Kinder erleben Gewalt

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Kinder erleben Gewalt
01.05.2011
Kinder erleben
Gewalt
Über die Auswirkungen
traumatischer Ereignisse
Alexander Korittko, Dipl. Sozialarbeiter, Paar- und
Familientherapeut, Bereich Jugend und Familie Hannover
1
Umwelt und Hirnentwicklung
Bindungsprogramme
Umwelt
Erfahrungen
Gefühle
Lernen
Gedächtnis
Gene
Moleküle
„Die Umwelt steuert die angeborenen
Entwicklungsprogramme und
beeinflusst damit die Reifung und die
spätere Funktionsweise des Gehirns.“
Prof. Katharina Braun, Magdeburg
Korittko/Besser
© 2006 ZPTN
© Alexander Korittko 2006
Kinder erleben Gewalt
Sub-optimale Bedingungen:
• Vernachlässigung
• Misshandlung
• Überstimulierung
• traumatischer Stress
• frühe Trennungen
Geburt
Molekulare Programme
Sub-optimale Bedingungen:
• Mangel-Ernährung
• Stress der Mutter
• toxische Einflüsse
• mechanische Einwirkungen
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1
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„Cells that fire together, survive together.“
Alan Schore
Die Nervenzellen
bilden ein
gleichmäßiges
dichtes Netz, das
Impulse in alle
Richtungen
weiterleitet.
Korittko/Besser
© 2006 ZPTN
Durch Lernen
verstärken sich einige
Bahnen, andere
verkümmern.
Vielfältige
Anregungen führen zu
komplexen Strukturen.
Zum Lernen steht
weitgehend das bis
dahin gebildete Netz
zur Verfügung. Neue
Verbindungen
entstehen schwerer.
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Selbst- und Fremdregulierung
„Window of Tolerance“
Panik
Todesangst
Übererregung
Untererregung
Korittko/Besser
© 2006 ZPTN
© Alexander Korittko 2006
Dissoziation
Erschöpfungsschlaf
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Kindliche Hirnentwicklung
nach Alan Schore, Köln 2002

Die neuronalen Verschaltungen
beginnen im Mutterleib:
Rückenmark, Stammhirn,
Mittelhirn und Limbisches
System.

Nach der Geburt setzen sie sich im
Frontalhirn fort.

Kinder kommen mit einer
Überproduktion von
Nervenzellen auf die Welt,
zwischenmenschliche
Erfahrungen strukturieren das
Gehirn.
Korittko/Besser
© 2006 ZPTN

Die rechte Hemisphäre hat ihre stärksten
Wachstums- und Veränderungsphasen
0 -12 Monate, 3 - 5 Jahre, 7,5 - 11 Jahre

Kinder die im ersten Lebensjahr traumatisiert wurden, oder durch traumatisierte
Eltern betreut wurden (Transposition),
entwickeln eine Cortisol-Überproduktion,
die zur Zerstörung bereits entwickelter
Synapsen-Vernetzungen und zu einer
Disregulation neurobiologischer
Regelkreise führen kann.

Folgen: Probleme bei der Affektregulation
Jungen: Dopamin-Mangel Aggression nach Außen
Mädchen: Serotonin-Mangel Aggression gegen sich selbst, Depression


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Umkehr der Reaktionsmuster


Weil Schmerzsignale Endorphine
aktivieren, wird der Schmerz gesucht:
geschlagen werden, sich Haare ausreißen,
sich selbst verletzen
Die Folgen des Beziehungsverrats ist die
Umkehr der ursprünglichen Muster:
Menschen machen Angst
 Allein sein und Schmerzen sind gut

Korittko/Besser
© 2006 ZPTN
© Alexander Korittko 2006
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Traumatische Risikofaktoren für Kinder in
den ersten zwei Lebensjahren
(Elke Ostbonk-Fischer, FHS Köln, 27.11.2002)

Alleinlassen (auch für kürzere Zeit)

