BASICS IMPLANTATPROTHETIK BEI ZAHNLOSIGKEIT IM OBERKIEFER Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag schildert die Fertigung von totalprothetischem Zahnersatz auf Implantaten nach der Original-Gerber-Methode. Hierbei werden Daten des extraoralen Gesichtsbogen- und intraoralen Pfeilwinkelregistrats sowie der Aufzeichnung der sagittalen Kondylenbahnen in den Gerber-Condylator übertragen. Darin wird das Okklusionskonzept beruhend auf der Kondylartheorie nach Gerber umgesetzt. Indizes Implantat, festsitzender Zahnersatz, Okklusion, ­Totalprothetik, ­Gerber-Condylator, ­DeltaForm-Zahn, PMMA, Eckzahnführung. Festsitzender Zahnersatz auf Implantaten Rehabilitation nach der Original-Gerber-Methode Max Bosshart, Benoit Gobert Die Totalprothetik behält auch im Zeitalter der Implantattherapie ihre fundamentale Bedeutung. Aufgrund steigender Lebenserwartungen benötigen viele Patienten inzwischen mehrere Totalprothesen im Laufe ihres Lebens. Der Beitrag ist ein modifizierter Auszug aus dem 2014 im Quintessenz Verlag erschienen Buch von Max Bosshart „Funktion und ­Ästhetik. Rehabilitation des Unbezahnten nach der Original-Gerber-Methode“ und befasst sich mit den Fragen der Registrierung, Okklusion und des Gerber-Condylators. Einleitung Die Aufzeichnung des gotischen Bogens mittels des intra­oralen Pfeilwinkelregistrats ist bei größeren Rekonstruktionen, sei es auf natürlichen Pfeilern oder auf Implantaten, gleichermaßen indiziert.4,5,6,7 Bei Okklusionsdefiziten mit ungesicherter zentrischer Unterkieferlage, die bereits vor der Behandlung bestanden, erspart eine sorgfältige Abklärung spätere Pro­ bleme. Diese könnten sich in Form einer gestörten Okklusion manifestieren, was zu zeitraubender Einschleifarbeit im Mund oder gar zu Remontage führen kann. Nicht ausgeschlossen sind Abplatzungen an den keramischen Arbeiten. Das Zentrikregistrat 2 Quintessenz Zahntech 2015;41(4):2–9 BASICS IMPLANTATPROTHETIK BEI ZAHNLOSIGKEIT IM OBERKIEFER Abb. 1a Zentrische Okklusion mit maximalem Zahnkontakt. Abb. 1b Lateralbewegung unter Beibehalt aller posterioren Zahnkontakte. Abb. 1c Erst ganz am Ende der Lateralbewegung einsetzende Disklusion der Seitenzähne. Bewegungstolerante Neben einer gesicherten Zentrik ist bei einer zuvor über Jahre zahnlosen Situation eine zu Okklusion steile Okklusionsform zu vermeiden. Die Bewegung von der Okklusionszentrik in eine laterale Position sollte erst in der Endphase in eine Prämolaren-Eckzahn-Führung übergehen (Abb. 1a bis 1c). Das ist bei der Laterotrusionsbewegung (immediate side shift) besonders zu beachten. Bedingt abnehmbare Oberkieferprothese mit hybrider Situation im Unterkiefer Bei dem in den Abbildungen 2 und 3 dargestellten Fall waren im Unterkiefer zwei Implantate vorhanden (Abb. 2). Geplant war eine klassische Hybridprothese. Im Oberkiefer erlaubten vier Implantate (Abb. 3) eine verschraubte Lösung. Aus ökonomischen Gründen wurde auf eine aufwendige technische Arbeit verzichtet. Während der Einheilungszeit dienten in diesem Fall in der Funktion und Passung korrigierte Totalprothesen. Eine funktionell und mikrobiologisch einwandfreie Situation ist unerlässlich, um die Einheilung der Implantate nicht zu gefährden. In der Folge erwies sich Quintessenz Zahntech 2015;41(4):2–9 3 BASICS IMPLANTATPROTHETIK BEI ZAHNLOSIGKEIT IM OBERKIEFER Abb. 2 und 3 Unter- und Oberkiefer mit Implantaten – bereit zur definitiven Versorgung (Fotos: Benoit Gobert, Genf). Abb. 4 Unproblematisches Registrat als zuverlässige Basis für die weitere prothetische Versorgung, kombiniert mit der für Implantatfälle unerlässlichen kinematischen Aufzeichnung der sagittalen Kondylenbahnen. Abb. 5 Nach den individuellen Gegebenheiten am Patienten eingerichteter Gesichtsbogen. Die Schreibspitzen (Gerber Condylator Service) am Gesichtsbogen sind auf das jeweilige Zentrum der Artikulatorachse ausgerichtet. das Registrat (Abb. 4) zur definitiven Versorgung als unproblematisch und zuverlässig. Die gelenkbezügliche Montage mit dem dynamischen Gerber-Gesichtsbogen im Gerber-Condylator (Gerber Condylator Service, Zürich, Abb. 5) und die Auswertung der Registrierkarte (Gerber Condylator Service, Abb. 6) erfolgten im Labor. Die Verwendung der Bosshart DeltaForm-Seitenzähne und Integral-Frontzähne (Merz Dental, Lütjenburg, Abb. 7 und 8) gewährleistet ein natürliches Erscheinungsbild. Dank der naturgemäß ausgeprägten bukkalen Wölbung entsteht ein satter Wangenkontakt, der das Hochrutschen von Kaugut wirksam verhindert. Insbesondere bei verschraubtem Zahnersatz, wo kein Ersatz des verlorenen natürlichen Gewebes in Form von rosa Kunststoff besteht, ist ein ausgeprägter Wangenkontakt durch die Zähne wichtig. Wegen der großen Bruchgefahr von sehr stark gefüllten Zähnen (Hybride, Komposite), wurden hochvernetzte PMMA-Kunststoffzähne verwendet. Dank der großen flächenhaften Kontakte der DeltaForm-Zähne entsteht weniger Abrasion und die okklusale Form und Funktion bleiben erhalten. Die Höckerneigung ist bescheiden, was horizontal laterale Kräfte in Grenzen hält. Die verwendeten DeltaForm-Seitenzähne weisen eine eher flache Höckerneigung auf, was bei bisher zahnlosen Patienten zu empfehlen ist. Um traumatisierende Endkontakte 4 Quintessenz Zahntech 2015;41(4):2–9 BASICS IMPLANTATPROTHETIK BEI ZAHNLOSIGKEIT IM OBERKIEFER Abb. 7 Ansprechende ästhetische Lösung – gemeinsam erarbeitet mit der Patientin. Abb. 6 Ausgewertete Aufzeichnung der sagittalen Kondylenbahn, hier der rechten Seite. Die Neigung ist steiler als die Norm von 33 Grad.8 Abb. 8 Seitliche Ansicht auf die Seitenzähne (Foto und technische Arbeiten: Benoit Gobert, Genf). Abb. 9 Bei der Lateralbewegung befinden sich erst ganz am Ende der Exkursionsbewegung die letzten Kontakte auf dem ersten Prämolaren- und dann am Eckzahnpaar. auf den letzten Molaren zu vermeiden, verbleibt bei Seitwärtsbewegungen der letzte Kontakt jeweils beim ersten Prämolaren und/oder Eckzahn (Abb. 9). Eine stereotype, doktrinär angewandte Eckzahnführung ist je nach Fall zu hinterfragen oder nicht immer möglich. Dann hängt die Herstellung einer funktionellen Okklusion weitgehend vom Artikulator ab. Darum wird der Gerber-Condylator vorgezogen. Mit ihm ist nicht zu befürchten, dass die Unterkieferbewegungen störende Frühkontakte oder zu steile Höckerabhänge aufweisen; also ganz nach dem Motto: lieber zu viel immediate side shift (ISS) als zu wenig. Der Patient verwendet die benötigte Bewegung. Torsionskräfte Der obere Molar in Abbildung 10 steht in vertikaler Sicht teilweise außerhalb des Implanbei festsitzendem tats, was bei funktionellem Kaudruck zu unerwünschten Torsionsverformungen führt. Das Zahnersatz betrifft in erster Linie die Suprastruktur. Als Erstes fallen gelockerte Schrauben auf, die durch die Beanspruchung gedehnt werden und deshalb locker sind. Somit können