Hessischer Rundfunk Hörfunk – Bildungsprogramm Redaktion: Regina Oehler WISSENSWERT Pflanzen sind Klonkünstler Von Utz Thimm Sendung: 22.11.2005, 8:30 bis 8:45 Uhr, hr2 05-156 COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.B. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. Klonpflanzen 1 Da hat man einen Osterstrauß mit Weidenzweigen bekommen, und die Zweige setzen noch in der Vase neue Wurzeln an. Würde man sie in den Boden stecken, dann entstünde ein neuer Weidenbaum. Oder Usambara-Veilchen: Man braucht nur ein Blatt abzureißen und mit dem Stängel in den Boden zu stecken. Mit ein bisschen Glück wächst wieder ein neues Usambara-Veilchen heran. Pflanzen müssen nicht auf Sex zurückgreifen, um sich zu vermehren, sagt Dr. Stefan Schneckenburger. Er leitet den Botanischen Garten der Technischen Universität Darmstadt. O-Ton 1, Dr. Stefan Schneckenburger, 33”: “Das ist also eine alte gärtnerische Praktik, dass man Pflanzen teilen kann. Das kann sein, dass das relativ schmerzlos ist durch Ausläufer, dass man bei der Erdbeere einen kleinen Ausläufer abknapst und dann wieder einpflanzt. Das kann aber auch eine relativ brutale Geschichte sein, dass ich einen Iris-Stock nehme – das ist ja ein Wurzelstock – und die entsprechend auseinander schneide oder auseinander breche, dass ich also die Trennung vom Mutterstock mit Gewalt mache.” Auch ohne Zutun eines Gärtners bilden Pflanzen häufig genetisch identische Kopien von sich selbst, sie sind wahre Klonkünstler. Bei wilden Kirschen zum Beispiel wachsen auch noch in großem Abstand zum Mutterbaum neue Triebe aus dem Boden. An den Kirschbaumwurzeln haben sich nämlich Seitenwurzeln in Triebe umgewandelt. Daraus können komplette Bäume entstehen, die zwar noch unterirdisch mit der Mutter zusammenhängen, wird aber der Mutterbaum gefällt, leben sie auch selbstständig weiter. Und selbst wenn man alle Kirschbäume in einem Garten fällt, wird man sich noch jahrelang damit herumärgern müssen, dass immer wieder Triebe aus dem Boden schießen. Vegetative Vermehrung heißt dieses Verhalten der Pflanzen. Mitunter reichen kleine Stücke von der Wurzel aus – so genannte Rhizome, wie sie der Botaniker nennt –, um Gärtner zur Verzweiflung zu treiben. Die Quecke etwa gehört zu den Gräsern und ist, einmal etabliert, aus dem Garten nicht mehr zu entfernen. O-Ton 2, Dr. Stefan Schneckenburger , 35”: “Die vegetative Vermehrung, die wird oft da bevorzugt, wo es darum geht, einen einmal eroberten Standort zu sichern und zu halten. Wenn man also an bestimmte Gräser denkt, wie die Quecke, die man ja auch nicht mehr los wird, weil kleinste, unterirdisch kriechende Rhizomstücke wieder austreiben können und – wie gesagt – den einmal eroberten Standort, nämlich den Garten einfach weiter besetzen. Klonpflanzen 2 Auch wenn der Keimling, der irgendwann mal in der Luft angekommen ist, schon längst wieder verschwunden ist.” Manche Pflanzenarten, die der Mensch in Kultur genommen hat, können sich gar nicht mehr anders als vegetativ vermehren. Wilde Bananen zum Beispiel enthalten noch große Samen, aus denen man neue Bananenpflanzen ziehen könnte. Bei den Kulturbananen dagegen, so wie wir sie im Supermarkt kaufen, da sind die ehemaligen Samen zu den kleinen schwarzen Pünktchen im Bananenfleisch geschrumpft. Man wird vergeblich versuchen, aus diesen schwarzen Pünktchen eine neue Bananenpflanze zu ziehen. O-Ton 3, Dr. Stefan Schneckenburger, 17”: “Dieses Phänomen haben wir ja auch bei Mandarinen: kernlose