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Die Romantik
6. Interpretation zu Eichendorffs Gedicht „Sehnsucht“
Joseph von Eichendorff:
Sehnsucht
Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leibe entbrennte,
Da hab ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!
Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in die Waldesnacht.
Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein
In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wann der Lauten Klang erwacht
Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sommernacht.
(v 1834)
Gäbe es eine bestimmte, umfassende Grundformel für das romantische Lebensgefühl, so
könnte sie nur 'Sehnsucht' heißen: Sehnsucht nach der Liebe, Fernweh und Heimweh,
Sehnsucht nach der ewigen Heimat. Zur Sehnsucht gehört immer die Unerfüllbarkeit der
Wünsche im Hier und Jetzt. Sehnsucht ist darum mit Wehmut verbunden und hat oft auch
einen religiösen Aspekt..
Der einsame Betrachter am Fenster in Eichendorffs "Sehnsucht" lauscht dem Lied der
Wanderburschen, in welchen sie von ihrem eigenen oder wiederum nur gehörten
Reiseerlebnissen berichten. (Das Fenster-Motiv ist sehr beliebt in der Romantik.) Das Gedicht
gliedert sich von daher in zwei Teile: das Gedicht des lyrischen Ich (Z.1-12) und darin
eingelagert das Lied der Gesellen (Z.13-24) Das Gedicht ist genau in der Mitte gegliedert und
weist eine Kreisstruktur auf. Eichendorff wiederholt die Schlusszeile der 1. Strophe im
Schluss der letzten Strophe: hier wie dort gilt die "prächtige Sommernacht" als Chiffre der
Verlockung. Die erste Sommernacht findet sich in der Erlebnissphäre des Gedichts, während
die andere zur besungenen Welt gehört. In ihrer Funktion aber fallen sie zusammen, denn die
Erwartungen des lyrischen Ichs und der Mädchen weisen denselben Gefühlsinhalt auf:
Sehnsucht. Die Strophe 1 beginnt mit dem Ich am Fenster, den Tönen des Posthorns
lauschend, am Himmel die leuchtenden Sterne; in der Schlussstrophe stehen die Mädchen am
Fenster, den Lautenklängen lauschend, am Himmel das Leuchten des Mondes. Das lyrische
Ich befindet sich in einer prächtigen Sommernacht, als Sehnsuchtsziel besungen wird
wiederum eine prächtige Sommernacht. Die Sehnsuchtsstimmung des Anfangs mündet nach
der fiktiven Reise in die Sehnsuchtsstimmung am Schluss: Sehnsucht kennt keine Erfüllung.
Sie ist immer Sehnsucht nach dem Gefühl der Sehnsucht selbst.
Durch den Fensterblick erschließt sich dem lyrischen Ich räumliche Weite: im Sternenhimmel
die Höhe, durch den Klang des Posthorns die horizontale Ferne. Es sind optische und vor
allem akustische Phänomene, aus denen Eichendorff den Raum aufbaut. Es ist ein 'poetischer
Raum', wobei Eichendorff das Verb 'singen' mit dem Richtungsadverb 'entlang' verbindet,
Stille und Klang kontrastiert.
Die Klangelemente verweisen auf ein anderes zentrales Prinzip der romantischen Lyrik: die
Musikalisierung. Es bezieht sich einmal auf die rhythmisch-klangliche Textstruktur, zum
anderen darauf, dass hier das Musikalische selbst zum Thema des Gedichts wird. Es ist die
Musik, die Gefühlsbewegungen auslöst. Und die fiktive Reise selbst ist als 'Reiselied'
inszeniert. So erklingt im Gedicht genau genommen ein Lied. In diesem 'Binnenlied' ertönen
selbst wiederum allerlei Klänge. Vor allem der von den Mädchen erwartete "Lauten Klang"
stellt den Eindruck einer nochmaligen Potenzierung des Musikalischen her: das von den
Gesellen gesungene Lied singt seinerseits von Lautenmusik.
Im metrischen Grundmodell der dreihebigen Verse wechseln daktylische und jambische
Einheiten (vgl. 1. Und 2. Zeile).
Das Inventar der 3. Strophe: Marmorstatuen, Gärten, Paläste, Brunnen, Lautenmusik: alles
weist nach Italien. Damit reiht sich das Lied in eine Tradition ein, die mit Goethes
"Mignon-Lied" („Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?“) einsetzt. Mit Italien ist in der
Romantik kein reales Italien gemeint - Eichendorff hat Italien nie gesehen -, sondern ein Land
der Sehnsucht und der Poesie. Italien ist eine Allegorie der Sehnsucht, die sich auf ein Land,
eine Gesellschaft richtet, in dem die Kunst, die Poesie mit der Natur (Gärten, Mondschein)
verschwistert ein beglückendes Dasein führt.
Eichendorff hat den Traum des lyrischen Ich ("wer da mitreisen könnte") in das Lied der
Gesellen transportiert und ihn drin fiktiv in Erfüllung gehen lassen.
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