Sichtbare Verbindungen schaffen Wirtschaftliches Prozessmanagement durch Visualisierung von Nahtstellen 442 Peter Felber, Eisenach, und Peter Wintzer, Gensingen Je nach Unternehmensgröße kann es an den Nahtstellen der Zuständigkeiten zu erheblichen Reibungsverlusten kommen, insbesondere wenn mehrere Standorte miteinander kommunizieren müssen. Ein mittelständischer Kunststoffverarbeiter hat sich speziell dieser Problemstellung angenommen und über den Weg der Einführung eines prozessorientierten Managementsystems eine praktikable Lösung herbeigeführt. Wie Unternehmen vieler anderer Branchen auch, musste sich die Schuster Kunststofftechnik GmbH, Lüdenscheid, aufgrund des Wettbewerbsdrucks mit Kosteneinsparungen beschäftigen. Seit der deutschen Wiedervereinigung hatte der Hersteller von dekorativen Kunststoffteilen mit hohen Oberflächenansprüchen für die Automobilindustrie und die Mobilfunksparte in Seebach einen Werkzeugbau eingerichtet und nachfolgend in zwei Schritten die komplette Produktion und Montage von Kunststoffbaugruppen nach Waltershausen bzw. See- bach verlagert. Die Summe der Unternehmensleistungen wurde somit an drei Standorten erbracht. Der damit verbundene Mehraufwand in der Kommunikation und die dadurch aufgetretenen zusätzlichen Reibungsverluste wurden in Kauf genommen, da ihnen zu jenem Zeitpunkt noch ein angemessener Erlös gegenüberstand. Ein starker Umsatzeinbruch in der Telekommunikationssparte jedoch zwang das Unternehmen, schnell über eine Ausweitung des Automobilgeschäftes und über Kosteneinsparungen nachzudenken. Probleme erkennen Die anstehenden Themen mussten unter Zeitdruck parallel in Angriff genommen werden. Neben vielen anderen Aktionen wurde eine Akquisition in der Automobilindustrie getätigt. Als Begleiterscheinung wurden die Einrichtung eines Managementsystems unter Berücksichtigung der ISO 9001:2000 und der ISO/TS 16949 sowie diverse Kostensenkungsmaßnahmen nötig. Eine Schlüsselrolle bei der Neustrukturierung des Unternehmens, so zeigte sich, spielte die Zertifizie- © Carl Hanser Verlag, München Jahrg. 48 (2003) 5 METHODEN Bild 1. Geschäftsprozesse des Unternehmens: „M“ weist auf mindestens eine Nahtstelle hin. „I” steht für alle Anweisungen, die für die ordnungsgemäße Ausführung des jeweiligen Tätigkeitsschritts erforderlich sind Jahrg. 48 (2003) 5 rung nach ISO/TS 16949. Von Anfang an war dieses Projekt in der Unternehmenshierarchie sehr hoch angesiedelt. Als Projektleiter wurde einer der zwei Prokuristen eingesetzt, der in Zusammenarbeit mit dem Leiter des Qualitätswesens und einem externen Berater das Gesamtprojekt steuerte. Gestartet wurde dieses Projekt im Januar 2002, Ziel war die Zertifizierung innerhalb von neun Monaten. Während der Arbeiten zur Beschreibung der Geschäftsprozesse kristallisierte sich rasch ein Kernproblem heraus. Innerhalb der Geschäftsprozesse gab es zahlreiche Nahtstellen zu unterschiedlichen Zuständigkeiten, was in der Praxis immer wieder dazu führte, dass Aufgaben gar nicht, nicht sachgerecht oder nicht termingerecht erledigt Bild 2. Unterprozess Kundenanfragen bearbeiten 443 METHODEN wurden. Daher wurde als ein separates Projektziel beschlossen, den Nahtstellen zwischen den Geschäftsprozessen besonderes Augenmerk zu schenken und die in diesem Zusammenhang anfallenden Fehlerkos-ten drastisch zu reduzieren. Zwar war den Beteiligten bewusst, dass erhebliche Störungen im Betriebsablauf auftraten und damit auch erhebliche Kosten verbunden waren. Doch Kennzahlen, etwa betriebswirtschaftliche Größen, die Auskunft darüber geben könnten, welche finanziellen Verluste aus der bestehenden Nahtstellenproblematik resultierten, existierten nicht. Auf