Information Philosophie Oktober 2010 Ausgabe 4/2010 Kant Die Wurzeln von Kants Anthropologie In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stellen Autoren aus Kants Umfeld vielfache Überlegungen zur Wissenschaft vom Menschen und den mit ihr verknüpften metatheoretischen Voraussetzungen an. Zum einen sind es Konzeptionen empirischer Psychologie, zum anderen solche medizinischer bzw. physiologischer Anthropologie, die nicht ganz unabhängig nebeneinander stehen und die dafür sorgen, dass allzu naive Konzeptionen aussortiert werden. FORSCHUNG - TRENDS - KONTROVERSEN Thomas Sturm zeigt in seinem Buch Sturm, Thomas: Kant und die Wissenschaften vom Menschen. 565 S., kt., € 74.—, 2009, Mentis, Paderborn wie Kant eine eigenständige Anthropologie in Auseinandersetzung mit diesen Konzeptionen entwickelt. Empirische Psychologie Anthropologie und physiologische Leitender Autor in Sachen empirischer Psychologie ist Christian Wolff. Dessen Bestimmung der Psychologie ist von einer ontologischen Unterscheidung zwischen Körper und Geist geprägt. Wolff führt eine einflussreiche methodologische Unterscheidung zwischen einer „rationalen" und einer „empirischen" Psychologie ein. Er meint, dass die empirische Erkenntnis des Geistes eine Erkenntnis bestimmter Fakten ist, während die rationale Erkenntnis des Geistes den Grund oder die Erklärung für die Möglichkeit dieser Fakten liefern sollte. Er behauptet, dass der empirische Psychologe „aus Beobachtungen eine Theorie eruiert". Die rationale Psychologie hingegen will erklären, was die „Natur und das Wesen der Seele" ist. Die rationale Psychologie will in den Worten Sturms den Grund der Möglichkeit aller speziellen Erklärungen der empirischen Psychologie angeben. Baumgarten knüpft an Wolff an; er verbindet psychologische Erkenntnis mit einem inneren Sinn und betont die Introspektion als Methode der Psychologie. In Konkurrenz zur empirischen Psychologie steht die physiologische Anthropologie, wobei der Philosoph und Mediziner Ernst Platner (1744-1818) besonders einflussreich ist. Die Anthropologie soll die Lehre vom „ganzen" Menschen sein. Im Gegensatz zum „reinen" Psychologen versuchen die Verfechter einer solchen Anthropologie nicht nur das psychische Leben zu erforschen und bei ihren Erklärungen auf psychologischer Basis stehen zu bleiben, sondern psychophy. sische Zusammenhänge zu erforschen. Ziel ist die Erklärung der psychischen Phänomene auf der Basis einer Theorie physiologischer Bedingung geistiger Phänomene. So betrachtet Platner seine Anthropologie als einen Versuch zur Überwindung der Trennung zwischen Physiologie und Psychologie, Eine ihrer bevorzugten Aufgaben sehen die Anthropologen in der Lokalisation geistiger Eigenschaften, speziell der Seele als solcher oder des „Selbst" im Körper. Marcus Herz kritisiert Platner: seine Anthropologie sei keineswegs nur eine empirische Untersuchung von Korrelationen psychischer und physiologischer Phänomene, sondern beinhalte eine umfassende Verbindung von Metaphysik und Medizin, Psychologie und Physiologie. Herz wendet sich insbesondere gegen Platners Annahme einer Immaterialität der Seele. Eine Anthropologie soll sich nicht auf „die Seele an und für sich" beziehen, „sondern nur insofern sie mit dem Körper in Verbindung stehet". Herz sieht einen erheblichen medizinischen Nutzen darin, die empirischen Beziehungen zwischen Gehirn und Geist zu untersuchen. Kants neue Wissenschaftskonzeption Kant konnte nicht zuletzt an dieser Rezension sehen, dass die zentralen Ansätze in den Wissenschaften vom Menschen durch ungelöste methodologische und anderen metatheoretische Probleme beeinträchtigt waren und dass man tiefere konzeptionelle Änderungen brauchte, bevor man Fortschritte erwarten konnte. 