Entgrenzung der Medizin

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Buchbesprechungen
Willy Viehöver,
Peter Wehling (Hrsg.)
Entgrenzung der
Medizin
Von der Heilkunst zur Verbesserung
des Menschen?
In der Zeitschrift Nature plädierten
2008 namhafte Wissenschaftler für die
„verantwortungsvolle Nutzung“ von Medikamenten zur kognitiven Leistungssteigerung bei gesunden Menschen. Und
manche Bioethiker sind heute der Meinung, „prinzipielle ethische Bedenken
gegenüber der Verbesserung der menschlichen Biologie“ seien nicht aufrechtzuerhalten. Im Gegenteil: So wie „wir die
Pflicht haben, Krankheiten unserer Kinder zu behandeln, haben wir die Verpflichtung, ihre Biologie zu verbessern“.
Mit diesen Zitaten nähern sich die Soziologen Willy Viehöver und Peter Wehling
der Frage an, was unter der Entgrenzung
der Medizin zu verstehen sei.
Aus ihrer Sicht scheint die Medizin
nicht mehr nur mit der Heilung Kranker,
sondern zunehmend mit der Optimierung
körperlich und geistig Gesunder beschäftigt zu sein. Zur Unterstützung dieser Annahme haben die Herausgeber Aufsätze
in diesem interdisziplinär besetzten Sammelband zusammengestellt, die sich trotz
des sperrigen Themas und wissenschaftlichen Anspruchs angenehm verständlich lesen lassen. Das Phänomen der Entgrenzung in der Medizin wird dabei mit
den Merkmalen der Grenzpluralisierung,
der Grenzverschiebung, der Grenzverwi-
Dr. med. Mabuse 193 · September /Oktober 2011
schung sowie der Grenzüberschreitung
beschrieben. Obwohl diese vier Kriterien
nicht immer eindeutig zuzuordnen sind,
bilden sie die Basis der Überlegungen.
Der Aspekt der Grenzpluralisierung
bedeutet, dass Grenzen bei bekannten
Krankheitsbildern sehr unterschiedlich
gezogen werden. Als Beispiel steht die
umstrittene Diagnose der Aufmerksamkeitsstörung ADHS: Ob das Verhalten eines Kindes als „normal“ oder „gestört“
gilt, erfährt höchst unterschiedliche Bewertung. Bei der Grenzverschiebung werden Gesunde nunmehr als krank betrachtet. Als Beispiel für diese Entwicklung
nennen die Herausgeber die Wahrnehmung von Schüchternheit, die zunehmend als behandlungsbedürftige psychische Störung gesehen wird.
Von der Grenzverwischung wird gesprochen, wenn bestimmte Personen als
gleichzeitig gesund und krank gelten. Dies
trifft auf die Gruppe der durch Techniken
der prädiktiven Gendiagnostik markierten Menschen zu: Dieser Begriff meint
Personen, die aktuell gesund sind, bei denen aber genetische Anlagen für künftige
Krankheiten festgestellt worden sind. Die
Grenzüberschreitung bedeutet schließlich, dass „medizinische Praktiken und
Mittel auch bei gesunden Menschen zum
Einsatz kommen, ohne dass diese als
‚krank’ oder ‚abweichend’ definiert würden“. Belege dafür sind der anhaltende
Boom bei der Schönheitschirurgie oder
das Anpreisen von leistungssteigernden
Präparaten.
Zwei Beiträge in dem Buch sind besonders hervorzuheben: Paula-Irene Villa,
Lehrstuhlinhaberin für Gender Studies
in München, schreibt analysierend über
„Mach mich schön! Geschlecht und Kör-
per als Rohstoff“ und Thomas Eichinger
vom Freiburger Institut für Ethik und
Geschichte ergründet die „Ausweitung
der Kampfzone: Anti-Aging-Medizin zwischen Prävention und Lebensrettung“.
Während Eichinger gegen zweifelhafte
Errungenschaften zur Altersbekämpfung
auf die Moralität der Medizin setzt, warnt
Villa davor, jene zu verspotten, die mit
Hilfe des Chirurgen ihr Äußeres optimieren wollen. Sie verweist auf die Ambivalenz zwischen dem von der Frauenbewegung erkämpften Recht auf den eigenen
Körper sowie dessen individuelle Gestaltung und den engen Normen willkürlich
gesetzter Schönheitsideale.
