Der Einfluss von Migration auf die Entstehung und die Behandlung von chronischem Schmerz Diplomarbeit von Christine Amstutz Physiotherapieschule Triemli, Kurs 34, 2008 Wir streben mehr danach, Schmerz zu vermeiden, als Freude zu gewinnen. Sigmund Freud Diese Diplomarbeit wurde im Rahmen der Ausbildung an der Physiotherapieschule am Stadtspital Triemli verfasst. Betreuungsperson: F. Bopp Danksagung Ein grosses Dankschön geht an Fredy Bopp, der mir während der ganzen Arbeit mit Rat und Tat zur Seite stand. Ich möchte mich herzlich bei Frau Wössmer, Frau Slepsova und Frau Litschgi bedanken, die mir einen einmaligen Einblick in ihr multikulturelles Schmerzprogramm ermöglichten. Abstract Chronischer Schmerz wird in der Physiotherapie zu einem immer grösseren Thema. Studien zeigen, dass Patienten mit Migrationshintergrund dabei eine überproportional grosse Gruppe darstellen. Die Ursache besteht darin, dass Migranten vor allem im psychosozialen Bereich deutlich mehr beitragende Risikofaktoren aufweisen als Schweizer. Es zeigt sich, dass Migranten mit konventionellen Schmerztherapien über den kognitiv verhaltenstherapeutischen Ansatz nur ungenügend behandelt werden können. Diese Tatsache macht deutlich, dass Patienten, die nicht in der Schweiz geboren sind und keine Schweizer Landessprache beherrschen, eine auf sie zugeschnittene Therapieform benötigen. Die vorliegende Arbeit beleuchtet das Thema Migration und chronischer Schmerz aus der Sicht der Physiotherapie und zeigt auf, wie durch eine angepasste Kommunikation die Behandlung erfolgreich gestaltet werden kann. Dabei war für mich das multikulturelle Schmerzprogramm am Universitätsspital Basel zur Behandlung von Migranten wegweisend. Inhaltsverzeichnis Abstract 1. Einleitung 1 1.1 Eigene Motivation 1 1.2 Fragestellung 1 1.3 Ziel der Diplomarbeit 2 1.4 Adressaten 2 1.5 Abgrenzung 2 2. Methodik und Aufbau der Arbeit 3 3. Theoretische Grundlagen 4 3.1 Was ist Migration? 4 3.2 Prädisponierende Faktoren zur Entstehung von chronischen Schmerzen 4 3.3 Faktoren, die eine Chronifizierung von Schmerzen bei Migranten begünstigen 7 4. Gespräch mit Frau Dr. B. Wössmer 10 4.1 Sprache 10 4.2 Nonverbaler Ausdruck 10 4.3 Bildungsniveau 10 5. Vorstellung des multikulturellen Schmerzprogramms in Basel 12 5.1 Zusammensetzung der Gruppe 12 5.2 Ablauf 12 5.3 Erwartungen an die Patienten 13 5.4 Wo liegen die Unterschiede zu einem herkömmlichen Schmerzprogramm? 14 5.5 Erfahrungen mit dem Programm 14 6. Konsequenzen für die Behandlung von Migranten mit chronischen Schmerzen 15 6.1 Sprache 15 6.2 Geduld und Beharrlichkeit 15 6.3 Zielsetzung 16 6.4 Passives Vermeiden 16 6.5 Beziehungsaufbau 16 6.6 Fazit für die Physiotherapieausbildung 17 6.7 Weiterführende Fragen 17 7. Literaturverzeichnis 19 Einleitung 1. Einleitung 1.1 Eigene Motivation In meinem ersten Praktikumsjahr merkte ich, wie dominant und allgegenwärtig der Schmerz in der Physiotherapie ist. Oft waren es auch erst die unaushaltbaren Schmerzen, die einen Patienten(*) in die Therapie führten. Ich stellte fest, dass kein Patient mit seinem Schmerz gleich umging. Der eine ignorierte ihn, der andere biss auf die Zähne und der dritte zeigte mit seiner Körpersprache das ganze Erleben seines Schmerzes. Zu sehen, wie durch eine gelungene Therapie die Schmerzen des Patienten nachliessen, erfüllten mich stets mit besonderer Befriedigung. Leider gab es auch Patienten, deren Leben vollständig von Schmerzen bestimmt und meine Therapie nur ein weiterer gescheiterter Versuch in einer langen Reihe von Misserfolgen war. Die interdisziplinären Therapieformen, die bei der Bekämpfung des Schmerzes, im speziellen auch des chronischen Schmerzes, eingesetzt werden, haben mein Interesse mehr und mehr geweckt. Ich lernte vor allem, wie wichtig die Aufklärung und die Kommunikation bei der Therapie von chronischem Schmerz sind. Ich habe oft Patienten mit chronischen Schmerzen behandelt, die nur sehr gebrochen Deutsch sprachen und auch mit unserer Kultur wenig vertraut waren. Mein fehlendes Wissen über den Background der Patienten empfand ich dabei oft als Hindernis für meine Therapie. Die Kommunikation war sehr schwierig, meine Erklärungen wurden falsch oder gar nicht verstanden und die Therapie war für beide Seiten ohne grossen Gewinn. Öfters stellte ich mir deshalb die Frage, wie ich nun Schmerzpatienten, die aus einer anderen Kultur kommen und meine Sprache nicht sprechen, helfen kann. Ich habe in meiner Arbeit immer nach Antworten auf diese zentralen Fragen gesucht. 