Kinderschutzzentrum Wien ______________________________________________________ Entwicklungsaufgaben und Erziehungskonflikte im Kindergartenalter als Anknüpfungspunkte für Prävention von Kindesmisshandlung Wenn Prävention von Kindesmisshandlung erfolgreich sein soll, dann muss sie anknüpfen an die Bedürfnisse von Eltern und Kindern in der Lebensphase, in der sie angeboten wird. In den letzten Jahren etablierte sich unter dem Begriff der „Frühen Hilfen“ eine Fokussierung auf die ersten drei Lebensjahre eines Kindes – einerseits weil sie als besonders sensibel gelten, weil hier mangelnde emotionale Wärme, Versorgung und Förderung oder gar Schädigungen durch Gewalt zu massiven Bindungs- und Entwicklungsstörungen führen. Abgesehen von der besonderen Bedeutung dieser Entwicklungsphase scheint es andererseits auch leichter, Eltern in diesem Zeitraum psychologische und pädagogische Unterstützung nahezubringen, weil sie rund um die Geburt ihres Kindes gegenüber Hilfsangeboten besonders aufgeschlossen sind: Sie besuchen Vorsorgeuntersuchungen, auch Väter gehen zu Vorbereitungskursen, es gibt enge Kontakte zu Gynäkologie und Geburtskliniken, schließlich Eltern-Kind-Pass-Untersuchungen – und sogar vom Jugendamt nimmt man Geschenkrucksäcke an. Die Idee ist, dass in dieser sensiblen Phase fast 99 % der Eltern erreichbar sind (Sann, 20111). Erfahrungsgemäß nimmt aber die Bereitschaft zur Kooperation nach einigen Jahren auch wieder ab. So gehen in Österreich von den anfänglich eifrigen Eltern nur noch 30 % zu den Kontrolluntersuchungen ihrer Kinder, wenn diese das 5. Lebensjahr erreicht haben. Heinz Hilgers hat in seiner Vorstellung des Dormagener Modells eindrücklich beschrieben, dass es möglich ist, die Institution der Kindertagesstätte („Kita“) als Unterstützungsmöglichkeit populär zu machen und neben seiner Kernfunktion der Kinderbetreuung und –förderung zu einem 1 Sann A (2011). Frühe Hilfen zwischen Förderung und Gefahrenabwehr - Zur Entwicklung eines neuen Praxisfeldes in Deutschland. In: http://kinderschutz-wien-at.maxmarx.com/images/pdf/jb2011_end_a4_096dpi.pdf Kommunikationszentrum umzuformen, in dem auch die Eltern angesprochen und angebunden werden, z. B. durch das Angebot von Erziehungsberatung im selben Haus. Die Eltern müssen dann in Konfliktsituationen und Momenten erzieherischer Unsicherheit keine Hürde zu einer fremden Beratungsstelle überwinden – sie können nach dem Bringen oder vor dem Holen des Kindes im vertrauten Umfeld niederschwellig bei PsychologInnen direkt Unterstützung finden. Tatsächlich sind ja für den Altersbereich ab 3 Jahren zahlreiche neue Konflikte zwischen Eltern und Kindern absehbar, die Eltern an ihre erzieherischen Grenzen führen und neue Herausforderungen für das Elternpaar darstellen. Eltern, die mit einem Säugling noch problemlos und sehr einfühlsam umgehen konnten, erleben mit den neuen Entwicklungsschritten des Kindes möglicherweise bislang unbekannte Emotionen und Reaktionen an sich. Zum Eltern-Sein gehört substantiell die Notwendigkeit, sich immer wieder an neue Phasen der kindlichen Entwicklung anpassen zu können. Gute Elternschaft erfordert daher Variabilität und die Bereitschaft, sich gemeinsam mit dem Kind weiterzuentwickeln. Elterliche Verhaltensweisen, die in der einen Phase sinnvoll und angemessen gewesen waren, können ein paar Jahre später die Entwicklung des Kindes stören oder hemmen. Elternsein heißt lebenslange Veränderung und Selbstreflexion. Die kann nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, sondern es ist eine Verpflichtung