Mandarinen, kernlose Trauben, kernlose Apfelsinen. Das sind ja alles Zuchtformen, die der Mensch hergestellt hat, um gewisse genussmindernde Dinge wegzudrücken, wie zum Beispiel die Samen in der Mandarine.” Um solche Pflanzen zu vermehren, greifen Landwirte auch gerne zum Pfropfen. Sie schneiden etwa von dem Baum mit den kernlosen Mandarinen einen Zweig ab und verbinden ihn mit dem Stamm eines anderen Baumes, auf dem er anwächst und sich zur Baumkrone ausbildet. So lassen sich auch neue Obstsorten vermehren. Die Apfelsorte “Braeburn” zum Beispiel wurde zufällig 1952 in Neuseeland entdeckt, wahrscheinlich eine Mutation aus einer anderen Sorte namens “Lady Hamilton”. So eine Mutation kann dann durch Pfropfen bewahrt und so erfolgreich weiterverbreitet werden, dass heute Braeburn-Äpfel in jedem Supermarkt zu haben sind. Professor Max-Bernhard Schröder leitet das Fachgebiet Botanik an der Forschungsanstalt Geisenheim. O-Ton 4, Prof. Max-Bernhard Schröder, 21”: “Es gibt also eine ganze Reihe von Sorten, die wirklich Mutationen darstellen. Und wenn man die jetzt normal abblühen lässt und die Samen erntet und über die Samen vermehrt, dann hat nur ein ganz kleiner Anteil dieser Nachkommen diese Eigenschaften, diese Sorteneigenschaften. Der Rest wird alle möglichen, unerwünschten Eigenschaften in sich tragen. Und die einzige Möglichkeit ist dann die vegetative Vermehrung. ” Klonpflanzen 3 Der Pfropftechnik verdanken wir auch, dass wir überhaupt noch Wein trinken. 1863 wurde an Rebstöcken im Rhône-Tal die Reblaus entdeckt, die aus Nordamerika eingeschleppt worden war. Die Reblaus ernährt sich in ihrem gefährlichsten Stadium von den Wurzeln der Weinrebe – die Blätter fallen ab und die Trauben vertrocknen. Die europäischen Weinstöcke waren der Reblaus schutzlos ausgeliefert. Bereits Ende der 1870er-Jahre waren Madeira, der größte Teil Spaniens, Burgund, Deutschland, Österreich und Ungarn mit der Reblaus verseucht – der europäische Weinbau stand vor dem Ruin. O-Ton 5, Prof. Max-Bernhard Schröder, 50”: “Die Krise, die die Reblaus in den Weinbau gebracht hat, ist dadurch gelöst worden, dass man das Propfen der Reben eingeführt hat. Das Problem bestand darin, dass die Wurzeln der damaligen Ertragssorten sehr anfällig gegen die Reblaus waren, weil sie sich nicht zusammen mit der Reblaus in der Evolution entwickelt haben. Die Reblaus kommt ja aus Nordamerika. Und der Ausweg war zunächst mal Unterlagen zu verwenden, die auch aus Nordamerika kommen, die sich nämlich parallel zur Reblaus dort entwickelt haben und eigene, natürliche Abwehrmechanismen entwickelt haben. Und das ist bis heute so: Wir haben zwar eigene Unterlagssorten, aber in denen stecken amerikanische Eltern in irgendeiner Form drinnen, die diese Reblaustoleranz bis hin zur Resistenz mitgebracht haben.” Natürlich wurden die amerikanischen Rebstöcke, die als Unterlagen dienten, vegetativ vermehrt. Vor allem wurden aber all die berühmten europäischen Weinsorten, die auf diese Unterlagen aufgepfropft wurden, durch das Pfropfen ebenfalls vegetativ vermehrt – und damit für die Nachwelt gerettet, erzählt Max-Bernhard Schröder. O-Ton 6, Prof. Max-Bernhard Schröder , 23”: “Das ist im Weinbau ohnehin klassisch. Der Wein wird ja seit Jahrtausenden, kann man sagen, vegetativ vermehrt. Das ist also nichts Außergewöhnliches. Unsere Weinsorten sind eigentlich Klone, und neue Sorten entstehen gelegentlich dadurch, dass Mutationen in solchen Klonen auftreten, die man dann wieder