Thomas Söding Das Reich Gottes. Die zentrale Botschaft Jesu im Spiegel der Gleichnisse und der Bergpredigt 1. Horizonte der Hoffnung a. Jesus nimmt das Stichwort der Gottesherrschaft aus der messianischen Erwartung Israels auf (Lk 14,15) und füllt es mit einem Sinn, der durch sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung geprägt ist (Lk 22,15). b. Das Stichwort ist bekannt • in der Apokalyptik als radikale Kritik politischer Theologie und Begründung der Hoffnung auf die Erlösung, die Auferstehung der Toten und die Rechtfertigung der Gerechten, • in der Prophetie als radikale Kritik des Polytheismus und als Begründung der Hoffnung auf die Vollendung der Geschichte Gottes mit Israel und den Völkern, • in den Psalmen und den Hymnen Qumrans als Kritik jeder Heuchelei und als unendliche Vertiefung der Gotteserfahrung. c. Jesus stellt sich auf die Seite derjenigen, die auf Gott setzen: dass er mit der Vollendung seiner Herrschaft Israel erlöst und die Völker zu Gott bringt. Die Evangelien umgeben Jesus mit Menschen, die diese Hoffnung teilen oder sie ablehnen oder sich nicht für sie interessieren. In diesem Umfeld ereignet sich die Sendung Jesu. 2. Orte der Erfahrung a. Jesus verkündet die Nähe der Gottesherrschaft als erfüllte Zeit (nach Mk 1,15) und beauftragt nach der Aussendungsrede der Redenquelle (Q) seine Jünger mit der Verbreitung der Botschaft (Mt 10,7; Lk 10,9.11). Er selbst tritt mit seiner Person für die Herrschaft Gottes ein: Er verkündigt, verwirklicht und verkörpert sie (Lk 17,20f.). b. Jesus war nicht der erste und einzige Gleichniserzähler, aber ein besonders guter. Seine Gleichnisse sind elementare Verkündigung und Verwirklichung der Herrschaft Gottes. 1 Lehrstuhl Neues Testament Katholisch-Theologische Fakultät Ruhr-Universität Bochum Sie veranschaulichen nicht nur, was man präziser anders sagen könnte, sondern machen die Gottesherrschaft sichtbar. Weil sie Geschichten erzählen, fesseln sie die Zuhörerschaft, weil sie einen Vergleich ziehen, fordern sie zum Nachdenken auf, Die Geschichten der Gleichnisse stammen aus dieser Welt; dass sie etwas über die Gottesherrschaft sagen können, ist keineswegs selbstverständlich. Gleichnisse bauen darauf, dass es eine Analogie zwischen Himmel und Erde gibt, die in der Einheit Gottes, des Schöpfers und Erlösers begründet ist. Gleichnisse machen eine bestimmte Beziehung zwischen Gott und Mensch klar, für deren Wahrheit Jesus mit seiner Person eintritt. Die Gleichnisse sind auf Effekt hin erzählt; in den Wirkungen, die sie auslösen, ereignet sich das Kommen der Gottesherrschaft. Die Gleichnisse markieren Orte, an denen Gott zu finden und zu verlieren ist – und Menschen, die Gott verloren haben, von ihm gefunden werden. c. Die Seligpreisungen der Bergpredigt setzen Menschen ins Licht, die verloren haben, weil sie arm sind, hungern und trauern und um ihres Glaubens willen verfolgt werden– aber gewinnen werden, weil Gott sie gewinnen will. 3. Perspektiven der Erlösung a. Die Gleichnisse machen, wenn sie gut ausgehen, Hoffnung darauf, dass nicht nur die kleinen Geschichten des Alltags gut ausgehen, sondern die ganze Weltgeschichte ein happy end hat. Wenn sie hingegen kleine Katastrophen erzählen, führen sie die Gefahr des Scheiterns im Leben vor – und können dann nur noch indirekt Hoffnung auf Gott machen. b. Die Seligpreisungen Im Gleichnis vom Gastmahl (Lk 14,16-24 par. Mt 22,1-10) baut Jesus den Kontrast zwischen den happy few auf, die selbstverständlich eingeladen sind, aber in letzter Minute absagen, weil sie scheinbar Besseres zu tun haben, und den Armen und 2 www.rub.de/nt [email protected] Krüppeln, Blinden und Lahmen, die von der Straße geholt werden – mit dem Effekt, dass diejenigen, die sich anfangs auf der Seite der Privilegierten befinden, am Ende hoffen müssen, sich mit den Marginalisierten identifizieren zu dürfen, um das Fest mitfeiern zu können. c. Die Seligpreisungen stehen zwar unter Vertröstungsverdacht, zeigen aber bei Lukas die revolutionäre Liebe Gottes, die schon jetzt begonnen hat, und bei Matthäus die Bahn eines Lebens, das der Gerechtigkeit gewidmet ist.