des Staates zur Sicherung des gesunden Heranwachsens von Kindern und Jugendlichen deren Eltern in solchen Phasen zu unterstützen, bei denen absehbar ist, dass solche Neujustierungen von Erziehungsstil und -methoden erforderlich sein wird. Das Alter ab 2 Jahren bietet eine Vielzahl an Entwicklungen des Kindes, die Eltern vor neue Herausforderungen stellen: Die viel zitierte sog. „Trotzphase" und die sog. „Sauberkeitserziehung" werden hinlänglich zu den eher anstrengenderen und wenig attraktiven Agenden der kindlichen Erziehung gezählt. In dieser Entwicklungsphase werden die sich entwickelnde Autonomie und die Selbstbestimmung über den Körper und dessen Ausscheidungen zu einem zentralen Thema. Es geht um Triangulierung, erste Impulse von Ablösung - und damit einher gehend - um zunehmende Aggressivität. Diese Entwicklungen werden von Eltern oft als Zurückweisung erlebt: das Kind verweigert sich, lehnt auch körperliche Nähe zeitweise ab und zeigt bereits ein gewisses Geschick in Manipulation und Starrsinn. Die damit einhergehenden alltäglichen Konflikte werden für einige Eltern, zu einem „Kampf“, in dem sie das Gefühl entwickeln, sich um jeden Preis „durchsetzen“ zu müssen – ein Kampf um Selbstbehauptung. Es ist wahrscheinlich, dass gerade Eltern mit einer diesbezüglichen persönlichen Unsicherheit hier an ihre Grenzen kommen. Bender & Lösel (2000) haben betont, dass „das Misshandlungsrisiko … gerade dann erhöht sein (dürfte), wenn Kinder mit schwierigem Temperament auf überlastete, impulsive und wenig kompetente Eltern treffen“ (S. 329). Ein erhöhtes Risiko bestehe bei Eltern mit geringen finanziellen Ressourcen, die „weniger Kenntnis von kindlichen Entwicklungsnormen“ haben. Und wenn Misshandlungen stattfinden, führt dies dazu, „dass misshandelnde Familien sozial isolierter sind, kleinere Netzwerke haben und weniger Kontakt zu ihren Verwandten und sich insgesamt weniger unterstützt fühlen“ (S. 331)2. Man kann im gegenständlichen Alter davon ausgehen, dass die Kinder mit ihrem „temperamentvoll“ werdenden Verhalten also gerade bei wenig gefestigten Eltern von Gewalt bedroht sind. Besonders bedrohlich kann es mit Eltern werden, die zwanghaft und rigide sind, einen autoritären Charakter haben – aber auch bei solchen, die narzisstisch bedürftig und davon abhängig sind, dass sie von ihrem Kind geliebt werden, Körperkontakt und Zuwendung erhalten. Die klinische Erfahrung lehrt uns, dass in dieser Phase vor allem Alleinerziehende an ihre Grenzen stoßen. Es fehlt in den Situationen, bei denen es zu Eskalationen kommt, der helfende Dritte. Jemand der „dazwischen gehen" kann, der die Streitenden ablenken, beruhigen, versöhnen könnte, der das „lästige“ Kind mal „übernimmt“ - ein Filter, ein Katalysator der Entspannung. In einzelnen Fällen ist der nähe-bedürftige Säugling aber für einen alleinstehenden Elternteil bereits jemand, der die fehlende Zuwendung eines Partners substituiert hat. Nun, wo er entfernungs-bedürftig wird, wird der emotionale Mangel des Elternteils virulent. In diesem Kontext ist auch relevant, dass es gerade in diesem Lebensalter der Kinder vermehrt zu Trennungen und Scheidungen von Eltern kommt. Viele Paare trennen sich im 3. Lebensjahr des Kindes. Auch hier ist durch diese Veränderungen der Lebenssituation eine Erhöhung des Stress-Levels der Eltern anzunehmen. Diese kurzen Hinweise sollen in diesem Rahmen hinreichen, um zu demonstrieren, dass im Kindergartenalter besondere Konflikte zwischen Eltern und Kindern zu erwarten sind. 2 Bender D & Lösel F (2000). Misshandlung von