1773 betont Kant in einem Schreiben an Herz, dass er einen eigenen „Plan" für eine Anthropologie entwickle, der sich von den Anthropologien seiner Zeit grundsätzlich unterscheide. Die empirische Psychologie müsse aus der Metaphysik aus gegliedert und in „einer ausführlichen An- 92 ~ ~ EN ire vom „gan;gensatz zum ien die Verpologie nicht rforschen und ychologischer n psychophyForschen. Ziel ien Phänomeie physiologiLänomene. 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Kants diesbezügliche Bemerkungen finden sich verstreut, erst die 1997 erfolgte Edition der Anthropologie-Vorlesungen in Band XXV von Kants Gesammelten Schriften verdeutlicht deren vollen Umfang. In der ersten Anthropologie-Vorlesung von thropologie untergebracht werden. Kant zeigt 1772/1773 bemerkt Kant, dass der Zustand sich davon überzeugt, dass sich die Wissen- der empirischen Wissenschaft vom Menschaften nicht nur durch inhaltliche Erkennt- schen nicht besonders erfreulich sei. Obwohl niszuwächse, sondern auch in konzeptueller doch keine Wissenschaft „wohl für den MenHinsicht entwickeln lassen. Er ist zudem da- schen interessanter", habe man „keine mehr von überzeugt, dass es zu Aufspaltungen und vernachlässigt als diese". Die Konzeptionen Vereinigungen von Disziplinen kommen von Wolff und Baumgarten würde die Forkann, und dass man bisweilen bewusst an der schung thematisch zu sehr begrenzen. Weiter Neuschöpfung einzelner Disziplinen arbeiten sieht er eine begriffliche Verwirrung. Da kann und soll. Dabei verlangt Kant nicht, gemeinhin gedacht worden sei, dass Metadass die empirische Psychologie, weil sie physik eine A rt von Erkenntnis ist, in welnicht in die Metaphysik gehört, ab sofort iso- cher der Denker alles aus sich selbst gewinnt, liert betrieben werden sollte. Vielmehr kön- sei angenommen worden, dass alle Teile der nen die Erkenntnisse der empirischen Psy- Metaphysik „mithin" als „Folgen der Seele" chologie in eine noch zu entwickelnde Anth- anzusehen sind. Zu simple Überlegungen ropologie integrie rt werden, die dann eine hätten zu einer verkehrten Konzeption von reiche und respektable Wissenschaft ausma- Metaphysik geführt und zu einer thematisch chen kann. Für Kant ist eine Wissenschaft fragwürdigen Auffassung von der Wisseneine „systematische Einheit": der Zusam- schaft vom Menschen. Die Disziplin sei menhang einer Vielfalt von Erkenntnissen in thematisch breiter zu fassen als nur eine emeinem „Ganzen". Die „innere Systematizität" pirische Untersuchung der „Seele". Kant einer Wissenschaft betrifft den Zusammen- möchte die Wissenschaft als autonome sowie hang von Erkenntnissen in einer Wissen- durchaus empirische Disziplin verstanden schaft, die „äußere Systematizität" betrifft wissen. Allerdings schließt sich Kant damit die Beziehungen verschiedener Wissenschaften Tendenzen an, die in den 1770er Jahren bezueinander. Grundforderungen an die innere reits verbreitet waren. Systematizität sind Einheit,, Struktur und Vollständigkeit. Mit diesen Überlegungen 1772/73 vertritt Kant selbst die Konzeption zur Systematizität als zentralem Kennzeichen einer introspektiven Psychologie. Er sieht jeder Wissenschaftlichkeit