Gerade diese Quergedanken machen
das Buch empfehlenswert für jene, die
sich mit fragwürdigen Tendenzen in der
Medizin auseinandersetzen und den Blick
für die eigene Verantwortung schärfen
wollen.
Udo Sierck,
Lehrbeauftragter am „Zentrum
für Disability Studies“,
Universität Hamburg
Transcript Verlag,
Bielefeld 2011, 312 Seiten,
29,80 Euro
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Buchbesprechungen
Rainhild Schäfers
Gesundheitsförderung
durch Hebammen
Fürsorge und Prävention
rund um Mutterschaft und Geburt
Hebammen erobern sich zunehmend
einen neuen Stellenwert innerhalb des
Gesundheitswesens, ohne den Kern ihrer
traditionellen Aufgaben zu vernachlässigen. Dabei sind Prävention und Gesundheitsförderung an den Schnittstellen von
medizinischer Dienstleistung sowie sozialpädagogischer und psychologischer Intervention nicht mehr wegzudenken. In
ihrem Buch beschreibt Rainhild Schäfers
sehr anschaulich die damit verbundenen
praktischen Tätigkeiten und Inhalte.
Als Praktikerin verknüpft sie merkbar
Wissenschaft und Gesundheitsökonomie
und zeigt neue gangbare Wege für die Zukunft des Hebammenberufes. Die Kapitel
über die erweiterten Tätigkeitsgebiete von
Hebammen – Schulunterricht, Familienhebammen oder Frühgeburtlichkeit
– illustrieren, was Schwerpunkte ihres beruflichen Handelns sein können und sollten. Schäfers gibt außerdem einen umfassenden wissenschaftlichen Blick auf
die Prävention und Gesundheitsförderung in Schwangerschaft und früher Familienphase frei. Sie nimmt die Leserin
an die Hand, führt sie in Grundlagen und
gesetzliche Rahmenbedingungen ein und
stellt Modelle sowie Theorien zu gesundheitsförderndem Verhalten vor. Der Kommunikation als zentraler Fähigkeit und
Fertigkeit der Hebammenarbeit widmet
sie ein erfrischend ehrliches Kapitel.
Rückblickend betrachtet, hat die Geburtshilfe in den letzten drei Jahrzehnten eine enorme Entwicklung vollzogen.
Die Verbesserung der Lebensverhältnisse, die Modernisierung der Geburtshilfe
und die Mitsprache der Frauen haben
dazu beigetragen, dass sich die Risiken
von Schwangerschaft und Geburt für
Mutter und Kind erheblich vermindert
haben. Diesen grundsätzlichen Verbesserungen stehen allerdings Fehlentwicklungen gegenüber, die vielen Fortschritten
in Prävention und Gesundheitsförderung
entgegenwirken. Seit Beginn der 1990er
Jahre trägt eine Welle der Technisierung
dazu bei, die Geburt zunehmend in einen
durchgeplanten technischen Ablauf zu
verwandeln.
An die Stelle des Gebärens tritt das Geburts-Management der Low- oder HighRisk-Schwangeren. Technik und technische Sprache lassen den emotionalen
Anteil und die biografische Bedeutung
von Schwangerschaft und Geburt in den
Hintergrund treten. Die Autorin belegt,
welche Gefahren durch die Fokussierung
auf technische Outcome-Parameter für
Mutter und Kind entstehen können und
plädiert dafür, die Ressourcen der Frauen und Familien sowie die mütterliche
Perspektive bei der Versorgung zu berücksichtigen.
Hebammen können bei der Betreuung junger Eltern auf die Umkehr von
einem zunehmend krankheits- und risikoorientierten Modell hin zu einem salutogenetischen und ressourcenorientierten Betreuungsansatz der Prävention und
Gesundheitsförderung hinarbeiten. Die
Aufgabe der Hebamme ist dabei, für eine
möglichst störungsfreie Zeit zur Entwicklung einer intensiven Bindung zwischen Mutter, Kind und Vater zu sorgen.
Die Autorin versteht es, diese Aspekte
sorgfältig zu belegen.
