriebenen Technik operiert. 86 dieser Patienten
konnten in die Nachuntersuchung eingeschlossen werden. Die mittlere Nachbeobachtungszeit lag bei 4,6 Jahren (1–10 Jahre). Das präoperative Streckdefizit betrug im
Durchschnitt 20° im Vergleich zur gesunden Gegenseite.
Postoperativ konnte die Extension durchschnittlich um
17° verbessert werden. Der Lysholm-Score betrug postoperativ 84, der Tegner-Aktivitätsscore stieg von präoperativ
1,9 auf postoperativ 4,0. Der AOSSM Subjective Outcome
Score zeigte bei 35 Patienten ein ausgezeichnetes, bei 60
ein gutes, bei 14 ein befriedigendes und bei neun ein nicht
zufriedenstellendes Ergebnis. Bei drei Patienten musste
im frühen postoperativen Verlauf eine Revisionsoperation
durchgeführt werden (zwei Synovialfisteln, ein Hämatom).
Schlüsselwörter
Chronisches Streckdefizit · Mini-offene Arthrolyse · Fibrose des Hoffa-Fettkörpers · Posteromediale Kapsulotomie · Anteriore Arthrolyse
Postoperative Immobilisierung für 48 h in voller Streckung
(keine Bewegungsübungen). Für 48 h eingeschränkte
Oper Orthop Traumatol 2009;21:545–56
DOI 10.1007/s00064-009-2004-0
1
Oper Orthop Traumatol 2009 · Nr. 6 © Urban & Vogel
Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie, Diakoniekrankenhaus Henriettenstiftung Hannover.
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Freiling D, Lobenhoffer P. Behandlung von Streckdefiziten am Kniegelenk
The Surgical Treatment of Chronic Extension Deficits of the Knee
Abstract
Objective
Restoration of full knee extension in patients with chronic
extension deficits, especially in posttraumatic and postoperative cases.
Indications
Chronic knee extension deficits of more than 10°.
Contraindications
Local intraarticular problems caused by cyclops syndrome,
graft hypertrophy or graft impingement after anterior cruciate ligament reconstruction (notch impingement). These
patients should be treated with arthroscopic procedures.
Spastic flexion contracture.
Noncompliant patients.
Acute or chronic infections.
Poor soft-tissue conditions on site of surgery.
Surgical Technique
If necessary, arthroscopy before arthrolysis to assure that
the extension deficit is not caused by a local problem (cyclops, osteophytes, graft hypertrophy or graft impingement
after anterior cruciate ligament reconstruction). Anterior
skin incision at the medial border of the patellar ligament.
Resection of Hoffa’s fat pad, which is extremely fibrotic in
almost all cases. Second skin incision at the posteromedial
side of the knee joint. Incision of the medial retinaculum
between the posterior border of the medial collateral ligament and the posterior oblique ligament. Posteromedial arthrotomy between the distal part of the tendon of the adductor magnus muscle and the posterior horn of the medial meniscus. Release of all adhesions in the posterior recess
of the knee joint. Complete release of the posterior joint
capsule from the femoral shaft.
Vorbemerkungen
Die Behandlung postoperativer und posttraumatischer
Streckdefizite am Kniegelenk ist auch heute noch eine
Herausforderung. Häufig müssen die Patienten einen
langen Leidensweg mit unzähligen frustranen Behandlungsversuchen auf sich nehmen, wobei die Ätiologie
der Bewegungsstörung letztendlich dennoch ungeklärt
bleibt.
Unterschieden werden müssen intraartikuläre, lokale und mechanische Ursachen [5], wie z.B. das Zyklopssyndrom nach Ersatz des vorderen Kreuzbandes oder
die Fehlpositionierung der Bohrkanäle ebenfalls nach
Ersatz des vorderen Kreuzbandes mit nachfolgendem
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Postoperative Management
Immobilization for 48 h after surgery in full extension (no
knee motion allowed in the first 48 h). For 48 h after surgery only short walks to the bathroom are allowed. Special
dynamic extension brace (Dynasplint®, CDS® Forte, Albrecht
company, Stephanskirchen, Germany) for 4–6 weeks after
surgery 6–8 h per day. Painkillers following WHO (World
Health Organization) protocol. Manual lymph drainage and
electric muscle stimulation help to decrease pain and swelling. Physiotherapy twice daily starting at the 2nd postoperative day. No flexion exercises for the first 7 days after
surgery. 15 kg partial weight bearing for 4–6 weeks. Daily
physiotherapy is recommended after discharge.
