„Best-practice“-Modellen in den LVR

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Pädagogisch und therapeutisch orientierte Speisenversorgung in den LVR-Kliniken
Auftrag
Mit Beschluss des Gesundheitsausschusses vom 11.04.2008 (12/285) und Beschluss des
Landschaftsausschuss vom 23.04.2008 (12/3222) wurde die Verwaltung beauftragt, ein
pädagogisch und therapeutisch fundiertes Konzept zur Speisenversorgung der Patientinnen
und Patienten in den LVR-Kliniken vorzustellen. Dabei sollten bestehende Überlegungen in
den Kliniken und „best-practice-Modelle“ berücksichtigt werden.
Therapeutische Zielstellungen der Speisenversorgung
Psychische Erkrankungen führen oft zu Rückzug der Patientinnen und Patienten in ihre
eigene innere Welt, zu einer Isolation, zum Verlust von Weltbezug, zur Vernachlässigung
des eigenen Körpers, der eigenen Gesundheit und der Ernährung. Grundlegende
alltagspraktische Fertigkeiten, die zu einer selbständigen Lebensführung notwendig sind,
gehen in diesem Zusammenhang vorübergehend oft verloren oder wurden auch, bei einem
frühen Beginn der Erkrankung, gar nicht erst voll entwickelt.
Während einer psychiatrischen Behandlung sind daher aus pädagogisch-therapeutischer
Sicht neben der selbstverständlichen Versorgung mit einer physiologisch ausgewogenen
Ernährung diese Aspekte besonders zu berücksichtigen. Die Konzepte zur
Speisenversorgung orientieren sich daher an den folgenden therapeutischen Zielstellungen:
 zur Selbstpflege befähigen,
 Kontakt und Kommunikation fördern,
 Alltagsstrukturen aufbauen und konstruktive Gewohnheiten stärken,
 Essenszubereitung, Mahlzeiten und Nahrungsaufnahme als krankheitsspezifische
Konfliktfelder erkennen und berücksichtigen.
Zur Selbstpflege befähigen
Im Sinne der Zielrichtung des Empowerment, der Salutogenese, der aktivierenden
Behandlung und Pflege („tun mit statt tun für“), geht es während einer psychiatrischen
Behandlung nicht nur um die Darreichung einer physiologisch ausgewogenen
Nahrungsmenge und den Ausgleich einer möglichen Mangel- oder Fehlernährung, sondern
es gilt vielmehr den gesamten Bereich der Nahrungszubereitung und der Mahlzeiten so
zu gestalten, dass die Patientinnen und Patienten zur Selbstpflege befähigt werden,
dass die Achtsamkeit im Umgang mit sich selbst und der Umgebung gefördert wird und dass
die Selbstwirksamkeitserwartung der Patientinnen und Patienten gestärkt wird.
Kontakt und Kommunikation fördern
Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Förderung von Kontakt und Beziehung der
Patientinnen und Patienten bei dem Ausmaß des Rückzugs und der Art und Schwere der
psychischen Erkrankung oft nicht nur ausschließlich in Gesprächsgruppen oder
themenzentrierten Gruppen (Vollversammlung, Gesprächsgruppe, Psychoedukationsgruppen u. ä.) und damit im „Reden über“, sondern im praktischen Handeln und konkreten
Tun geschehen muss: Den Tischnachbarn um den Zucker oder die Milch für den Kaffee zu
bitten oder andersherum ihm aufmerksam aber still und schweigsam den Brotkorb anreichen
zu können, ist eine vorsprachliche Möglichkeit der Kontaktaufnahme und
Beziehungssetzung. Im Behandlungssetting ist darauf zu achten, solche Möglichkeiten zu
gestalten und zu fördern.
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Alltagsstrukturen aufbauen und konstruktive Gewohnheiten stärken
Ein weiterer Aspekt ist die unterschiedlich lange Verweildauer unserer Patienten in unseren
Kliniken. Die Vorbereitung und Gestaltung der Mahlzeiten ist dabei oft das wesentliche
Gestaltungselement der Tagesstruktur im stationären Behandlungssetting. Eine zu starke
Ausrichtung auf den Versorgungsaspekt führt dann dazu, den Patienten die Verantwortung
für ihre alltäglichen Bedürfnisse und Belange aus der Hand zu nehmen. Eine solche
Verantwortungsübernahme ist im Verlauf einer psychiatrischen Behandlung zeitweise zwar
erforderlich, beinhaltet aber immer die Gefahr von Hospitalisierungsschäden für die
Patienten. Zwar sind die Verweildauern in unseren Kliniken in den vergangenen Jahren
kontinuierlich gesunken, jedoch gibt es nach wie vor eine große Gruppe von Patienten, die
der Art und Schwere ihrer Erkrankung entsprechend über lange Zeit in stationärer
Behandlung verbleiben müssen.