kloniert und erhält, vegetativ vermehrt.” Klonpflanzen 4 Das Klonen von Pflanzen hat also in der Landwirtschaft eine lange Tradition. Im Labor ist diese Technik inzwischen aber noch erheblich weiter getrieben worden. Orchideen zum Beispiel galten früher als ausgesprochen kostbare Pflanzen. Heute kann man sie preiswert im Blumenladen kaufen. Das hängt mit zwei Fortschritten zusammen. Zunächst hat man gelernt, dass die Orchideensamen einen Pilz benötigen, um auszukeimen. Und dann ist es im Labor gelungen, aus einigen wenigen Zellen wieder komplette Pflanzen zu regenerieren. O-Ton 7, Dr. Stefan Schneckenburger, 43”: “Man nennt das Meristemkultur. Jede Pflanze hat irgendwo teilungsaktive Wachstumsgewebe. Diese Wachstumsgewebe nennt man Meristeme, zum Beispiel an der Sprossspitze oder in den Augen, also in den Seitenknospen. Und bei verschiedenen Orchideen kann man nun die Seitenknospen chirurgisch entfernen, entsprechend zerteilen, quälen, mit Wachstumshormonen behandeln und auf einem geeigneten Nährboden – da ist sehr viel Erfahrung, Kunst und auch ein bisschen Alchemie unter Umständen dabei – kultivieren und erzeuge dann aus sehr kleinen Einheiten – ob das jetzt Einzelzellen sind oder kleine Zellgruppen sind – letztendlich wieder neue Pflanzen.” Laborarbeit ist teuer. Aber für Orchideen werden Preise bezahlt, bei denen es sich lohnt, die Pflanzen im Labor zu vervielfältigen. Stefan Schneckenburger ist Orchideenfachmann, und er erzählt, dass besonders schöne Exemplare, die auf Orchideenschauen prämiert worden sind, inzwischen routinemäßig im Labor kopiert werden. O-Ton 8, Dr. Stefan Schneckenburger, 27”: “Diese Medaillen und diese Auszeichnungen von solchen Klonen, die sind für den Züchter schon in gewisser Weise Geld wert, weil er angeben kann: Die Pflanze, die ich hier anbiete, die hat bei der American Orchid Society eine Goldmedaille bekommen, eine besondere Trophäe gekriegt, und ich biete dir genau dasselbe genetisch an. Ob nun der Kultivateur das auch so hinbekommt, das ist die zweite Frage.” Ein anderes Beispiel ist die Flamingoblume, eine beliebte Zimmerpflanze. Sie hat eigentlich große, grüne Blätter, einige dieser Blätter sind allerdings rot eingefärbt, so dass sie wie besonders große Blüten wirken. Auch die Flamingoblume ist nur deshalb so preiswert, weil sie im Labor vervielfältigt wird. Klonpflanzen 5 O-Ton 9, Prof. Max-Bernhard Schröder, 39”: “Dort wurde vor zwanzig Jahren ein Verfahren entwickelt, wo man die Blätter dieser Flamingoblume sterilisiert, zerschneidet und dann in so eine künstliche Umgebung bringt. Und an diesen Blattwunden entsteht dann ein Wundgewebe. Und in diesem Wundgewebe kommt es auch unter geeigneten hormonellen Bedingungen zur Neubildung kleiner Pflänzchen. Die kann man dann auch wieder im Reagenzglas weitervermehren. Und der Effekt dieser ganzen Geschichte sieht so aus, dass, wenn man ein Blatt so einer Flamingoblume zerschneidet, man nach einem Jahr bis zu einer Million erbgleicher Pflanzen aus diesem System erzeugen kann.” Diese Pflanzen lassen sich nur deshalb so bereitwillig im Labor vermehren, weil sie die Voraussetzungen dafür von Natur aus schon mitbringen. So verwundert es schon nicht mehr, dass es auch draußen in der Natur Pflanzen gibt, die sich fast nur noch vegetativ vermehren, Schilfrohr etwa. O-Ton 10, Dr. Stefan Schneckenburger, 14”: “Das sind ja auch riesige Klone. Und man hat durch Berechnung der Wachstumsgeschwindigkeit und der Fläche ausgerechnet, dass die