1.2 Fragestellungen Worin unterscheidet sich die Behandlung von Migranten und Schweizern mit chronischen Schmerzen? Welche Therapieformen für Migranten mit chronischen Schmerzen werden in der Schweiz bereits angewendet? Wo bestehen Möglichkeiten zur Verbesserung der Behandlung? Wie sehen diese Möglichkeiten aus? (*): In der vorliegenden Arbeit werde ich immer die männliche Form bei den Berufsbezeichnungen und den zu behandelnden Personen verwenden, um den Text nicht zu überladen. Natürlich sind in jedem Fall immer beide Geschlechter damit gemeint -1- Einleitung 1.3 Ziel der Diplomarbeit Diese Arbeit soll mit einer Literaturrecherche einen Überblick über die bestehenden Daten zur Behandlung von Migranten mich chronischen Schmerzen verschaffen. Ich will kulturelle Unterschiede bei der Schmerzverarbeitung und deren Einbezug in die Therapie aufzeigen. Mein Ziel ist es, Physiotherapeuten einen Anstoss zu geben, die eigenen (eventuell schwierigen) Behandlungen von Migranten etwas zu überdenken, und ihnen Möglichkeiten zur Optimierung der Behandlung aufzuzeigen. Mir ist es ein Anliegen, Verständnis für beide Seiten zu schaffen und Vorurteile abzubauen. 1.4 Adressaten Ich möchte diese Arbeit an Physiotherapeuten richten, die selber mit Migranten mit chronischen Schmerzen arbeiten und schon oft das Gefühl hatten, dass aufgrund von kulturellen Barrieren die Therapie belastet wurde. 1.5 Abgrenzung Wenn ich in meiner Arbeit den Terminus „Migranten“ verwende, dann meine ich Einwanderer der ersten Generation (d.h. die Menschen sind nicht in der Schweiz geboren). Die meisten Studien zum Thema wurden mit türkischen Migranten erhoben, und auch durch das Literaturstudium erhielt ich hauptsächlich Informationen über türkische Einwanderer. Die Informationen von Frau Dr. Wössmer dagegen beziehen sich auf ein multikulturelles Schmerzprogramm. Es würde den Rahmen dieser Diplomarbeit sprengen, wenn ich den genauen kulturellen Hintergrund der unterschiedlichen Nationen erfassen möchte. Ich möchte in meiner Arbeit nicht auf die sehr komplizierte und emotionsbeladene Einwanderungs- und Gesundheitspolitik eingehen. -2- Methodik und Aufbau der Arbeit 2. Methodik und Aufbau der Arbeit Meine Literaturrecherche startete ich im Internet, vor allem unter medline, pubmed und pedo. Ebenso fand ich nützliche Hinweise in Büchern und Zeitschriften aus der Bibliothek der Physiotherapieschule Triemli. Im zweiten Teil meiner Arbeit nahm ich Kontakt mit Frau Dr. B. Wössmer auf. Frau Wössmer leitet die multikulturelle Schmerzgruppe am Universitätsspital Basel und leitet die Abteilung Psychosomatik. Mit ihr und Frau Litschgi, Physiotherapeutin der Schmerzgruppe, konnte ich im Januar ein Gespräch führen. Ich möchte in meiner Arbeit dem Leser zuerst einen kurzen theoretischen Überblick über die beitragenden Faktoren zur Schmerz-Chronifizierung und den Zusammenhang mit der Migration verschaffen. Anhand von Informationen, die ich von Frau Wössmer erhalten habe, werde ich dieses Thema weiter beleuchten und ihr multikulturelles Schmerzprogramm in Basel vorstellen. Abschliessend zeige ich Anregungen zur Verbesserung der physiotherapeutischen Behandlung von chronischem Schmerz von Migranten auf. -3- Theoretische Grundlagen 3. Theoretische Grundlagen 3.1 Was ist Migration? Immigration oder Migration ist ein Begriff aus der Soziologie und kommt vom lateinischen Wort „migrare“, was wandern heisst. Als Migranten bezeichnet man alle Leute, welche einzeln oder in Gruppen ihre bisherigen Wohnorte verlassen und sich an einem neuen Ort dauerhaft (oder zumindest für längere Zeit) niederlassen. Tourismus und andere Kurzaufenthalte zählen nicht dazu. Migration bedeutet oft eine radikale Änderung des gewohnten Lebens für die Person. Migration findet meist auf Grund von Ausnahmesituationen wie Krieg, Not, Verfolgung oder Hunger statt. Oftmals werden dabei Familienverbände und bestehende soziale Strukturen auseinander gerissen. In wenigen Fällen findet die Migration auf Grund von Neugier und der Hoffnung auf ökonomische Verbesserung statt. (http://de.wikipedia.org/wiki/Einwanderung, 27.11.2007) 3.2 Beitragende Faktoren zur Chronifizierung von Schmerzen (Bünzli 2001) In diesem Kapitel möchte ich auf die so genannten beitragenden und prädisponierenden Faktoren eingehen. 