Essenszubereitung, Mahlzeiten und Nahrungsaufnahme als
krankheitsspezifische Konfliktfelder berücksichtigen
Essenszubereitung, Mahlzeiten und Nahrungsaufnahme stellen bei psychischen
Erkrankungen, nicht nur bei den Essstörungen, oft ein spezifisches Konfliktfeld dar. Mit dem
ganzen Thema Essen sind zwar oft wohltuende Erfahrungen und Erinnerungen verbunden,
an die wir uns gerne erinnern, die wir genießen und die uns auch stärken können, aber oft
sind damit auch traumatische Erfahrungen und Erinnerungen verbunden, die während einer
psychiatrischen Behandlung aktiviert werden und die es dann in der Therapiesituation zu
bergen, zu schützen und auch aktiv zu bearbeiten gilt, um andere, konstruktive
Lösungsansätze entwickeln zu können.
Notwendige Flexibilität im stationären Alltag und Beispiele
von „Best-practice“-Modellen in den LVR-Kliniken
An die Speisenversorgung als rein technisch organisatorischen Prozess der
Betriebsorganisation sind daher aus therapeutischer Sicht in der Psychiatrie weit höhere
und vor allem flexiblere, den jeweiligen Patientenbedürfnissen, Behandlungserfordernissen
und Stationskonzepten angepasste Anforderungen zu stellen als beispielsweise in einem
somatischen Krankenhaus oder einer Reha-Klinik. Entsprechend den differenzierten
Behandlungskonzepten innerhalb des Verbundes der LVR-Kliniken ist auch die Gestaltung
der Mahlzeiten und damit der organisatorische Ablauf der Speisenversorgung in den LVRKliniken sehr vielgestaltig.
Im Sinne der Darstellung von best-practice-Modellen werden im Folgenden vier Modelle bzw.
Basiskonzepte in ihrer spezifischen Ausrichtung auf bestimmte Patientengruppen bzw. unter
Berücksichtigung der speziellen Behandlungskonzepte und Stationskonzepte vorgestellt:
a) Berücksichtigung des erhöhten Kalorienbedarfs, des veränderten
Geschmackssinns bei Patienten im höheren Lebensalter und mit
Demenzerkrankungen.
Beispiel: Düren, Mönchengladbach u. a.
Essen und Trinken befriedigt nicht nur das rein physiologische Bedürfnis nach Nahrungsund Flüssigkeitsaufnahme und damit nach Energiezufuhr. Vielmehr wird das gesamte
Lebensgefühl durch eine wohlschmeckende und schön angerichtete Mahlzeit positiv
beeinflusst. Für Demenzkranke gelten die gleichen Ernährungsgrundsätze wie für alle
anderen (alten) Menschen.
Oberstes Ziel ist ausreichende Ernährung der Kranken – mit Essen, das ihnen schmeckt und
ihre Lebensqualität berücksichtigt.
Der Energiebedarf sinkt im Alter grundsätzlich ab, das Hungergefühl und der Appetit lassen
nach und gerade die gesunden Nahrungsmittel (z.B. frisches Obst und Gemüse,
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Vollkornbrot) werden vernachlässigt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Krankheit in der
Regel zu einer Erhöhung des Energieumsatzes führt. Der Bedarf an Vitaminen und
Mineralstoffen bleibt unverändert.
Physiologische Veränderungen im Alter bewirken, dass der Appetit und das Hungergefühl
abnehmen. Die Speichelproduktion verringert sich, oft verstärkt durch Nebenwirkungen von
Medikamenten. Durch Unruhe, ständige Bewegung und Stress, aber auch durch viele
Begleiterkrankungen steigt der Grundumsatz, die Kranken brauchen also eine größere
Kalorienzufuhr.
Sehr günstig für die Zufuhr von Ballaststoffen ist eine wenigstens teilweise Umstellung auf
Vollwertkost. Vollwertkost für Demenzkranke muss nicht fleischlos sein, es sollte aber viel
Gemüse, Salat und Obst angeboten werden.
Alle Körner, Nüsse etc. müssen fein gemahlen sein. Salate werden gern gegessen, wenn sie
fein geraffelt oder klein geschnitten und damit leicht zu kauen sind. Das gleiche gilt für Obst:
geraffelt, oder notfalls püriert wird es meist gern gegessen.
Auch bei Demenzkranken „isst das Auge mit“. An einem hübsch gedeckten Tisch mit
Blumenschmuck und Kerze in gemütlicher Atmosphäre und in netter Gesellschaft werden
die Kranken eher zum Essen angeregt.