Abschließend geht sie auf das Qualitätsmanagement in der Prävention ein.
Am Beispiel der Qualitätsentwicklung in
der Schwangerenbetreuung beschreibt
sie, wie schwierig es ist, evidenzbasierte
Leitlinien in die Regelversorgung von
Schwangeren aufzunehmen.
Die kritischen und gut belegten Ansätze der Autorin machen das Buch interessant und richtungsweisend. Es darf in
keiner Ausbildungsstätte für Hebammen
fehlen und öffnet einen von moralischen
Wertungen unverstellten Blick auf die
Anteile der Gesundheitsförderung im
Hebammenberuf.
Gabriele Stenz,
Hebamme und Lehrerin
für Hebammenwesen,
Auditorin,
Delmenhorst
Schattauer, Stuttgart 2010,
202 Seiten, 34,95 Euro
Dr. med. Mabuse 193 · September /Oktober 2011
Buchbesprechungen
Analia Argento
Paula, du bist Laura!
Geraubte Kinder in Argentinien
Brigitte Gensch,
Sonja Grabowsky (Hrsg.)
Der halbe Stern
Verfolgungsgeschichte und
Identitätsproblematik von Personen
und Familien teiljüdischer Herkunft
„Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“
– Es ist vermutlich kein Zufall, dass ein
Buch mit diesem Titel auf den Bestsellerlisten steht. Fragen nach Identität und
Selbstentwürfen brechen hervor, wenn
traditionelle Bezugsrahmen und lebenslange Zugehörigkeiten ins Poröse bröckeln.
Was aber, wenn Bau- und Bestandteile
der Identität so in Widerspruch zueinanderstehen, dass sie sich auszuschließen
scheinen? Was, wenn das Herausbilden
eines kohärenten Ganzen nicht möglich
ist? Beispiele für die paradoxe Aufladung
dieser Fragen durch politische Verfolgungskontexte werden in zwei aktuellen
Buchpublikationen diskutiert. Sie präzisieren das Verständnis der existenziellen
Dringlichkeit identifikatorischer Suchbewegungen.
Für ihre journalistische Arbeit hat die
Argentinierin Analia Argento acht von etwa einhundert bekannten Fällen zwangsadoptierter Kinder der argentinischen Militärdiktatur befragt. In ihrem Buch stellt
sie deren Lebensgeschichten und Auseinandersetzungen mit einem lange verborgenen Teil ihrer Identität vor. Diese Kinder mussten nicht nur die Konfrontation
mit den leiblichen Eltern und deren Herkunftsfamilien seelisch integrieren, sondern vor allem auch deren konträre politische Orientierung.
Das argentinische Militärregime hatte
die leiblichen Eltern als aktive Oppositionelle verfolgt, gefangen genommen, gefoltert und getötet. Ihre Kinder wurden
mit neuen Namen und Papieren ausgestattet und dann Angehörigen des Militärs, Polizisten oder Regimefreunden zugeführt. Vom Kind des Opfers zum Kind
des Täters: In den Erfahrungen der Betroffenen zeigt sich das seelische DilemDr. med. Mabuse 193 · September /Oktober 2011
ma einer solch ambivalent aufgeladenen
Herkunftsgeschichte.
Manche erlebten die von den Angehörigen der politischen Opfer angestrebte
Konfrontation mit den wahren familiären
Wurzeln als befreiend, als ein zunächst
schwierig-brisantes Wagnis, das letztlich
als existenziell bedeutsam empfunden
wurde. Die wiedergefundenen leiblichen
Angehörigen und Freunde der Eltern
wurden zu einer beglückenden neuen
Familien-Heimat.
Bei den meisten aber zeigten sich massive Loyalitätsprobleme, nicht zuletzt aufgrund der strafrechtlichen Bedeutung
der existenziellen Wahrheit. Denn die
Zieheltern sahen sich nach Aufhebung
der Straffreiheit für Kindesraub während
der Militärdiktatur mit Verhaftung und
Verurteilung konfrontiert. Die Zustimmung „ihrer“ Kinder zu einer DNA-Analyse für die zweifelsfreie genetische Bestimmung der familiären Herkunft setzte
sie juristischer Verfolgung aus. Die Zieheltern nun plötzlich als Täter erkennen
zu müssen, brachte bei den Kindern also
eine Vielfalt von Ambivalenzen hervor.