wir, mit Ausnahmen, von der Voraussetzung ausgehen, dass lockere oder gebrochene Schrauben eher mit Fehlbelastungen als mit fehlender Passivität der Suprastruktur zu tun haben. Nicht berücksichtigt sind dabei immer noch die ungenügende dynamische Anpassung der Okklusion, zu steile Eckzahnführung1,3 sowie Frühkontakte oder bestehende Hyberbalancekontakte.3,4,5 Verschiedene Maßnahmen erlauben es, den Kraftvektor auf das tragende Implantat auszurichten (Abb. 11), z. B. durch die Lingualisierung der Okklusion durch: Quintessenz Zahntech 2015;41(4):2–9 5 BASICS IMPLANTATPROTHETIK BEI ZAHNLOSIGKEIT IM OBERKIEFER Abb. 10 Gewohnte Okklusionssituation einer auf dem Implantat fixierten Krone in Okklusion mit natürlichem Antagonisten. Der bukkale Kontakt bewirkt einen Kraftvektor außerhalb des Implantats. Abb. 11 Die bukkalen Höcker sind deutlich außer Kontakt, die Kaukraft konzentriert sich auf die Fossa. Zudem ist die Fossa durch Beschleifen des untern Zahnes zusätzlich nach lingual verlagert (Lingualisierung, horizontaler Pfeil). Abb. 12 Ausgangssituation mit acht Implantaten im Oberkiefer und sechs im Unterkiefer. Abb. 13 Provisorien in situ (Fotos und technische Arbeiten: Benoit Gobert, Genf). Außer Kontakt stellen der bukkalen Höcker um mindestens 2 mm (Abb. 11). Verlagerung der Fossa nach lingual durch gezieltes Umschleifen am unteren Molaren (Abb. 11). Schaffung eines flächigen Kontakts zur Orientierung des Kraftvektors auf das Implantat. Die Ausgangssituation mit acht Implantaten im Oberkiefer und sechs im Unterkiefer ist in Abbildung 12 zu sehen. Im Oberkiefer wie auch im Unterkiefer ist ein zementierter keramischer Zahnersatz vorgesehen. In der ersten Phase der Behandlung erhielt der Patient je ein Provisorium (Abb. 13), das zugleich die Funktion einer präprothetischen Behandlung übernehmen sollte. Ausgangssituation Festsitzender Zahnersatz Das extraorale Gesichtsbogenregistrat (Abb. 14 und 15) und das Pfeilwinkelregistrat mit dem SM-Set (Condylator Service, Zürich) werden in diesem Fall auf den Provisorien durchgeführt.5,6 Der Übertrag der ermittelten Vorgaben in den Gerber-Condylator erwies sich als präzise. Registrat 6 Quintessenz Zahntech 2015;41(4):2–9 BASICS IMPLANTATPROTHETIK BEI ZAHNLOSIGKEIT IM OBERKIEFER Abb. 14 Gesichtsbogen in situ nach erfolgter Registrierung. Die roten Visierstifte ersetzten die für die Aufzeichnung benötigten Schreibspitzen, die im Minenhalter (Gerber Condylator Service) fixiert sind. Abb. 15 Der intraorale Stützstift steht in Kontakt zur unteren Übertragungsplatte (Gerber Condylator Service) (Foto und technische Arbeiten: Benoit Gobert, Genf). Abb. 16 Bei der Protrusionsspur umgeht der Unterkiefer den Störkontakt (gelber Kreis) wenige zehntel Millimeter vor der Gelenkzentrik liegend, indem er kurzfristig nach rechts ausweicht (roter Pfeil). Für die physiologische Zentrik wurde die Pfeilwinkelspitze (grüner Kreis) gewählt und mittels des Komforttests geprüft. Die beiden Lateralbewegungen sind in Form und Länge ausgesprochen symmetrisch (gelbe Linie) (Foto: Benoit Gobert, Genf). Interessant an dem vorgestellten Fall ist das Pfeilwinkelregistrat, das eine häufig anzutreffende Besonderheit aufweist (Abb. 16): Bei der Protrusionsbewegung wurde ein Störkontakt kurz vor dem Zentrikbereich reflexartig seitlich umgangen, obwohl er während der Aufzeichnung nicht störte. Dass in diesem Fall keine Retralverlagerung eines