1.6 Formfaktoren des Nukleons Analog zur Streuung an Kernen kann man durch elastische Streuung von Elektronen an Nukleonen ebenfalls deren innere Struktur untersuchen, wenn man die Energie der Elektronen auf einige GeV erhöht. Der bisherige Formalismus muss hierfür allerdings etwas verfeinert werden. Zunächst ist zu beachten, dass die Strahlenergie nun von der Größenordnung der Ruheenergie des Streuzentrums (Nukleon) ist. Deshalb kann der Energieübertrag auf das Streuzentrum nicht mehr vernachlässigt werden. Dies führt (ohne Herleitung) zu einem zusätzlichen Faktor E‘/E im Mott-Querschnitt: ∗ E' ⎛ dσ ⎞ ⎛ dσ ⎞ =⎜ ⎜ ⎟ ⎟ ⋅ d Ω d Ω ⎝ ⎠Mott ⎝ ⎠Mott E Da nun auch Energie übertragen werden kann ist es außerdem sinnvoll, den Dreierimpulsübertrag auf den Viererimpulsübertrag Qγ zu erweitern, der durch das virtuelle Photon übertragen wird: r r ' Qγ2 = (Pe − Pe )2 = 2 me2 c 2 − 2(EE ' / c 2 − p p ' cosθ ) 4 EE ' θ ≈ − 2 sin2 c 2 Um mit positiven Größen zu arbeiten, definiert man Q 2 = −Qγ2 In der Mott-Streuung haben wir die Streuung eines Elektrons mit Spin an einem Streuzentrum ohne Spin betrachtet. Im nächsten Schritt wollen wir auch noch berücksichtigen, dass das Streuzentrum, z.B. das Nukleon, ebenfalls Spin trägt. Ein geladenes Teilchen mit Spin ½ besitzt ein magnetisches Moment μ, das für punktförmige Teilchen mit Masse M gegeben ist durch μ =g⋅ e h ⋅ 2M 2 Der Faktor g lässt sich aus der relativistischen Quantendynamik herleiten und beträgt (ungefähr) 2 für punktförmige Spin ½ Teilchen (z.B. Elektron, Myon). Bei der Berechnung des Mott-Querschnitts wurde nur die elektrische WW der Elektronen mit der Ladung des Projektils betrachtet. Nun muss aber auch die magnetische WW des Elektron(stroms) mit dem magnetischen Moment des Projektils berücksichtigt werden. Für punktförmige Spin ½ Teilchen (g=2) ergibt sich dann der Dirac-Querschnitt (ohne Herleitung): ⎛ dσ ⎞ ⎛ dσ ⎞ =⎜ ⎜ ⎟ ⎟ Punkt d d Ω Ω ⎝ ⎠Spin1 / 2 ⎝ ⎠Mott θ⎤ ⎡ ⋅ ⎢1 + 2τ tan2 ⎥ 2⎦ ⎣ mit Q2 τ= 4M 2 c 2 Der zweite Term beschreibt die magnetische Wechselwirkung. Dieser Beitrag steigt mit Q2 an und bewirkt daher ein weniger starkes Abfallen des Wirkungsquerschnitts mit Q2 als im rein elektrischen Fall. Messungen der magnetischen Momente von Protonen und Neutronen zeigen allerdings, dass diese nicht mit g=2 verträglich sind. Sie weisen vielmehr auf anomale magnetische Momente hin: μp = gp μN = +2,79 ⋅ μN 2 g μn = n μN = −1,91 ⋅ μN 2 Dabei ist μN das Kernmagneton: μN = eh = 3,1525 ⋅10 −14 MeV T -1 2M p Dies ist bemerkenswert, insbesondere das Neutron als elektrisch neutrales Teilchen sollte verschwindendes magnetisches Moment aufweisen. Dies weist bereits darauf hin, dass Protonen und Neutronen nicht punktförmig sind, sondern eine innere Struktur besitzen. Ähnlich wie bei Kernen kann die innere Struktur aus Messung von Formfaktoren gewonnen werden. Allerdings treten nun zwei Formfaktoren GE und GM auf, die jeweils den elektrischen und den magnetischen Anteil beschreiben. Genauer gesagt, der elektrische Formfaktor beschreibt die Verteilung der elektrischen Ladungen (Æ Quelle der elektrischen Felder) während der magnetische Formfaktor die Verteilung der Ströme (Æ Quelle des magnetischen Momentes) enthält. Dies fasst man in der so genannten Rosenbluth-Gleichung zusammen: ⎛ dσ ⎞ ⎛ dσ ⎞ ⎟ ⎜ ⎟ =⎜ ⎝ dΩ ⎠ exp ⎝ dΩ ⎠Mott ⎡GE2 (Q 2 ) + τGM2 (Q 2 ) θ⎤ ⋅⎢ + 2τ ⋅ GM2 (Q 2 ) tan2 ⎥ 1 +τ 2⎦ ⎣ Im Grenzfall GE(Q2) = GM(Q2) = 1, also punktförmige Teilchen, ergibt sich natürlich gerade wieder der Dirac-Querschnitt. Die experimentelle Bestimmung der Formfaktoren erfolgt durch Messung des elastischen differentiellen Wirkungsquerschnitts als Funktion von θ/2, aber bei festem Q2. Letzteres kann man durch Variation der Strahlenergie erreichen, denn bei fester Strahlenergie gehört zu einem gegebenem Q2 im elastischen Fall natürlich nur genau ein Streuwinkel. Teilt man den gemessenen Wirkungsquerschnitt durch den Mott-Querschnitt, so erhält man das Rosenbluth-Diagramm: Gemäß der Rosenbluth-Formel kann man nun den elektrischen und den magnetischen Formfaktor separieren: Zunächst wird GM aus der Steigung bestimmt. Damit erhält man dann auch GE aus dem Achsenabschnitt. Wiederholt man diese Prozedur bei verschiedenen Q2, so erhält man schließlich die gewünschte Q2- Abhängigkeit der Formfaktoren. Q2 = 2,5 GeV2/c2 Der elektrische Formfaktor des Neutrons GEn ist sehr klein, weil das Neutron nach außen hin elektrisch neutral ist. Die übrigen Formfaktoren zeigen ein universelles Verhalten, wenn sie geeignet skaliert werden. Insbesondere weisen sie eine Dipol-Form auf: GMp (Q 2 ) GMn G (Q ) = = = G Dipol (Q 2 ) 2,79 − 1.91 p E 2 Die Anpassung der Daten ergibt: G Dipol ⎛ ⎞ Q2 ⎟ (Q ) = ⎜⎜1 + 2 ⎟ ⎝ (0.84 GeV/c) ⎠ −2 1 (1 + Q /(0.84 GeV/c)2 )2 2 2 Die Daten für Neutronen erhält man übrigens durch Streuung an einem Deuteriumtarget und anschließender Subtraktion des Protonanteils. Für verschwindende Q2 sind die skalierten Formfaktoren verträglich mit eins, der Wirkungsquerschnitt also gleich dem Mott-Querschnitt, wie zu erwarten war. Wie sind diese Beobachtungen zu interpretieren? Aus der Tatsache, dass die Formfaktoren nicht bei allen Q2 gleich eins sind, folgt, dass Nukleonen keine punktförmigen Gebilde sind. Vielmehr haben die Formfaktoren eine Dipol-Form, was der Fouriertransformierten einer exponentiellen Ladungsdichteverteilung des Protons entspricht. Auch das Neutron, das zwar nach außen elektrisch neutral ist, hat ein magnetisches Moment, das durch interne Ströme von geladenen Konstituenten hervorgerufen wird. Eine numerische Auswertung der gemessenen Dipolverteilung der Formfaktoren ergibt für die Dichteverteilung: ρ (r ) = ρ (0 ) exp(−ar ) mit a = 4.72 fm-1 Man erhält daraus mittleren Ladungsradius des Protons: r2 p = 0.862 fm 2 Tiefinelastische Streuung – Die Partonstruktur des Nukleons Bei der elastischen Elektronstreuung an Nukleonen haben wir gefunden, dass es sich nicht um punktförmige Gebilde handelt, sondern um ausgedehnte Verteilungen von elektrischen Ladungen und magnetischen Momenten. Diese Ladungen und Ströme werden von elektrisch geladenen Konstituenten der Nukleonen, den Quarks, getragen. Im folgenden wollen wir versuchen, aus Streuexperimenten mehr über die Eigenschaften der Quarks in Nukleonen zu lernen. 