Thema: Neurologie, Neurochirurgie & Psychiatrie 21.09.2016 | Hamburger Abendblatt Medienquelle: Print Seitenstart: 22 Auflage: 211.560 Anzahl der Zeichen: 7768 Autor: NATASCHA PLANKERMANN Wenn das Ich sich auflöst 1,2 Millionen Deutsche leiden an Alzheimer. Ein früher Therapiebeginn kann die Symptome zumindest lindern NATASCHA PLANKERMANN HAMBURG:: Diese Krankheit macht Angst, weil sich das Gedächtnis nach und nach verabschiedet. Doch im Gegensatz zu den Denkfunktionen bleibt das "GefühlsIch" bei Alzheimerpatienten lange erhalten, sagen Experten. Zum Welt-Alzheimertag am heutigen Mittwoch hegen sie Hoffnung auf neuartige Medikamente und Therapien. Ab welchem Alter kann man an der Alzheimer-Demenz erkranken? Rund 1,2 Millionen Deutsche leiden laut der Alzheimer Forschung Initiative an der Gehirnerkrankung. "Rund 80 Prozent bekommen diese Erkrankung als Folge des Alters ab etwa 65, etwa 20 Prozent auch in jüngeren Jahren - ein geringer Prozentsatz, nur etwa ein Prozent, infolge einer genetischen Vorbestimmung schon ab etwa 30", sagt Professor Jens Wiltfang, Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsklinik Göttingen und Koordinator der Klinischen Forschung am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) am Standort Göttingen. Was sind typische Symptome? "Die Menschen sind zunächst ratlos und fragen sich, was mit ihnen passiert. Sie fühlen sich von den Ereignissen um sie herum überrollt", sagt Gerontopsychiater Privatdozent Dr. Jens Benninghoff, Chefarzt und Direktor der Klinik für Allgemein- und Gerontopsychiatrie am Kreiskrankenhaus Gummersbach nahe Köln. Den Titel des Kinofilms "Honig im Kopf" mit Dieter Hallervorden findet Professor Wiltfang in diesem Zusammenhang passend: Es sind Veränderungen, die sich wie zähe Tropfen einschleichen. Man kommt beim Mensch-ärgereDich-nicht-Spielen nicht mehr mit, hat Schwierigkeiten, das Zifferblatt einer Uhr nachzuzeichnen oder weiß das richtige Wort für Schlüssel nicht mehr. "Merkfähigkeitsstörungen und Gedächtnisprobleme können allerdings auch Anzeichen für eine gut behandelbare Depression sein", beruhigt Psychiatrieprofessor Wiltfang. "Nur jeder Zweite, der im kognitiven Bereich beeinträchtigt ist, entwickelt tatsächlich eine Demenz, und davon ist wiederum nur jede zweite eine Alzheimererkrankung." Deshalb sollte man sich nicht unnötig in Ängste hineinsteigern, wenn Gedächtnisstörungen auftreten, sondern sich an eine spezialisierte Ambulanz wegen einer Diagnose wenden, rät Chefarzt Jens Benninghoff, der auch Präsident der MAGDA (Multiprofessionelle Arbeitsgruppe Demenzambulanzen) ist, einem Zusammenschluss von in Demenzambulanzen tätigen Kliniken. Wie wird Alzheimer diagnostiziert? "Am Anfang steht ein ausgiebiges Gespräch, also eine Anamnese, am besten gemeinsam mit dem Lebenspartner oder den Kindern", erklärt Gerontopsychiater Benninghoff. Der Grund: "Die ältere Generation hat gelernt, sich vor Fremden gut darzustellen. Daher ist es besser, wenn die Patienten von Angehörigen ermuntert werden, ihre Erinnerungsschwierigkeiten nicht zu verschweigen", sagt Professor Wiltfang. Die Experten wünschen sich, dass Hausärzte mit Gedächtnisambulanzen zusammenarbeiten. Denn häufig fallen die Anzeichen der Alzheimerkrankheit den Allgemeinmedizinern als Erstes auf. Sie können die Patienten nach einfachen Suchtests für vertiefte Untersuchungen an die Ambulanzen überweisen und übernehmen meist später auch wieder die Versorgung im Alltag. "Es ist wichtig, dass die Zusammenarbeit in der Anfangsphase startet, solange die Menschen noch selbst wichtige Entscheidungen treffen können - in dieser Zeit lässt sich die Entwicklung der Krankheit auch gut eine Zeit lang einfrieren", erläutert Benninghoff. Sind sich Experten unsicher, ob sie es mit Alzheimer zu tun haben, können sie sich mit bildgebenden Verfahren oder Untersuchungen des Nervenwassers Gewissheit ver-8- schaffen. Professor Ralf Gold, Direktor der Universitätsklinik für Neurologie im St. Josef-Hospital Bochum, ergänzt: "Darüber hinaus sind in den letzten Jahren PET-Untersuchungen mit Nachweis von Amyloid im Gehirn mittels kurz radioaktiver Bindungspartner entwickelt worden, die allerdings sehr aufwendig sind. Wichtig ist eine Labordiagnostik zum Ausschluss anderer Ursachen wie Schilddrüsenfehlfunktion, Lebererkrankungen, Vitaminmangel, chronische Infektionen des Nervensystems ." Welche Therapien gibt es heute? Das kommt auf die Diagnose an. "Wir stellen oft eine sogenannte Mischdemenz fest, das heißt, es gibt zusätzlich gefäßbedingte Faktoren, gegen die der Patient bei Vorliegen von Risikofaktoren selbst etwas unternehmen kann", erklärt Professor Wiltfang. Das bedeutet: den Blutdruck gut einstellen, sich mehr bewegen, abnehmen und mit dem Rauchen aufhören. Der Speiseplan sollte auf mediterrane Kost umgestellt werden. "Lesen, tanzen und singen kann schützend wirken und die Symptome lindern", sagt Chefarzt Benninghoff. Beide Experten sind sich darin einig, dass der Musik eine Schlüsselrolle zukommt: "Sie erreicht die Menschen über eine Art Einflugschneise in ihrem 'Gefühls-Ich', auch wenn das 'kognitive Ich' sich schon Stück für Stück verabschiedet hat", beschreibt Jens Wiltfang den Vorgang. Jens Benninghoff findet im Hinblick auf die medikamentöse Behandlung weitere Bilder: "Wir können die Ausprägung der Demenz nur verlangsamen, nicht aufhalten. So als würde man sich mit Sandsäcken gegen ein Hochwasser stemmen. Aber das kann Angehörigen sehr helfen, weil viele Alzheimerpatienten dann für ihre Angehörigen besser erreichbar bleiben." Zurzeit gibt es noch keine Medikamente, die das Absterben von Nervenzellen ausbremsen. Es stehen aber Medikamente zur Verfügung, die die Symptome der Alzheimerdemenz abschwächen können. Benninghoff: "Auch Gedächtnisam- Thema: Neurologie, Neurochirurgie & Psychiatrie bulanzen können diese Medikamente verordnen und so das Budget der Hausärzte entlasten." Wo steht die Forschung? Für die Alzheimertherapie der Zukunft gibt es laut Psychiatrieprofessor Jens Wiltfang zwei wichtige Ansatzpunkte: Enzyme hemmen, die zu den typischen Eiweißablagerun- gen (Amyloid-Plaques) der Erkrankung führen, und das Immunsystem gegen giftige Stoffwechselprodukte stärken, wobei dann im Gehirn Antikörper gegen die anfangs noch löslichen Giftstoffe zur Verfügung stehen. Wiltfang: "So könnte verhindert werden, dass diese Giftstoffe die Nervenzellen schädigen." Aktuelle Veröffentlichungen in re- nommierten Fachzeitschriften wie "Nature" zu möglicherweise geeigneten Wirkstoffen wie Solanezumab (US-Pharmakonzern Eli Lilly) oder Aducanumab (US-Biotechfirma Biogen) geben Anlass zu vorsichtigem Optimismus. Wiltfang: "Diese Wirkstoffe müssen in den kommenden Jahren erweisen, was es für die Gedächtnisleistung bringt, wenn sie früh eingesetzt werden." Die Gehirnerkrankung Alzheimer geht mit dem schleichenden Verlust der Persönlichkeit einher Forschungsteams arbeiten an Gegenmittel Infos Alois Alzheimer (1864 - 1915) beschrieb die nach ihm benannte Krankheit erstmals im Jahre 1906. Im Gehirn von Alzheimerkranken werden typische Eiweißablagerungen (AmyloidPlaques) festgestellt. "Diese Eiweiße lagern sich im Gehirn ab, was das normale Funktionie- ren der Nervenzellen und ihrer Verbindungen (den Synapsen) im Gehirn verhindert und letztlich im Absterben von Nervenzellen gipfelt", sagt Prof. Frank Heppner, Direktor des Instituts für Neuropathologie an der Charité Berlin. Heppner leitet eine Arbeitsgruppe zum Thema Alzheimer an der Charité. grundlagenwissenschaftlichen Forschungsarbeiten daran beteiligt, das Wissen um diese Eiweiße hinsichtlich der Entstehung und der Effekte auf die Nervenzellen zu vertiefen. Gleichzeitig sind Neuropathologen Teil von Forschungsteams, die Ansätze zum Abbau der krankhaften Eiweiße erforschen, wie dies auch im Rahmen klinischer Studien z. B. bei der Alzheimerimpfung erfolgt. Forschung Heppner und seine Kollegen sind im Rahmen von klinischen sowie Copyright 2016 PMG Presse-Monitor Deutschland GmbH und Co. KG -9-