Results
121 patients underwent anterior and posterior arthrolysis
between 1990 and 2000. 86 of these patients could be included in this study. The average follow-up was 4.6 years
(1–10 years). The extension deficit before surgery averaged
20° compared with the opposite side. At follow-up, the average extension had increased by 17°, no patient had more
than 5° of flexion contracture. The Lysholm Score was
84 postoperatively. The Tegner Activity Scale increased from
1.9 to 4.0 after arthrolysis. In the AOSSM Subjective Outcome Score, 35 patients showed excellent and 60 good
results. 14 patients were satisfied after surgery and nine
were not. Three patients required revision surgery (two
synovial fistulas, one hematoma).
Key Words
Chronic extension deficit · Arthrolysis in miniopen technique · Fibrosis of the fat pad ·
Posteromedial capsulotomy · Anterior arthrolysis
interkondylärem Impingement, von der generalisierten
Arthrofibrose [2]. Diese generalisierte Form, welche ihren Auslöser in lokalen intraartikulären Irritationen
haben kann, ist im weiteren Verlauf jedoch durch eine
überschießende, auch extraartikuläre, Fibroblastenvermehrung gekennzeichnet [7, 8]. Die vorliegende Arbeit
beschreibt die operative Behandlung des Streckdefizits
am Kniegelenk im Rahmen dieser generalisierten Arthrofibrose.
Die Entwicklung eines Streckdefizits am Kniegelenk
kann nach unseren Erfahrungen in zwei Phasen unterteilt werden, wobei die Pathologie beider Phasen in der
operativen Behandlung berücksichtigt werden muss.
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Freiling D, Lobenhoffer P. Behandlung von Streckdefiziten am Kniegelenk
Der Beginn der Erkrankung ist durch eine zunehmende
Fibrose des Hoffa-Fettkörpers gekennzeichnet, welche
im Bewegungsablauf wie ein „Türstopper“ die endgradige Streckung verhindert. Sekundär kommt es in Phase 2 zu einer Kontraktur der posterioren Kniegelenkkapsel, wobei zusätzlich Adhäsionen der posterioren
Kapsel zu den Kondylen und zum Femurschaft entstehen. Die Ätiologie dieser Erkrankung ist in eine erste
intraartikuläre und eine zweite kapsuläre Pathologie
aufgeteilt, woraus klar wird, dass rein arthroskopische
Verfahren mit Hilfe der standardmäßig genutzten anterioren/ventralen Arbeitsportale nicht erfolgversprechend sein können.
In der vorliegenden Arbeit wird eine mini-offene
Operationstechnik beschrieben, welche sich in unserer
Klinik bei der Behandlung des chronischen Streckdefizits am Kniegelenk bewährt hat [1, 4, 6].
Radikale Resektion aller fibrosierten Anteile des Fettkörpers, wobei bei starken Vernarbungen die Präparation initial schwierig sein kann. Zweiter posteromedialer Hautschnitt, über welchen die posteriore Gelenkkapsel dargestellt und mitsamt den Adhäsionen vom distalen Femur
gelöst werden kann. Sorgfältiger Hautverschluss zur Vermeidung intraartikulärer Fisteln.
Ziel der Operation ist die vollständige Wiederherstellung
der Streckung.
Operationsprinzip und -ziel
Präoperativ müssen rein intraartikuläre mechanische
Ursachen ausgeschlossen werden. In Zweifelsfällen
sollte direkt vor der geplanten Arthrolyse eine diagnostische Kniegelenkarthroskopie durchgeführt
werden.
Zunächst mini-offene anteriore Arthrolyse über einen
anteromedialen Zugang am medialen Rand der Patellarsehne, so dass sich der Hoffa-Fettkörper darstellen lässt.
•
•
•
•
Vorteile
Im Gegensatz zu den rein arthroskopischen Standardverfahren Wiederherstellung der vollen Streckung möglich.
Vermeidung von Folgeschäden (Knorpelschäden
durch exzessive Streckübungen, Wirbelsäulen- oder
Hüftbeschwerden durch funktionelle Beinverkürzung etc.).
