Die Entstehung der Neandertaler

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Ein kurzer Abriss der Menschheitsgeschichte
Kolomnentitel
3 Eine nach Funden aus Ostafrika
von Elisabeth Daynes ausgeführte
Rekonstruktion einer Homo-erectus/
ergaster-Frau; ausgestellt im Neanderthal Museum, Mettmann.
Wurfspeere aus Schöningen belegen eindeutig Jagdak-
Entwicklung des heutigen Menschen in Europa, die
tivitäten des frühen Menschen in Europa mit hoch
zeitlich parallel mit der des Neandertalers abgelaufen
spezialisierten Waffen. Von 1994 bis 1999 wurden
sein soll, ist heute widerlegt. Als Kronzeugen für die-
neun Speere entdeckt, die im Zusammenhang mit der
se als Präsapienten-Theorie bezeichnete Vorstellung
Jagd auf Wildpferde stehen.
wurden lange Zeit Funde wie Steinheim oder Swans-
Aus den Fundumständen der meisten bislang ge-
combe angesehen. Grob lassen sich nach heutigem
schilderten Funde ergeben sich Probleme sowohl be-
Forschungsstand die europäischen Funde vor dem
33
klassischen Neandertaler in vier Gruppen einteilen
(siehe Tabelle S. 38).
Die Neandertaler sind somit eine typisch europäische Menschenform. Ihre eigenständige Entwicklung
wird spätestens im Zeitraum ab 300 000 Jahren deutlich. Allerdings herrscht auch in Europa in dieser Zeit
noch eine erhebliche Variabilität in der Skelettmorphologie. Dies lassen insbesondere die Funde der mindestens 32 Individuen aus der Sima de los Huesos, Sierra
de Atapuerca, erkennen, die zwischen 300 000 und
3 Der 1907 entdeckte, sehr robuste
Unterkiefer von Mauer bei Heidelberg galt mit einem Alter um
600 000 Jahre bis vor wenigen
Jahren als das älteste menschliche
Fossil Europas. Nach diesem Fund
wurde die Art Homo heidelbergensis
benannt.
200 000 Jahre datiert werden. Zeitgleiche Funde aus
Afrika ähneln dagegen deutlich der Morphologie des
anatomisch modernen Menschen, während in Asien
späte Homo-erectus-Formen bis ca. 30 000 Jahren vor
heute existieren! Somit ist nach bislang vorherrschender Lehrmeinung anhand der vorliegenden Funde und
züglich ihrer Interpretation als auch ihrer Datierung.
Datierungen davon auszugehen, dass sich ungefähr
Eine weitere Schwierigkeit ist die stammesgeschichtliche Einordnung der Fossilien. Obwohl einige der frühen europäischen Funde auch in neuerer Zeit als Homo erectus bezeichnet wurden, ist eine große Anzahl
von Paläoanthropologen, vor allem im englischsprachigen Raum, dazu übergegangen, die meisten Funde
von fossilen Menschenresten aus der Zeit zwischen ca.
600 000 und 800 000 Jahren mit der umstrittenen
Bezeichnung des Homo antecessor zu benennen; Knochenfragmente aus einem Zeitabschnitt von 200 000
bis 600 000 Jahren ordnen sie Homo heidelbergensis
(benannt nach dem Fund von Mauer bei Heidelberg)
zu. Die früher gebräuchliche und umstrittene Bezeichnung archaischer Homo sapiens wurde somit ersetzt.
3 Die menschlichen Skelettreste
aus der Gran Dolina bei Atapuerca
in Spanien gelten heute als die
ältesten Menschenreste Europas:
Die Funde werden der Art Homo
antecessor zugerechnet, die als eine
Übergangsform zwischen Homo
erectus/ergaster und Homo
heidelbergensis gilt.