Kindern: Risikofaktoren und Schutzfaktoren. In G Deegener & W Körner (Hg). Kindesmisshandlung und Vernachlässigung: ein Handbuch. Göttingen: Hogrefe, S 317-346. Zit. n. Deegener G (2012). Kindesmisshandlungen: Formen, Häufigkeiten, Ursachen und Folgen. In: Praxis der Rechtspsychologie, 22 (2), S 349-369. Der Eintritt in Kinderkrippe oder Kindergarten stellt aber auch eine neue soziale Erfahrung dar: Einerseits treten Kinder in diesem Altern oft erstmalig ohne ihre Eltern in Erscheinung. Konnten familiäre Probleme bis dahin in der Isolation des privaten Haushaltes versteckt werden, so gelangen sie nun womöglich an die Öffentlichkeit. Dies ist spätestens mit dem in Österreich inzwischen verpflichtenden Kindergartenbesuch ein Jahr vor dem Schuleintritt der Fall. An die Öffentlichkeit kommt z. B. das äußere Erscheinungsbild des Kindes, bei dem sich hygienische oder gesundheitliche Probleme zeigen. Es zeigt sich – z. B. im Zustand der Zähne und Körperpflege – ob Fehlentwicklungen und Erkrankungen angemessen versorgt werden oder nicht. Die kognitive und sprachliche Förderung wird offensichtlich, natürlich fallen auch körperliche Verletzungen auf und Verhaltensweisen wie Ängste, Selbstregulationsprobleme, „Hyperaktivität“ u. ä. Die Sprachentwicklung des Kindes ist in der Hochblüte – das Kind kann Außenstehenden seine Erfahrungen verbal mitteilen. Befinden des Kindes muss nicht - wie beim Säugling - durch Beobachtung erschlossen werden, sondern – man kann das Kind fragen! Die Kinder berichten über ihren Alltag zuhause. Eltern, die ihre womöglich gewalttätigen Erziehungsmethoden unter dem Siegel „My home is my castle" verbergen und konservieren konnten, müssen nun feststellen, dass sich das nicht mehr aufrechterhalten lässt. Beachtlich ist allerdings, wie wenig von dieser Möglichkeit des vertraulichen Gesprächs mit dem Kind tatsächlich Gebrauch gemacht wird, wenn z. B. Kindergartenpädagoginnen einen Verdacht auf Misshandlung in der Familie haben. Hier gilt es, das Kindergartenpersonal praxisorientiert in Gesprächsführung so zu schulen, dass sie mit Kindern und auch mit Eltern über ihre Wahrnehmungen zu reden wagen. Auch die Eltern werden oft zum ersten Mal in der Öffentlichkeit „sichtbar“: Die Verlässlichkeit der Eltern wird in der Regelmäßigkeit der Besuche und der Pünktlichkeit des Abholens deutlich. Für psychologisch Geschulte zeigt sich schließlich in der Eltern-Kind-Interaktion eine ganze Menge: im Trennungsverhalten, beim Abholen etc. sollte deutlich werden, ob das Kind eine sichere Bindung entwickelt hat. Die Feinfühligkeit der Eltern und natürlich auch die Fähigkeit der Eltern, auf die alterstypischen Phänomene der Ablehnung, Verweigerung und des Widerstandes des Kindes einzugehen, werden sichtbar. Der Kindergarteneintritt führt also insgesamt zum Öffentlichwerden des familiären Systems. Dieses Öffentlichwerden bewirkt bei den Eltern auch einen erhöhten Vergleichsdruck: Wird mein Kind mit den anderen „mithalten“ können? Kann es schon, was die anderen können? Wird es Freunde finden und sich in der Gruppe durchsetzen können? Werden die Kindergartenpädagoginnen es so fördern wie ich? Oder lasse ich es in einer neuen Situation alleine, und es fühlt sich verlassen? – Hier werden also Ängste aktiviert, aber auch Schuldgefühle. Schließlich muss man Kontrolle abgeben und Vertrauen entwickeln – zu anderen Personen wie den Kindergartenpädagoginnen – aber vor allem an das Kind selbst. Wir denken, dass gerade diese mit der Öffentlichwerdung der Familie verbundenen Sorgen Eltern für Unterstützungsangebote