Klinische Psychologie I WS 06/07 Veränderungen der Informationsaufnahme und -verarbeitung 16.01.2007 Prof. Dr. Renate de Jong-Meyer Das kognitive Modell psychischer Störung (nach Power & Dalgleish, 1997) Aus: H.-U. Wittchen & J. Hoyer (Hrsg.) (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie (p. 412). Heidelberg: Springer 1 Kernkomponenten kognitiver Therapieverfahren • Psychoedukative Komponente Vermittlung der Grundidee des kognitiv-therapeutischen Ansatzes • Explorative Komponente Herausarbeitung und Explikation bzw. Bewusstmachung dysfunktionaler oder irrationaler Gedanken, Schemata, Interpretationsund Bewertungsmuster, Einstellungen und Glaubenssysteme • Interventionskomponente Veränderungen maladaptiver kognitiver Prozesse und Strukturen Charakteristika der Beziehungsgestaltung und des Therapeutenverhaltens • Aufmerksamkeit und Interesse für die Welt des Patienten sowie Akzeptanz, ohne gleichzeitig dysfunktionale Einschätzungen und Bewertungen des Patienten zu übernehmen. • Kompetenzvermittlung und Transparenz in bezug auf Störungswissen und das Rationale einzelner Maßnahmen als Voraussetzung für die aktive Mitarbeit des Patienten, für die Generalisierung therapeutischer Inhalte und den Erwerb präventiver Bewältigungsfertigkeiten. • Wissenschaftlich-kritische Haltung auch gegenüber den eigenen Hypothesen. • Zielorientierte Therapiestrukturierung 2 Den Klienten vermitteltes Therapierationale • Gedanken bestimmen die erlebten Stimmungen und Gefühle mit. • Gedanken beeinflussen Entscheidungen, das Herangehen an und auch das Gelingen von Vorhaben. • Auch körperliche Vorgänge werden von Situations einschätzungen und Erwartungen, also von Gedanken, beeinflusst. • Einstellungen, Überzeugungen und Gedanken wurden von der Zeit des Heranwachsens bis in die aktuelle Zeit geformt durch die eigenen Lebensumstände und durch die Personen, mit denen man Kontakt hatte. Den Klienten vermitteltes Therapierationale • Die kognitive Therapie kann zunächst helfen, unvoreingenommen alle zugänglichen Informationen und Einflüsse zu betrachten. Das hat nichts mit positivem Denken zu tun. • Später kann es um mögliche Veränderungen der Gedanken in eine persönlich hilfreiche Richtung gehen, aber auch Ansatzpunkte zur Veränderung der Situation, des eigenen Verhaltens und des körperlichen Wohlbefindens werden berücksichtigt. • Aufgaben zwischen den Sitzungen sind wesentliche Bestandteile der Behandlung und nicht bloß zusätzliche Anregungen. 3 Logische Fehler (adaptiert aus Wilken, 1998) Maximieren und Minimieren Deutliche Über- oder Unterschätzung der Bedeutung oder Größe eines Ereignisses (das Ausbleiben eines erwarteten Briefes wird als höchst bedeutsam interpretiert, ein beträchtlicher beruflicher Erfolg als bedeutungslos). Personalisieren Überschätzen des Ausmaßes, in dem Ereignisse mit der eigenen Person zu tun haben, und/oder übermäßige Übernahme von Verantwortung. Dichotomes Denken; Denken in Schwarz-Weiß-Kategorien Zuordnung von Erfahrungen in zwei sich gegenseitig ausschließende Kategorien, ohne Abstufungen vorzunehmen. Logische Fehler (adaptiert aus Wilken, 1998) Willkürliches Schlussfolgern Folgerungen ohne Beweis oder sogar trotz gegenteiliger Erfahrungen (auf einen Misserfolg im Leistungsbereich wird „Ich bin ein Versager“ gefolgert, ohne dass überprüft wird, ob die Aufgabe überhaupt lösbar war bzw. ob in diesem Bereich Misserfolge besonders häufig waren). Selektives Verallgemeinern Tendenz, Einzelfakten aus dem Kontext zu nehmen und überzubewerten, wobei andere, bedeutsame Merkmale der Situation ignoriert werden (ein Klient denkt, als die Kollegen ihn an einem Tag nicht in die Kantine mitnehmen „Meine Kollegen mögen mich nicht“, obwohl in alle regelmäßig zu Geburtstagen einladen und an anderen Aktivitäten beteiligen.). Übergeneralisieren Folgerung auf der Grundlage eines oder mehrerer isoliert betrachteter Ergebnisse werden unhinterfragt auf andere Situationen übertragen. 