Bei sorgfältiger Operationstechnik hohe Erfolgsrate
mit geringer Komplikationsrate.
Hohe Patientenzufriedenheit.
Nachteile
• Bei falscher Indikation schlechte Ergebnisse.
• Lange Nachbehandlung.
• Adäquate und kompetente Physiotherapie zwingend
notwendig.
Indikationen
• Chronische Streckdefizite des Kniegelenks mit Fibrose des Hoffa-Fettkörpers und sekundärer Kontraktur der posterioren Kniegelenkkapsel.
Kontraindikationen
• Rein lokale Ursachen des Streckdefizits (z.B. nach
Ersatz des vorderen Kreuzbandes: Zyklopssyndrom,
Fehlplatzierung der Bohrkanäle, Transplantathypertrophie, Ossifikationen vor allem interkondylär).
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• Fehlende Compliance.
• Akute oder chronische Entzündungen.
• Unzureichende Weichteilverhältnisse im Bereich des
Operationsgebiets.
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•
Patientenaufklärung
Präoperative Aufklärung über die Nachbehandlung
Eingeschränkte Bettruhe für 48 h (nur Toilettengang
erlaubt).
15 kg Teilbelastung für 4–6 Wochen.
Schienenversorgung für ca. 4–6 Wochen.
Konsequente Physiotherapie.
Lange Nachbehandlung (ca. 6 Monate).
Operative Risiken
• Allgemeine Operationsrisiken (Infektion, Thrombose etc.).
• Spezielle Operationsrisiken:
– Gefäß- und Nervenschäden im Bereich der Fossa
poplitea.
– Bleibende Beschwerden und Funktionseinschränkungen.
– Knorpelschäden.
– Verletzung des Innenmeniskus.
– Rezidiv.
– Synovialfistel.
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Operationsvorbereitungen
• Röntgenaufnahme des Kniegelenks in zwei Ebenen
zur Visualisierung von Ossifikationen und störendem
Fixationsmaterial, z.B. Interferenzschrauben, sowie
zur Beurteilung der Bohrkanäle nach Ersatz des vorderen Kreuzbandes.
• Narkoseuntersuchung mit Dokumentation des präoperativen Bewegungsausmaßes.
• Gegebenenfalls aktuelle magnetresonanztomographische Aufnahmen (Zyklopssyndrom, Transplantathypertrophie etc.).
• Gegebenenfalls diagnostische Kniegelenkarthroskopie in gleicher Narkose.
Instrumentarium
• Mehrere scharfe Skalpelle Nummer 10 und 21, wahlweise mit langem Griff.
• Scharfe Meißel mit unterschiedlich breiter Klinge,
wahlweise mit langem Griff.
• Rongueure.
• Gebogenes Raspatorium.
• Selbsthalter.
• Zwei Redon-Drainagen (Ch 10).
• PDS-Nähte der Stärken 0 und 2/0.
• Gegebenenfalls Selbsthalter mit integrierter Kaltlichtquelle (Fa. Biomet, Berlin).
Anästhesie und Lagerung
• Intubationsnarkose oder rückenmarksnahe Regionalanästhesie.
• In Ausnahmefällen kann direkt präoperativ ein Femoralis- und/oder Ischiadikusblock durchgeführt
werden, wobei im Gegensatz zur operativen Behandlung von Beugedefiziten [3] diese Nervenblockaden
postoperativ nur selten notwendig sind. Teilweise
können sie sogar kontraproduktiv sein, da die Innervation des Musculus quadriceps verhindert wird, welche für das aktive Üben der Streckung dringend notwendig ist.
• Systemische Antibiotikaprophylaxe („single shot“).
• Rückenlage.
• Seitstütze und Fußrolle, damit sowohl eine Lagerung
des Beins in 70–90° Flexion als auch das Testen der
erzielten intraoperativen Streckung möglich sind
(Abbildung 1).
• Anlage einer Oberschenkelblutsperre.
Abbildung 1
Lagerung des Patienten: Rückenlage mit angelegter Oberschenkelblutsperre. Das Bein wird mit einer Seithalterung und
einer Fußrolle in 70–90° Flexion aufgestellt. Auf diese Weise ist
auch intraoperativ die Überprüfung des Bewegungsausmaßes
möglich.