Wieviel nachhaltige Enttäuschung oder
Wut braucht es dann, um den Schritt einer Klärung der Verantwortungen konsequent zu gehen?
Die Erfahrungsberichte schildern die
in Widersprüchen schwankenden Suchbewegungen nach neuen Identitäts- und
damit auch Lebensentwürfen. Dabei ist
nicht nur ein klaffender Riss in der persönlichen Lebensgeschichte zu verbinden,
sondern auch eine indirekte Antwort auf
den kollektiven Riss in der Gesellschaft zu
finden. Die einstmals „geraubten Kinder“
symbolisieren eine offene Wunde der bis
heute gespaltenen argentinischen Gesellschaft. Es ist somit eine persönliche und
kollektive Identitätsarbeit, welche die Betroffenen stellvertretend zu leisten haben.
Beim deutschen Leser kommt dieses
spürbar lateinamerikanische Buch streckenweise etwas melodramatisch an – es
geht nahe an seine Protagonisten heran
und stellt in großer Detailfreude eine
manchmal atemlos wirkende Nähe her.
Die individuellen Antworten auf diese
ungewöhnliche Identitätsaufgabe sind jedoch sehr spannend zu lesen. Sie sensibilisieren auch für die manchmal paradox
zugespitzten Herausforderungen dieser
Aufgabe.
Ein ähnliches Dilemma untersucht
auch das Buch von Brigitte Gensch und
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Buchbesprechungen
Neuerscheinung
im Mabuse-Verlag
Michael Stolberg
Die Geschichte der
Palliativmedizin
Medizinische Sterbebegleitung
von 1500 bis heute
303 S., 29,90 Euro
ISBN 978-3-940529-79-4
Gute medizinische Sterbebegleitung
und ein menschenwürdiger Tod besitzen
in unserer Gesellschaft einen hohen
Stellenwert. Auch in früheren Jahrhunderten bemühten sich Ärzte und Pflegekräfte, den Sterbenden einen qualvollen
Tod zu ersparen – nur wissen wir darüber noch sehr wenig.
Dieses Buch verfolgt erstmals die Geschichte der Palliativmedizin von der
Renaissance bis zur Gegenwart.
Anhand zahlreicher gedruckter und
handschriftlicher Quellen beschreibt es
die lange Tradition der Sorge um das
körperliche und seelische Wohl der Sterbenden ebenso wie die alltägliche Praxis
am Sterbebett.
Der Autor untersucht auch die Ausführungen von Sterbenden und ihren Angehörigen und beleuchtet den Umgang
mit ethischen Fragen, die bis heute
nichts von ihrer Dringlichkeit verloren
haben.
Michael Stolberg, geb. 1957, arbeitete
zunächst als Arzt in der Inneren und der
Intensivmedizin. Nach einer Zweitpromotion in Geschichte und Philosophie
widmete er sich ganz der Medzingeschichte. Seit 2004 ist er Professor für
Geschichte der Medizin an der Universität Würzburg.
Mabuse-Verlag GmbH
Kasseler Str. 1 a · 60486 Frankfurt
Tel. 069-70 79 96-13 · Fax 069-70 41 52
[email protected]
www.mabuse-verlag.de
Sonja Grabowsky. Die Beiträge darin
diskutieren die rechtliche und seelische
Situation von Menschen teiljüdischer
Herkunft von der NS-Zeit bis heute. Es
kommen sowohl Betroffene selbst als
auch SozialwissenschaftlerInnen zu Wort.
Schwierigkeiten zeigen sich schon beim
Benennen: „Personen teiljüdischer Herkunft“ lautet die Bezeichnung korrekt,
doch auch die im Buch versammelten
Aufsätze sprechen lieber von „Mischlingen“ oder „Halbjüdinnen und -juden“.
Spannend ist dazu der Aufsatz von Jürgen
Müller-Hohagen, der zeigt, wie selbstverständlich der Begriff des „Halbjuden“
umgangssprachlich weiterhin fällt und
wie er zugleich die Rassenideologie der
Nazis fortschreibt.