von Erkenntnissen doch deren Probleme. So hält er es schlicht präsentiert Kant eine fir seine Zeit neue für gesundheitsgefährdend, sich zu sehr inKonzeption. trospektiv zu beobachten. Dies führe zu „Hypochondrie" und „Schwärmerei". Er erklärt, dass Schwärmerei aufgrund überzogener Introspektion damit einhergehe, dass wir Thomas Sturm 93 FORSCHUNG - TRENDS - KONTROVERSEN „vermeinte Entdeckungen von dem" machen, „was wir selbst in uns hineingetragen haben". Das liegt daran, dass der innere Sinn für sich allein genommen keine Fähigkeit ist, welche die Überprüfung der gemachten Erfahrungen zulässt. Allerdings hält er dies nicht für einen Grund, di e Introspekti on grundsätzlich in Frage zu stellen. 1781/82 beginnt Kant die Methode der Introspektion aufzugeben. Er hält sie nun für weniger verlässlich als die Methode der Beobachtung anderer Menschen, zudem hängt sie von dieser ab. Die Introspektion liefe rt nur Indizien für empirische Kenntnisse menschlichen Denkens, Erlebens oder Hand e l n s u n d die s e I n d i z i e n b e d ü r f e n e i ne r Überprüfung anhand unabhängiger Kriterien, insbesondere der Beobachtung und Beurteilung des Handelns anderer Menschen. Es sind insbesondere zwei Einwände, die Kant dazu bringen, die Introspektion aufzugeben: • Wenn psychische Phänomene als rein introspektiv zugängliche Phänomene verstanden und betrachtet werden, dann lassen sie sich nicht experimentell manipulieren. Eine Experimentallehre erforde rt Beobachtungen, die wiederholbar sind, was nur möglich ist, wenn man die Phänomene „abgesondert aufbehalten und beliebig wiederum verknüpfen" kann. Doch so wenig wie die Gegenstände meiner Introspektion experimentell manipulierbar sind, sind es auch die Gegenstände der Introspektionen anderer Personen. • Introspektiv beobachtete Phänomene sind Phänomene, die man durch das Beobachten kausal beeinflusst. Wenn man etwa die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt des eigenen Gedanken- oder Gefihlsflusses richtet, wählt man schließlich diesen Aspekt aus und vernachlässigt dafür andere. Allerdings hält Kant hier Erkennntnisse auf der Basis „innerer Erfahrung" noch für möglich. In der zweiten Au fl age der KrV erfolgt dann eine Ablehnung innerhalb von Kants grundlegenden epistemologischen Auffassungen: Generell ist „innere Erfahrung selbst nur mittelbar und nur durch äußere möglich" (B 277). Wolff geht von einer Mathematisierbarkeit der psychologischen Erkenntnis aus und bedauert, dass diese Option ignorie rt worden sei. Allerdings versucht auch er nicht – ebenso wenig wie Baumga rt en – dies nachzuholen. Kant steht diesem Ansatz negativ gegenüber: Naturlehren können für ihn ein System apriorischer Prinzipien nur dann enthalten, wenn der Gegenstand dieser Naturlehren mathematisch konstruiert werden kann. Die empi ri sche Psychologie ist ihrem Gegenstand nach eine Naturlehre, doch sie kann ihren Gegenstand, die Seele, nicht mathematisch konstruieren, also kann sie nicht mathematisiert werden. Allerdings bestreitet Kant keineswegs, dass psychische Phänomene intensive Größen sind, und er hält sie im Prinzip für quantifizierbar, allerdings hält et den faktischen Umfang einer solchen Mathematisierbarkeit für gering. Kants Kritik an der physiologischen Anthropologie Kants neue Konzeption unterscheidet sich genauso von der physiologischen Anthropologic wie von der empirischen Psychologie. Er weist auf unsere Unkenntnis oder gar Unerreichbarkeit