Trennung von vertrauten Personen

Überlassen an (für das Kind) fremde Personen

erhebliche Furcht durch Erschrecken

Nahrungsentzug

Gewalt gegen das Kind

Gewalt gegen die Mutter in der Schwangerschaft und in
der vorsprachlichen Lebensphase des Kindes
Korittko/Besser
© 2006 ZPTN
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Häufigkeit von PTBS bei Kindern
Jessica Hamblen, National Center for PTSD, 1998
Korittko/Besser
© 2006 ZPTN
© Alexander Korittko 2006
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PTBS bei Kindern
(Perrin, Smith & Jule, 2000)
Traumatischen Ereignissen ausgesetzt:

erlebt, beobachtet oder anders
konfrontiert

Tod, Todesbedrohung, ernsthafte
Verletzung oder körperliche
Bedrohung

Kind selbst oder anderer Mensch
Intrusive Symptome:

Post-traumatisches Spiel

Wiederholen im Spiel

Wiederkehrende Erinnerungen

Alpträume

Flash-backs oder Dissoziationen
Jeweils ein Symptom
aus jeder Gruppe,
mindestens einen Monat lang
= PTSB
Korittko/Besser
© 2006 ZPTN
Vermeidungs-Symptome:

Eingeschränktes Spielverhalten

Verstärkter sozialer Rückzug

Eingeschränkte Spannbreite von
Affekten

Verlust von Entwicklungsschritten
Hypererregungs-Symptome:

Nächtliches Schreien

Einschlafprobleme, Schlafwandeln

Geringe Konzentration

Erhöhte Wachsamkeit

Übertriebene Schreckreaktionen
Kinder-Kriterien:

Neue Aggressionen

Neue Trennungsängste

Angst allein auf der Toilette

Andere neue Furcht
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Sicherheit für Kinder
Das Gehirn lernt bei
multipler
Traumatisierung



Sicherheit bietende
Bezugspersonen bieten keine
Sicherheit
Die Aneignung von
Kompetenzen bietet keine
Sicherheit
Schreien, stereotype
Bewegungen und Erstarren
stehen als einzige
Notfallreaktion zur Verfügung
Korittko/Besser
© 2006 ZPTN
© Alexander Korittko 2006
Kinder benötigen so schnell wie
möglich
 Ein Sicherheit bietendes
Umfeld und Sicherheit
bietende emotionale
Beziehungen
 Neue positive Erfahrungen
über



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Verlässlichkeit in Beziehungen
Nützlichkeit von
Kompetenzen
Wert innerer Orientierung
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Diagnostik
Zur gezielten Veränderung benötigen wir
 einen äußeren sicheren Ort
 Bereitschaftspflege
 Pflegefamilie, Familienpflege
 Jugendwohngruppe
 Trauma- und Bindungs-bezogene Anamnese
 Diagnose der neurophysiologischen Reaktivität
 Suche nach Auslösern für Aktivierung der Notfallreaktionen
 Informationen über Symptomkonstellationen
Korittko/Besser
© 2006 ZPTN
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Traumatisierte Kinder in Pflegefamilien
Herkunftsfamilie
Trauma
Bisherige Gefahrenabwehr:
Kampf, Flucht,
Dissoziation
Begegnungen
und/oder
Erinnerungen
lösen Ängste aus
Re-Inszenierung
des Traumas
Erlebt verstärkt:
„Nicht sicher“
Pflegefamilie
Leibliches Kind:
Ziel: Assoziation,
Reagiert ängstlich,
verunsichert, verärgert
„Nicht gut genug“
Fühlt sich vernachlässigt;
reagiert u.U. mit Problemen
Korittko/Besser
© 2006 ZPTN
© Alexander Korittko 2006
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Hilfen für traumatisierte Kinder
(nach Perry, 2001)




Regelmäßiger Tagesablauf
Keine aufdringlichen Kontakte
Regeln und Konsequenzen besprechen
Über das Ereignis, die eigenen Reaktionen und Gefühle
sprechen
 Vor unkontrollierbaren hektischen Ereignissen schützen
(z.B. Kino, TV, Computer)
 Keine „Überreaktionen“ zeigen
 Gefühl von Wahl und Kontrolle vermitteln; Erwachsene
haben den Überblick
Korittko/Besser
© 2006 ZPTN
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Trauma-Erzähl-Geschichte
Joan Lovett, 1999








