Juli Zeh: „Corpus Delicti. Ein Prozess“ (S II) Reihe 10 Verlauf Material S 19 LEK Glossar Literatur M7 Was zeichnet die Hauptfigur aus? – Charakterisierung von Mia Holl Im Folgenden sind einige der prägnantesten Textstellen für die Charakterisierung der Protagonistin Mia Holl chronologisch nach ihren drei Entwicklungsstufen zusammengestellt. Hierbei handelt es sich um Selbst- und Fremdaussagen. 1. „Ich bin keine Anti-Methodistin.“ (59) • „Vernachlässigung der Meldepflichten […]. Schlafbericht und Ernährungsbericht wurden im laufenden Monat nicht eingereicht. Plötzlicher Einbruch im sportlichen Leistungsprofil. Häusliche Blutdruckmessung und Urintest nicht durchgeführt.“ (18) • „Die ist doch gut drauf […]. Keine Vorbelastungen. Erfolgreiche Biologin mit Idealbiographie. Keine Anzeichen von physischen oder sozialen Störungen.“ (18 f.) • „Erst hat die naturwissenschaftliche Erkenntnis das göttliche Weltbild zerstört und den Menschen ins Zentrum des Geschehens gerückt. Dann hat sie ihn dort stehen lassen, ohne Antworten, in einer Lage, die nichts weiter als lächerlich ist.“ (26 f.) • „Liebe. Es ist einfach so, Mia, dass du diesen Begriff nicht richtig aussprechen kannst. Für dich gehört er zu einer fremden Sprache […].“ (28) • „Nur der Vollständigkeit halber: Ich habe Ihren Bruder nicht ermordet. Wir sollten vielleicht eher fragen, woher er im Gefängnis die Angelschnur hatte, um sich aufzuhängen.“ (31) Direkt oder indirekt? – Formen und Merkmale einer Charakterisierung Die Charakterisierung einer literarischen Figur kann durch den Erzähler auf unterschiedliche Weise gestaltet sein. Direkt kann sie durch den Erzähler, eine andere Figur oder die Figur selbst erfolgen. Indirekt wird eine Figur charakterisiert durch Verhalten und Äußerungen der Figur selbst, sodass der Leser auf weitere Aspekte des Charakters schließen kann. Zu einer Charakterisierung gehören unter anderem folgende Merkmale: das äußere Erscheinungsbild (z. B. Alter, Aussehen), das Verhalten (z. B. Handeln, Körpersprache), Einstellung (z. B. Gedanken, Gefühle, Absichten) und die soziale Stellung (z. B. Bildungsstand, Beruf, Lebensumfeld). • „Wie […] sollen denn Regeln, Maßnahmen, Verfahren unfehlbar sein, wenn das alles doch immer nur von Menschen ersonnen wurde? Von Menschen, die alle paar Jahrzehnte ihre Überzeugungen, ihre wissenschaftlichen Ansichten, ihre gesamte Wahrheit austauschen? Haben Sie sich nie gefragt, ob mein Bruder nicht trotz allem unschuldig sein könnte?“ (38) • „Ich bitte Sie aufrichtig, meine Verfassung nicht mit Querulantentum zu verwechseln. Ich bin nicht ganz bei mir. Vielleicht rede ich wirr. Aber ich bin keine Anti-Methodistin.“ (59) 2. „Which side are you on?“ (105) • „Da ist dieses Bedürfnis, ihm nahe zu sein […]. Als wäre der Tod nur ein Zaun zwischen den Menschen, der sich mit ein paar Tricks überwinden lässt. Ich kann Moritz sehen, obwohl er tot ist, ich kann ihn hören, mit ihm reden. Ich verbringe mehr Zeit mit ihm als früher. Ich muss dauernd an ihn denken, ich kann nichts ohne ihn tun. Die Zigarette schmeckte nach ihm. Nach seinem Lachen, seiner Lebenslust. Seinem Freiheitsdrang. Und jetzt sitze ich hier vor Ihnen. Fast wie er damals. […] Dass ich ihm dermaßen nahekommen würde, habe ich natürlich nicht erwartet.“ (68 f.) • „Die METHODE, das sind wir selbst. Sie, ich, alle. Die METHODE ist die Vernunft. Der gesunde Menschenverstand. Ich wende mich nicht gegen die METHODE. […] Zum letzten Mal: Ich will meine Ruhe. Das ist alles. Ich komme wieder auf die Beine.“ (75) • „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass dieser Rosentreter und ein bisschen Sport den Riss kitten, der quer durch dein Innerstes verläuft? Dieser Riss liegt tiefer, Mia. Er ist nicht einmal dein persönliches Problem. Er entstand an dem Tag, als dieses Land auf die Idee kam, sich den Luxus von individuellen Krankheitsgeschichten nicht mehr leisten zu können. Was dich von innen vergiftet, ist die faule Stelle in der Mitte des Systems.“ (81) • „Was mit Moritz geschehen ist, kann nur richtig sein oder falsch […]. Es gibt kein Dazwischen. Du wirst dich entscheiden müssen […].