4 Gedankenprotokoll (übersetzt und adaptiert aus Greenberger & Padesky, 1995) 1. Situation Wer? Was? Wann? Wo? 2. Gefühle/ Stimmungen 3. Automatische Bilder und Gedanken a) Was fühlten Sie? a) Was ging Ihnen gerade durch den Kopf, bevor Sie anfingen, sich so zu fühlen? b) Schätzen Sie die Stimmung auf einer Skala von 0-100% ein b) Kreisen sie den Gedanken ein, der Sie am meisten berührt (den „heißen“ Gedanken) 4. Erfahrungen, die dafür sprechen, dass der „heiße“ Gedanke zutrifft 5. Erfahrungen, die dafür sprechen, dass der „heiße“ Gedanke in der Situation nicht voll zutrifft, nur eine Möglichkeit unter anderen ist 6. Neue Gedanken oder Bilder, die hilfreich und gleichzeitig realisierbar sind 7. Stimmungsänderung Schätzen Sie ein, wie die Stimmung ist, wenn der neue Gedanke, das neue Bild gilt (0-100%) a) Schreiben Sie neue, realistische und ausgeglichene Gedanken auf Hilfsfragen zum Entdecken von Aspekten, die gegen die Gültigkeit des „heißen“ Gedankens sprechen oder dessen Gültigkeit einschränken • Was würden Sie zu einem guten Freund, einem Menschen, den Sie mögen, sagen, wenn der diesen Gedanken hätte? • Was würde ein guter Freund, einer der Sie mag, zu Ihnen sagen, wenn er von Ihrem Gedanken wüsste und selbst nicht vollständig von seiner Richtigkeit überzeugt wäre? • In einer anderen Gefühlslage, wenn es Ihnen zum Beispiel gut geht, Sie sich sicher fühlen: Wie denken Sie dann über diese Art von Situation? 5 Hilfsfragen zum Entdecken von Aspekten, die gegen die Gültigkeit des „heißen“ Gedankens sprechen oder dessen Gültigkeit einschränken • Gab es früher ähnliche Situationen? Wie waren die? Unterscheidet sich die gerade erlebte Situation von den früheren? Können Sie aus dem Ausgang der früheren Situation etwas für die Stimmigkeit Ihres Gedankens lernen? • Wenn Sie in fünf Jahren auf die gerade erlebte Situation zurückblicken, glauben Sie, dass Sie sie anders sehen? Stehen aus dieser Perspektive dann andere Aspekte der Situation im Mittelpunkt? • Welchen Einfluss haben Sie in der Bewertung der Situation für Dinge, auf die Sie gar keinen Einfluss haben? Indikationen von Fragen innerhalb kognitiver Therapien, typische Therapeuten-Hypothesen und mögliche sokratische Fragen Indikationsbereiche für Fragen Mögliche TherapeutenHypothese Mögliche sokratische Frage Aufzeigen von Verzerrungen in situationsbezogenen Gedanken/Bildern und auch situationsüber-greifenden Einstellungen Es liegt ein bestimmter logischer Fehler, eine idiosynkratische Sicht-weise Aus welchen Gründen könnte vor (z.B. Reak-tionen anderer x zu spät gekommen sein? unbedingt auf sich zu beziehen) Überprüfung der Bedeutung, die der Patient einem Ereignis beimisst Sie ist zu groß, zu weitreichend Was wäre, wenn Sie diese Prüfung nicht bestehen, der nächste Schritt? Was bliebe davon unberührt? Selektiv negativ oder bedrohlich gesehene Situationen/Ereignisse Einzelheiten, die eine abgewogene oder positive Betrachtung nahe legen, wurden übersehen Sprach der Vorgesetzte nur diesen einen Punkt und nur bei Ihnen an? Gab es in der letzten Zeit kleine Zeichen von Anerkennung im Betrieb? 6 Indikationen von Fragen innerhalb kognitiver Therapien, typische Therapeuten-Hypothesen und mögliche sokratische Fragen Indikationsbereiche für Fragen Mögliche TherapeutenHypothese Mögliche sokratische Frage Der Situationsausgang hing von verschiedenen Faktoren ab Welche Aspekte könnten generell bei Benotungen von Prüfungen eine Rolle spielen? Stabilitätsannahmen („immer“ Veränderungen sind möglich bzw. „nie“) Woran würden Sie erkennen, dass das nicht ganz zutrifft? Gab es Zeiten, in denen das nicht ganz zutraf? Selbsteinschätzungen auf der Diese Erfahrungen reichen Ebene überdauernder nicht aus, um „Wertlosigkeit“ Eigenschaften zu begründen Wann würden Sie jemand anderen als „wertlos“ bewerten? Verantwortungsüber-nahme für Situationsausgänge PETS-Technik: Prepare-Expose-Summarize (nach Wells, 1997) 1. Fokus auf Schlüsselkognition und Exploration der dafür vorliegenden Evidenz. 