Kondylus vorlag, zeigt die Symmetrie der beiden Schenkel der Lateralbewegungen. Die Spitze des Pfeilwinkels diente zur Bestimmung der Gelenkzentrik. In einer Studie wurden von A. M. Dubojska2 insgesamt 710 Aufzeichnungen analysiert. Die Autorin kommt zum Schluss, dass in Kombination mit der radiologischen und klinischen Diagnose eine sehr gute Übersicht über die Kinetik des Kausystems möglich ist. Das intraorale Registrat lässt die Unterschiede von habitueller Position und physiologischer zentrischer Position einfach erfassen und am Patienten austesten. Zumindest bei schwierigen Fällen ist die Pfeilwinkelregistrierung die Methode der Wahl, insbesondere, da eine Aufzeichnung wenig Zeit beansprucht. Quintessenz Zahntech 2015;41(4):2–9 7 BASICS IMPLANTATPROTHETIK BEI ZAHNLOSIGKEIT IM OBERKIEFER Abb. 17 Beginnend aus einer flachen zentrischen Zone (dunkel- bis hellblau) wird die Okklusionsform zum Rand hin progressiv steiler (gelb bis rot). Abb. 18 Grafische Umsetzung der Kondylartheorie nach A. Gerber.4,5 Abb. 19 Bewegungstolerante Okklusionsform am Beispiel eines natürlichen Gebisses. Das Okklusionskonzept beruht auf der Kondylartheorie nach Gerber3,4,5,8 (Abb. 17 und 18). Da der Patient zuvor über Jahre unbezahnt war, ist eine bewegungstolerante Okklusion naheliegend (Abb. 19). Diese erlaubt innerhalb einer Exkursionsgröße von ca. ½ mm bei Angle-Klasse II,2 und von bis zu 3 mm bei Angle-Klasse III bilaterale posteriore Kontakte, bevor eine sanft ansteigende Führung im Prämolaren-Eckzahnbereich die posterioren Kontakte sukzessiv aufhebt. Die allgemeine Höckerneigung ist logischerweise steiler als bei Hybrid- oder Totalprothesen, aber weiterhin moderat. In reiner Protrusion sind naturgemäße Frontzahnkontakte, soweit möglich (je nach Angle-Klasse), mit sofortiger Disklusion aufzubauen. Voraussetzung ist eine perfekt eingepasste Okklusion und die Verwendung des gesamten Bewegungsspektrums des Gerber-Condylators. Dass dies weder ästhetisch noch funktionell stört, zeigen die Abbildungen 20 und 21. 8 Okklusionskonzept Quintessenz Zahntech 2015;41(4):2–9 BASICS IMPLANTATPROTHETIK BEI ZAHNLOSIGKEIT IM OBERKIEFER Abb. 20 Frontansicht der keramischen Arbeit im Mund. Literatur Abb. 21 Seitlich-frontale Ansicht der im Mund inserierten Arbeit (Foto und technische Arbeiten: Benoit Gobert, Genf). 1. Bosshart M. Die gezielte Lenkung der Kaukräfte. Quintessenz Zahntech 2006;5:688–691. 2. Dubojska AM. Muscles taking part in gothic arch tracing and a possibility of defining mandibular central position. E-dentico 2009;1(21):110–124. 3. Gerber A. Kaudynamik II – Funktionen die Funktionieren müssen (Video). Berlin: Quintessenz, 1981. 4. Gerber A, Steinhardt G. Kiefergelenkstörungen – Diagnose und Therapie. Berlin: Quintessenz, 1989. 5. Gerber A, Steinhardt G. Dental occlusion and the temporomandibular joint. Chicago: Quintessence, 1990. 6. Gobert B. Variations cliniques implantaires avec l’enregistrement intra-oral Gerber. Implantologie Revue 2006;11(6):39–46. 7. Gobert B. L’enregistrement intra-oral Gerber. Atd 2001;12(4)171–181. 8. Gysi A. Der neue verstellbare Gysi-Artikulator 1914. Schweiz Vierteljahresschr Zahnheilkd. Berichthaus Zürich 1915; 25(3/4):7–72. Max Bosshart Zürichstrasse 5 8840 Einsiedeln Schweiz E-Mail: [email protected] Benoit Gobert, RDC 35 Avenue Vaudagne 1217 Meyrin / Genf Schweiz E-Mail: [email protected] Quintessenz Zahntech 2015;41(4):2–9 9