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Oper Orthop Traumatol 2009 · Nr. 6
Freiling D, Lobenhoffer P. Behandlung von Streckdefiziten am Kniegelenk
Operationstechnik
Abbildungen 2 bis 17
Anteriore Arthrolyse
Abbildung 2
Das Knie befindet sich in 70–90° Flexion. Die Blutsperre ist aktiviert. Zunächst werden die anatomischen Landmarken auf
der Haut mit einem wasserfesten Stift markiert: Patella, Verlauf des Ligamentum patellae, Tuberositas tibiae, Gelenkspalt.
Der Hautschnitt verläuft an der medialen Begrenzung des Ligamentum patellae. Er beginnt proximal mittig der Patellarandes und endet ca. 5–6 cm weiter distal etwa auf Höhe der
Tuberositas tibiae.
Patella
Lig. patellae
Tuberositas tibiae
Abbildung 3
Nach Durchtrennung der Subkutis wird die mediale Begrenzung des Ligamentum patellae aufgesucht. An dieser Grenze
wird das mediale Retinakulum scharf inzidiert, und der teilweise erheblich fibrosierte Hoffa-Fettkörper wird dargestellt. Gegebenenfalls wird ein Selbsthalter (oder Langenbeck-Haken)
eingesetzt. Bereits in diesem Stadium muss an den späteren
Verschluss des Gelenks gedacht werden. Dabei sollte unbedingt genügend Gewebe belassen werden (Lappenbildung des
Retinakulums), um einen vollständigen Gelenkverschluss zu
gewährleisten und Gelenkfisteln vorzubeugen.
Fibrosierter
Hoffa-Fettkörper
Patella
Inzidiertes
mediales Retinaculum
Lig. patellae
Selbsthalter
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Tuberositas tibiae
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Freiling D, Lobenhoffer P. Behandlung von Streckdefiziten am Kniegelenk
Abbildung 4
Im nächsten Schritt kann der fibrosierte Anteil des Fettkörpers
z.B. mit einer Kocher-Klemme gefasst und in seinem intraartikulären Anteil scharf reseziert werden. Auf Höhe des Gelenkspalts muss darauf geachtet werden, die vorderen Anteile der
Menisken oder deren ventrale Aufhängung (Ligamentum
transversum) nicht zu verletzen. Gegebenenfalls verbliebene
Adhäsionen, welche zunächst nicht sichtbar sind, können mit
dem Finger getastet und so identifiziert und entfernt werden.
Condylus medialis
Lig. transversum
Retinaculum
mediale pat.
Innenmeniskusvorderhorn
KocherKlemme
Hoffa-Fettkörper
mit Fibrose
Selbsthalter
Condylus
medialis
Retinaculum
mediale pat.
Patella
Selbsthalter
Inzidiertes
mediales
Retinaculum
Condylus
medialis
Condylus
lateralis
Tuberositas tibiae
Innenmeniskusvorderhorn
Fossa intercondylaris
mit fibrosiertem Gewebe
Lig. cruciatum post.
Lig. cruciatum ant.
Gebogenes
Raspatorium
a
b
Abbildungen 5a und 5b
Nach vollständiger Resektion des fibrosierten Fettkörpers kann
nun die Interkondylärregion eingesehen werden. Zur besseren
Visualisierung ist ein selbsthaltender Weichteilretraktor oft
sehr hilfreich. Die Interkondylärgrube ist häufig vollständig mit
fibrosiertem Material ausgekleidet, so dass die Kreuzbänder
zunächst nicht sicher identifiziert werden können (a).
Das interkondylär liegende Narbengewebe wird z.B. mit einer
Kocher-Klemme gefasst und schrittweise mit dem Skalpell ent-
fernt. Die Kreuzbänder sind selbstverständlich zu schonen. Mit
dem Finger werden nun der mediale und laterale Recessus untersucht. In vielen Fällen können Verwachsungen und Adhäsionen in diesem Bereich stumpf gelöst werden. Sollte dies nicht
möglich sein, kann ein scharfer Meißel medial eingesetzt werden, und durch vorsichtiges Anheben des Instruments lassen
sich Briden durchtrennen. Lateral muss häufig ein gebogenes
Raspatorium zur Hilfe genommen werden, da die Platzverhältnisse eingeschränkt sind (b).