2. Identifizierung einer typischen Problemsituation sowie der aufrecht erhaltenden Bedingungen für die dysfunktionale Kognition (z.B. Vermeidungs- oder Sicherheitsverhalten, Flucht). 3. Vermittlung der grundlegenden Prinzipien des Verhaltensexperiments („Was ist das Ziel?“): Erläuterung der Bedeutung von Verhaltensgewohnheiten für die Aufrechterhaltung unangemessener Gedanken bzw. emotionaler Reaktionen. 4. Überprüfung der dysfunktionalen Kognition: Exposition mit der angstauslösenden Situation und Implementierung einer Gegenstrategie, die die Katastrophisierung widerlegt. 7 Strategien bei absoluten Forderungen und Grundannahmen • An Beispielen aus dem Erfahrungsraum des Patienten aufzeigen, dass das „Muss“ (z.B. „muss geliebt werden“) die emotionale Belastung vergrößert, den Verhaltensspielraum einschränkt und damit oft blockierende Wirkung hat, während eine präferentielle Sichtweise („Es wäre schön, wenn ich von möglichst vielen Menschen gemocht würde“) emotionale Belastung und Anspannung verringert, Zielfindungs- und Umsetzungspotential vergrößert und damit die Wahrscheinlichkeit der Zielerreichung erhöht. • Aufzeigen der Beschneidung positiven Erlebens durch „Muss“: Bei Muss und Erreichung „Das was das Notwendige“; bei „Es wäre schön…“ und Erreichung: „Sich freuen können“. • Unterscheidung zwischen „Wollen“ und „Müssen“ erarbeiten: „Wo ist quasi als Gesetz formuliert, dass Sie, andere Menschen, die Welt so sein muss/müssen?“ Strategien bei absoluten Forderungen und Grundannahmen • Verdeutlichung der Vermessenheit von Muss-Einstellungen und bei Doppelstandards auch der Vermessenheit, unbedingt etwas Besseres, Anderes sein zu wollen als „normale“ Menschen. • Infragestellen von Verknüpfungen wie „Nur wenn ich alles perfekt mache, werde ich gemocht“ • Einsicht in die eigene Entscheidungsfreiheit erhöhen • Handeln gegen die eigenen Kernannahmen • Hedonistisches Disputieren: „Einen hohen Preis wollen Sie dafür zahlen, von allen gemocht zu werden oder ein absolutes Maß an Sicherheit zu haben?“ 8 Strategien bei absoluten Forderungen und Grundannahmen • Infragestellen des Anspruchs an ein Leben ohne Schwierigkeiten • Erarbeiten der Einstellung, dass das, was in früheren Lebensphasen bedeutsam war, z.B. die Unterstützung der Eltern, im späteren Leben so nicht mehr zutrifft (Erwachsene können auch ohne Unterstützung der Eltern ein ausgeglichenes Leben führen) • Bearbeitung von Kognitionen auf der sekundären Ebene Angst vor der Angst, Depression über die Depression) Wirksamkeit kognitiv-behavioraler Verfahren Als „wissenschaftlich fundiert“ und anderen Verfahren überlegen gelten kognitiv-behaviorale Verfahren bei der Behandlung von • Depressionen • Angststörungen, PTSD • Zwangsstörungen • Bulimie und Binge Eating Disorder • Schmerzerkrankungen • Tabakentwöhnung Bei den folgenden Störungsbildern sind kognitiv-behaviorale Verfahren nicht eindeutig überlegen (Vergleichsverfahren in der Klammer): • Spezifische Phobien (Expositionsverfahren) • Anorexie (reine Verhaltenstherapie) 9 Literaturhinweise: de Jong-Meyer, R. (2000). Kognitive Verfahren nach Beck und Ellis. In J. Margraf (Hrsg.). Lehrbuch der Verhaltenstherapie (Bd. 1, S. 509-524). Berlin: Springer. Greenberger, D. & Padesky, C.A. (1995). Mind over Mood. New York: Guilford Publications. Wilken, B. (2003). Methoden der kognitiven Umstrukturierung. Stuttgart: Kohlhammer. H.-U. Wittchen & J. Hoyer (Hrsg.) (2006). Klinische Psychologie & Psychotherapie. Heidelberg: Springer Daraus Kap. 23: Kognitive Therapieverfahren 10