Neandertaler_Umbruch2.indd 32-33
Die Entstehung der Neandertaler
Alle Paläoanthropologen gehen heute davon aus, dass
sich ausgehend von Homo heidelbergensis die Entwicklung in Europa über die so genannten Ante-Neandertaler und Prä-Neandertaler zum klassischen Neandertaler fortsetzte. Die Theorie einer eigenständigen
22.02.2006 11:44:27 Uhr
46
Kolumnentitel
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Das Aussehen der Neandertaler
Neandertaler versus moderner
Mensch: Anatomie im Überblick
Im Gegensatz zu vielen anderen Vorfahren des heuti-
Hirnschädel flach
und langgestreckt
Abflachung oberhalb
des Hinterkopfs
flache Stirn
gen Menschen, deren Skelettbau (Morphologie) nur
sehr bruchstückhaft oder mit mehr oder weniger gro-
Überaugenwulst
ßen Lücken bekannt ist, liegen von Neandertalern
nicht nur eine Vielzahl von Einzelknochen, sondern
auch einige vollständige Skelette vor. Seit vor 150 Jah-
deutlich
abgesetztes
Hinterhaupt
ren der erste Neandertaler identifiziert wurde, befassen sich Paläoanthropologen mit ihrer speziellen
fehlende
Wangengrube
Morphologie. So haben zahllose Publikationen ausschließlich die Skelettreste der Neandertaler zum
Thema. Neandertaler können daher als die am besten
Hinterhauptwulst
erforschte Menschenform nach dem heutigen Men-
kleiner
Warzenfortsatz
schen bezeichnet werden. Die Beschäftigung mit ihrem Aussehen und die sich daraus ergebenden Unterschiede zum modernen, heutigen Menschen sind
retromolare Lücke
negatives Kinn
von Anfang an ein zentrales Problem der Forschung
gewesen. Auf ersten Forschungsergebnissen basierende Rekonstruktionsversuche prägten das Bild der Ne-
Hirnschädel hoch
aufgewölbt und kurz
andertaler und trugen zu ihrem bis heute existierenden negativen Image bei (siehe „Das Image-Problem
steile Sirn
des Wilden Mannes“). Die zahlreichen Funde von Skelettresten der Neandertaler haben in der Zwischenzeit wenige Fragen zu ihrem Körperbau offen gelassen und somit viele der alten Missverständnisse und
Fehlinterpretationen korrigieren können. Tabellarisch
kein
Überaugenwulst
sind hier die Skelettmerkmale von Neandertalern im
Vergleich zum anatomisch modernen Menschen aufgelistet:
7 Die kräftigen Überaugenwülste gehören
zu den eindeutigen Bestimmungsmerkmalen,
wodurch sich die Neandertaler vom anatomisch modernen Menschen abgrenzen
lassen.
kein
Hinterhauptwulst
Wangengrube
vorhanden
großer
Warzenfortsatz
3 Ein Vergleich der Schädelmerkmale des
Neandertalers und des anatomisch modernen
Menschen.
Neandertaler_Umbruch2.indd 46-47
positives Kinn
22.02.2006 11:45:13 Uhr
68
Kolumnentitel
69
Wie lebten die Neandertaler?
Lebensraum
feuchter als heute. Große Laubwälder breiteten sich
aus. Wärmeliebende Pflanzen wie der Buchsbaum wa-
Die Neandertaler werden häufig als erste Europäer
ren bis Norddeutschland verbreitet. In den Flussniede-
bezeichnet. Damit wird auf die Tatsache hingewie-
rungen mit ihren weidengesäumten Alt- und Totar-
sen, dass es sich bei den Neandertalern um die einzi-
men gab es viele Biber; Flusspferde hatten ihren
ge Menschenform handelt, die sich unabhängig in
Lebensraum bis in unsere Breiten ausgedehnt. Hasel-
Europa entwickelt hat. Die Neandertaler verbreiteten
nuss, Holunder und Schlehengebüsche säumten lichte
sich jedoch nicht nur in Europa, sondern drangen bis
Wälder, in denen Eiben neben Buchen, Linden und Ei-
in den Nahen Osten, in den Nordirak und nach West-
chen wuchsen. Die Wälder waren der Lebensraum für
asien bis ins heutige Usbekistan vor. Den östlichsten
Waldelefanten, Damhirsche, Auerochsen und Wild-
Fundpunkt stellt das Grab von Teshik-Tash dar.
schweine. In den Grasfluren weideten Pferde, Wisente
Die stammesgeschichtliche Entwicklung zum Ne-
und Nashörner. Unter solchen Umweltbedingungen
andertaler nahm ihren Anfang in Europa während der
kam der Jagd sicher nur eine eingeschränkte Bedeu-
vorletzten Eiszeit, vor etwa 250 000 bis 200 000 Jah-
tung zu. Die Fülle an verfügbaren Sammelpflanzen er-
ren. Ihre letzten Vertreter sind vor etwa 30 000 Jahren
höhte den Anteil an pflanzlicher Nahrung. Wildobst,
nachgewiesen. Während dieser langen Zeit mussten
Beeren, Nüsse, Bucheckern, Eicheln, Pilze, Knollen und
sie sich immer wieder auf wechselnde Klimabedin-
Grünpflanzen waren eine sichere Lebensgrundlage. Im
7 Blick auf eine herbstliche
Tundra – ein Lebensraum der
Neandertaler
gungen einstellen. Eiszeiten sind keine Perioden kon-
10 000
werden, dass sich das Klima mitunter sehr schnell än-
20 000
derte: Die Jahresdurchschnittstemperatur schwankte
halb eines Jahrzehnts um 10 °C. Die prähistorischen
40 000
Menschen mussten folglich flexibel auf Umweltverän-
50 000
derungen reagieren.
ler, war der gesamte nordeuropäische Bereich vereist.