Korittko/Besser
© 2006 ZPTN
© Alexander Korittko 2006
Einfache, Kind-zentrierte Sprache
Ein Ereignis „das einem Kind passieren
kann“
Lösungen für erdrückende,
unverständliche Dinge
Für das Kind angemessene
Überzeugungen, die einen Fortschritt
ermöglichen
Anfang mit Dingen, mit denen sich das
Kind positiv identifizieren kann
Mitte mit spezifischen Ereignissen
Details des Traumas: Anblicke, Klänge,
Geschmäcker, Gerüche usw.
Ende mit konstruktiver Lösung und
positiver Meinung über das Kind selbst
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Vom pädagogischen Umgang mit
traumatisierten Kindern und Jugendlichen
Volkmar Baulig, Förderschulmagazin 5/2003

Fünf zu beobachtende
Phänomene:





zyklische Stimmungsschwankungen
unzureichende Sprach- und
Gedächtnisleistungen
hyperaktives Verhalten
Wahrnehmungsstörungen
Vermeidungsverhalten

Regressive Situationen meiden

nichts "Allzuschönes"

keine Entspannung, sondern
handfeste Lernmaterialien

Chancen für grobmotorische
Bewegungen
Im Pädagogischen Umgang:

Einen dauerhaft sicheren Platz
ermöglichen




“Es ist gut, hier zu sein”
Mitgestalten des Platzes
ermöglichen
Rückzugsmöglichkeiten
Korittko/Besser
© 2006 ZPTN
Eingegrenzte Erfahrungen
machen lassen

klare Regeln und Konsequenzen

kein Zwang zur Nähe

überschaubare Tagesstruktur
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Vom pädagogischen Umgang mit traumatisierten
Kindern und Jugendlichen
Volkmar Baulig, Förderschulmagazin 5/2003

Trauma-zentrierte Gespräche
dosieren


Vorsicht vor:



Antriggern der chaotischen inneren
Affektstruktur

durch Gespräch über das Trauma
(Gesichtsverlust, Scham,
Schutzlosigkeit)



wer sitzt in welchem Abstand
zusammen

regeln aus der kontrollierenden
Distanz
Retraumatisierungen vermeiden

keine häufigen Wechsel von Personen
und Orten

keine Gewalt

dosierter Medienzugang
Korittko/Besser
© 2006 ZPTN
© Alexander Korittko 2006
individuelle Erfolgsorientierung
selbstgesteuerte Lernsituationen
Vermeidung als Hilflosigkeit sehen
Flexible Pädagogik anstreben

keine persönliche Konfrontation

"Ich bin mit meiner ganzen Last
auszuhalten"

Prinzip der Zuversicht vermitteln
Abstand durch Körpersprache


Dosierte Leistungsanforderungen
Negative Identifizierungen und
Gruppenbildungen vermeiden

erlittene Ohnmacht wird durch
Gruppenbildung kompensiert

neue "Starke" schaden neuen
"Schwachen"

keine Re-Inszenierungen traumatischer
Erfahrungen
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Heilung durch Beziehung
nach Michaela Huber, 2003

Ziel: Anpassung und Impulskontrolle
1.
Wechselseitige Einstimmung und Zusammenwirken
Reflexiver Dialog
2.
„Wenn Du so guckst, dann denke ich ...“
„Ist das so, dass Du ...“ „Ich bin anders, als Du.“


Reparieren und anknüpfen nach unterbrochener Kommunikation
3.
Fühlt sich sonst schuldig und allein gelassen
In der Therapie kein Schweigen


Kohärente gemeinsame Geschichte
4.
Co-konstruierte Geschichte (auch in der Therapie)

Emotionale Kommunikation
5.
Glück und Erfolg mit Vitalität teilen
Bei Trauer und Unbehaglichkeit im Kontakt bleiben
Nähe und Augenkontakt mit Alleinsein abwechseln




Extrem desaströse Erlebnisse können durch Pflegeeltern,
Adoptiveltern oder gute Therapien nicht vollständig kompensiert
werden.
Korittko/Besser
© 2006 ZPTN
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Selbst verletzendes Verhalten (SVV)
Dialektisch-Behaviorale Therapie nach Masha Linehan