diese Weise würde im Projektverlauf oder nach Abschluss wegen der vielen zeitgleichen Maßnahmen zur Kostensenkung kein Einzelnachweis des Erfolgs geführt werden können. Um dies dennoch zu ermöglichen und auch, weil klar war, dass alle Geschäftsprozesse mit unterschiedlicher Gewichtung betroffen waren, konzentrierte sich die Projektarbeit darauf, die Nahtstellen dauerhaft sichtbar zu machen und mit eindeutigen Zuständigkeiten für die Ausführung zu belegen. Prozesse strukturieren Für die Dokumentation der Abläufe des Unternehmens, einschließlich der Darstellung der Nahtstellen, wurde von Projektbeginn an die Software Wiss-Intra eingesetzt – eine internetfähige Dokumentationslösung mit einer zentral abgelegten, aber dezentral pflegbaren Datenbank, auf die von allen Standorten jederzeit zugegriffen werden kann. Wegen der damit bestehenden Rahmenbedingungen „Projekt Zertifizierung“ und „Software WissIntra“ war eine optimale Ausgangslage vorhanden, die es ermöglichte, folgende Zielstellungen dieses Projektes gemeinsam zu erreichen: ■ Zertifizierung, ■ anwenderorientierte Geschäftsprozessdarstellung, ■ papierlose Dokumentation, ■ elektronische Freigaben, ■ Identifikation aller Beteiligten mit ihren Prozessen, ■ Kostensenkung an den Nahtstellen der Prozesse sowie ■ Kennzahlen für Prozesse und Tätigkeitsschritte. Die Darstellung der Geschäftsprozesse in WissIntra bildete auch die Grundlage für die Visualisierung der geschäftsprozess-übergreifenden und internen Nahtstellen. Zu Projektbeginn erfolgte zunächst die Festlegung der Geschäftsprozesse des Unternehmens und die Benennung der Personen, die für die erstmalige Dokumentation und die spätere Pflege der Geschäftsprozessbeschreibungen verantwortlich sind (Bild 1). Grundidee war, von der bisherigen zentralen Verwaltung der (Qualitäts-) Managementsystemdokumente durch den QM-Beauftragten auf eine dezentrale Verwaltung Bild 3. Wechselwirkungen im Geschäftsprozessablauf durch die zuständi- 444 gen Fachbereiche zu wechseln. Damit wurden eine deutlich höhere Identifikation der Fachbereiche mit ihren eigenen Prozessen und der Dokumentation erzeugt und die Freigabeverfahren vereinfacht. ISO 9000:2000 definiert den Begriff Prozess als „Satz von in Wechselbeziehung oder Wechselwirkung stehenden Tätigkeiten, der Eingaben in Ergebnisse umwandelt“. Eingaben sind dabei gemäß Anmerkung 1 üblicherweise Ergebnisse anderer Prozesse. Deshalb wurde bei der Dokumentation der Geschäftsprozesse konsequent darauf geachtet, dass diese auch die tatsächlichen Ablauffolgen wiedergeben. Damit sind für diese Situationen auch bereits alle Wechselwirkungen dargestellt, wie am Beispiel der Anfragenbearbeitung deutlich wird (Bild 2). Bei jedem Tätigkeitsschritt sind die Ausgaben auch gleichzeitig die Eingaben in den folgenden (Bild 3). Bei der Prozessdokumentation mittels WissIntra gelang es auf diese Weise, dem Anwender alle benötigten Informationen auf möglichst einer Bildschirmseite zur Verfügung zu stellen. Am Ende einer Prozesskette steht immer der konkrete Tätigkeitsschritt. Hier werden die Sachaufgaben geleistet, hier müssen alle internen und externen Forderungen erfüllt werden, gleichgültig ob sie aus Satzung, Gesetz, Verordnung, Normen (wie z. B. Qualität, Umwelt, Arbeitssicherheit, Basel-II-Rating) resultieren, hier wird über Qualität entschieden. Deshalb lag auch ein besonderes Augenmerk auf dieser Stelle. Führungskräfte und Mitarbeiter waren zu jedem Tätigkeitsschritt aufgefordert, sich Gedanken zu machen über ■ Ziel/Nutzen, ■ Nutzenfeststellung, ■ Eingabeinformationen, ■ grundsätzliche Arbeitsausführung, ■ Ausgabeinformationen und ■ Nahtstellen zu anderen Tätigkeitsschritten. Damit waren zunächst einmal alle mit administrativen Tätigkeiten betrauten Mitarbeiter in den Vorgang der Planung ihrer eigenen Prozesse bzw. Tätigkeitsschritte miteinbezogen. Dies führte dazu, dass sich diese Mitarbeiter mit ihren Prozessen identifizieren und im Alltag auch tatsächlich mit diesen Beschreibungen arbeiten. Dadurch haben sich Einarbeitungszeiten und Fehler neuer Mitarbeiter verringert, der Aufwand für die Prüfung und Aktualisierung der Geschäfts- © Carl Hanser Verlag, München Jahrg. 