Stimmt gar nicht!

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Glaubenssachen
-------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------Sonntag, 19. März 2017, 08.40 Uhr
Stimmt gar nicht!
Für eine neue Streitkultur
Von Ursula Ott
Redaktion: Dr. Claus Röck
Norddeutscher Rundfunk
Religion und Gesellschaft
Rudolf-von-Bennigsen-Ufer 22
30169 Hannover
Tel.: 0511/988-2395
www.ndr.de/ndrkultur
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Sprecherin 1:
Neulich erschrak ich am frühen Morgen, als ich mein Smartphone anwarf. Die erste
Facebook-Nachricht, die mich begrüßte, lautete: „Seht Euch das Schwein an!“ Darunter
das Foto eines ordentlich frisierten Mannes mit Goldrandbrille, ich erkannte ihn rasch als
den Microsoft-Gründer Bill Gates. Was hatte er getan? Milliarden Steuergelder veruntreut?
Kleine Kinder angefasst? Es musste ja einen Grund geben, warum unter meinen Freunden
so schlimme Beschimpfungen grassieren. Doch es ging um etwas völlig anderes. Bill
Gates ist mit Microsoft so reich geworden, dass er sich mit seiner Stiftung um viele soziale
Belange auf der Welt kümmert. In dieser Meldung, die mich so unsanft in den Tag
katapultierte, ging es ums Thema Impfen. Der Millionär setzt sich für ein weltweites
Impfprogramm ein. Hat er es dafür verdient, als Schwein tituliert zu werden? Natürlich
nicht.
Die Sache ließ mir keine Ruhe. Ich bin selbst eine Freundin klarer Worte, aber „Schwein“
geht gar nicht. Und „Schwein“ und „Impfen“ passte für mich auch in keinen sinnvollen
Satz. Ich wollte wissen, was die Facebook-Freundin getrieben hatte, ja, ich wollte wissen,
in welcher Welt sie lebt, die offenbar ganz anders aussieht als meine.
Sprecherin 2:
Ich kenne die Frau persönlich, das heißt: ich kannte sie mal. Wir nennen sie hier Sofie.
Sofie ist Architektin, Mutter von zwei Kindern, um ein paar Ecken herum sogar verwandt
mit mir. Was, um Gottes willen, treibt die Frau um? Ich schaute mir genauer an, was sie in
den vergangenen Monaten der Welt noch so alles mitgeteilt hatte. Vieles davon hätte man
früher als Abreißkalender in die Küche gehängt. Mutmacher-Sprüche. Sofie lebt in einer
Welt, in der es immer mehr Gefahren gibt. Es häufen sich Warnungen vor bestimmten
Nahrungsmitteln. „Diese sieben Lebensmittel darfst Du niemals essen!“ „Dieses Getränk
hast du jahrelang zu Dir genommen. Es erzeugt Krebs!“. Keine Frage, meine FacebookFreundin bewegt sich in einer Filterblase, die weit, weit weg von mir ist. Das wäre nicht
weiter schlimm. Schlimm ist, dass sie sich dort, wo Halbwahrheiten und Verschwörungen
grassieren, offenbar viel Bestätigung abholt. Das tut gut. Der Mensch mag es, zu einem
großen Ganzen zu gehören.
Sprecherin 1:
Was ist das, eine Filterblase? Das Wort stammt vom US-amerikanischen Internet-Aktivisten
Eli Pariser. Er schrieb 2011 ein Buch, das auf Deutsch erschien unter dem Titel „Filter
Bubble. Wie wir im Internet entmündigt werden.“ Inzwischen gibt es auch den Begriff
„Echokammer“, der letztlich dasselbe meint – wir seien zunehmend gefangen in einer
virtuellen Welt, die uns von neuen Ideen und Themen ausschließt. Mit einem Bild, das
jeder Amerikaner sofort versteht, beschreibt Pariser, wie Facebook, Amazon und Google
uns in diesen Filterblasen gefangen halten: „Sie bieten uns zu viele Süßigkeiten und nicht
genug Karotten.“
Nun könnte man denken: So doof kann man gar nicht sein, dass man immer nur
Süßigkeiten isst. Zwingt uns ja keiner, in der süßen Welt der Blase festzukleben. Aber
tatsächlich neigt der Mensch nicht erst seit der Erfindung des Internets dazu, sich in
seiner bequemen Welt einzurichten.
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Drei Faktoren kommen zusammen.
