Gemeinsinn heute: Neue Solidarität oder oberflächlicher Egozentrismus Ulrich Beck (1995): Vom Verschwinden der Solidarität (Individualisierung) Die Menschen werden nicht mehr aus ihrer ständisch-religiösen Gesellschaft IN die Welt der Industriegesellschaft "entlassen", sondern aus deren Sicherheiten in die Turbulenzen der Weltkrisengesellschaft. Der Lohnarbeiter genießt schon lange eine "doppelte Freiheit". Er ist frei von der "traditionellen Schollenbildung" und "vogelfrei am Arbeitsmarkt". Dabei werden neben den Vorräten aus Natur und Kultur auch die speziellen "Sinnreservoire" (z.B. Glauben, Klassenbewußtsein) aufgebraucht. Das Individuum muß daher selbst alle Definitionsleistungen erbringen. Die eigenen moralischen, sozialen und politischen Bindungen müssen selbst geschaffen werden. Ebenso die eigene Biographie. Dazu ist jedoch, wegen der hohen Komplexität der gesellschaftlichen Zusammenhänge, das Individuum nicht im Stande. "Individualisierung" ist die Auflösung und die Ablösung industriegesellschaftlicher Lebensformen durch solche in denen die Biographien selbst "zusammengeschustert" werden müssen. Vieles ist zwar kollektives Schicksal, jedoch das, was früher als Klassenschicksal angesehen wurde, wird nun als individuelles Versagen und als persönliche Schuld betrachtet. Daraus entstehen Konflikte, Neurosen und gesellschaftliche Krisen die als individuelle Krisen erscheinen. Konfliktlinien entstehen zur Abgrenzung entlang sozial identifizierbarer Merkmale (z.B. Hautfarbe, körperliche Behinderung, Homosexualität). "Gelingt es, an die Ansprüche und Verheißungen des in Gang gekommenen Individualisierungsprozesses anzuknüpfen und die Individuen jenseits von Stand und Klasse als selbstbewußte Subjekte ihrer persönlichen, sozialen und politischen Belange neu zusammenzufassen?..." Heiner Keupp (1994): Ambivalenzen postmoderner Identität (Riskante Freiheiten - Individualisierung in modernen Gesellschaften) Gegenwärtig gibt es eine radikale Enttraditionalisierung der Lebensformen die einerseits Selbst-Organisation ermöglicht, andererseits den Wunsch nach Klarheit, Überschaubarkeit, Einfachheit verschärft. Es eröffnen sich Entfaltungsmöglichkeiten für Lebenssouveränität aber auch ein "Selbstzwang zur Standardisierung der eigenen Existenz"(Beck 1990). Wie wird mit dem "Ausziehen aus einem vertrauten 'Gehäuse'" umgegangen? => "nationale Identität", "New Age" 1. Die Ambivalenz des Fortschritts: Befreiung aus dem Zwang eines Lebenskorsetts oder Der Verlust von Verortung (siehe Beck) 2. Fluchtbewegungen aus der Verunsicherung - "Leitfäden" auf dem Psychomarkt mit New Age-Angeboten als "'Package-Tour' des Psychomarktes. "Der heroische Pfad in das Selbst ist nicht mehr Stoff für Legenden, sondern das Potential von Jedermann und Jederfrau."(Marilyn Ferguson 1984) New Age ermöglicht die Flucht vor jener Verunsicherung die aus dem Aufgeben bisheriger Sicherheitskoordinaten entsteht. - Die "Furcht vor der Freiheit" (Erich Fromm 1941) als Nährboden des Faschismus. Die "deutsche Identität" als Suche nach einem gesicherten Identitätsgehäuse. 3. Soziale Netzwerke als soziales Kapital: Subjekte als Baumeister des Sozialen Die selbst geschaffenen Zusammenhänge und damit Verfügbarkeit und Qualität von Hilfe und Unterstützung aus dem eigenen Beziehungsnetz sind entscheidend dafür, wie wir mit weitgehenden Problemen zurechtkommen. Soziale Netze sind nun "Begleitschutz" und "soziales Polster". Doch heute gibt es keine vermehrten "Einsiedlerkrebse", vielmehr hat der Großstadtbewohner nun vielfältigere Kontakte. Doch diese Netze sind kein sicherer Bestand mehr, es muß ständig etwas für sie getan werden. Daher fehlt es an der Vermittlung von Sicherheit, Geborgenheit und Vertrautheit. Es wird über "Heimatlosigkeit" und ein Gefühl der Identitätsdiffusion geklagt. 4. Leben mit "riskanten Chancen" Bedingungen für eine produktive Nutzung: - Es bedarf materieller Ressourcen. "Ohne Teilhabe am gesellschaftlichen Lebensprozeß in Form von sinnvoller Tätigkeit und angemessener Bezahlung wird Identitätsbildung zu einem zynischen Schwebezustand. - Es bedarf einer sozialen Ressource, eine spezifische Beziehungs- und Verknüpfungsfähigkeit. - Konfliktfähigkeit - die "demokratische Frage" muß auch im Alltag verankert werden. - "Freude aus Verunsicherung ziehen" (Christa Wolf), die Fähigkeit, sich auf Menschen und Situationen offen einzulassen und die Überwindung des "Eindeutigkeitszwanges" sowie "die Ermöglichung von neugieriger Exploration von Realitätssichten, die einer verkürzenden instrumentellen Logik unzugänglich sind." - "Patchwork-Identität" mit einem bedeutsamen Potential für eine kritische Eigenständigkeit und einem höheren Stellenwert an kommunikativen Verbindungen. - Voraussetzung ist ein Urvertrauen zum Leben und seinen natürlichen Voraussetzungen. Die Ambivalenz der Identitätsarbeit überfordert viele und fördert daher Feindbilder zur besseren Abgrenzung und den Wunsch nach neuen Modellen. Zusammenfassung - 18.1.2000