2.1 Quasielastische Streuung Dazu betrachten wir zunächst nochmal die Streuung an Kernen. In der Abbildung ist der differentielle Wirkungsquerschnitt für die Streuung von 400 MeV Elektronen an He-Kernen bei festem Streuwinkel (θ = 45°) als Funktion der Energie E‘ des gestreuten Elektrons gezeigt. Für den Fall der elastischen Streuung ist die Energie E‘ des gestreuten Energie unter diesen Bedingungen festgelegt: E E ' (el .) = ≈ 385 MeV 2 1 + E / MHec (1 − cos θ ) E = 400 MeV θ = 45° Tatsächlich beobachtet man bei dieser Streuenergie eine ausgeprägte Linie, die den elastischen Streuprozessen am He-Kern entspricht. Man erkennt aber, dass auch Ereignisse bei E‘ < E‘(el.) registriert werden. Gemäß unserer Definition handelt es sich dabei um inelastische Streuprozesse. Vergleicht man die Daten mit der Erwartung für elastische Streuung am einzelnen Nukleon (E‘e-p= ~355 MeV, gestrichelter Peak), so findet man, dass die Verteilung ihr Maximum bei etwas kleinerer Energie hat und erheblich verbreitert ist. Wir deuten das so: Es handelt es sich um elastische Streuprozesse an einzelnen Nukleonen des He-Kerns. Man beobachtet allerdings keine scharfe Linie, da es sich nicht um freie, sondern gebundene Nukleonen handelt. Diese haben einen erheblichen Fermiimpuls, der dazu führt, dass das Schwerpunktsystem des Streuprozesses stark variiert. Die scharfe Linie, die man für elastische Streuung bei wohldefiniertem Schwerpunktsystem erwartet, wird daher erheblich verschmiert. Die leichte Verschiebung rührt daher, dass Energie zum Auslösen des Nukleons aus dem Kernverband (ca. 10 MeV) benötigt wird. Man spricht hier auch von quasielastischer Streuung. Dennoch ist dies ein ermutigendes Ergebnis: bei geeigneter Elektronenenergie können die im Kern gebundenen Nukleonen als dessen Konstituenten beobachtet werden. Lässt sich diese Überlegung auch auf die Quarks als Konstituenten des Nukleons übertragen? Dabei ist zunächst zu beachten, dass auch die Quarks im Nukleon einen erheblichen Fermiimpuls tragen (200-300 MeV/c). Hier besteht allerdings ein erheblicher quantitativer Unterschied zum Fermiimpuls der Nukleonen im Kern: Während der Fermiimpuls der Nukleonen quadratisch klein ist im Vergleich zur Ruhemasse und damit zur Gesamtenergie des Nukleons, sind sie im Falle der Quarks von der gleichen Größenordnung. Es ist daher nicht zu erwarten, dass die Quarks durch einen ausgeprägten elastischen Peak im Spektrum der Streuenergie E‘ zu erkennen sind. 2.2 Nukleonresonanzen Wie aber sieht das Spektrum der Streuenergie bei Streuung von Elektronen an freien Nukleonen eigentlich aus? e - Proton Auch hier erkennt man neben dem elastischen Peak (in der Abbildung unterdrückt) weitere Ereignisse bei kleineren E‘, also inelastische Ereignisse. Bemerkenswert ist die Struktur des Spektrums, das mehrere ausgeprägte Minima und Maxima aufweist. Bei diesen inelastischen Prozessen wird ein Teil der kinetischen Energie zur Anregung von so genannten Nukleon-Resonanzen verwendet, z.B. Δ(1232), N(1450), Δ(1688),…, wobei die Zahlen in Klammern die Masse der Resonanz in MeV/c2 angibt. Die Reaktionsgleichung für diesen Prozess sieht so aus: Δ - Resonanz Pe' e- P' Qγ e + p → e + Δ → e + p +π e- r Pp = (Mc,0 ) Pe Proton Interessant ist die „Breite“ Γ der Resonanzstrukturen, die etwa 100 MeV beträgt. Diese Energieunschärfe der angeregten Nukleonresonanz hängt unmittelbar mit seiner Lebensdauer zusammen, also der Zeit, innerhalb der Zustand wieder zerfällt. Sie lässt sich mit Hilfe der Unschärferelation abschätzen: τ≈ h 197 MeV fm/c = ≈ 1 − 2 fm/c ≈ 5 ⋅ 10 -24 s Γ 120 MeV Dies ist die typische Zeitskala für Prozesse der starken WW, beim Zerfall einer Nukleonresonanz handelt es sich also um einen starken Zerfall.