der physiologischen Basis geistiger Erkenntnis hin und behauptet eine Irrelevanz von Annahmen über die physiologische Basis geistiger Phänomene. Auch ist er skeptisch gegenüber der Frage, ob es sich bei den Vermutungen über die Lokalisation und Funktionsweise des „Seelenorgans" um eine „physiologische Aufgabe" handle. Die Annahme materieller Ideen im Gehirn zur Erklärung der Erinnerung hält er für eine „Dichtung": „Wenigstens ist keine dergleichen Erklärung pragmatisch". Kants Anthropologie Wichtig für Kants Anthropologie ist eine Unterscheidung, die er ab Mitte der 1770er Jahre einführt, die zwischen „Lehren für die Schule" einerseits und „Lehren fir die Welt" andererseits. Seine Anthropologie soll nun 94 FORSCHUNG - TRENDS - KONTROVERSEN explizit eine „Lehre für die Welt" sein. Damit nimmt er zu einer Debatte Stellung. Popularphilosophen haben im 18. Jahrhundert häufig die akademische Philosophie dafür kritisie rt , dass deren Erwägungen zu technisch, zu dogmatisch und für das menschliche Leben unbrauchbar sei. Kant hatte sich nicht nur kaum darum bemüht, seine Werke zu popularisieren, vielmehr warnte er vor der Seichtigkeit der Popularphilosophie. Seine Anthropologie öffnete sich nun aber den Forderungen der Popularphilosophie. Sie soll eine „sehr angenehme Beobachtungslehre", „niemals eine trockene" sein und „für das Leben brauchbar" werden. Das mindert aber nicht seinen Anspruch, eine systematische empirische Untersuchung menschlichen Denkens, Begehrens und Handelns durchzuführen. Kant unterteilt die „Weltkenntnis" erschöpfend in physische Geographie und pragmatische Anthropologie. Dies beruht jedoch nicht auf epistemologischen, sondern auf ontologischen Erwägungen. Die stärkste Neuerung in Kants Anthropologie ist jedoch die Untersuchung menschlicher Charaktere. Seine „Charakteristik" zeigt dabei zwei ganz unterschiedliche Tendenzen auf. Einerseits gebraucht Kant seit der Vorlesung 1772/73 ein traditionelles Verständnitt des Charakterbegriffs und seiner Funktiori für das menschliche Handelns, das auf eine Differenzierung menschlichen Handelns zielt. Andererseits führt er ab Mi tt e der 1770er Jahre eine wichtige Unterscheidung ein: „Charakter" als Sinnesart einerseits und als „Denkungsart" andererseits. Der erste Begriff bezieht sich auf die erste Tendenz seiner Charakteruntersuchungen; der zweite stellt die eigentliche Neuerung dar. „Denkungsart" bezeichnet eine Willensstruktur, die vor allem in einer Anwendung der Vernunft auf Handlungsabsichten und -regeln besteht. Das Hauptgewicht von Kants Anthropologie liegt nun auf dem neuen Begriff der Denkungsart. Mit der schrittweisen Einführung dieser neuen Position wandeln sich auch Kants Ansichten über die menschliche Natur. Die pragmatische Anthropologie ist für ihn nun eine „vollständige Belehrung des Mannigfaltigen und Charakteristischen am Menschen." Kant ist nun darauf aus, die empirische Erforschung menschlichen Denkens, Fühlens und Handelns unter dem Gesichtspunkt zusammenzufassen, den Menschen als einen rationalen und sozialen Akteur zu erforschen. Während die Systematik geistiger Vermögen zunächst bloß wie ein Rahmen zur Klassifikation geistiger Aktivitäten aussieht, betont Kant zunehmend einen anderen Einheitsgesichtspunkt: Alle menschlichen Vermögen sind auf „Tätigkeit" gerichtet; entsprechend dient die Vermögenstheorie dazu, menschliches Handeln durch eine Verbindung kognitiver und konativer Elemente zu erklären. 96