I. 3. Sumpf Der Hauptfeind des Professors scheint das (katholische) Konzil von Trient zu sein. Das war irgendwann im 16. Jahrhundert! Er zitiert Luther, Augustin, Aristoteles, Anaximander, Domitius Ulpianus, wieder Luther . . . Modernere Theologen kommen auch mal zu Wort - wenn sie was Passendes zu den alten Fragen geäußert haben. Die brennenden aktuellen Themen tauchen nicht auf. Die letzten 200 Jahre Theologie- Geschichte kommen in Jüngels Buch nicht vor. Zumindest kann Laie L sie nicht entdecken. Nur an einer Stelle sieht er sie zwischen den Zeilen grinsen; S. 115f: "In der christlichen Existenz kommen Unglaube und Aberglaube . . . zu ihrer schlimmsten Steigerung . . . Es ist der Aberglaube derer, die Geist und Buchstaben verwechseln, die die Erkenntnis der lebendigen Wahrheit in das Rezitieren toter Richtigkeiten verfälschen und Gottes Wort mit dem menschlichen Wort der Heiligen Schrift, der Bekenntnisse und der dogmatischen Tradition unmittelbar identifizieren . . . Es ist der Aberglaube, in dem die Häresie die Gestalt steriler Orthodoxie annimmt und sich der Einsicht verweigert, daß die Erkenntnis der Wahrheit immer wieder mit dem Anfang anfangen muß." Ist das die Theologie das 20. Jahrhunderts? Es ist viel Wahres dran, aber bei genauerem Hinsehen . . . Wer sich der Einsicht verweigert, daß die Erkenntnis der Wahrheit immer wieder mit dem Anfang anfangen muß, ist ein Häretiker? Ein Irrlehrer, ein Ketzer oder am allerschlimmsten ein steriler Orthodoxer. In gewöhnlichem Kirchen-Deutsch heißt das heute wohl: ein Fundamentalist. Wer die Bibel beim Wort nimmt, ist ein böser Mensch ? ? ? * * Man kann Gottes Wort nicht "unmittelbar identifizieren" mit "dem menschlichen Wort der Heiligen Schrift". Womit aber ist Gottes Wort dann "unmittelbar zu identifizieren"? Wer ist die Autorität, die entscheidet, was ist Gottes Wort und was nicht? Was ist das Mittel, das aus der Bibel Gottes Wort macht? Oder besser: wer ist der Mittler, der das menschliche Wort der Heiligen Schrift in göttliches Wort umwandelt? Das sind wohl die Fragen, an denen sich Theologie (und Kirche) heute entscheidet. Das sie überhaupt gestellt werden müssen, treibt einem lutherischen Lutheraner den Angstschweiß auf die Stirn. "Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen". Das ist Reformation! Das ist evangelische Kirche! "Das Wort sie sollen lassen stahn"! Welches Wort "sie sollen lassen stahn"? Durch wessen Wort wird Gott für uns zur festen Burg, zu "guten Wehr und Waffen"? Welches Wort ist Grundlage unseres Glaubens und Fundament unserer Kirche? Was ist Quelle und Maßstab aller Theologie? Wo ist denn Jüngels "Anfang"? Und was ist dieser "Anfang", mit dem die Erkenntnis der Wahrheit immer wieder anfangen muß? Die Bibel ist es also nicht! Die ist menschliches Wort und entsprechend unzuverlässig? Die Bekenntnisse sind es ebenfalls nicht. Die sind auch Menschenwerk und nur 'mittelbar zu identifizieren'. Ebenso die dogmatische Tradition. Was aber bleibt dann noch? Vielleicht die Predigt? Muß man Gottes Wort "unmittelbar identifizieren" mit dem, was sonntags in Kirchen geredet wird? Nach dem Motto: "Die Predigt ist das Heilsgeschehen" (Bultmann)? Dazu nur eine Bitte: Liebe Theologen, solche Theorien eignen sich vielleicht als Gesellschaftsspiel in geschlossenen (Fach-)Theologen- Zirkeln; zur Not auch noch als Beschäftigungstherapie für Studenten; aber bitte, bitte, laßt sie nicht nach draußen, an die Ohren aufmerksamer Predigthörer dringen ! ! ! Es ist reine Höflichkeit, wenn L hier das Thema wechselt! D. h. eine kurze Anmerkung doch: L ist versucht, einige Anekdoten aus Predigten oder dem Leben von Pfarrern zum Besten zu geben. Er verzichtet darauf, weil der geneigte (und wohl auch der nicht geneigte) Leser selbst genügend davon kennen dürfte. Alle Menschen sind Sünder, machen Fehler, erweisen sich als unzuverlässig. Sollten sie auf der Kanzel plötzlich glaub-würdig und vertrauens-wert reden? Und gewissermaßen 'ex cathedra' Lebensgrund legende Wahrheit verkünden'? Nur weil sie studiert haben und einen schwarzen Talar tragen? Da ist der eine unfehlbare Papst wohl doch ein weit kleineres Übel als Tausende von solchen unfehlbaren Pfarrern? Dann fallen einem Laien noch fachtheologische Werke ein. Findet sich Gottes Wort in Kommentaren, Auslegungen, Fachbüchern . . . ? Die von früher fallen heraus, denn die sind 'dogmatische Tradition'. Und die zählt nicht. Bleiben also nur die allerneuesten und aktuellsten Produkte. Muß man Gottes Wort "unmittelbar identifizieren" mit den Aussagen heutiger