3.2.1 Kognitive Ebene Jeder Mensch macht sich nach einem Unfall oder einer Erkrankung Gedanken über seine Situation. Der Patient macht sich Gedanken über seinen Schmerz, seine Behandlung und seine Chancen. Er denkt über seine Bewältigungsstrategien nach und wird sich klar über seine Angst bezüglich des Schmerzes und des Schadens. Thali (1997) hat gezeigt, dass folgende drei Faktoren zentral für die Chronifizierung sind: • eine schlechte subjektive Verlaufsprognose • ein geringes Vertrauen in die Behandlung • wenig Möglichkeiten zur Selbsthilfe -4- Theoretische Grundlagen 3.2.2 Verhaltensebene Auf dieser Ebene geht es ganz stark um die Bewältigungsstrategien des Patienten. Es wird unterschieden zwischen aktiven und passiven Strategien. Unter den aktiven Strategien versteht man die Bereitschaft sich körperlich zu betätigen, den Schmerz aktiv zu bekämpfen und zu kontrollieren und trotz des Schmerzes zu funktionieren. Als passive Strategien bezeichnet man das Vertrauen in Medikamente, und die Abgabe der Kontrolle des Schmerzes an andere. Diese passive Strategie hat sich in diversen Studien als erhebliche Belastung für das Erreichen therapeutischer Ziele erwiesen. Ein weiteres Schlüssel-Verhalten wird als Katastrophieren bezeichnet. Katastrophieren wird definiert als Erwartung oder Befürchtung schlimmstmöglicher Konsequenzen auch bei weniger wichtigen Situationen. Es gibt Studien, die zeigen, dass Katastrophieren der stärkste Vorbote von chronischen Rückenbeschwerden ist (Kendall. Linton und Main 1997). Eine ebenfalls negative Strategie zur Bewältigung liegt im vollständigen Ignorieren des Schmerzes. Es werden Aktivitäten durchgeführt, die eine erneute Verletzung provozieren. Man kann dies auch Fehleinschätzung nennen. Die wichtigsten Risikofaktoren bezüglich des eigenen Verhaltens: • ausgedehnte Erholung mit unverhältnismässiger Ausfallszeit • reduzierte Aktivität und Rückzug aus Alltagsaktivitäten • irreguläre oder schlechte Mitarbeit bei körperlichen Übungen • Vermeiden von normaler Aktivität und zunehmender Wegfall von produktiver Aktivität • Extrem hohe subjektive Schmerzintensität • Übermässiges Vertrauen in den Gebrauch von Hilfsgeräten • Schlechte / reduzierte Schlafqualität • Übermässiger Gebrauch von Alkohol oder anderen belastenden Substanzen • Rauchen 3.2.3 Emotionale Ebene Durch lang andauernde Schmerzen und erfolglose Therapien kann sich reaktiv eine Depression entwickeln. -5- Theoretische Grundlagen Angst ist eine Emotion, die uns hilft, frühzeitig potentiell gefährliche Situationen zu erkennen. Fürchte ich mich nun vor etwas, habe ich zwei Möglichkeiten: Konfrontation oder Vermeidung. Daraus ergibt sich das bekannte Angst-Vermeidungsmodell von Vlaeyen und Linton (2000). Da die Menschen Angst vor den Schmerzen haben, vermeiden sie potenziell schmerzhafte Bewegungen und kommen so zu einer immer stärkeren funktionellen Behinderung. Wenn das Angst-Vermeidungsverhalten lange Zeit andauert, kann dies zu einem so genannten Nichtgebrauchssyndrom führen und so neue Schmerzen auslösen. Vlaeyen und Linton (2000) kommen zu folgenden Schlüssen: Angst vor Schmerzen und Wiederverletzung ist stärker behindernd als der Schmerz selbst, und er gilt als einer der wichtigsten Vorboten der Chronifizierung. 3.2.4 Psychosoziale Ebene Berufliche Unzufriedenheit gilt als einer der wichtigsten Faktoren zur Chronifizierung des Schmerzes. Deutlich hat dies die Studie von Bigos et al. (1991) gezeigt, welcher 3020 Boeing-Mitarbeiter untersucht hat und herausfand, dass Mitarbeiter, welche mit ihrer Arbeit unzufrieden waren, zweieinhalb mal so häufig Rückenprobleme angaben als Mitarbeiter, die sich in ihrem Beruf wohl fühlten. Auch berufliche Zukunftspläne können viel über den Heilungsverlauf aussagen. Wenn ein Patient befürchtet, der Arbeit nicht mehr gewachsen zu sein, den Anschluss zu verlieren oder gar die Kündigung zu erhalten, können sich Anzeichen einer Chronifizierung einstellen. Auch ein langer Arbeitsweg wirkt sich negativ auf die Heilung aus, da dies ein zusätzlicher Stressfaktor darstellt. Patienten mit chronifizierenden Merkmalen zeigen gemäss Thali (1997) wenig Erholungsund Entspannungsmöglichkeiten. Vielen fehlt auch die sportliche Betätigung, die dem Körper bezüglich konditioneller Ausgangslage helfen würde. Geschiedene oder getrennt lebende Personen klagen häufiger über behindernde Beschwerden und konsultieren schneller einen Arzt. Es ist nicht das Alleinleben an sich, sondern unverarbeitete Prozesse einer Trennung oder Scheidung, welche zu einem möglichen Chronifizierungsfaktor werden. Auch die Familie kann einen direkten Einfluss auf den Heilungsverlauf haben. So können folgende Risikofaktoren in der Familie gefunden werden: -6- Theoretische Grundlagen • Ein überbehütender Partner, der die Angst vor Schaden oder das Katastrophieren noch fördert • Dienstbeflissenes Verhalten des Partners • Sozial bestrafende Antworten des Partners (ignorieren, Zeichen der Frustration • Mangelndes Interesse der Familienmitglieder, den Patienten für die Rückkehr an die Arbeit zu unterstützen • Fehlen der Möglichkeit, über seine eigenen Probleme sprechen zu können Gibt es nun einen direkten Zusammenhang zwischen der Entwicklung von chronischen Schmerzen und der Migration? Erkranken Migranten eventuell sogar häufiger an