Viele Demenzkranke sind überfordert, wenn alle Bestandteile der gesamten Mahlzeit
gleichzeitig serviert werden: Getränk, Salat, Suppe, Hauptgericht, Nachtisch. Sie sollten
immer nacheinander serviert werden.
Bei Tisch ist der Schüsselservice immer dem Tellerservice vorzuziehen, um möglichst
viel Normalität zu erhalten.
Man sollte darauf achten, dass der Teller nicht zu voll ist und besser nachlegen. Auch
passiertes bzw. püriertes Essen kann appetitlich aussehend serviert werden. Alle Teile der
Mahlzeit müssen getrennt püriert werden und lassen sich mit gehackten Kräutern appetitlich
anrichten.
Die Gestaltung der Essenssituation hat einen entscheidenden Einfluss auf den
Ernährungszustand der Kranken. Der Ablauf und die Situation bei Tisch sollen von einer
vertrauensvollen Atmosphäre geprägt sein. Vorhandene Fähigkeiten müssen stimuliert
und genutzt und Stressfaktoren reduziert werden.
Das Essen sollte möglichst (in einer Wohngruppe immer) in einer Tischgemeinschaft
zusammen mit Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen eingenommen werden.
Bei Fortschreiten der Krankheit können die Kranken oft nicht mehr mit einem Besteck
umgehen. Hier ist wieder die Tischgemeinschaft förderlich. Manche Kranke können sich
noch an anderen Menschen orientieren (abschauen).
Oft müssen die Pflegenden nur einen Handlungsimpuls geben, z B. das Besteck richtig
in die Hand geben. Diese diplomatische Hilfestellung zum unauffälligen Essen sollte im
Hinblick auf die Bewahrung der Würde der Kranken immer wieder von Neuem versucht
werden. Dazu gehört auch, dass Hände und Mund gesäubert werden, wenn die Kranken
zwischendurch aufstehen und umhergehen möchten. Damit werden sie vor Zurückweisung
bewahrt, wenn sie Mitbewohner/Mitbewohnerinnen oder Mitarbeiter/Mitarbeiterinnen
berühren.
Die Patienten sollten so lange wie möglich selbst essen. Wenn das Essen in passenden
Stückchen (Fingerfood) auf dem Teller arrangiert ist und die Kranken kein Besteck mehr
benutzen können, ist es günstiger, sie mit den Fingern essen zu lassen, als ihnen das Essen
anzureichen.
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Die hier festgehaltenen Grundsätze lassen Rückschlüsse auf die Frage nach der Abwicklung
der Versorgung mit Speisen in einer gerontopsychiatrischen Klinik zu: Eine ausschließlich
zentralisierte Zubereitung der Mahlzeiten kann aus medizinisch-therapeutischen Gründen
nicht gutgeheißen werden, da für individuelle Lösungen kein oder zumindest wenig
Spielraum bleibt.
b) Berücksichtigung einer individuellen Diät zur Vermeidung der
Gewichtszunahme unter neuroleptischer Medikation mit atypischen
Neuroleptika.
Beispiel: Köln-Mehrheim
Eine Behandlung mit so genannten „atypischen Neuroleptika“ (z.B. Olanzapin) führt oft zu
einer Steigerung des Appetits, einem Verlust des natürlichen Sättigungsgefühls und zu
zwischen den Mahlzeiten auftretenden „Heißhungerattacken“. Dies führt bei vielen Patienten
in der notwendigen Langzeitbehandlung zur Entwicklung eines erheblichen Übergewichts
und langfristig zu einem metabolischen Syndrom mit den entsprechenden
Spätkomplikationen. Zur Sekundärprävention dieser Komplikationen müssen daher
Patienten, die langfristig auf die Einnahme solcher Medikamente angewiesen sind, über
diese Zusammenhänge aufgeklärt und in der Einhaltung einer Diät geschult werden. Diät
und Schulung stützen sich auf die folgenden vier Module:
 Modul 1: definierte Kalorienzufuhr,
 Modul 2: Entwicklung von individuellen „Heißhunger-Produkten“
 Modul 3: Erfassung der biometrischen Daten
 Modul 4: Bewegungstraining
Modul 1: definierte Kalorienzufuhr
Ziel des Moduls 1 ist es die Kalorienzufuhr grundsätzlich auf eine maximal zulässige
Höchstmenge zu begrenzen und den Patienten schrittweise an die selbständige Einhaltung
dieser Begrenzung heranzuführen. Die Regelung der Kalorienzufuhr ist dabei in drei Phasen
gestaffelt:
Schadenbegrenzungs-Phase: vollbilanzierte 1200 Kcal Versorgung mit der Möglichkeit von
4 zusätzlichen Produkten aus der „Traumserie“ (sog. Heißhungerprodukte).
