Das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung

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Gerhard Barkleit
Das Hannah-Arendt-Institut für
Totalitarismusforschung
Wie konnte es geschehen, daß in jenem Teil Deutschlands,
der vom 7. Oktober 1949 bis zum 3. Oktober 1990 als Deutsche Demokratische Republik existierte, die nationalsozialistische Diktatur beinahe nahtlos von einer »Diktatur des Proletariats« der kommunistischen SED abgelöst
wurde? Warum waren die vom Nationalsozialismus befreiten Deutschen nicht überall in der Lage, Lehren aus ihrer
jüngsten Geschichte zu ziehen? Sind für die unterschiedliche Entwicklung in West- und Ostdeutschland allein die
Siegermächte verantwortlich zu machen? Fragen an die
Geschichte, aber auch Sorgen um die Zukunft des Landes,
das seine staatliche Einheit dank einer friedlichen Revolution im Herrschaftsgebiet der SED wiederge-wonnen hatte,
veranlaßten Abgeordnete des Sächsischen Landtages,
Wissenschaftler in die Pflicht zu nehmen. Bei einer Anhörung im September 1991 in Moritzburg bei Dresden sprachen sich namhafte Wissenschaftler und Publizisten dafür
aus, ein »Institut zur Erforschung totalitärer Strukturen« zu
errichten. Am 21. November 1991 faßte der Sächsische
Landtag den Beschluß zur Errichtung des Instituts und
forderte, diesem die Aufgabe zuzuweisen, »in interdisziplinärer Arbeit von Historikern, Polito-logen, Soziologen,
Psychologen und Kulturwissenschaft-lern die in 60 Jahren
gewachsenen politischen und gesellschaftlichen Strukturen des Nationalsozialismus und des SED-Regimes zu erforschen und ihre Auswirkungen auf die gesellschaftliche
Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland zu analysieren.«
Im Sommer 1992 nahm eine Gründungskommission ihre
Tätigkeit auf, in der renommierte Wissenschaftler aus den
alten und den neuen Bundesländern sowie Mitglieder des
Sächsischen Landtages gemeinsam die Grundlagen einer
Institutsbildung legten. Am 9. November 1992 gründeten
Karl Dietrich Bracher, Alexander Fischer, Christoph Kähler,
Wolfgang Marcus, Heinrich Oberreuter, Matthias Rößler
und Frank Schmidt den Verein »Hannah-Arendt-Institut für
Totalitarismusforschung« als Träger des gleich-namigen
Instituts. Die festliche Einweihung des Instituts fand am 17.
Juni 1993 statt, dem vierzigsten Jahrestag des Volksaufstandes gegen die SED-Herrschaft in der DDR.
Das HAIT ist im Tillich-Bau der Technischen Universität Dresden untergebracht, in unmittelbarer Nähe der Gedenkstätte »Münchner Platz«. Es verfügt über 16 Planstellen, davon 10 Stellen für Wissenschaftler, und wird vollständig aus dem Haushalt des Freistaates Sachsen finanziert. Zum Gründungsdirektor wurde Alexander Fischer
berufen. Kontrollierende und beratende Organe des Vereins sind das Kuratorium (Vorsitzender Dr. Matthias Rößler,
MdL) und der Wissenschaftliche Beirat (Vorsitzender Prof.
Dr. Christoph Kähler, Universität Leipzig).
Laut Satzung sollen vor allem
- die politischen und gesellschaftlichen Strukturen von
NS-Diktatur und SED-Regime sowie ihre Folgen für die
Gestaltung der deutschen Einheit untersucht,
- zeitgeschichtliche Forschung unter besonderer Berücksichtigung der Formen und Struktur totalitärer Systeme
betrieben,
Andere über sich
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- die Widerstandsforschung, d.h. die Untersuchung des
Widerstandes von Bewegungen, Gruppen, Parteien, Organisationen und Einzelpersonen gegen Formen von Gewaltherrschaft auf deutschem Boden, intensiviert,
- das Schicksal von Opfern der NS-Diktatur, der sowjetischen Besatzungsherrschaft und des SED-Regimes erforscht, ihr Andenken bewahrt und die Opferverbände
unterstützt sowie
- zeitgeschichtliche Lehre und Forschung an der Technischen Universität Dresden und an anderen sächsischen
Hochschulen sowie an Lehrerbildungseinrichtungen und
an den Schulen gefördert werden.