chronischen Schmerzen? Mit diesen Fragen habe ich mich an das Statistische Amt gewendet. Doch leider werden solche Daten in der Schweiz nicht erhoben. Auch Santésuisse und das Bundesamt für Sozialversicherungen konnten mir leider nicht weiterhelfen, da entweder die Diagnose der Patienten nicht erfasst, oder aber das Herkunftsland nicht aufgeführt wird. Kopp (1997) schreibt in seinem Bericht, dass Ärzte immer häufiger mit Patienten mit chronischem Schmerzsyndrom konfrontiert sind, wobei Migranten überproportional häufig davon betroffen sind. Kavuk (2006) untersuchte das Auftreten von chronischem Kopfschmerz bei Deutschen, Türken der ersten Einwanderergeneration und bei Türken der zweiten Einwanderergeneration. Er zeigte, dass Türken der ersten Einwandergeneration viermal so häufig an chronischem Kopfschmerz erkrankten als Deutsche. Zwischen den Deutschen und den Einwanderern der zweiten Generation liess sich kein Unterschied mehr feststellen. Yildirim (2003) schreibt in ihrem Artikel, dass türkische Patienten häufiger als deutsche Patienten von schweren chronischen Erkrankungen betroffen sind und durchschnittlich zehn Jahre früher erkranken. 3.3 Faktoren, die eine Chronifizierung von Schmerzen bei Migranten begünstigen Die im Kapitel 3.2 aufgezeigten Punkte sind allgemeine Faktoren. Doch es gibt auch Faktoren, die vermehrt bei Migranten anzutreffen sind. Der nächste Abschnitt soll verdeutlichen, welche Faktoren das sind. -7- Theoretische Grundlagen • Migranten haben einen niedrigeren sozialökonomischen Status als der Durchschnitt der deutschen Gesamtbevölkerung.(Stage-Budumlu 2005, S.17) • Einwanderer kommen häufig aus einer ländlichen Gegend mit geringer Schulbildung, vor allem die Frauen. Es zeigte sich, dass der Analphabetismus als der langfristig wirksamste Risikofaktor bei der Chronifizierung gilt. Der Anteil der Analphabeten bei den Patienten (30% Frauen, 14% Männer) liegt deutlich höher als beim Durchschnitt der Schweizer Gesamtbevölkerung.(Wössmer 2005 S. 827) Durch das Fehlen rudimentärster Deutschkenntnisse leben die türkischen Migranten häufig in einer abgeschlossenen kleinen Welt. (Wössmer 2005 S. 827) • Gerade durch die oftmals schlechten Deutschkenntnisse und die geringe Schulbildung ist die Berufswahl stark eingeschränkt. Übrig bleiben körperlich stark belastende Berufe mit Schichtarbeit. (Wössmer 2005, S.827) • Türkische Migrantinnen der ersten Generation leben oft mit der Doppelbelastung von Arbeit und Familie. (Stage-Budumlu 2005, S.17) • Migranten nehmen weniger an der regelmässigen Gesundheitsvorsorge teil. (Zahnarzt, Schwangerschaftsvorsorge, gynäklogische Untersuchungen) (Stage-Budumlu 2005, S.18). Kinder werden seltener zu den Früherkennungsuntersuchungen gebracht. (Yildirim-Fahlbausch 2003, S. 213) • Migranten wohnen in grossen Gemeinschaften, aber in kleinen Wohnungen (StageBudumlu 2005, S.18). • Zusätzlich leben Migranten oft mit der Ungewissheit, ob ihre Aufenthaltsbewilligung wirklich verlängert wird. • Vielleicht kann man auch familiäre Trennungen auf diese Liste aufnehmen. Die Migranten leben zwar meist zusammen mit ihrem Ehepartner, aber oftmals getrennt von einem Teil ihrer Familie und getrennt von ihrem Heimatland. • Kriegstraumata können auch eine Rolle spielen. Migranten aus dem Balkan und anderen Konfliktgebieten haben oft schwer zu verarbeitende Kriegsgreuel erlebt. Bei vielen weiss man nicht, was sie im Krieg erlebt haben (Missbrauch, Folter, Verluste…). Fazit Dies alles sind belastende Einzelfaktoren, die man teilweise auch bei Schweizern antrifft. Doch gerade die Anhäufung der genannten Belastungen ist typisch für Migranten der ersten -8- Theoretische Grundlagen Einwanderergeneration. Daher ist bei Migranten die Gefahr einer Chronifizierung höher als bei Schweizern, da sie mehr Risikofaktoren aufweisen, vor allem im psychosozialen Bereich. Es erstaunt nicht, dass daher häufig der Einzelne oder das Familiengefüge zusammenbricht. Typischerweise steht am Anfang ein Arbeitsunfall, welcher dann zu einer komplexen Schmerzverarbeitungsstörung heranwächst. Die verschiedenen aufgezählten Punkte beleuchten die Rolle der Migration im Chronifizierungsprozess des Schmerzes. Frau Wössmer machte im nachfolgend geschilderten Gespräch jedoch sehr deutlich, dass der Einfluss der Migration auf die Entwicklung von chronischem Schmerz nicht überschätzt werden und vor allem nicht als Entschuldigung oder Erklärung ins Zentrum gerückt werden soll. Die Menschen haben keine chronischen Schmerzen weil sie emigriert sind, sondern die Migration stellt ein beitragender Faktor dar. -9- Gespräch mit Frau Dr. B. Wössmer 4. Gespräch mit Frau Dr. B. Wössmer Um mehr über den Einfluss der Migration auf die Entwicklung von chronischem Schmerz zu erfahren, besuchte ich Frau Wössmer in Basel und führte ein Gespräch mit ihr und Frau Litschgi, der Physiotherapeutin der Schmerzgruppe. Die nachfolgenden Informationen sind aus dem Interview, jedoch nicht wörtlich wiedergegeben. 