Theologie-Professoren? Wo der ein 'Hü' sagt, der andere 'Hot' und der nächste 'Hottehü' . . . Je nachdem, welche philosophische Mode der einzelne gerade 'chic' findet. L ist hilflos und findet keine Antwort? Obwohl der Gedanke ist eigentlich recht reizvoll. Das würde bedeuten: Die Heilige Schrift ist "menschliches Wort", und das Werk von Professor Jüngel wäre 'unmittelbar göttliches Wort'. Unglaublich, was das - im Blick auf seine Person und die seiner Kollegen - für Konsequenzen hätte . . . Genug davon. Welches Wort 'sie sollen lassen stahn'? Was ist das: Wort Gottes ? ? ? * * "Herr, dein Wort die edle Gabe, diesen Schatz erhalte mir; denn ich zieh es aller habe und dem größten Reichtum für. Wenn dein Wort nicht mehr soll gelten, worauf soll der Glaube ruhn? . . ." So steht es im Evangelischen Gesangbuch unter Nr. 198. Brave Christenmenschen sollen dieses Lied gelegentlich singen. Es wäre nett, wenn die akademische Theologie diese Frage auch einmal klar und deutlich beantworten würde: "Worauf soll der Glaube ruhn?" Gibt es etwas, auf das ich mich 100prozentig verlassen kann? Etwas, worauf ich meinen Glauben zuverlässig stützen kann? Das mir auch in schweren Zeiten sicheren Halt gibt? Etwas, das für mich (und meine Kirche) verbindlich gilt? Gibt es irgendwo in dieser wankenden Welt 'einen festen Punkt' für mein Leben . . . ? Das sind die Fragen, die den 'modernen Menschen' bewegen. Mit deren Beantwortung unsere Kirche steht und ohne die sie fällt! L hört diese Antwort in der heutigen Theologie nicht. Auch Jüngel versucht sie erst gar nicht . . . (Mehr dazu in den Kapiteln II.1., II.2., und II.7.) "Immer wieder mit dem Anfang anfangen . . ." Das ist eine Aussage ganz nach L's Geschmack: großartig, ergreifend, intellektuell anstrengend - und absolut nichtssagend. Oder doch nicht? Ist hier der Punkt den Conzelmann meint? Daß Theologen in der kirchlichen Öffentlichkeit manches laut sagen und anderes nur leise denken? Tut Theologie genau das, was in der kirchlichen Praxis immer mehr in Mode kommt: Wenn der Glaube nicht mehr zeitgemäß ist oder gar unbequem, dann wird er halt umfrisiert? Man beginnt einfach an einem anderen Anfang und zwar solange, bis die 'Wahrheit' genau so aussieht, wie man sie gerne haben möchte? Hier kann L sich sogar hinter prominenten Theologen verstecken. Albert Schweitzer und seine "Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" liegen zwar schon einige Jährchen zurück. Das darin aufgedeckte Grundproblem scheint sich jedoch allerbester Gesundheit zu erfreuen: Die Ergebnisse 'wissenschaftlicher theologischer Arbeit' sehen am Ende oft genau so aus, wie es der 'Wissenschaftler' am Anfang gewünscht hat. Es ist nur ein unbestimmter Eindruck. L kann ihn nicht völlig belegen. Aber er hat das Gefühl, der theologische Traditionsverein bewegt sich auf wankendem Boden. Unter ihm ist tiefer, trügerischer Sumpf . . . * * Es mag kurios klingen: L steht in vielen Punkten eigentlich voll hinter dem Professor! Rechtfertigung ist sicher tatsächlich d a s Zentrum des christlichen Glaubens und wohl d i e entscheidende Frage für jeden Menschen. Es ist dringendst zu wünschen, daß hier Klarheit herrscht und die Grundlagen der Reformation lebendig bleiben. Was nützt die romantischste ökumenische Abendmahlsfeier, wenn keiner weiß, was da eigentlich gefeiert wird . . . ? Und dennoch, was nützen Belehrungen über höhere Reformations- Mathematik, wenn man vielerorts nicht mehr bis drei zählen kann? Das Christliche am christlichen Abendland kämpft ums nackte Überleben. Den Kirchen geht's kaum besser. Sie siechen dahin, müde, ohne Ausstrahlung, ohne Botschaft, ohne Kraft. Theologie hängt in der Luft; wirft mehr Fragen auf als sie Antworten gibt. Die Fundamente versinken; die Mauern wanken; das Dach droht einzustürzen - ist es wirklich die Zeit, den Altar zu restaurieren (oder gar das Luther-Denkmal)? Braucht es tatsächlich Tröpfchen von goldener Schminke? Oder brauchen wir theologischen Beton; und Steine? Große, schwere, feste Steine um die Fundamente zu stützen . . . ? Die Gemeinde steht vor unzähligen großen, fast unlösbaren, Aufgaben. Sie wartet auf Antworten - klare, eindeutige, glaub-würdige Antworten. Aber genau die liefert Jüngels Buch nicht! Im Gegenteil, er drückt sich um die entscheidenden Punkte. Er argumentiert in einem künstlichen, theologisch keimfreien Raum. All die Irrungen, Wirrungen und Verwerfungen der heutigen Theologie blendet er einfach aus. Deshalb empfindet L sein Buch als daneben. Neben den brennenden theologischen Problemen unserer Zeit.