Erstens, die Psychologie: Schon in den 50er Jahren stellte der Psychologe Leon Festinger
die These auf, dass wir schlecht damit leben können, wenn unser Bild nicht mit der
Wirklichkeit übereinstimmt. Er sprach von der „kognitiven Dissonanz“. Salopp gesagt: Der
Mensch will gern in dem bestätigt werden, was er immer schon gedacht hat. Drum
blendet er Erkenntnisse aus, die dem widersprechen. Das hat es also immer schon
gegeben.
Zweitens, die Soziologie. Auch diese Erkenntnis ist nicht neu, Forscher sprechen von der
Soziophilie in Beziehungen. Die alte Weisheit: Gleich und gleich gesellt sich gern. Der
Lehrer bewegt sich gerne in Lehrerkreisen, die Krankenschwester fährt ins Wochenende
mit ihren Krankenschwestern-Freundinnen. Ich weiß, wovon ich rede: Bei meiner ersten
Hochzeit weigerte sich eine damals angesagte Liveband zu spielen. Journalisten, wusste
der Rocker, laden immer Journalisten ein auf Parties. Und die sind langweilig und sie
tanzen nicht. Leider hatte er übrigens recht.
Die dritte Dimension allerdings ist neu: Die technologische. Algorithmen sorgen nicht nur
dafür, dass wir mit News gefüttert werden, die unser Weltbild bestätigen. Sie bieten uns
nicht nur Freunde und Geschäftspartner an, die so ähnlich sind wie wir. Nein, viel
schlimmer, sie blenden systematisch Dinge aus, die nicht dazu passen.
Google und Co maßen sich tatsächlich an, alles über uns zu wissen. Eine ungeheure
Hybris, Google ist ja nicht Gott. Im Alten Testament gibt es den Psalm 139, der ziemlich
genau beschreibt, wovon die Algorithmen träumen:
Sprecherin 2:
„Herr, du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du
verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst
alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du HERR nicht alles
wüsstest.“
Sprecherin 1:
Ganz so weit ist es noch nicht mit den sozialen Netzwerken. Alles wissen sie nicht, aber
sehr, sehr viel. Und sie nutzen es, um uns mit immer denselben Nachrichten zu versorgen,
die unser Weltbild bestätigen. Sie halten uns fest in unserer Filterblase.
Sprecherin 2:
Was können wir tun, um diese Filterblasen zum Platzen zu bringen? Gefragt sind viele. Die
Medien. Die Wissenschaften. Die Bibliotheken. Und – Überraschung – wir selbst. Wir
können die Echokammern verlassen und die echte Auseinandersetzung kultivieren.
Doch fangen wir an bei den Medien. Den neuen, den sozialen. Über die lernen wir viel,
aber vielleicht lernen wir das Falsche. Wir sitzen als Eltern abends auf kleinen Stühlen in
überheizten Klassenzimmern und machen uns Sorgen. Wie viele Stunden hat Hannah ihr
Smartphone angeschaltet? Bist du mit Leon auf Facebook befreundet? Wie schlecht ist die
Schule mit Computern ausgestattet? Ach, da fehlt ein Kupferkabel und darum kommt
keiner ins Netz? Haha, und im Sprachlabor – ja, das gibt’s noch – wurde schon wieder
heimlich Clash of clans gespielt.
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Das sind Themen, die wir beherrschen. Dafür fällt uns eine Maßnahme ein. Oder eine
Sanktion. Wir beantragen besseres W-Lan, wir machen eine Art Gerätekunde. Wir
diskutieren, ob eingesammelte Handys am Abend oder erst am Folgetag wieder
ausgehändigt werden.
Was wir wirklich unseren Kindern beibringen müssten. Und dafür müssten wir es selbst
erst mal verstehen. Was ist eine gute Nachrichtenquelle? Wie erkenne ich eine dubiose?
Wie kommt der Newsfeed auf Facebook zustande? Tja, das weiß leider gar keiner, weil
Facebook das nicht verrät. Aber beängstigend ist es schon, dass jeder zweite Deutsche –
Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen – denkt, dass das ein ganz normaler
Nachrichten-Fluss ist. Eine Art Tagesschau auf dem Handy.
Und das soll alles die Schule leisten? Was denn noch? Nein, ich finde: Das müssen auch
die Medien selbst leisten. Einige „alte“ Medien haben schon dazugelernt, logisch, sie
stehen ja viel mehr unter Druck als die neuen. Zeitungen legen neuerdings ihre Quellen
offen. Schreiben unter ihre gedruckten Artikel oder ins Netz, wo recherchiert wurde, wie
lange. Bringen an prominenter Stelle Korrekturen, wenn sie einen Fehler gemacht haben.