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Freiling D, Lobenhoffer P. Behandlung von Streckdefiziten am Kniegelenk
Abbildung 6
Die anteriore Arthrolyse ist zunächst beendet. Die anteromediale Arthrotomie wird temporär mittels spitzer Tuchklemme oder Naht (z.B. PDS der Stärke 0) verschlossen. Dieser
Schritt ist notwendig, da sonst der zweite Hautschnitt nicht
korrekt angelegt wird.
Retinaculum
mediale pat.
Tuchklemme
Posteriore Kapsulotomie
Abbildung 7
Das Kniegelenk befindet sich weiter in 70–90° Flexion.
Die anatomischen Landmarken im Bereich des posteromedialen Kniegelenkabschnitts werden markiert. Der
Hautschnitt beginnt etwas posterior des Tuberculum adductorium und wird ca. 5 cm nach distal weitergeführt.
Epicondylus medialis
Condylus medialis
Tuberculum adductorium
Tuberositas tibiae
Tibia
Posteromediale
Kapselschale
Lig. collaterale tib.
(Innenband – MCL)
M. semimembranosus
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Freiling D, Lobenhoffer P. Behandlung von Streckdefiziten am Kniegelenk
Abbildung 8
Das Retinakulum wird zwischen Hinterrand des Innenbandes und posteromedialem Schrägband
oberhalb des Innenmeniskus inzidiert. Dabei
müssen Äste des Nervus saphenus berücksichtigt,
ggf. präpariert und angeschlungen werden. Haltefäden im Bereich der inzidierten Weichteile können
neben den eingesetzten Haken die Sicht entscheidend verbessern. Die Inzision des Retinakulums
beginnt im „Sattel“ zwischen Epicondylus medialis
und Tuberculum adductorium.
Lig. collaterale tib.
(Innenband – MCL)
Tuberculum adductorium
Retinaculum
mediale pat.
Posteromediale
Kapselschale
N. saphenus
Innenmeniskushinterhorn
Abbildung 9
Nach Inzision des medialen Retinakulums können
die Sehne des Musculus adductor magnus, das Innenband sowie das Schrägband eingesehen werden. Die Identifikation dieser Strukturen ist für die
weitere Orientierung von entscheidender Bedeutung.
Lig. collaterale tib.
(Innenband – MCL)
Tuberculum adductorium
Tuberositas tibiae
Tibia
Tendo
m. adduct.
mag.
Innenmeniskushinterhorn
Posteromediale
Kapselschale
Lig. collaterale tib.
(Innenband – MCL)
Tendo m. adduct. mag.
Abbildung 10
Nachdem der Übergang der dorsalen medialen Femurkondyle zum Femurschaft ertastet wurde, wird
genau an dieser Stelle das Gelenk auf ca. 1–2 cm eröffnet. Da die Präparation aufgrund der erheblichen
Vernarbung am Anfang häufig unübersichtlich ist
und die Arthrotomie leicht zu tief erfolgt, muss besonders auf die Unversehrtheit des Innenmeniskushinterhorns geachtet werden.
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Inzision der
Gelenkkapsel
Innenmeniskushinterhorn
Oper Orthop Traumatol 2009 · Nr. 6
Freiling D, Lobenhoffer P. Behandlung von Streckdefiziten am Kniegelenk
Abbildung 11
Die posteromediale Kapsel, welche häufig erheblich verdickt
ist, muss nun schrittweise vom Femur gelöst werden. Dies
kann unter weitgehender Sicht teils scharf mit einem langen
Skalpell, teils stumpf mit einem Raspatorium oder einem
scharfen Meißel erfolgen. Das zentrale Septum wird inzidiert,
um komplett nach lateral vordringen zu können. Um Verletzungen der nahen Gefäße und Nerven zu vermeiden, sollte die
Präparation knochennah erfolgen. Zwischendurch wird palpiert, wobei sich noch störende Gewebebrücken gut identifizieren lassen. Die dorsale Präparation muss 5–10 cm nach proximal fortgesetzt werden, um die Kapsel vollständig zu entspannen. Nach distal muss ggf. eine zweite Kapselinzision
direkt über den Meniskushinterhörnern erfolgen, falls diese
Strukturen noch eine Streckhemmung unterhalten.