Stabilisierungs-Phase I: vollbilanzierte Grundversorgung von 1500 Kcal mit der Möglichkeit
eines Produktes aus der „Traumserie“.
Stabilisierungs-Phase II: vollbilanzierte 1800 Kcal ohne Heißhungerprodukte für den
geschlossenen Stationsbereich oder (z.B. für Patienten mit Unterkunft im Wohnheim) durch
Analysen angepasste individuelle Versorgung mit den Makro- und Mikronährstoffe, mit dem
Ziel der Gewichtsstabilisierung bzw. wenn nötig/möglich der Gewichtsreduktion.
Modul 2: Entwicklung von individuellen „Heißhunger-Produkten“
Das Absinken des Blutzuckerspiegels durch unphysiologische Ernährung führt zu
Heißhungerattacken. In diesen Zeiten nehmen Patienten dann unkontrolliert hochkalorische
Nahrungsmittel zu sich (z.B. Schokolade, Pudding, Erdnüsse o.ä.). In einem individuellen
Beratungsgespräch durch die Ernährungsberatung werden die jeweiligen bevorzugten
Nahrungsmittel („Traumserie“) besprochen und alternative Rezepte entwickelt. Diese
„Heißhunger-Produkte“ werden durch die Diätküche zubereitet und den Patienten dann an
der „Heißhungerstation“ angeboten. Des Weiteren werden diese Produkte auch auf den
jeweiligen Stationen zur Verfügung gestellt, um hier eine optimale Versorgung auch bei
Abwesenheit der Ernährungsberatung gewährleisten zu können.
Auf diese Weise kann das Aufkommen eines erneuten Hungergefühls wegen des raschen
Anstiegs und ebenso raschen Absinkens des Blutzuckerspiegels bei Zufuhr „falscher“
Nahrungsmittel gestoppt werden. Ebenso eignet sich die Heißhungerstation für Patientinnen
und Patienten, die Psychopharmaka einnehmen müssen.
Modul 3: Erfassung der biometrischen Daten
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Zur Überwachung des Therapieverlaufs ist die regelmäßige Kontrolle der biometrischen
Daten von betroffenen Patienten notwendig. Erfasst werden hier u. a. Gewicht,
Bauchumfang (Insulinresistenz), Größe, BMI, Körperfett, Fettanteil sowie die aktuellen
Blutzuckerwerte.
Modul 4: Bewegungstraining
Grundlage dieses Moduls ist die Durchführung des Bewegungsprogramms DiSko (wie
Diabetiker zum Sport kommen), um Gewichtsstabilisierung bzw. Gewichtsreduzierung zu
ermöglichen. Zur Kontrolle werden in diesem Modul Schrittzähler eingesetzt und zur
Ergänzung Ernährungsprotokolle zur Erfassung der Speisen und Getränke, die außerhalb
der Speisenversorgung eingenommen werden, geführt.
Mit diesen vier Bausteinen ist es möglich gemeinsam mit dem Patienten einen Überblick
über seine Energiebilanz zu gewinnen und das Behandlungsziel einer Gewichtsstabilisierung
bzw. sogar einer Gewichtsreduktion anzustreben. Die Aufgabe der Ernährungsberatung in
der Klinik ist es dabei Patient und Stationsteam bei allen aufkommenden Fragen in diesem
Zusammenhang zu beraten, die individuellen Diätberatungen durchzuführen, die
„Heißhunger-Produkte“ zu entwickeln und die Patienten in Einzel- und Gruppenschulungen
bei der Erreichung ihres Behandlungsziels zu unterstützen. Alle aufgeführten Maßnahmen
werden durch eine Verlaufs- und Anwendungsbeobachtung protokolliert, um das Programm
im Hinblick auf die Parameter Gewichtsverlauf, Blutzuckerstoffwechsellage und
Patientenzufriedenheit evaluieren zu können.
Das Gesamtprogramm setzt mit seiner Einteilung in die genannten Module und den
beschriebenen Phasen einerseits ein hohes Maß an Flexibilität bei der
Speisenzubereitung und Speisenversorgung und andererseits eine klare und direkte
Kommunikation zwischen den Patienten, den Stationsteams und der Ernährungsberatung
voraus.