Dabei ist das Institut dem methodischen Ansatz der
deutsch-amerikanischen Politikwissenschaftlerin und
Soziologin Hannah Arendt (1906 - 1975) in besonderer
Weise verpflichtet. In ihrem grundlegenden Werk »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«, das in der Politikwissenschaft und Soziologie Geschichte gemacht hat,
wies sie Wege zur Analyse totalitärer Systeme. Objekte
dieser Analyse waren das faschistische Italien, das nationalsozialistische Deutschland und die stalinistische Sowjetunion.
Befürchtungen, das HAIT werde Erscheinungsformen
des Totalitarismus in der jüngsten deutschen Geschichte,
also die NS-Diktatur und das SED-Regime, unter der Primitivauffassung »rot gleich braun« analysieren, trat Alexander
Fischer in seiner Eröffnungsansprache entgegen. Der Begriff »Totalitarismus« solle vielmehr als brauch-bares Mittel der politischen Analyse gehandhabt werden.
Zum Begriff »Totalitarismus«
1. Das klassische Totalitarismuskonzept Carl J. Friedrichs und Zbigniew K. Brzezinskis
Die Totalitarismustheorie beansprucht, eine Theorie der
beiden wohl wichtigsten Formen von Diktatur im Europa
des 20. Jahrhunderts zu sein. Ursprünglich eine intellektuelle Waffe zur Kritik des italienischen Faschismus, wurde
das Konzept Mitte der fünfziger Jahre von Carl J. Friedrich
und Zbigniew K. Brzezinski in ihrem Werk »Totalitarian
Dictatorship and Autocracy« in die »klassische« Form
gebracht. Eine Gesellschaftsordnung ist hiernach »totalitär«, wenn folgende sechs Merkmale gleichzeitig gegeben
sind:
1) eine offiziell verpflichtende Ideologie, die sich auf alle
wichtigen Bereiche des menschlichen Lebens erstreckt,
2) eine hierarchisch gegliederte Massenpartei, die - ohne
konkurrierende Parteien fürchten zu müssen - das öffentliche Leben beherrscht,
3) eine terroristische Geheimpolizei,
4) ein Monopol der Massenkommunikationsmittel sowie
5) der Waffen und Repressionsmittel in den Händen der
Partei, und
6) die zentrale Lenkung der Wirtschaft.
Dieses Syndrom sah man sowohl im nationalsozialistischen als auch im kommunistischen (stalinistischen)
Herrschaftssystem gegeben; in der Kombination dieser
Merkmale unterschieden sich diese beiden Systeme von
anderen Formen der Diktatur (wie etwa der Tyrannis, der
Despotie oder der traditionellen Autokratie).
rismusbegriff nach wie vor ein nützliches Analyseinstrument sehen.
2. Kritik am klassischen Totalitarismusbegriff
Mit seiner ersten wissenschaftlichen Tagung über »Die
politische ‘Wende’ 1989/90 in Sachsen - Rückblick und
Zwischenbilanz« vom 14. bis 16. November 1994 trat das
Institut in das Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit. Der
Titel dieser Konferenz beschreibt gleichzeitig das dominie-
Kritisiert wurde an diesem Konzept zum einen, daß das
Merkmal »offizielle, allumfassende Ideologie« die »bloß
formalen Eigenschaften« totalitärer Ideologien (wie z.B.
tendentiell totaler Geltungsanspruch oder ein rigoroses
»Freund-Feind-Denken«) in den Vordergrund stelle und
inhaltliche Zielbestimmungen vernachlässige. Damit würden die rassistische Ziele verfolgende, rückwärts gewandte
Ideologie des Nationalsozialismus einerseits und die »progressive« Ideologie des Kommunismus andererseits - so
lautete ein (insbesondere von marxistischer Seite) häu-fig
geäußerter Einwand - unzulässigerweise gleichgesetzt. Zum
anderen wurde kritisiert, daß der statische Charakter des
klassischen Totalitarismuskonzepts keine Erklärung des
Wandels solcher Systeme zulasse. Insbesondere seit dem
Ende der fünfziger Jahre, als in den meisten sozialistischen
Ländern Europas die Formen der Unterdrückung »milder«
wurden und vielerorts Wirtschaftsreformversuche einsetzten - in der DDR in Gestalt des »Neuen Ökonomischen
Systems« Mitte der sechziger Jahre -, wurde die »Statik« des
Konzepts als Mangel empfunden.