4.1 Sprache Die Menschen sprechen meist wenig oder gar kein Deutsch. Diese rudimentären Sprachkenntnisse reichen bei weitem nicht aus, um über ihr Befinden, ihre Gefühle oder ihren Schmerz zu reden. Schmerz hat den Vorteil, dass man ihn zeigen und man sich auf diesem Weg ausdrücken kann. Für das Befinden hingegen reichen die Worte gut oder schlecht oft nicht aus. Aus diesem Umstand wurde den Migranten oft nachgesagt, sie hätten eine schlechte Körperwahrnehmung. Doch oft verfügen diese Menschen einfach nicht über einen ausreichenden Wortschatz, um sich verständlich ausdrücken zu können. Dieser Umstand wird dem Leser bewusst, wenn er einmal versucht, sein Befinden in einer Sprache auszudrücken, die er nicht Tag für Tag braucht. 4.2 Nonverbaler Ausdruck Menschen aus dem südlichen Europa, zum Teil auch aus dem Balkan, zeigen oft für Gefühle wie Freude und Trauer, aber auch Schmerz einen anderen nonverbalen Ausdruck als Westeuropäer. Sie leben ihre Gefühle mit allen Sinnen aus, können stundenlang jubilieren und alle in ihrer Umgebung anstecken. Genau so wie sie ihre Freude sehr intensiv ausleben, drücken sie auch ihre Trauer und ihren Schmerz aus. Oft ist es deshalb schwierig, ihre Gefühle und ihr Befinden mit Schweizer Massstäben zu messen. 4.3 Bildungsniveau Migranten der ersten Generation haben sehr häufig wenig Schulbildung erhalten, Frauen haben oftmals nur 4-5 Jahre, Männer vielleicht 8 Jahre die Schule besucht. Je nach Herkunftsort kann die Schulbildung auch nicht mit der unseren verglichen werden. - 10 - Gespräch mit Frau Dr. B. Wössmer Durch diesen Umstand ist es viel schwieriger chronische Schmerzpatienten wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren, da es kaum Umschulungsmöglichkeiten gibt und man innerbetrieblich meist nur mit Mühe alternative Lösungen findet. Dadurch wird Migranten schneller gekündigt. Grundsätzlich haben Menschen, die weniger lange die Schule besucht haben und chronische Schmerzen entwickeln, eine schlechtere Prognose für eine Rehabilitation, unabhängig davon ob es sich um Migranten oder Schweizer handelt. Durch die weniger lange Schulbildung fällt es den Menschen schwerer, sich selbst Neues zuzutrauen. sich auf neue Situationen einzustellen und zu reagieren. In der Schmerzgruppe muss entsprechend viel Zeit dafür verwendet werden, um diese Menschen davon zu überzeugen, dass auch sie etwas Neues lernen können. - 11 - Multikulturelles Schmerzprogramm in Basel 5. Multikulturelles Schmerzprogramm in Basel Ich möchte an dieser Stelle das multikulturelle Schmerzprogramm des Universitätsspitals Basel vorstellen, das ich als grosse Chance für Migranten mit chronischen Schmerzen und wenig Deutschkenntnissen erachte. Eine Therapiegruppe trifft sich über zwei Jahre einmal pro Woche für eine Stunde in einer fixen Zusammensetzung von etwa zehn Patienten. Die Stunde wird von einer Psychologin aus der Psychosomatik zusammen mit einer Physiotherapeutin gestaltet. Dieses Programm gibt es nun schon seit 16 Jahren. Es wurde laufend angepasst und präsentiert sich nun in der in dieser Arbeit beschriebenen Form 5.1 Zusammensetzung der Gruppe In der Gruppe sind Männer und Frauen, Sprachen und Religionen bunt gemischt. Aber alle Patienten haben eines gemeinsam: Sie leiden an chronischen Schmerzen des Bewegungsapparates. Da die Sprachen so bunt gemischt sind, ist die Gruppe auch nicht von einem Dolmetscher begleitet. Wichtige Wörter werden zum Teil in alle Sprachen übersetzt, während andere Ausdrücke in den sprachlich gemischten Gruppen so gut es geht gegenseitig erklärt werden. 5.2 Ablauf Der Ablauf einer Sitzung sieht etwas folgendermassen aus: Gestartet wird mit einem Bewegungsteil zum Aufwärmen und Wachwerden. Danach wird in der Gruppe im Kreis ein theoretischer Teil behandelt. Anschliessend folgt nochmals ein Bewegungsteil, und zum Schluss gibt es immer noch Entspannung mit progressiver Muskelrelaxation oder Chi Gong. Im theoretischen Teil geht es um Schmerzphysiologie und Anatomie aber auch um spezielle Fragen, die vor allem Migranten betreffen. Dazu gehören Themen wie Heimweh oder finanzielle Sorgen. Diese Themen werden angesprochen, sobald sie für jemanden in der Gruppe aktuell werden. Verliert jemand seine Stelle, droht Kündigung der Wohnung oder wird jemand zu einem eher unangenehmen Gespräch in die Schule gebeten, spricht man in der Therapiegruppe darüber. Auch bekommen die Patienten konkrete Hilfe von aussen, wenn - 12 - Multikulturelles Schmerzprogramm in Basel dies nötig ist. So kann zum Beispiel ein Sozialarbeiter vermittelt werden, um in finanziellen Dingen zu helfen oder Adressen von Dolmetschern werden weitergegeben. 