SVV Symptome wertschätzen und gleichzeitig etwas anderes anbieten

Minderer Stressbereich:

Meditative Achtsamkeitsübung: Situationen, Gegenstände, Menschen im Hier
und Jetzt wertfrei beschreiben

Mittlerer Stressbereich:

Hoch-Stress-Bereich (Selbstverletzungsgefahr!!!):


Emotionen über zwischenmenschliche Beziehungen regulieren
Intensive Alternativ-Reize







Eiswürfel, kaltes Wasser, kalte Dusche
Cayenne Pfeffer
Gummiband
Igelbälle
Kieselstein im Schuh
Handy für „Alltagsgespräche“
„Niemand kümmert sich so gut um einen erwachsenen Menschen, wie er
selbst.“ (ab 21: Umgang damit, wie ich geworden bin)
Korittko/Besser
© 2006 ZPTN
© Alexander Korittko 2006
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Mindest-Standards bei elterlichen Kontakten
nach häuslichen Gewalterlebnissen
Korittko/Besser
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
Verläßlichkeit

regelmäßige Treffen

Persönliche Präsenz und Betreuung

Versprechen einhalten

Aufmerksame und freundliche Zuwendung
zum Kind

Kindgerechte Aktivitäten

Gutes Vorbild im Verhalten und in der Sprache

Kein Körperkontakt gegen den Willen des
Kindes

Keine Beeinflussung des Kindes

Kein Konsum von Drogen und Alkohol im
Beisein des Kindes oder vor dem Treffen
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Grundsätze der Arbeit mit
traumatisierten Kindern
(nach Perry, 2001)







Intensität und Dauer der akuten Angstreaktion mindern
und dadurch PTSB vorbeugen
Struktur, Vorhersagbarkeit und gute emotionale
Versorgung
Bezugspersonen als wichtigste Quelle von Genesung
Behandlung der Bezugspersonen ist die beste
Unterstützung für Kinder
Bei Kleinkindern und Säuglingen sind frühe
Interventionen absolut notwendig
Je jünger das Kind ist, desto größer die mögliche
Schädigung
Größter Einfluss: depressive, ängstliche oder erschöpfte
Bezugspersonen
Korittko/Besser
© 2006 ZPTN
© Alexander Korittko 2006
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PTSD-Risikofaktoren bei Kindern
(nach Mowbray, Post-traumatic therapy for children who are victims of violence, Brunner/Mazel, New York 1988)

Das Trauma hatte multiplen Charakter, dauerte besonders lang oder
wurde erst sehr viel später bekannt

Das Kind ist bereits traumatisiert, war bereits Opfer oder hat bereits
andere schwerwiegende emotionale Störungen erlitten.

Das Kind wurde körperlich verletzt.

Das Kind erlebt den Verlust einer bedeutsamen Bezugsperson
(Elternteil, Geschwister, Freund) oder des Lieblingstiers.

Die Reaktionen der Eltern sind extrem unangemessen (anklagend,
zerstörerisch)

Die Fähigkeiten der fürsorgenden Eltern sind eingeschränkt
(z.B. durch psychische Krankheit, Lernbehinderung, Sucht)

Die familiäre Atmosphäre ist gewalttätig, chaotisch, wenig
unterstützend.
Korittko/Besser
© 2006 ZPTN
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Verarbeitung von häuslichen
Gewalterlebnissen bei Kindern
Einflussfaktoren
Korittko/Besser
© 2006 ZPTN
© Alexander Korittko 2006

Wehrhaftigkeit des Opfers

Schutz von außen

eigene Beteiligung der Kinder

Schuldeinsicht des Täters

Verhalten der Institutionen (welche Normen werden
dadurch gesetzt?)

Nachbarn, Freunde, Umfeld

bisherige Einstellungen zu Macht und Gewalt
(kulturelle Normen, religiöse Normen)

gesellschaftliche Stereotypen als "Erlaubnisreize” (z.B.
Filme, Computerspiele)
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