Die gegenwärtigen Forschungsschwerpunkte des HAIT
Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in der
1. Etage des Tillich-Baus der TU Dresden
3. Hannah Arendts Konzept des Totalitarismus
Ebenfalls in den 50er Jahren hatte Hannah Arendt mit ihrem
schon genannten Buch »Elemente und Ursprünge totaler
Herrschaft« ein klassisches Werk zum Totalita-rismus vorgelegt, in dem sich die Früchte jahrzehntelanger theoretischer Reflexion mit den bitteren persönlichen Erfahrungen
einer deutsch-jüdischen Existenz in den Jahren seit 1933
verbanden. Anders als Friedrich und Brzezinski stellte
Hannah Arendt die Dynamik dieser Herrschaftsform in den
Mittelpunkt der Betrachtung.
Eine Schlüsselrolle bei der Erklärung dieser Dynamik
sah sie im Bestreben der an die Macht gekommenen totalitären Bewegung, ein aus ideologischen Fiktionen bestehendes Programm - das aus einer vermeintlich alles erklärenden Ideologie abgeleitet wurde - der gesellschaftlichen
Wirklichkeit aufzuzwingen. Wegen der anders gearteten,
gegen die Umsetzung derartiger Ziele sich sperrenden
Wirklichkeit führe dies konsequenterweise zu eskalierendem Terror. Dessen Besonderheit bestehe darin, daß er sich
nicht nur gegen »wirkliche Feinde« des Regimes rich-te,
sondern - wie im Fall der »Großen Säuberungen« in der
Sowjetunion 1937/38 oder des nationalsozialistischen Terrors gegen die Juden - gegen ideologisch deduzierte »objektive Feinde«. Einem totalitären System wohne somit eine
Dynamik inne, die jegliche Verhaltenssicherheit der Bürger
gegenüber dem Staat zerstöre und tendentiell die soziale
Ordnung auflöse.
Im Gegensatz zum eher statischen Totalitarismuskonzept von Friedrich / Brzezinski lassen sich bei Hannah
Arendt viele Ansätze zur Erklärung des Wandels totalitärer
Systeme finden. Allerdings bleibt auch hier unklar, wie die
Entwicklungen in sozialistischen Systemen nach Sta-lins
Tod, die auf einen - von Hannah Arendt selbst konstatierten - »Abbau totaler Herrschaft« hinausliefen, zu erklären sind. Dies ist eine bleibende Herausforderung insbesondere für diejenigen Wissenschaftler, die im Totalita-
rende Forschungsthema. Selbst die Erweiterung der Kapazität durch Einwerbung von Projektmitteln ermöglicht es
nicht, die in der Satzung formulierten Themenfelder umfassend abzudecken. Ein weiteres, die Öffentlichkeit besonders
interessierendes Arbeitsgebiet ist die Widerstandsforschung. Auf diesem Gebiet konnte eine gute
Zusammenarbeit mit den Opferverbänden, der 1994 errichteten Stiftung »Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung
an die Opfer politischer Gewaltherrschaft« und dem Landesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes aufgebaut werden. Durch ausgewiesene Fachleute sind weitere Arbeitsgebiete im Institut vertreten: Geschichte der NS-Zeit, Geschichte der SBZ/DDR, Politik und
Gesellschaft totalitärer Systeme, Soziologie, kirchliche Zeitgeschichte / Theologie und Geschichte von Indu-strie,
Technik und Naturwissenschaften in der SBZ/DDR. Ein Teil
der Forschungsvorhaben ist so angelegt, daß die gegenwärtigen Transformationsprozesse in den Ländern Mittelosteuropas in die Analyse einbezogen werden.
Ende 1994 konnte die Aufbauphase des Hannah-ArendtInstituts abgeschlossen werden. Im Ergebnis einer
deutschlandweiten Ausschreibung sämtlicher Stellen für
wissenschaftliche Mitarbeiter auf der tariflichen Basis des
BAT-Ost besteht das Team aus einer Mischung von Spezialisten aus den alten und neuen Bundesländern. Der
Aufbau einer Spezialbibliothek mit den Schwerpunkten
»Deutschland zwischen 1933 und 1945« und »Die DDR
(einschließlich der sowjetischen Besatzungszone)« schreitet zügig voran. Zur Zeit umfaßt der Bestand ca. 10.000
Bände. Ein Archiv zu den gleichen Schwerpunkten ist
ebenfalls im Aufbau.
Das Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung
befindet sich in der Helmholtzstraße 6-8 in 01069 Dresden.
Zu erreichen ist es unter: HAIT, Mommsenstraße 13, 01062
Dresden. Fon: (0351) 4632802; Fax: (0351) 4636079
Andere über sich
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