48 (2003) 5 METHODEN Bild 5. Nahtstellen eines Tätigkeitsschritts machen Aktionen und Zuständigkeiten sichtbar prozesse vor dem ersten Überwachungsaudit hat sich deutlich reduziert, und die Kommunikation zwischen den Verantwortungsbereichen hat sich versachlicht. Eine weitere wichtige Voraussetzung zur Reduzierung von Nahtstellenkosten besteht darin, dass die Entscheidungsträger auch eine Übersicht der sie betreffenden Nahtstellen erhalten. Die eingesetzte Software ermöglicht es, die Nahtstellen aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten: aus Sicht der Geschäfts- prozesse, der Funktionen und der Personen (Bilder 4, 5). Der Geschäftsführung und dem Managementsystembeauftragten steht eine quantitative Auswertung zur Verfügung, um Schwerpunkte erkennen zu können (Bild 6). Reibungsverluste reduzieren Während der Arbeiten zur Darstellung der Geschäftsprozesse, bei denen zwangsläufig auch die Nahtstellen mit aufgezeichnet wurden, wurde den Ge- schäftsprozessverantwortlichen und -betreuern sowie den beteiligten Mitarbeitern schnell klar, dass bei der bestehenden Ausgangslage der drei Standorte tatsächlich erhebliche Reibungsverluste an diesen Nahtstellen auftreten: ■ Notwendige Tätigkeiten sind nicht oder nur unvollständig beschrieben. ■ Die Ausführungsverantwortungen sind nicht oder unklar geregelt. ■ Die Daten- bzw. Informationsflüsse sind zu lang und/oder zu zeitaufwendig. Die ersten beiden Sachverhalte konnten in ihren Grundzügen im Rahmen der Geschäftsprozessdarstellung und der Beschreibung der einzelnen Tätigkeitsschritte miterledigt werden, wobei allen Beteiligten auch klar ist, dass hier noch nicht alle Lücken geschlossen sind. Als schwieriger stellte sich die Lösung des dritten Sachverhaltes dar. Welche Informationen für die Ausführung von Tätigkeiten erforderlich sind und welche Informationen als Ergebnisse aus den Tätigkeiten resultieren, konnte ebenfalls aus der Beschreibung Bild 4. Liste der Nahtstellen eines Geschäftsprozesses Jahrg. 48 (2003) 5 445 METHODEN der einzelnen Tätigkeitsschritte entnommen werden. Mit genauer Betrachtung dieser Daten wurde festgestellt, dass die größten Reibungsverluste und somit auch die meisten Einsparungspotenziale in den Nahtstellen zum vorhandenen PPS-System liegen: ■ Anwender in den Fachbereichen kennen wesentliche Möglichkeiten des PPS-Systems nicht. Lieferantenbewertung betroffen. Hier wurde das im PPS-System vorhandene, aber nicht genutzte Verfahren optimiert, und die Ergebnisse der Wareneingangsprüfung fließen nun automatisch ein. Im Projektverlauf gab es vielfache ähnliche Maßnahmen an anderen Nahtstellen zwischen Geschäftsprozessen, doch die einschneidendste und kostenwirksamste war die Verlagerung der Projektierung (Entwicklung) einschließlich der Bild 6. Gesamtübersicht aller Nahtstellen ■ Das PPS-System genügt in wesentlichen Punkten nicht mehr heutigen Anforderungen. ■ In den Fachbereichen werden Daten erzeugt, die auch im PPS-System verarbeitet werden könnten oder können. Ein wesentlicher Teil der getroffenen Maßnahmen konzentrierte sich auf diese Schwachstelle. So wurde zum Beispiel innerhalb von drei Monaten die Prüfplanung neu strukturiert. Bis