Beispielhaft sei hier auf die Erfahrungen mit einem externen, entfernt liegenden Catering in
der LVR-Klinik Köln hingewiesen. Hier werden die Mahlzeiten durch einen Caterer aus
Düsseldorf im cook & chill-Verfahren nach Köln angeliefert. Ursprünglich wurden die
einzelnen Mahlzeiten bereits in Düsseldorf portioniert und auf dem Weg nach Köln im
Transportfahrzeug fertig gegart bzw. aufgewärmt. Die fertig portionierten Mahlzeiten wurden
dann im Tablettsystem auf der Station ausgegeben. Dieses Verfahren hat sich rasch als zu
unflexibel und zu pannenanfällig erwiesen, sodass auf dem Gelände der Klinik in Köln wieder
eine Portionierküche eingerichtet wurde. Die Mahlzeiten werden nun weiterhin im cook &
chill-Verfahren von Düsseldorf nach Köln angeliefert, jedoch direkt vor Ort in der
Portionierküche weiter verteilt und an die Stationen weitergeleitet. Die Mitarbeiter der
Portionierküche übernehmen auch die Diätberatung und Unterstützung der Patienten durch
individuelle Speisenzusammenstellung.
c) Erfordernisse der Speisenversorgung in der Behandlung essgestörter
Patientinnen und Patienten
Beispiel: Essen
Essenszubereitung, Mahlzeiten und Nahrungsaufnahme stellen bei psychischen
Erkrankungen, und besonders bei den Essstörungen, ein spezifisches Konfliktfeld dar.
Mit dem ganzen Themenkomplex sind oft auch traumatische Erfahrungen und Erinnerungen
verbunden, die während einer psychiatrischen Behandlung aktiviert werden und die es dann
in der Therapiesituation zu bergen, zu schützen und auch aktiv zu bearbeiten gilt, um
andere, konstruktive Lösungsansätze entwickeln zu können. Exemplarisch für dieses
Vorgehen wird im Folgenden das Konzept zur Behandlung von Essstörungen in der LVRKlinikum Essen dargestellt.
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Stationär / teilstationär aufgenommen werden Erwachsene ab 18 Jahren, bei denen eine
psychosomatisch-psychotherapeutische Indikation zur stationären/teilstationären
Behandlung vorliegt. Die Krankheitsbilder, die auf der Station behandelt werden können,
umfassen auch Anorexie und Bulimie (Magersucht, Ess-Brech-Sucht). Das diagnostische
und therapeutische Vorgehen orientiert sich an dem bio-psycho-sozialen Modell der
Entstehung psychischer Störungen unter besonderer Berücksichtigung eines
psychodynamischen Krankheitsverständnisses und ist in allen Behandlungsabschnitten
multidimensional. Die Behandlung basiert auf einer umfassenden Diagnostik und erfolgt
individuell, störungsspezifisch und evidenzbasiert.
Integrativer Therapieansatz
Die Psychotherapie findet im Rahmen eines methodenübergreifenden, multimodalen und
integrativen Therapieansatzes statt. Methodenübergreifend kommen indikationsspezifisch
die Verfahren der Richtlinienpsychotherapie sowie anderer Psychotherapieorientierungen
(z.B. systemische Therapie) zur Anwendung. Multimodal kommen unterschiedliche
Behandlungstechniken (Einzel- und Gruppenverfahren, kunst- und
bewegungstherapeutische Verfahren sowie sozialtherapeutische Verfahren) zum Einsatz.
Indikationsspezifisch werden psychopharmakologische Behandlung und andere notwendige
somatische Behandlungsmethoden (z.B. Medikamente) eingesetzt.
Die pflegenden Mitarbeiter haben durch ihre 24-stündige Präsenz und den direkten Kontakt
in der Begegnung auf der Station eine hohe Bedeutung für den therapeutischen und
interpersonalen Prozess der Behandlung. Eine wichtige Aufgabe der pflegenden Mitarbeiter
ist die Psychoedukation mit ihrer Ich-Struktur stärkenden Wirkung. Dabei gilt es im
Alltagskontakt auf den Stationen eben die Selbstwahrnehmung der Patienten zu stärken, die
Autonomieentwicklung zu fördern, die Abhängigkeitswünsche wahrzunehmen und
anzuerkennen und gleichzeitig aufmerksam zu bleiben für die in der Biographie und der
Erkrankungsgeschichte begründet liegenden Krisen, die gerade im Verlauf der Behandlung
auftreten können. Insgesamt wird dadurch die Persönlichkeitsentwicklung begleitet,
unterstützt und gefördert.