5.3 Erwartungen an die Patienten Gefordert wird von den Patienten mehr als noch vor 10 Jahren. Die vorgesehene Teilnahme beträgt 2 Jahre. Es gilt eine Anwesenheitspflicht für zwei Jahre. Nach dreimaligem unentschuldigtem Fernbleiben und einem Gespräch werden sie aus der Gruppe ausgeschlossen. Für Kräftigungs- und Beweglichkeitsübungen, welche die Patienten in der Gruppe machen, bekommen sie bebilderte Begleitunterlagen mit nach Hause mit dem klaren Auftrag, selber zu trainieren. Grundsätzlich erhalten die Patienten mehr Informationen als früher. Medizinische Themen werden vertieft angeschaut. Die Patienten werden auch ganz klar dazu aufgefordert Deutsch zu lernen. Viele von ihnen hatten gar nicht vor, lange in der Schweiz zu bleiben, sondern wollten nur einige Jahre bei uns arbeiten um Geld zu verdienen, bis sie wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Doch dann sehen sie, dass sich ihre Kinder hier in der Schweiz integrieren und nicht mehr in ihr Heimatland zurückkehren wollen. Manche Patienten halten sich länger bei uns auf, als sie vorgesehen hatten, doch ihre Deutschkenntnisse bleiben gering. Auch haben diese Menschen in der Arbeitswelt wenig mit deutschsprechenden Menschen zu tun. Bauarbeiter können oftmals etwas Italienisch oder Spanisch, wenn ihr Vorarbeiter aus dem Süden kommt. Der Vorarbeiter selber spricht aber meist auch kaum Deutsch. Vielleicht könnte man noch anmerken, dass der Wille, eine Sprache zu lernen, stark vom allgemeinen Bildungsniveau der Einwanderer abhängt. In Basel wird versucht, bildungsferne Schichten mit niederschwelligen Angeboten anzusprechen, was offenbar recht gut gelingt. Wenn nach zwei Jahren die Teilnehmer die Gruppe verlassen müssen, fällt dies vielen sehr schwer. Immerhin können sie sich in speziellen Situationen nach sechs Monaten Pause nochmals für ein Jahr der Gruppe anschliessen. Gleichzeitig läuft an der Abteilung Psychosomatik des Universitätsspital Basel auch noch ein nationales Forschungsprojekt mit türkischen Migranten. Es werden geschlechtergetrennte Kurse geführt und die Mitglieder werden von einem Dolmetscher begleitet. Die Studie läuft noch, und da noch keine definitiven Resultate vorliegen, möchte ich nicht weiter auf das Projekt eingehen. - 13 - Multikulturelles Schmerzprogramm in Basel 5.4 Wo liegen die Unterschiede zu „herkömmlichen“ Schmerzprogrammen? Verglichen mit den anderen aktuellen Schmerzprogrammen findet die Psychoedukation auf einem viel tieferen Niveau statt. Wer seine Gedanken und Gefühle ausdrücken kann, wird verstanden und kann Neues aufnehmen, doch bei vielen Patienten fehlen diese kommunikativen Fähigkeiten in einem hohen Mass. In Kursen mit fremdsprachigen Patienten muss sehr praxisorientiert gearbeitet werden. Die Gruppe arbeitet mehr nach dem didaktischen Prinzip von Vorzeigen und Nachmachen und mit wenigen Erklärungen. Leider funktionieren auch die üblichen Ablenkungstechniken, die in den anderen Schmerzprogrammen gemacht werden, bei diesen Patienten nicht. Als Beispiel für eine Ablenkungsmassnahme könnte ich mir eine Ermunterung für einen Kinobesuch vorstellen. Doch eine türkische Frau würde nie alleine in die Stadt gehen. Aber auch zu zweit ginge sie bei bester Gesundheit kaum ins Kino, weil sie ja die Sprache im Film ohnehin nicht versteht. Zudem fehlen sehr oft die finanziellen Mittel. Es muss also nach anderen Ablenkungen gesucht werden, die sowohl finanziell wie auch kulturell erfolgversprechend sind. Konkret könnte dies heissen, dass eine Patientin ihre Cousine zum Tee einlädt, während der Mann mit seinen Freunden ins nahe Café geht um Karten zu spielen. In der multikulturellen Schmerzgruppe versucht man einen Bogen zu den Herkunftsländern der Patienten zu spannen. Häufig wird auch nach folgenden Leitfragen vorgegangen: Wie würde ich mich zu Hause in meiner Heimat verhalten? Was würde ich tun, wenn ich diese Schmerzen hätte? Kenne ich jemanden, der in der gleichen Lage ist wie ich? 5.5 Erfahrungen mit dem Programm Leider können die Resultate der multikulturelle Schmerzgruppe nicht objektiv ausgewertet werden, da es noch kein geeignetes Verfahren gibt. Allgemein kann man sagen, dass nur wenige Patienten aufhören oder ausgeschlossen werden müssen. Viele sind traurig, wenn sie die Gruppe nach zwei Jahren verlassen müssen. Einige von ihnen schaffen den Schritt zurück in die Berufswelt, was jedoch nicht das Hauptziel des Programms ist. Im Verlauf der Arbeit in der Gruppe werden die Menschen mit der Zeit beweglicher und aufgestellter und lachen deutlich mehr. Positive Rückmeldungen kommen oft auch von den zuweisenden Hausärzten:“ Frau XY klagt zwar immer noch, wenn sie kommt, aber sie ist viel aufgestellter als zuvor.