Man könnte noch viel mehr in diese Richtung denken. Warum nicht, so schlägt der
Mainzer Journalistik-Professor Tanjev Schulz vor, warum nicht eine feste Rubrik bei jedem
Artikel. „Das wissen wir.“ „Das wissen wir nicht“.
Viel, viel mehr Selbstkritik kann man erwarten von den sozialen Medien. Zumindest dann,
wenn auf ihren Kanälen so offensichtliche Lügen verbreitet werden, dass Menschen zu
Schaden kommen.
Sprecherin 1:
Verführerischer Blick, rot lackierte Fingernägel. Sexy räkelt sich Michaela Jaskova auf
einer Ledercouch. Die Ungarin haucht an einem Junimorgen 2016 die Worte in die
virtuelle Welt: „Van der Bellen dement und schwer krank???“
Alexander van der Bellen ist zu diesem Zeitpunkt 72 Jahre alt, er kandidiert in Österreich
als Bundespräsident gegen den Populisten Norbert Hofer. Der Facebook-Post mit sexy
Michaela wird innerhalb von sieben Minuten in über zehn Gruppen geteilt, sie heißen
„Österreicher zuerst“ oder „Scharia nein danke“. In rasender Geschwindigkeit verbreiten
Menschen die Nachricht mit dem Gerücht weiter, zu der angeblichen Demenz kommt
noch der Verdacht auf Krebs. Acht Wochen später sieht sich der alte Herr genötigt, in die
Offensive zu gehen. Er entbindet den Krebs-Spezialisten Christoph Zielinski vom
Allgemeinen Krankenhaus Wien von der Schweigepflicht, der Arzt geht vor die Kamera und
bestätigt, sein Patient van der Bellen sei kerngesund. Wie entwürdigend. Und wie ekelhaft,
dass es so weit kommen musste.
Seit einem Jahr gehen Medienanwälte der Grünen in Österreich gegen Facebook vor. Und
gegen Michaela Jaskova, die es im wahren Leben gar nicht gibt. Es ist ein Fake-Profil.
Facebook stellt sich taub. Der Kampf ist teuer, mühsam und war nach einem Jahr
wenigstens ein kleines bisschen erfolgreich: Per einstweiliger Verfügung wurde Facebook
gezwungen, wenigstens in Österreich die Beschimpfungen der falschen Frau Jaskova zu
löschen. Im Ausland sind sie immer noch zu lesen.
Sprecherin 2:
Und das sind noch die Fälle, in denen wir alle mit gesundem Menschenverstand sagen:
Das ist eine Lüge. Eine Fake-News. Der Mann – inzwischen Bundespräsident der Republik
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Österreich – hat keinen Krebs, der Mann ist gesund. Gegen Lügen muss man doch was tun
können. Wie viel schwieriger wird es im diffusen Bereich der Halbwahrheiten, Heilslehren
und Verschwörungstheorien.
Sprecherin 1:
Die Wahrheit hat es wirklich schwer in diesen Tagen.
Drum finde ich, neben ERSTENS den Medien ist ZWEITENS auch die Wissenschaft gefragt,
zur Suche nach Wahrheit noch besser beizutragen als jetzt. Und gegen den ganzen
pseudo-wissenschaftlichen Müll im Netz anzugehen. Der Präsident der Deutschen
Forschungsgemeinschaft, Peter Strohschneider, hat es unlängst auf den Punkt gebracht:
„Forschung setzt die Bereitschaft voraus, sich durch die Welt und das, was andere über
die Welt wissen, positiv irritieren zu lassen.“
Positiv irritieren – das sind zwei schöne Worte für die Suche nach Wahrheit. Denn Wahrheit
ist oft nicht schwarz oder weiß. Sie ist selten gut oder böse. Der DFG-Präsident sagt dazu:
„Einbringen können die Wissenschaften das systematische, aufgeklärte Denken und den
gelassenen Umgang mit Unvertrautem, Unbestimmtheit und Komplexität.“
Sprecherin 2:
Das mit der Irritation ist irgendwie aus der Mode gekommen. Oder besser: Wir sind aus
der Übung gekommen. Klar, wenn wir uns in der Filterblase mit ewig Gleichen bewegen,
werden wir ja auch nicht irritiert. Und wenn wir doch mal Gegenwind bekommen, sind wir
schnell gekränkt. Vergreifen uns im Ton, reagieren beleidigt, werden ausfallend. Also, Mut
zur Irritation. Aber wie?