Im Essstörungssetting ergänzen sich die vier Säulen der Behandlung zur
Gesamtbehandlung:
1. die störungsspezifische Psychotherapie in Einzel- und Gruppensetting, die
Gestaltungstherapie und die Konzentrative Bewegungstherapie,
2. das strukturierende Essprogramm (Zielgewicht BMI 19 kg/m2), wöchentliche
Gewichtszunahme von 0,7 kg, 2x wöchentlich Gewichtskontrolle, 6 Mahlzeiten am
Tag, gemeinsame Mahlzeiten im Speisesaal, 30-min. Nachruhe nach jeder
Mahlzeit, Ess-/Nachruhebegleitung b. Mittagessen)
3. die Psychoedukation des Essverhaltens (Vermittlung eines normalen Essverhaltens:
mindestens 3 Mahlzeiten am Tag zu festen Zeiten und nach ernährungsphysiologischen Gesichtspunkten ausgewogene Ernährung)
4. die Sozialarbeit (Hilfestellung bei Wohnungssuche, Berufsfindung, im Freizeit- und
Kontaktbereich mittels Beratung und Begleitung bei Außenterminen,
Kontaktaufnahme zu Behörden, psychosozialen Institutionen,
Frauenberatungsstellen, Selbsthilfegruppen, etc.)
Mit den einzelnen Patientinnen und Patienten wird ein Behandlungsvertrag geschlossen, der
ein je nach der Erkrankung, Anorexie oder Bulimie, ein strukturiertes Essprogramm nach
einem festgelegten Stufenplan enthält:
Anorexie:
Bei der Anorexie wird ein Zielgewicht vereinbart (BMI 19 kg/m2, jedoch maximal 10 kg
Differenz zum Aufnahmegewicht). Entsprechend dem Zielgewicht beinhaltet der Vertrag eine
sukzessive Steigerung des Psychotherapieangebotes und der individuellen Freiheitsgrade.
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Das Essprogramm besteht aus vier Stufen. Bei einem Drittel des notwendigen
Gewichtszuwachses wird jeweils die nächste Stufe erreicht.
Bulimie:
Ziel ist in erster Linie die Restrukturierung des Essverhaltens, Reduktion der bulimischen
Symptomatik und verbessertes Verständnis der auslösenden Faktoren. Die
Behandlungsdauer beträgt 6 oder 12 Wochen, die letzten 2 Wochen davon tagesklinisch.
Sowohl im Anorexie- als auch Bulimievertrag gilt:
Zur Förderung der Selbstreflexion führen die Patientinnen und Patienten kontinuierlich ein
Essstörungstagebuch. Die Essplanung, die Durchführung der Einkaufsgruppen
und der Kochgruppen sowie die Essbegleitung und die begleitete Nachruhe
(teilweise Akupunktur-unterstützt) nach dem Mittagessen gehören zu den Aufgaben der
pflegenden Kollegen, wobei die Patientinnen und Patienten dann die während der und durch
die Restrukturierung des Essverhaltens gemachten Erfahrungen in den Einzel- und
Gruppentherapien weiter reflektieren und bearbeiten können. Die Gesprächsgruppen werden
gemeinsam von einer Ärztin bzw. Psychologin und co-therapeutisch von pflegerischen
Kollegen geleitet.
Die Vertiefung des psychosomatischen Symptomverständnisses wird besonders durch die
künstlerischen Therapieverfahren der Gestaltungstherapie und der konzentrativen
Bewegungstherapie gefördert. Zur Ressourcenaktivierung dient u. a. auch die einmal
wöchentlich stattfindende Genussgruppe.
Die Gestaltung der Mahlzeiten in der stationären therapeutischen Arbeit mit essgestörten
Patientinnen und Patienten muss daher sehr variabel sein und eine direkte Einbindung der
gesamten Thematik in den Behandlungsprozess und das Stationskonzept ermöglichen. Zum
Teil planen und kochen Patienten gemeinsam mit den pflegenden Mitarbeitern die
Mahlzeiten und kaufen dafür nach Vorbesprechung auch selbständig ein und zum Teil
besuchen Patienten auch die öffentliche Kantine der benachbarten Universitätsklinik, um ihre
neuen Essgewohnheiten auch in dieser Umgebung erproben und belasten zu können. Der
Wechsel von der einen zur anderen Gruppe wird in den Therapieplanungsgesprächen je
nach aktueller Zielstellung vereinbart.