“ Für viele sei es auch wichtig zu sehen, dass sie nicht alleine sind mit ihrem Schmerz. - 14 - Konsequenzen für die Physiotherapie 6. Konsequenzen für die Physiotherapie bei der Behandlung von Migranten mit chronischen Schmerzen In der Regel werden Patienten mit chronischen Schmerzen in der Physiotherapie über den kognitiv verhaltenstherapeutischen Ansatz behandelt. Wie es der Name schon sagt, ist diese Therapieform sehr kognitiv. Dies alles setzt gute Sprachkenntnisse voraus und ein gutes Abstraktionsvermögen, um von Beispielen auf sich selber schliessen zu können. Eine Grundannahme der kognitiven Verhaltenstherapie ist, dass Kognition das Verhalten des Menschen entscheidend mitbestimmt. Im Gegensatz zu früheren Modellen wird neben dem Schmerzverhalten auch die subjektive Schmerzerfahrung explizit berücksichtigt. Die kognitive Bewertung des Schmerzes ist essentiell für die Schmerzerfahrung (Meyer 2002, S.9). Wie in den Abschnitten 4.1 und 4.3 schon angesprochen, sind das genau die Fähigkeiten, welche die Migranten meist nicht mitbringen. Deshalb scheitert dieser kognitive Ansatz häufig. 6.1 Sprache Ganz wichtig bei der Arbeit mit Migranten ist es, langsam zu sprechen, möglichst einfache Worte zu verwenden und die wichtigsten Teile so oft zu wiederholen, bis sie verstanden sind. Bei Schlüsselwörtern hilft es, sie zu übersetzen und aufzuschreiben. Wir sind es gewohnt, viel zu erzählen und verbal zu erklären. Bei Migranten gilt, den sprachlichen Kanal nicht zu überreizen, denn dieser braucht unheimlich viel Konzentration und hat ein grosses Frustrationspotenzial, wenn etwas nicht verstanden wird. Häufig hilft es anatomische Begriffe am Skelett oder in Büchern zu zeigen. Dadurch können abstrakte Worte wie Knochen, Muskeln oder Gelenke veranschaulicht werden. Oftmals fehlt den Patienten auch ein allgemeiner Überblick, wie ein Mensch in seinem Innern überhaupt aussieht. Ein bestimmter Knochen oder Muskel kann auch aneinander in vivo gesucht und auf diese Weise dem Patienten veranschaulicht werden. 6.2 Geduld und Beharrlichkeit Bei der Behandlung von Migranten ist Geduld gefragt, für den Patienten wie für den Therapeuten. Die Vorgehensweise ist deutlich langsamer, da man für die einzelnen Schritte - 15 - Konsequenzen für die Physiotherapie länger braucht, bis sie verstanden sind. Erfolge stellen sich erst ein, wenn mit viel Beharrlichkeit an die Arbeit gegangen wird. Als besonders wichtig erachte ich das Repetieren der wichtigsten Botschaften, wie beispielsweise, dass Schmerz nichts Gefährliches ist und im Körper nichts zerstört. 6.3 Zielsetzung Für die Therapie sollte man möglichst kleine, aber funktionelle Ziele auswählen. Es ist ganz wichtig, dass man von sich und vom Patienten nicht zu viel erwartet. Eine gute Möglichkeit, um sinnvolle Ziele zu erhalten, ist die Frage nach Tätigkeiten, die schwer fallen oder gar nicht mehr ausgeführt werden können. Gesucht wird auf der Ebene der Aktivität und vor allem auch der Partizipation, nicht nur auf der Funktionsebene. Wichtig ist, die therapeutische Intervention genau auf die Wünsche des Patienten abzustimmen. Häufig haben Migranten ganz andere Ziele, es geht ihnen nicht um Sport oder Arbeit, sondern um Ziele im sozialen Gebilde ihrer Familie. Beispiele dafür können sein, dass der Patient niemanden mehr zum Tee einladen kann, weil er die Pfanne mit dem Wasser nicht mehr hoch heben kann, oder dass er nicht mehr für die Familie kocht, weil es zu streng ist. In der Therapie versucht man dann, gezielt Funktionen im Hinblick auf die Bewältigung alltäglicher Arbeiten zu verbessern. 6.4 Passives Vermeiden Gleichzeitig mit der Physiotherapie sollten keine passiven Massnahmen angewandt werden. Fangopackungen und Massagen werden als angenehm und wohltuend empfunden. Da steht die aktive Physiotherapie in Konkurrenz dazu und wird von den Patienten dann oft nur als streng und schmerzhaft empfunden. Allfällige positive Effekte können gar nicht wahrgenommen werden, weil immer alles mit der schönen Massage und dem Wickel verglichen wird. 6.5 Beziehungsaufbau Menschen mit Migrationshintergrund brauchen sehr viel von unserer menschlichen Seite, damit mit einer Therapie erfolgreich angeknüpft werden kann. Manchmal ist es ratsam, sich - 16 - Konsequenzen für die Physiotherapie etwas mehr Zeit zu lassen um einander besser kennen zu lernen, damit eine gute PatientenTherapeuten-Beziehung aufgebaut werden kann. Dafür braucht es ja bekanntlich nicht viele Worte. Oftmals sind Migranten in einem sehr hierarchischen Wertesystem aufgewachsen und brauchen Führung und Grenzen auch in der Therapie. Als gesunder Mensch und als Physiotherapeut steht man in ihrer Hierarchie schon deutlich über dem Patienten. Oft werden diese strikten Grenzen von den Patienten auch gewünscht und fördern den positiven Therapieprozess. 