Abbildung 12
Nachdem die adhärente posteriore Kapsel mitsamt den entstandenen Vernarbungen vollständig von der dorsalen Femurkondyle bzw. dem posterioren Femurschaft gelöst wurde, kann
mit dem Zeigefinger nach weiter störenden Briden getastet
werden.
Hintere Begrenzung
des Femurs
Capsula articularis
Meißel
Dorsale
Femurkante
Gelöste dorsale Kapsel
Dorsomediale
Kondyle
Raspatorium
(hinter dem Innenband)
Kapsulotomie
Abbildung 13
Bei über Jahre bestehenden Extensionsdefiziten kann es
sekundär zu einer Kontraktur/Verkürzung des Innenbandes
kommen. Bei diesen Patienten besteht selbst nach vollständiger anteriorer und posteriorer Arthrolyse weiterhin ein Streckdefizit mit federndem Bewegungsanschlag. Es lässt sich ein
extrem gespanntes Innenband ertasten, welches die freie
Streckung spürbar verhindert. Daher ist es notwendig, das
Innenband zu inzidieren. Hierzu wird das mediale Kollateralband mit einem Raspatorium unterfahren und durch Aufrichten des Raspatoriums weiter vorgespannt. Mit einem frischen
11er Skalpell werden nun in den posterioren femoralen Anteil
kleine Inzisionen („Stichelungen“) gesetzt, wobei die Spannung des Innenbandes gut spürbar schrittweise nachgibt.
Oper Orthop Traumatol 2009 · Nr. 6
Lig. collaterale med.
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Freiling D, Lobenhoffer P. Behandlung von Streckdefiziten am Kniegelenk
Abbildung 14
Nach Beendigung der anterioren und posteromedialen Arthrolyse wird das erreichte Bewegungsausmaß überprüft. Dabei
kann durch dosierten (!) manuellen Druck von ventral zusätzlich eine oszillierende Dehnung der posterioren Strukturen vorgenommen werden.
Vorsichtiger
manueller Druck
Anteriore Arthrolyse
Posteromediale Arthrolyse
Redon-Drainage
Abbildung 15
Die Blutsperre wird eröffnet. Nach sorgfältiger Blutstillung
mittels Diathermie wird zunächst über die anteriore Miniarthrotomie eine Redon-Drainage Ch 10 intraartikulär eingelegt. Auf diese Weise sollen postoperative Hämatome, insbesondere im Bereich des resezierten Hoffa-Fettkörpers, vermieden werden, welche neuerliche Streckdefizite hervorrufen
können. Zunächst wird das Gelenk mittels Vicryl-Nähten der
Stärke 3/0 verschlossen, was unter Einbeziehung des präparierten Gewebestreifens des medialen Retinakulums gut möglich ist. Danach folgen die sorgfältige Subkutan- und Hautnaht.
Im Bereich der posterioren Kapsulotomie wird ebenfalls eine
Redon-Drainage Ch 10 eingelegt und nach proximal ausgeleitet. Um eine Limitierung der Streckung durch den folgenden
Wundverschluss zu vermeiden, wird das Bein in Streckstellung
gelagert. Die Gelenkkapsel wird mit feinen Vicryl-Nähten der
Stärke 3/0 verschlossen. Hierbei ist unbedingt auf einen „wasserdichten Verschluss“ des Gelenks zu achten, um synoviale
Fisteln zu vermeiden. Das Retinakulum wird mittels PDS-Faden
adaptiert. Danach Subkutan- und Hautnaht sowie Anlage
eines elastischen Kompressionsverbands.
554
Redon-Drainage
Oper Orthop Traumatol 2009 · Nr. 6
Freiling D, Lobenhoffer P. Behandlung von Streckdefiziten am Kniegelenk
Abbildung 16
Das Knie wird in der bereits angepassten Extensionsquengelschiene (z.B. Dynasplint®) gelagert.
a
Abbildungen 17a bis 17c
24-jährige Patienten mit 15° Streckdefizit
nach Ersatzplastik des vorderen Kreuzbandes. Funktionelles Ergebnis am
7. postoperativen Tag.
b
Postoperative Behandlung
• Elastische Wickelung des Beins inklusive des Oberschenkels im Operationssaal.
• Sofortiger Beginn der Kühlbehandlung.