d) Auf die Behandlungsziele und –abschnitte abgestimmte Gestaltung
der Mahlzeiten auf einer allgemeinpsychiatrischen Station und im Casino
der Klinik
Beispiel: Station A1, LVR-Klinik Mönchengladbach
Um die o. g. therapeutischen Zielstellungen der Speisenversorgung (Befähigung zur
Selbstpflege; Förderung von Kontakt und Kommunikation; Aufbau von Alltagsstrukturen;
Berücksichtigung krankheitsspezifischer Konfliktfelder im Zusammenhang mit Mahlzeiten
und Nahrungsaufnahme) auf unseren Allgemeinpsychiatrischen Stationen in der Behandlung
berücksichtigen zu können und besonders um den im Verlauf der Behandlung sich
wandelnden und weiterentwickelnden Zielstellungen gerecht werden zu können, wurden in
Mönchengladbach die einzelnen Aspekte der Speisenverordnung in sich ergänzende
Bausteine und aufeinander aufbauende Schritte aufgeteilt. Dies ermöglicht eine individuelle
und personenzentrierte Behandlungsgestaltung. Ziel ist dabei grundsätzliche eine
schmackhafte, ausreichende und physiologisch ausgewogene Ernährung in einer
ansprechenden und wertschätzenden Umgebung sicherzustellen.
Frühstück, Nachmittagskaffee und Abendbrot werden auf der Station in der
Patientenküche gemeinsam mit den Patienten vorbereitet und von den Patienten in einer
Tischgemeinschaft eingenommen. Die gemeinsame Planung beginnt in der morgendlichen
Stationsversammlung mit der Anregung eigene Wünsche zu äußern, sich zur gemeinsamen
Umsetzung zu verabreden und für die getroffenen Vereinbarungen auch Verantwortung zu
übernehmen. Patienten die neu auf die Station kommen oder infolge ihrer Erkrankung noch
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nicht in der Lage sind sich selbst aktiv zu beteiligen, können zunächst abwartend
beobachtend teilnehmen und orientieren sich an den Mitpatienten. Die Mahlzeiten werden
dann gemeinsam mit den Patienten in der Stationsküche vorbereitet. D. h. beispielsweise,
dass zum Frühstück und Abendessen Brotkörbe gerichtet werden, Aufschnitt, Käse und
Salat auf Platten angerichtet wird, die Tische eingedeckt und je nach Jahreszeit, Wunsch,
freier Energie und Zeit von Patienten und Mitarbeitern auch geschmückt werden. Die Pflege
einer solchen Tischkultur wird als Ausdruck der gegenseitigen Wertschätzung
wahrgenommen. Die Tatsache, dass man sich diese Wertschätzung innerhalb der
Stationsgemeinschaft gegenseitig entgegenbringt, fördert das Verständnis und die
Entwicklung von Solidarität untereinander und regt zu Kontakt und Begegnung an. Auch die
Verabredung zum gemeinsamen Tun in der Küche fördert die Kommunikation. Darüber
hinaus ergeben sich sowohl in der Vorbesprechung als auch in der Vorbereitung der
Mahlzeiten zahlreiche Gelegenheiten im therapeutischen Gespräch auf die Patienten
einzugehen. Bei den Mahlzeiten am Tisch wird ebenfalls die Kommunikation untereinander
gefördert.
Das Mittagessen wird zu Beginn einer Behandlung und bei akuten Krankheitsepisoden auf
der Station in einer Tischgemeinschaft eingenommen. Auch hier wird auf eine Tischkultur,
die Begegnung und Kommunikation fördert, besonderer Wert gelegt.
Im weiteren Verlauf verabreden sich Patienten in kleinen Gruppen zusammen ins Casino zu
gehen und dort ihr Mittagessen einzunehmen. Für die Patienten ist dies eine Anregung die
Station zu verlassen und sich wieder mehr in öffentliche Räume zu trauen. Die Verabredung
in kleinen Gruppen ist dabei ein oft genanntes stärkendes Element. Patienten übernehmen
so mehr Selbstverantwortung und werden an Selbständigkeit herangeführt. So können neue
Gewohnheiten ausprobiert und eingeübt werden. Nicht selten kommen Patienten auch nach
ihrer Entlassung noch eine zeitlang weiterhin zum Mittagessen ins Casino und halten hier
einen informellen und alltäglichen Kontakt zu ehemaligen Mitpatienten, aber auch zu
Mitarbeitern und zur Institution Klinik als stützendem Umfeld aufrecht. Hierin wird der hohe
kommunikative Aspekt der Mahlzeiten deutlich genutzt.
Im Casino begegnen sich zur Mittagszeit ca. 110 Patienten, 20 ehemalige Patienten und
Besucher und ca. 30 Mitarbeiter während der Mahlzeit. Damit stellt das Casino einen
öffentlichen Begegnungsraum dar, der Austausch und Gespräch in einer normalisierten
Alltagsatmosphäre ermöglicht und dazu einlädt. Die soziale Kontrolle, die zu Beginn auf der
Station noch im direkten und engen Behandlungskontext bei den begleiteten
Mittagsmahlzeiten in der Tischgemeinschaft und im direkten Pflegegespräch steht, wird so
zu einer Alltagsbegegnung zwischen Patienten aller Stationen, Besuchern und Mitarbeitern
weiter entwickelt und normalisiert.