6.6 Fazit für die Physiotherapieausbildung Aus meiner Sicht sollte in der Ausbildung neben dem klassischen chronischen Schmerzpatienten auch über den Schmerzpatienten ohne Deutschkenntnisse und einem anderen kulturellen Hintergrund gesprochen werden. Denn spätestens im Praktikum wird man mit Migranten ohne Deutschkenntnissen arbeiten. Im Erfahrungsaustausch mit Fachpersonen, die erfolgreich mit Migranten gearbeitet haben, könnte aufzeigen, welche therapeutischen Massnahmen sich für eine Behandlung eigenen. Ich finde, wir können unser (westliches) Wertesystem nicht direkt auf Migranten übertragen. Die Menschen aus den ehemaligen und aktuellen Konfliktregionen sind meist mit einem ganz anderen kulturellen Hintergrund aufgewachsen. Wenn wir unser Wertesystem 1:1 auf sie übertragen, führt dies nur zu Frustration auf beiden Seiten. Dazu gehört auch der intensivere nonverbale Ausdruck, den wir Schweizer in dieser Form nicht kennen. Äussert ein Patient seinen Schmerz sehr stark, heisst das für mich nicht, dass ich ihn nicht mehr anfassen und behandeln darf, oder gar Gefahr laufe, ihn gleich auf den Notfall begleiten zu müssen. Es heisst aber in jedem Fall, dass der Mensch Schmerzen hat, die ernst genommen werden müssen. Nur weil er sie so offen zeigt, ist dies noch lange kein Grund an ihrer Echtheit zu zweifeln. Meiner Meinung nach müsste ein Therapeut auf diese anderen Umstände sensibilisiert sein. Dazu gehören eine behutsame Vorgehensweise und das Erklären mit einfachen Worten. 6.7 Weiterführende Fragen Gespannt warte ich auf die Publikation von Frau Dr. Wössmer und Frau Dr. Slepsova mit den Resultaten aus dem Forschungsprojekt mit Migranten aus der Türkei. - 17 - Konsequenzen für die Physiotherapie Speziell Interessiert mich, ob man nach dieser Studie etwas über den Einsatz von Dolmetschern aussagen kann und ob die Unterteilung der Gruppe nach Sprachen zweckmässig ist. Ebenfalls interessant wäre es zu wissen, ob es einen Unterschied gibt, wenn Männer und Frauen getrennt behandelt werden und wieweit eine Aufteilung nach Religionen vorteilhaft wäre. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der schwierigen Situation der Migranten in unserem Gesundheitswesen könnte vieles verbessern. Allein schon die Erkenntnis, dass Migranten kaum mit einer herkömmlichen Schmerztherapie erfolgreich behandelt werden können, dürfte meiner Meinung nach Fortschritte in der Behandlung bringen. Noch sind Schmerzprogramme, die auf die Mentalität der Einwanderer abgestimmt sind, erst an wenigen Orten im Aufbau begriffen. Aber mit dem Erfolg der neuen Programme besteht die Chance, dass eine breite Verankerung einwanderergerechter Therapien in unserem Gesundheitswesen in absehbarer Zeit gelingen wird. - 18 - Literaturverzeichnis 7. Literaturverzeichnis Bigos et al, 1991, Linton Steven, A review of psychological risk factors in back pain and neck pain, Spine 2000 Mai 1;25: 1148-1156 Bünzli Thomas, Beitragende und prädisponierende Faktoren zur Entstehung von chronischen Schmerzen, Diplomarbeit Physiotherapieschule Triemli, 2001 Kavuk I./ Weimar C./ Kim BT./ Gueneyli G./ Araz M./ Klieser E./ Limmroth V./ Diener HC.& Katsarava Z. One-year prevalence and socio-cultural aspects of chronic headache in Turkish immigrants an German natives, Blackwell Publishing Ltd Cephalalgia 2006; 26 p.1177-1181 Kilcher A./ Spiess R. Die hausärztliche Betreuung von Migranten/-innen mit chronischem Schmerzsyndrom, Schweizerische Ärztezeitung 2003;84 Nr.10 p. 452-460 Kopp HG, Willi J, Klipstein A, im Graubereich zwischen Körper und Psyche und sozialen Schwierigkeiten. Teil 1: Neue Entwicklungen in der Diagnose und Therapie von somatoformen Störungen (am Beispiel von chronischen Schmerzpatienten). Schweiz. Med. Wochenschr 1997; 127: 1380-1390 Meyer Stephanie, Schmerzgedanken, Ein kognitiv-behavioraler Ansatz in der physiotherapeutischen Befundaufnahme, Diplomarbeit Physiotherapieschule Triemli, 2002 Stage-Budumlu Ö. Globalisierung in der Medizin Der Einbruch der Kulturen in das deutsche Gesundheitswesen, Praxisbericht eines Krankenhausarztes: Behandlung ausländischer Patienten im Krankenhaus, Springer Berlin Heidelberg, 2005, p. 17-25 Thali a, Chronifizierungsprozesse am Beispiel von Patienten mit Rückenschmerzen, Herausgeber: SUVA Rehaklinik Bellikon 1997 Wössmer B./ Sleptsova M. 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