Es klingt furchtbar altmodisch, aber Irritation entsteht vor allem dadurch, dass wir die
virtuelle Welt ab und zu verlassen und die reale betreten. Zum Beispiel eine echte
Bibliothek besuchen anstatt nur bei Google zu recherchieren. Das ist der DRITTE Ausweg
aus der Echokammer. Leute, geht in die Bibliothek!
Moderne Bibliotheken bieten neuerdings die Volltextsuche online. Das ist zweifellos ein
riesiger Fortschritt, vor allem für Menschen, die weit weg wohnen oder sich aus anderen
Gründen nicht mehr in einen Lesesaal begeben können. Es ist praktisch. Aber es ist
schade. Denn in einer realen Bibliothek, mit echten Regalen, stehen Bücher, die man
vielleicht gar nicht gesucht hat. Man kopiert nicht nur die drei Textstellen, die man für die
nächste Seminararbeit oder Präsentation braucht. Sondern blättert auch noch in einer
Zeitschrift, die zu einem völlig anderen Fachgebiet gehört. Klingt altmodisch, aber ich fand
an meinem Studium am spannendsten solche Zufallsfunde.
Sprecherin 1:
Aus demselben Grund sind – VIERTENS - Zeitungen aus Papier und öffentlich-rechtlicher
Rundfunk unverzichtbar. Ich erfahre vieles über meine Facebook-Freunde und über die
Tagesschau-App, die ich auf meine Interessen eingestellt habe. Aber wenn ich morgens
die Süddeutsche Zeitung lese, stoße ich auf Geschichten, die ich nie gesucht hätte. Lauter
Irritationen. Vieles werfe ich ungelesen weg. Aber selbst wenn ich den Sportteil gleich
entsorge, was ich aus Zeitgründen manchmal so mache, dann weiß ich doch wenigstens
beim Gang zum Altpapier, dass es einen Sportteil gab. Und wenn ich auf langen
Autofahrten und nachts in schaflosen Stunden einfach das Radio anmache anstatt einen
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Streaming Dienst – werde ich permanent von Dingen überrascht, nach denen ich gar nicht
gesucht habe.
Wer sich nur noch über soziale Medien informiert, landet deutlich schneller in einer der
Filterblasen. Das zumindest vermutet der Branchendienst meedia, der in den vergangenen
Wochen eine veritable „Filterblase“ zum Platzen brachte. Es ging um die Unruhen in den
Pariser Vorstädten. „Die meisten deutschen Medien schweigen“ behaupteten viele
Blogger. „Paris brennt und keiner schaut hin“, hieß es bei Facebook. Doch der BranchenDienst konnte nachweisen: Sowohl die Tagesschau als auch die großen Tageszeitungen
hatten ausführlich über die Krawalle berichtet. Nur kam das offensichtlich in den sozialen
Medien gar nicht an. Wer auf die böse Lügenpresse schimpft, liest und guckt sie oft gar
nicht mehr. Fazit des Branchendienstes: „Willkommen in der Filterblase der Social Media“.
Sprecherin 2:
Was dieses ewige Baden im eigenen Saft bewirkt, hat der Publizist Roger Willemsen so
ausgedrückt: Wenn wir uns nur noch in den sozialen Medien bewegen, sind wir in einer
„riesigen autobiografischen Welt“.
Riesige autobiografische Welt. Willemsen hat diese Worte in seinem letzten Buch
geschrieben, genau genommen war es ein Vortrag, der nach seinem Tod erschien. „Wer
wir waren“. Er beschreibt darin eine Welt, in der die Einzelnen nur noch um sich kreisen.
Roger Willemsen war einer von denen, die sich ständig hinaus getraut haben auf die
Bühne. Er was einer der unmittelbarsten Menschen, die ich kannte, immer zugewandt,
aber immer reagierend auf sein Gegenüber. Er könnte ein Vorbild sein, der Mensch
braucht ja Vorbilder. Denn nur wer immer wieder raus geht ins echte Leben, lernt das
Streiten. Das Sich-in-Frage- stellen. Zugeben, dass man Fehler gemacht hat. Gegenrede
anhören, ohne beleidigt zu sein. Wo können wir das kultivieren? Wo sind die Übungsfelder
für das Streiten Angesicht zu Angesicht?