zum Zeitpunkt der Inkraftsetzung der Neuregelung wurden die Prüfungen, die am Zukaufmaterial sowie an den Zwischenund Fertigprodukten durchzuführen sind, durch drei verschiedene Stellen geplant und in drei verschiedenen Dokumenten auf Word-Basis dokumentiert. Durch eine programmtechnische Ergänzung der PPS-Software erfolgt heute die Planung an einer Stelle, es gibt nur noch einen Prüfplan, und die Prüfergebnisse werden ebenfalls im PPS-System dokumentiert, um in einem nächsten Programmschritt die Dynamisierung der Prüfhäufigkeit realisieren zu können. Gleichzeitig war auch die Nahtstelle zwischen Wareneingang und Einkauf in Bezug auf eine objektivere 446 Musterabteilung sowie des Einkaufs vom Standort Lüdenscheid an den Standort Waltershausen. Überlegungen dazu hatten schon lange bestanden, und die Ergebnisse der Nahtstellenanalyse gaben nun den letzten Anstoß zur Durchführung. Nutzen betrachten Die sehr transparente Darstellung der Ablauforganisation über alle Geschäftsprozesse und der gewünschte Zwang zur Dokumentation der notwendigen Ausführungsdetails und Nahtstellen führten dazu, dass heute ein enormes Wissenspotenzial zur Aufbau- und Ablauforganisation vorhanden, gespeichert und für alle Mitarbeiter zugriffsfähig ist. Damit ergibt sich ein erheblicher wirtschaftlicher Vorteil: ■ Die Nahtstellen der Prozesse sind transparent, die Beteiligten kennen ihre Aufgaben, Reibungsverluste sind deutlich reduziert. ■ Alle Informationen und Hilfsmittel zur Ablauforganisation stehen den Mitarbeitern ohne Zeitverluste direkt zur Verfügung. ■ Der Aufwand bei der Einarbeitung neuer Mitarbeiter und die Fehlerkosten in dieser Phase wurden verringert. ■ Durch die Schaffung offizieller Informationskanäle wurde die Zusammenarbeit zwischen den Fachbereichen deutlich verbessert. Mit dieser Transparenz der Ablauforganisation wurde gleichzeitig ein Fundament für den Prozess der kontinuierlichen Verbesserung geschaffen. Geschäftsprozessverantwortliche und -betreuer – in den meisten Prozessen handelt es sich hier auch gleichzeitig um die Fachbereichsleiter – sind beauftragt, die Beschreibung der Ablauforganisation immer auf dem neuesten Stand zu halten. Diese Verpflichtung enthält auch: ■ die Einbindung der eigenen Mitarbeiter sowie ■ die Kommunikation mit den Geschäftsprozessverantwortlichen und -betreuern der angrenzenden Prozesse. Damit wurde erreicht, dass aktuelle Veränderungen im Tagesgeschäft und Ideen zur Verbesserung innerhalb der Geschäftsprozesse, aber auch an den Nahtstellen zu anderen Prozessen besprochen, in die Praxis umgesetzt werden und unmittelbar in die Systemdokumentation einfließen. In diesem Punkt befindet sich die Schuster Kunststofftechnik GmbH auf einem viel versprechenden Weg. Die Autoren dieses Beitrags Dipl.-Ing. Peter Felber, geb. 1967, studierte nach seiner Ausbildung zum Industriekaufmann an der Fachhochschule Darmstadt Kunststofftechnik. 1997 erwarb er die Qualifikation zum EOQ Quality Systems Manager. Seit 2001 ist er Prokurist der Schuster Kunststoff GmbH, Leiter der Projektierung, nimmt als Managementsystem-Beauftragter die Aufgaben des Qualitätsmanagement-Beauftragten wahr und leitet seit 2003 auch die Abteilung Qualitätssicherung. Peter Wintzer, geb. 1945, ist Techniker sowie EOQ Quality Systems Manager und EOQ Quality Auditor. Seit 1981 ist er in der Unternehmensberatung tätig und führt heute die PWMP Management- und Organisations-Beratung, Gensingen. Die Schwerpunkte seiner Beratung liegen in der Einrichtung von Managementsystemen unter Berücksichtigung der gängigen Normen und Regelwerkforderungen aus Industrie und Dienstleistung. © Carl Hanser Verlag, München Jahrg. 48 (2003) 5