empfänglich machen. Es macht daher Sinn, über das Konzept der „Frühen Hilfe", die ja klassischerweise mit 3 Jahren endet, hinaus Überlegungen zur Prävention von Gewalt gegen Kinder in diesem Lebensabschnitt anzustellen. Wir erwarten aufgrund unserer theoretischen Überlegungen in diesem, Lebensalter Überforderungserleben bei (vor allem alleinerziehenden oder emotional bedürftigen oder zwänglichen, autoritären) Eltern aufgrund der Autonomiebestrebungen des Kindes Ein in dieser Konstellation auftauchendes elterliches Bedürfnis zur „Selbstbehauptung" Damit die Erhöhung der Wahrscheinlichkeit von körperlichen Misshandlungen oder inadäquaten restriktiven Erziehungsmaßnahmen Die derzeit populäre Erziehungsliteratur ist dabei teilweise durchaus geeignet, diese Tendenz restriktiver, vielleicht gewaltsamer Selbstbehauptung zu fördern. Die von der Historikerin Miriam Gebhardt (20093) beschriebene „Angst vor dem kindlichen Tyrannen", die die Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert durchzieht, wird auch neuerdings wieder geschürt. Psychiater wie Michael Winterhoff zeichnen mehr und mehr das Bild von Kindern und Jugendlichen, die sich nichts mehr sagen lassen und die Eltern zu dominieren drohen. Sie fordern frühzeitige „Wehrhaftigkeit" der Eltern und müssen sich so den Vorwurf gefallen lassen, den von uns befürchteten Entwicklungen das Wort zu reden. Lassen sich diese Annahmen erhöhter elterlicher Gewaltanwendung im Kindergartenalter auch durch Prävalenz-Zahlen validieren? Interessanterweise differenzieren die meisten Studien, die sich mit dem Erleben von Gewalt in der Kindheit beschäftigt haben, nicht nach dem Alter des Kindes. Gehen die meisten Autoren von einem Häufigkeitsgipfel körperlicher Misshandlungen zwischen 3. Lebensmonat 3 Gebhardt M (2009). Die Angst vor dem kindlichen Tyrannen. Eine Geschichte der Erziehung im 20. Jahrhundert. München: DVA und 3. Lebensjahr, also dem klassischen „Frühe-Hilfen“-Alter aus, gibt es andere, die die Wahrscheinlichkeit körperlicher Gewalt eben gerade in den Entwicklungsphasen ausmachen, bei denen Kinder Autonomieschübe erleben – also im 3. Lebensjahr und dann wieder ab 12, in der beginnenden Pubertät (z. B. Wolfner & Gelles, 1993, zit. n. Bender & Lösel, 20044). In der Praxis des Kinderschutzzentrum Wien zeigt die Statistik des Jahres 2012, dass ca 25 % der an uns herangetragenen Fälle Kinder zwischen 2 und 6 Jahren betreffen5. Bezüglich unserer These wäre also weitere wissenschaftliche Forschung notwendig, um diese durch Prävalenzzahlen zu überprüfen. Unstrittig scheint uns allerdings, dass die Anpassung des elterlichen Verhaltens an die neuen Autonomiestrebungen des Kindes für alle Eltern eine große Herausforderung darstellen – und dass es zur Prävention von Gewalt, aber auch zur Prävention anderer entwicklungshemmender Verhaltensweisen von Eltern Sinn macht, Eltern in diesem Entwicklungsalter niederschwellige, am Kindergartensystem angesiedelte Unterstützung anzubieten. C 4 Wolfner GD & Gelles RJ (1993). A profile of violence toward children: A national study. Child Abuse and Neglect, 17, S 197-212; Bender D & Lösel F (2005). Risikofaktoren, Schutzfaktoren und Resilienz bei Misshandlung und Vernachlässigung. In: UT Egle, SO Hoffmann & P Joraschky (Hg). Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung – Erkennung, Therapie und Prävention der Folgen früher Stresserfahrungen. Stuttgart: Schattauer, S 85-104. 5 Zum Vergleich: 3 % betreffen Kinder unter 2 Jahren, 23 % 7-10 Jährige, 28 % 11-14-Jährige und 19 % Über-14-Jährige.