Für die beschriebenen Menschen mit
jüdischem Elternteil stellte sich – anders
als in Argentinien – die Herausforderung
einer konträr aufgeladenen Identitätssuche nicht erst aus der Retrospektive. Im
Nationalsozialismus stellten die „Mischlinge“ eine besondere Bedrohung dar: die
Bedrohung des „Rein-Arischen“ durch
ein „Sowohl-als-auch“. Einerseits wollte
man zwar „den Juden im Mischling“ ausrotten. Aber würde man dann auch den
„Arier“ in ihm töten? Die Verfolgung und
Ermordung wurde entsprechend der
Nürnberger Rassegesetze erst dann angeordnet, wenn mindestens drei der
Großeltern jüdisch waren. Alle anderen
„Mischlinge“ wurden meist geduldet und
sehen sich bis heute mit diesem „Sowohlals-auch-Sein“ konfrontiert.
Die Rassendiskriminierung bedeutete
auch hier das Leben mit einem Identitätsriss. In den meisten Familien lebten
Verfolger und Verfolgte zugleich, Verbündete und Helfer der jüdischen Familienmitglieder wie auch „arisch identifizierte“,
nationalsozialistische oder sympathisierende Verwandte. Die „Misch“-Ehen wurden von außen angefeindet, stellten eine Provokation gegenüber der arischen
Reinheitslehre dar, waren aber meist
auch nach innen voller Spannungen und
Konfliktlinien.
Angesichts der existenziell bedrohlichen Verfolgung eines Elternteils
schrumpft das eigene Schicksal ins scheinbar Unbedeutende und das Bestimmen
der eigenen Identität wird zu einem
kaum auslotbaren Balanceakt zwischen
Schuldverstrickungen: Bin ich eher Teil
der Täter oder eher Teil der Opfer? Ein
Betroffener schreibt im Buch: „Insofern
haben die Nazis Recht behalten: ich bin
‚halb‘, ich bin Verfolger und Verfolgter.
Ich kann mich als Deutscher nicht davon
freimachen, zu den Verfolgern zu gehören.“
Die dem Buch beigefügte CD, die eine
lange Gruppendiskussion mit vier Frauen
und einem Mann dokumentiert, vermittelt einen nachhaltigen und sehr persönlichen Eindruck. Eine Betroffene sagt:
„Das alles hat mich unglaublich gequält.
Aber ich habe zu mir gefunden und mich
befreit: Ich lasse mich nicht mehr von
außen definieren!“
So ist den Herausgeberinnen zu einem
differenzierten und umfassenden Einblick
in ein vielschichtiges psychologisches Dilemma zu gratulieren. Die Ergänzung von
Buch und CD lässt ebenso die nachhaltige Identitätsnot plastisch werden wie
auch die Gefühle von Befriedigung und
Stimmigkeit, wenn die Auseinandersetzung ganz individuelle Antworten hervorzubringen vermag.
Die Beantwortung der Frage nach dem
„Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ erweist sich in den beiden vorgestellten
Kontexten also als eine ebenso schwere
wie auch potenziell bereichernde Herausforderung. Vielleicht kann das Spielerische, das Nicht-genau-festgelegt-Sein
dann als befreiend erlebt werden, wenn
gerade auch die konträren Aspekte der
Identität einen sicheren und verbundenen inneren Platz gefunden haben. Dann
kann auch das Widersprüchliche zum essenziell Eigenen werden: „Meine Identität ist die Zerrissenheit, damit lebe ich –
und nicht schlecht!“
Vera Kattermann,
Psychoanalytikerin,
Berlin
Ch. Links Verlag, Berlin 2010,
244 Seiten, 19,90 Euro
Psychosozial-Verlag, Gießen
2010, 300 Seiten,
29,90 Euro
Dr. med. Mabuse 193 · September /Oktober 2011
Buchbesprechungen
Matthias David, Theda Borde (Hrsg.)
Schwangerschaft,
Geburt und frühe Kindheit in der Migration
Wie beeinflussen Migration
und Akkulturation soziale und
medizinische Parameter?
Die renommierten Herausgeber Matthias David und Theda Bode legen mit
dem Band die Ergebnisse einer Tagung
im Rahmen des Berliner Kongresses Armut und Gesundheit 2010 vor.