Die therapeutisch-pädagogischen Anforderungen und
deren Umsetzung in betriebsorganisatorischen Abläufen
Aus pädagogischer und therapeutischer Sicht ist es wichtig, dass die betriebsorganisatorischen Abläufe der Speisenversorgung die oben dargelegten Schwerpunktsetzungen in
der Ernährung der Patienten sowie der Gestaltung der Mahlzeiten unterstützen. Dazu finden
sich in den LVR-Kliniken je nach Standort und Größe der Klinik unterschiedliche Strukturen.
Aus organisatorischer Sicht sind dabei 3 Ebenen zu unterscheiden:
a)
Räumlicher Abstand zwischen Küche und Station bzw. Speiseraum

Küchen vor Ort auf dem jeweiligen Klinikgelände (bei den meisten LVRKliniken gegeben)
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
Mitversorgung durch unmittelbar benachbarte Kliniken (z.B. LVR-Klinikum
Essen und Universitätsklinikum Duisburg-Essen, LVR-Klinik für Orthopädie
und die benachbarte LVR-Klinik Viersen)

Versorgung durch einen externen Caterer mit Anlieferung der fertigen
Mahlzeiten aus Düsseldorf nach Köln im cook & chill Verfahren sowie
Portionierung auf dem Gelände der Klinik in Köln.
b)
Zeitlicher Abstand zwischen Zubereitung der Nahrung und
Zeitpunkt der Mahlzeiten
Unterschieden werden kann zwischen der direkten
 frischen Zubereitung am Tag selbst und dem

c)
cook & chill-Verfahren, bei dem die Mahlzeiten vorgekocht werden und dann rasch
heruntergekühlt werden. Das Aufwärmen und fertig garen erfolgt dann kurz vor der
Ausgabe.
Gebindegrößen bei Anlieferung und bei Darbietung der Speisen

Bei dem sog. „Schöpfverfahren“ werden die Mahlzeiten im Großgebinde auf
die Station bzw. in das Casino oder die Tagesklinik geliefert. Die
Portionierung erfolgt dann individuell direkt auf der Station bzw. bei der
Essensausgabe im Casino.

Im sog. „Tablettverfahren“ erfolgt die Portionierung aus dem Großgebinde
direkt in der Küche bzw. bei Anlieferung durch den externen Caterer in der
örtlichen Portionierküche.
Zusammenfassung und Schlussfolgerungen
Ziel der Speisenversorgung in einer psychiatrischen Klinik ist es, den Patientinnen und
Patienten wohlschmeckende, schön angerichtete und physiologisch ausgewogene, dem
Energiebedarf in der Erkrankungsphase angemessene Mahlzeiten anzubieten. Dies sollte in
einer angenehmen, dem Kranken Sicherheit und Wertschätzung vermittelnden Umgebung
geschehen.
Die Ablauforganisation der Mahlzeiten sollte die Umsetzung der o. g. übergeordneten
therapeutischen Zielstellungen (Befähigung zur Selbstpflege; Förderung von Kontakt und
Kommunikation; Aufbau von Alltagsstrukturen; Berücksichtigung krankheitsspezifischer
Konfliktfelder im Zusammenhang mit Mahlzeiten und Nahrungsaufnahme) unterstützen.
Dazu sind innerhalb einer Klinik entsprechend den jeweiligen Zielgruppen der einzelnen
Stationen, den Abschnitten einer Behandlung und unter Berücksichtigung der
unterschiedlichen Stationskonzepte auch sehr unterschiedliche Ablaufsmöglichkeiten
erforderlich. Zur Veranschaulichung wurden oben einige Bespiele aus dem vielfältigen
Angebot der LVR-Kliniken als „Best-Practice“ Modelle vorgestellt.
Bei der Beurteilung einer betriebsorganisatorischen Ablaufgestaltung der Speisenversorgung
in einer psychiatrischen Klinik kommt es also neben der Qualität des angebotenen Essens
und dem Preis der erbrachten Leistung ganz besonders auf die Flexibilität der
Leistungserbringung an. Diese Flexibilität ist erforderlich um die oben dargelegten auch
innerhalb einer Klinik oft sehr unterschiedlichen Anforderungen hinsichtlich der Integration
der Speisenversorgung in das pädagogisch-therapeutische Konzept der Stationen
umzusetzen.
gez.
Dr. Knauer
Dr. Rinckens
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