“ (82) 74 RAAbits Deutsch/Literatur Mai 2011 II/B6 Juli Zeh: „Corpus Delicti. Ein Prozess“ (S II) Reihe 10 Verlauf Material S 20 LEK Glossar Literatur • „[Ich bin] [k]eine Frau, kein Mensch.“ (128) „Aber auch keine Terroristin.“ (129) • „Das Wort [Hexe] kommt von Hagazussa. Die Hexe ist ein Heckengeist. Ein Wesen, das auf Zäunen lebt. Der Besen war ursprünglich eine gegabelte Zaunstange. […] Zäune und Hecken sind Grenzen, Mia. Die Zaunreiterin befindet sich auf der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis. Zwischen Diesseits und Jenseits, Leben und Tod, Körper und Geist. Zwischen Ja und Nein, Glaube und Atheismus. Sie weiß nicht, zu welcher Seite sie gehört. Ihr Reich ist das Dazwischen.“ (144) II/B6 • „Ich bin doch keine Außenseiterin […].“ (144) • „Tatsache bleibt, dass ich eine Anhängerin der METHODE bin. […] An mir ist alles Vernunft. […] Die Vernunft macht mich zu einem Grenzfall, zu einem Wesen des Dazwischen. Zu einer Instanz ohne jede Entscheidungsmöglichkeit. Ich bin absolut ungefährlich.“ (160) • „Ich schäme mich. Ich habe an seine Unschuld geglaubt. Aber vielleicht nicht genug. […] Ich habe ihm geglaubt, aber nicht die entsprechenden Konsequenzen daraus gezogen.“ Die Frage nach der Legitimität der METHODE „werde ich nicht beantworten. […] Aber ich werde diese Frage stellen […]. Immer wieder.“ (170) 3. „Vertrauensfrage“ (188) • „Ich entziehe einer Gesellschaft das Vertrauen, die aus Menschen besteht und trotzdem auf der Angst vor dem Menschlichen gründet. Ich entziehe einer Zivilisation das Vertrauen, die den Geist an den Körper verraten hat. […] Ich entziehe einem Recht das Vertrauen, das seine Erfolge einer vollständigen Kontrolle des Bürgers verdankt. Ich entziehe einem Volk das Vertrauen, das glaubt, totale Durchleuchtung schade nur dem, der etwas zu verbergen hat. […] Ich entziehe einer Politik das Vertrauen, die ihre Popularität allein auf das Versprechen eines risikofreien Lebens stützt. Ich entziehe einer Wissenschaft das Vertrauen, die behauptet, dass es keinen freien Willen gebe. […] Ich entziehe einem Staat das Vertrauen, der besser weiß, was gut für mich ist, als ich selbst.“ (186 f.) • „Es gibt dich jetzt zweimal. Die eine Mia sitzt hier drin und … blutet an der Lippe. […] Die andere Mia schreiben sich alle, die wollen, auf ihre Fahnen.“ (197) • „Ich stehe für das, was Sie in Wahrheit denken! […] Ich stehe für das, was alle denken! Ich bin das Corpus Delicti […].“ (218) • „Ihr habt mir alles genommen, was wichtig war. Meinen Bruder, meine Wohnung, meine Arbeit. Meinen Glauben an so etwas wie Gerechtigkeit, falls ich den jemals hatte. Wissen Sie, was am Ende übrig bleibt? […] Die Seele bleibt übrig […]. Der Geist. Die Würde.“ (232) • „Ich werde weder meinen Bruder noch mich selbst verraten.“ (234) • „Brennt das Land nieder […]. Reißt das Gebäude ein. Holt die Guillotine aus dem Keller, tötet Hunderttausende! Plündert, vergewaltigt! Hungert und friert! Und wenn ihr dazu nicht bereit seid, gebt Ruhe. Ihr könnt euch feige nennen oder vernünftig. Haltet euch für Privatmänner, für Mitläufer oder Anhänger des Systems. Für unpolitisch oder individuell. Für Verräter an der Menschheit oder treue Beschützer des Menschlichen. Es macht keinen Unterschied. Tötet oder schweigt. Alles andere ist Theater.“ (258) • „Sie hat ernsthaft geglaubt, die METHODE würde sie zur Märtyrerin machen. Dabei schenken nur unfähige Machthaber dem nervösen Volk eine Kultfigur. Jesus von Nazareth, Jeanne d’Arc – der Tod verleiht dem Einzelnen Unsterblichkeit und stärkt die Kräfte des Widerstands. Das wird Ihnen nicht passieren, Frau Holl. Stehen Sie auf. Ziehen Sie sich an. Gehen Sie nach Hause. Sie sind […]. Frei!“ (263 f.) Aufgaben 1. Lesen Sie die Textstellen und entscheiden Sie, welche Sie für Ihre Charakterisierung der Hauptfigur auswählen wollen. 2. Analysieren Sie, wie die Figur Mia Moll gestaltet ist. Fassen Sie Ihre Ergebnisse kurz und prägnant zusammen. Belegen Sie Ihre Ergebnisse mit den vorliegenden Textstellen. 74 RAAbits Deutsch/Literatur Mai 2011