Dabei präsentieren David und Borde
die Vorträge und Beiträge so, dass eine
Sammlung sowohl aktueller internationaler als auch deutscher Forschungsansätze und -ergebnisse entstanden ist. Die
Themen Schwangerschaft, Geburt und
frühe Kindheit in der Migration haben
bisher nicht genügend Aufmerksamkeit
erhalten. Neue Erkenntnisse für WissenschaftlerInnen und MitarbeiterInnen des
Gesundheitswesens werden also dringend
gebraucht.
Die Vielfalt und Diversität der Beiträge
beeindruckt: von theoretischen Perspektiven zu Zusammenhängen von Medizin
und Zuwanderung über gesundheitliche
Herausforderungen in Schwangerschaft
und Geburt. Das Buch behandelt Fragen der Kommunikation und der Nutzung von Netzwerken sowie den Einfluss von Migration und Akkulturation
auf Schwangerschaft und Geburt. Die Autoren ziehen Vergleiche zwischen Deutschen und Migrantinnen, was in der Forschung nicht selbstverständlich ist, und
zeigen das Präventionsverhalten bei werdenden und jungen Familien auf. Dabei
gehen die AutorInnen auf die unterschiedlichen Vorstellungen und den Umgang bei der Wochenbettbetreuung ein
sowie auf den Einfluss von Akkulturation
auf die Gesundheit von Kindern im Schuleintrittsalter.
Bei aller Heterogenität der Beiträge ist
den meisten eine Betrachtungsweise gemeinsam: Diese hat den Paradigmenwechsel von zu Betreuenden bzw. Behandelnden aus anderen Ländern zu
Menschen mit eigenen Ressourcen und
Umgehensweisen, denen Respekt gebührt, längst vollzogen. Das heißt zum
Beispiel, dass bei aller Vulnerabilität von
Dr. med. Mabuse 193 · September /Oktober 2011
Frauen vor, während und nach einer Geburt auch auf deren Ressourcen gesetzt
werden soll. Dafür wird von dem medizinischen und sozialen Personal eine Sensibilität eingefordert, die noch längst
nicht selbstverständlich ist.
Für die LeserInnen ist eine Reihe von
Ergebnissen überraschend, weil diese gängigem Wissen widersprechen bzw. weit
darüber hinausgehen, etwa zum Risiko
allergischer Erkrankungen bei Migrantenkindern im Vergleich zu deutschstämmigen. Hervorzuheben ist auch, dass bei
den dargestellten Forschungsprojekten
beinahe immer soziale und Lebensweltfaktoren mit einbezogen werden. Sehr
häufig wird somit klar, dass soziale Herkunft und Bildungschancen bzw. -benachteiligungen wesentlich mehr zur
Unterversorgung bei gesundheitlichen
Problemen beitragen als der Migrationshintergrund selbst. Zuwanderung allein
ist kein Risikofaktor. Inwieweit allerdings
fortschreitende Akkulturation Risikofaktoren verringert oder erhöht, ist bei dem
jetzigen Stand der Forschung umstritten
bzw. insgesamt zu wenig erforscht, als
dass eindeutige Auskünfte darüber gegeben werden könnten.
Sehr aufschlussreich wird in diesem
lesenswerten Band auch die Bedeutung
sozialer Netzwerke geschildert: Sie wächst
bei Migrantinnen und deren Familien mit
zunehmender medialer Kommunikationsmöglichkeit. Solche Netzwerke haben
einen bedeutenden Einfluss auf das Wissen über Schwangerschaft, Geburt und
Kleinkindphase, was wiederum das Gefühl der Sicherheit über das eigene Befinden fördert. In diesen Ansatz sollte zunehmend auch medizinisches Personal
mit seinen Spezialkenntnissen eingebunden werden.
Die Lektüre dieses Bandes regt zum
Nachdenken, Weiterdenken und Diskutieren an und wird allen an der Fragestellung Interessierten empfohlen.
Dorothea Grieger,
Ehem. Mitglied im Arbeitsstab der Beauftragten der Bundesrepublik für Migration,
Flüchtlinge und Integration (ATZ), Berlin
Mabuse-Verlag, Frankfurt
am Main 2011, 252 Seiten,
26,90 Euro
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