• Anlage einer Extensionsquengelschiene (z.B. Dynasplint®, Abbildung 16, oder CDS® Forte, Fa. Albrecht,
Stephanskirchen) direkt im Operationssaal, welche 4–6
Oper Orthop Traumatol 2009 · Nr. 6
c
Wochen postoperativ 6–8 h täglich getragen werden
sollte.
• Erster Verbandswechsel am 1. postoperativen Tag,
danach täglich.
• Entfernung der Redon-Drainagen am 1. postoperativen Tag.
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Freiling D, Lobenhoffer P. Behandlung von Streckdefiziten am Kniegelenk
• Für 48 h keine Bewegungsübungen zur Prophylaxe
eines postoperativen interkondylären Hämatoms,
welches die Streckung erneut behindern könnte.
• 15 kg Teilbelastung für 4–6 Wochen.
• Fadenzug nach 10–12 Tagen.
• Keine Flexionsübungen in der 1. postoperativen Woche.
• Täglich manuelle Lymphdrainage.
• Adäquate Schmerztherapie nach dem WHO-Schema
(Weltgesundheitsorganisation).
• Ab dem 2. postoperativen Tag zweimal täglich aktive
und passive Physiotherapie (ggf. Muskelstimulation
[EMS-Gerät]).
• Thromboseprophylaxe mit niedermolekularem Heparin bis zur Vollbelastung der Extremität unter regelmäßigen Kontrollen des Blutbilds.
• Entlassung bei trockenen Wundverhältnissen sowie
nach Erreichen des intraoperativen Bewegungsausmaßes.
• Keine Entlassung zum Wochenende, da eine übergangslose adäquate Physiotherapie nicht gewährleistet ist.
• Nach Entlassung täglich Physiotherapie und ggf. manuelle Lymphdrainage.
Fehler, Gefahren, Komplikationen
• Bleibendes Streckdefizit durch nicht adäquate Physiotherapie.
• Iatrogene Knorpelschäden.
• Meniskusverletzungen.
• Ausbildung einer Synovialfistel, insbesondere im Bereich des posteromedialen Zugangs.
• Gefäß- und Nervenverletzungen, insbesondere im
Bereich der Kniekehle: 70°- bis 90°-Stellung des
Beins während der Präparation dringend zu empfehlen, da das Gefäß-Nerven-Bündel im Gegensatz zur
strecknahen Stellung des Kniegelenks nach dorsal
verlagert ist.
Ergebnisse
Bei 121 Patienten wurde im Zeitraum zwischen 1990
und 2000 eine offene anteriore Arthrolyse in Kombination mit einer posterioren Kapsulotomie durchgeführt. Der mittlere Nachbeobachtungszeitraum betrug 4,6 Jahre (1–10 Jahre). 86 Patienten konnten in die
Nachuntersuchung eingeschlossen werden, wobei
31 Patienten telefonisch befragt wurden. Die Patienten
556
hatten sich im Durchschnitt 4,43 Voroperationen (zwei
bis zwölf) unterzogen, wobei die vorausgegangene
„Krankengeschichte“ bei 1–7 Jahren lag. Das präoperative Streckdezifit betrug durchschnittlich 20° im Vergleich zur gesunden Gegenseite. Postoperativ konnte
die Streckung durchschnittlich um 17° verbessert werden. Bei keinem Patienten lag ein postoperatives Extensionsdefizit von mehr als 5° im Vergleich zur gesunden Gegenseite vor.
Der Lysholm-Score betrug postoperativ 84 Punkte.
Der Tegner-Aktivitätsscore stieg von präoperativ 1,9
auf postoperativ 4,0. Im AOSSM Subjective Outcome
Score zeigten 35 Patienten ein ausgezeichnetes, 60 ein
gutes, 14 ein befriedigendes und neun ein nicht zufriedenstellendes Ergebnis.
Bei zwei Patienten musste während des stationären
Aufenthalts eine operative Revision aufgrund einer
Synovialfistel im Bereich der posteromedialen Kapsulotomie durchgeführt werden, bei einer Patientin war
eine operative Hämatomentlastung im ventralen Operationsgebiet notwendig.
Literatur
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Korrespondenzanschrift
Dr. Denise Freiling
Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie
Diakoniekrankenhaus Henriettenstiftung Hannover
Marienstraße 72–90
30171 Hannover
Telefon (+49/511) 289-2231, Fax -2001
E-Mail: [email protected]
Oper Orthop Traumatol 2009 · Nr. 6
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