Schilfklone im Donaudelta vielleicht achttausend Jahre alt sind.” Vor achttausend Jahren hat sich also im Donaudelta eine Schilfrohrpflanze angesiedelt und seitdem sind immer wieder genetisch identische Kopien von ihr entstanden, ohne dass dieser Prozess einmal durch einen sexuellen Vorgang unterbrochen worden wäre. Mit der Zeit können sich die Klone über riesige Flächen ausdehnen. In Nordamerika hat man einen Klon von Pappeln gefunden, der sich über 43 Hektar ausgebreitet hatte, das entspricht einem großen Golfplatz. Wenn aber die Vermehrung durch Klonen so erfolgreich ist, warum gibt es dann überhaupt noch Sexualität bei Pflanzen? Wozu bilden sie noch Blüten, wozu bilden sie Samen und Früchte? Stefan Schneckenburger vom Botanischen Garten in Darmstadt argumentiert, dass nur mit Hilfe der Sexualität Pflanzen große Entfernungen überwinden können. O-Ton 11, Dr. Stefan Schneckenburger , 37”: “Kartoffel ist vielleicht ein gutes Beispiel: Man hat auf der einen Seite die Samen, die Früchte mit ihren Samen, die also eine Fernausbreitung ermöglichen über Vögel zum Beispiel, die die Früchte schlucken, die Samen wieder ausscheiden. Die Knolle sorgt dafür, dass die Kartoffel den einmal als besiedelbar erprobten Standort auch behält, kommt zu einer Vermehrung, aber allerdings nur bis zu einem bestimmten Klonpflanzen 6 Grad, weil wenn zu viele Knollen im Boden sind, dann wachsen die einzelnen Kartoffeln natürlich auch nicht mehr gut. Aber eine Ausbreitung ist bei der Kartoffel eigentlich nur über die Samen möglich, über die Früchte möglich.” Und noch einen weiteren Vorteil hat die sexuelle Vermehrung: Sexualität durchmischt das Erbgut, führt zu immer neuen Eigenschaften. Davon profitiert zum Beispiel die Pflanze, wenn sie sich mit Krankheitserregern auseinandersetzen muss. Wenn alle Pflanzen in einem Bestand genetisch einheitlich sind, dann können sie auch leicht alle einem Krankheitserreger zum Opfer fallen, meint Max-Bernhard Schröder von der Forschungsanstalt Geisenheim. O-Ton 12, Prof. Max-Bernhard Schröder, 28”: “Es gab auch mal Überlegungen, nebenbei bemerkt, in unseren Wäldern Klone einzusetzen, die bestimmte Resistenzen gegen Erreger haben, die also auch unsere Wildbäume befallen. Und da haben sich die Forstgenetiker dagegen entschieden, weil genau das das Problem wäre: Diese Einheitlichkeit ist sehr riskant. Die sind in der Tat sehr anfällig dann gegen mögliche andere Erreger, die sich auf diesen Klon spezialisieren. Und der beste Schutz in der freien Natur ist immer noch eine sehr hohe genetische Vielfalt.” Doch nicht einmal die Vorteile einer hohen genetischen Vielfalt scheinen manchen Pflanzen auszureichen, um die Mühen der Sexualität in Kauf zu nehmen. Und das Problem mit der Ausbreitung über große Entfernungen haben sie auf eine ganz eigene Weise gelöst: Sie sind so klein geworden wie die Samen von anderen Pflanzen. O-Ton 13, Dr. Stefan Schneckenburger, 27”: “Wasserlinsen, die also Teiche besiedeln – Entengrütze. Da ist es nun wirklich so, dass die Verbreitungseinheit tatsächlich die Wasserlinse ist, die im Gefieder von Wasservögeln oder an den Füßen von Wasservögeln von einem Tümpel zum nächsten geschleppt wird. Die Pflanze hat sich so eingerichtet, dass die nun aufgrund der leichten Transportierbarkeit ihrer einzelnen Sprossgliedchen auf eine Samen- und Fruchtbildung anscheinend ganz verzichten kann.” Pflanzen sind wahre Klonkünstler, sie beweisen, dass Sexualität nicht der einzige Weg zur Vermehrung ist.