Mitteleuropa war von einer eiszeitlichen Tundra bedeckt. Im Bereich der Alpen und Pyrenäen erstreckten
60 000
70 000
80 000
sich ausgedehnte Gletscher. Lediglich in der Mittel-
90 000
meerregion erlaubt das günstigere Klima das Wachs-
100 000
Frühglazial
Vor 150 000 Jahren, zur Zeit der frühen Neanderta-
Interpleniglazial
30 000
Würm-Eiszeit
dann innerhalb von 20 Jahren oder auch nur inner-
110 000
letzten Zwischeneiszeit (Eem) vor etwa 130 000 Jahren
120 000
auf. Während dieser etwa 10 000 Jahre andauernden
Warmzeit war das Klima in Deutschland wärmer und
Neandertaler_Umbruch2.indd 68-69
130 000
Letzte
Warmzeit
tum von Laub- und Nadelwäldern.
Die ersten klassischen Neandertaler treten in der
2. Kältemaximum
Jetztmensch
(Homo sapiens sapiens)
Klima-Archiv der grönländischen Eiskerne gewonnen
Gliederung des Eiszeitalters
1. Kältemaximum
Neandertaler
(Homo sapiens neandertalensis)
0
Nacheiszeit
heute anhand der Daten, die aus dem tiefgekühlten
Jahre vor heute
Oberes SpätPleniglazial glazial
einen Wechsel von Warm- und Kaltzeiten. Wir wissen
Unteres
Pleniglazial
stant kalten Klimas, sondern gekennzeichnet durch
7 Eiszeiten haben kein konstant
kaltes Klima, sondern sind geprägt
durch den Wechsel von Warm- und
Kaltzeiten.
22.02.2006 11:45:31 Uhr
86
Wie lebten die Neandertaler?
Großwildjäger
legung schnitten die Neandertaler das Fleisch von den
gen gekommen. Die Neandertaler hatten ihren Lager-
lässt ebenfalls auf eine weichselzeitliche Einordnung
Neandertaler ausgenutzt. Sie wählten eine Stelle aus,
zugänglichen Stellen des Elefantenkörpers.
platz an dem windgeschützten Hang eines Bachtales,
schließen.
an der das Flusstal durch eine Hügelkette und einen
An der Fundstelle des Skelettes wurde etwa ein
des Krähenriedebaches, nahe seiner Einmündung in
Unter den Faunenresten sind mindestens 86 Ren-
Felssporn verengt wird und bauten wahrscheinlich
Dutzend Abschläge aus Feuerstein entdeckt. Nach
das weite und flache Urstromtal der Fuhse, angelegt.
tiere nachgewiesen. Zahlreiche Schnitt- und Schlags-
zusätzlich noch Zäune oder Steinhaufen auf, um ein
den Mikrogebrauchsspuren wurden drei der Abschlä-
Sie hatten Steinwerkzeuge und Knochengeräte her-
puren an den Knochen zeugen von ihrer systemati-
bestimmtes Areal abzugrenzen und den Durchgang
ge als Schlachtmesser verwendet – ein Ergebnis, das
gestellt, ihre Jagdbeute zerlegt und verwertet.
schen Ausbeutung durch den Menschen. Die Lage der
noch enger zu machen. Diese Jagdmethode bedingte
nahe legt, dass noch weitere Schlachtmesser zum
Strukturen wie Feuerstellen konnten nicht belegt
Fundstelle am Ausgang eines schmalen Bachtales in
eine Gruppengröße von mindestens 20 erfahrenen
Einsatz kamen. Diese hatten die Neandertaler entwe-
werden, da sie durch Überschwemmungen unmittel-
ein weites Flusstal ist für die Rentierjagd sehr geeignet
und aufeinander eingespielten Jägern. Ein Teil der
der vom Schlachtplatz wieder mitgenommen oder
bar nach Verlassen des Platzes zerstört worden wa-
und erinnert an jüngere Fundstellen. Wahrscheinlich
Gruppe musste die Tiere in die Engstelle treiben, wo
aber sie wurden bei der Bergung 1948 übersehen.