Sprecherin 1:
Roger Willemsen traf man häufig in der realen Welt, zum Beispiel auf der Frankfurter
Buchmesse. Rund um Bücher gibt es viele Festivals und Foren, in denen man sich richtig
streiten kann. Auch beide großen Kirchen bieten viele Gelegenheiten, das Diskutieren zu
üben. Der Katholikentag lehnte es vergangenes Jahr von vorn herein ab, Menschen mit
AfD-Parteibuch zuzulassen. Der Evangelische Kirchentag, der im Mai in Berlin und
Wittenberg stattfindet, geht einen anderen Weg: Man will nicht grundsätzlich Parteien
ausschließen. Beide Entscheidungen sorgten für viel Furore, gerade auch im Netz. OnlinePetitionen, erhitzte Debatten auf Facebook. Welche Linie am Ende die richtige war –
Gegner auszuschließen oder einzuladen - wird sich zeigen. Aber sicher ist: Wo
hunderttausend Menschen zusammen kommen, um zu diskutieren, wo man sich ausreden
lässt und zuhört – da ist viel für die Wahrheit gewonnen.
Beide Kirchen sind noch immer Orte, wo man unbekannten und unbequemen
Zeitgenossen begegnen kann. Wenn man es denn will. Nicht unbedingt sonntags im
Gottesdienst – da trifft sich zunehmend ein Milieu von Ähnlichen. Aber beim Elternabend
der Konfirmanden. Bei Tagungen der Evangelischen Akademien, die ja entstanden sind,
um einen geschützten Dialog zu pflegen.
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Sprecherin 2:
Eine letzte Episode. Ein Abend im Frühsommer. Literaturhaus, der Schriftsteller liest
hinreißend. Sein Roman ist ein Bestseller, der Mann ein Schlawiner. Flirtet mit der
Moderatorin, lässt sie einmal böse hängen, spielt mit ihren fleißig aufgeschriebenen
Fragen, trinkt eine ganze Flasche Welschriesling aus, es ist ein lustiger Abend. Man
befreundet sich auf Facebook, der Sommer nimmt Fahrt auf, der Schriftsteller äußert sich
zu diesem und jenem, und plötzlich, es mag die Hitze sein, das Sommerloch oder die
aufgeheizte Atmosphäre rund um Flüchtlinge und Migration, spaltet sich seine
Anhängerschaft in den sozialen Medien. Für die eine Hälfte seiner „Freunde“ ist er
plötzlich ein Nazi, ein „frauenhassender Burschi“. Für die anderen eine Art Märtyrer, denn,
Wahnsinn, er tritt mitten im Sommer leibhaftig bei einer Lesung seines Bestsellers auf im
Wiener Museumsquartier. „Bravo, dass Du dich noch raustraust“, schreibt eine seiner sehr
devoten Anhängerinnen auf Facebook, und spätestens jetzt muss man sich doch
Gedanken machen um die Debattenkultur im Land: Ist man ein Held schon dann, wenn
man seinen Laptop zuklappt und raus in die Sonne geht? Sich der realen Begegnung
stellt, Mann zu Mann und Mann zu Frau?
Ja, vielleicht ist das der moderne Held. Der sich noch mit echten Menschen streitet, auch
wenn er vorher auf Facebook verunglimpft wurde. Bin ich froh, dass ich dem nicht im
virtuellen, sondern im klimatisierten Raum aus echten Steinen und live zugehört habe.
Wie er provoziert, aber immer charmant. Bin froh, dass ich seinen Roman gelesen habe,
der an manchen Stellen grob ist, aber doch voller Menschenliebe. Hätte ich den Kerl nur
auf Facebook verfolgt und mit ihm im Shitstorm gestanden, ich würde ihn auch für einen
seltsamen Burschi halten.
Sprecherin 1:
Drum ist dies – FÜNFTENS – das Beste, was wir tun können, um die Wahrheit zu suchen.
Raus in den echten Wind! Rein in die Auseinandersetzung mit den Menschen und den
Fakten. Streiten, irritieren, nicht gleich beleidigt sein.
„Drum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit“, so heißt es im Brief des Paulus an die
Epheser, und man möchte all den zürnenden, geifernden Rechthabern in den sozialen
Medien gerne noch sagen, wie es in dem Brief weiter heißt. „Lasst die Sonne nicht über
eurem Zorn untergehen“. Geht auch als Facebook-Post, 49 Zeichen. Läuft!
***
Zum Autor:
Ursula Ott, Chefredakteurin von chrismon und evangelisch.de
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