ren. Von einer primären Lagerung des Fundmaterials
spiegeln sich im Fundgut die Überreste mehrerer auf-
die anderen darauf warteten, ihre Speere auf die he-
Interessante Einblicke in die Verwertung von Jagd-
kann daher nicht ausgegangen werden. In großer Zahl
einander folgender Herbstjagden. Im Anschluss an
rangaloppierenden Bisons zu werfen. Es wurden nur
beute durch die Neandertaler hat eine neue Unter-
sind gut erhaltene Tierknochen überliefert, zumeist
eine unselektive Jagd zerlegten die Neandertaler die
so viele Tiere erlegt wie hinterher auch verwertet wer-
suchung der Faunenreste von Salzgitter-Lebenstedt er-
vom Rentier sowie Mammut, Pferd, Wisent und Woll-
Tiere zur Fleischgewinnung und sortierten die Kno-
den konnten. Die Zerlegung der Tiere erfolgte an Ort
bracht. Die 20 km südwestlich von Braunschweig im
nashorn. Aufgrund der außergewöhnlich guten Er-
chen anschließend. Dabei verwarfen sie solche mit ge-
und Stelle. Keines der Tiere wurde in anatomischem
Nordwesten von Salzgitter, im Stadtteil Lebenstedt,
haltungsbedingungen in tonig-humosen Schichten
ringem Markgehalt. Sie zerschlugen die Knochen nach
Zusammenhang gefunden, alle wurden intensiv ver-
gelegene Fundstelle wurde 1952 beim Bau einer Klär-
wurden zahlreiche Pflanzenreste entdeckt, die neben
einer standardisierten Methode, um an das Knochen-
wertet. Die Langknochen wurden aufgebrochen, um
anlage in 5 m Tiefe entdeckt. Bei den anschließenden
der Fauna gute Rekonstruktionsmöglichkeiten der da-
mark zu gelangen. Die Neandertaler von Salzgitter-
an das nahrhafte Knochenmark zu gelangen. Für die
archäologischen Ausgrabungen konnten von Februar
maligen Umwelt bieten. Die Neandertaler siedelten
Lebenstedt konzentrierten sich bei der Verwertung
verschiedenen Verwertungsschritte fertigten die Ne-
bis Juni 1952 ca. 150 m2 erforscht werden. Im Jahr 1977
hier demnach in einer Strauchtundra.
ihrer Jagdbeute nur auf erstklassige Ressourcen.
andertaler aus bestimmten Gesteinsrohmaterialien,
wurden weitere Ausgrabungen notwendig. Insgesamt
Auch die geologischen, zoologischen und archäolo-
Ein weiterer spezialisierter Jagdplatz der Neander-
die zum Teil am Ufer der Garonne in unmittelbarer
gischen Untersuchungen bestätigen ein kaltzeitliches
taler ist Mauran in Südfrankreich, am Oberlauf der
Nähe des Platzes aufgesammelt werden konnten, ihre
Die Schichten, in denen eine große Anzahl von Tier-
Klima. Absolute Daten um 50 000 vor heute unter-
Garonne am Fuß der Pyrenäen. Unterhalb eines stei-
Werkzeuge an. Die Gruppe verließ den etwas abseits
knochen und Steinartefakten entdeckt wurden, wa-
stützen eine geochronologische Einstufung in die
len Abhangs fanden sich Steinwerkzeuge und die
vom Jagdplatz gelegenen Lagerplatz erst, als das
ren durch Flussablagerungen auf einer weichselzeit-
Weichsel-Eiszeit. Andreas Pastoors erkannte bei einer
Knochen zahlreicher Bisons. Die Bisons zogen hier im
Fleisch aufgebraucht war. Dieser für die Bisonjagd
lichen Terrasse entstanden; neben Verlagerungen war
typologischen Neuuntersuchung der Steinartefakte
Herbst in kleinen Herden auf dem Weg in ihre Win-
günstige Platz wurde während eines Jahrtausends
es dabei auch zu Störungen durch Überschwemmun-
einen Zusammenhang mit dem Micoquien; dies
terweidegebiete durch. Diesen Umstand haben die
zum Ende des Sommers wiederholt aufgesucht. Dabei
wurde so eine Fläche von 416 m2 untersucht.
3 Erfolgreiche Jagd in Gröbern:
Der Waldelefant wird zerlegt, um
so die fleischreichen Partien zum
Lagerplatz transportieren zu
können.
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22.02.2006 11:45:44 Uhr
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