Christian Moser / Linda Simonis Einleitung: Das globale Imaginäre Am 16. März 2007 erschien in der Zeitung Le Monde ein von mehr als vierzig Autorinnen und Autoren unterzeichnetes Manifest, das einen Abgesang auf die Nationalliteratur traditionellen Zuschnitts anstimmt und die Existenz einer transnationalen französischsprachigen „littérature-monde“ proklamiert.1 Diese zeichne sich durch die Hinwendung zur Welt in ihrer ganzen räumlichen Extension und kulturellen Vielfalt aus; ihre Hauptvertreter entstammten nicht mehr der literarischen Metropole Paris, sondern der Peripherie, den ehemaligen Kolonialgebieten in Afrika, der Karibik und dem pazifischen Raum. Es fällt auf, dass in dem Manifest nicht von einer „littérature mondiale“, sondern von einer „littérature-monde“ die Rede ist. Der Begriff ist offenkundig in Analogie zu Fernand Braudels Konzept der „économie-monde“ gebildet.2 Die Verfasser des Manifests scheinen sich von herkömmlichen literarischen Weltkonzepten distanzieren zu wollen, nicht zuletzt von demjenigen der ‚Weltliteratur‘, weil diese – und sei es auf dem Wege der dialektischen Negation – auf die Kategorie der Nationalliteratur bezogen bleiben. Der Begriff der „littératuremonde“ suggeriert die Existenz eines intensivierten, unmittelbareren Weltbezugs. Unter den Bedingungen der ökonomischen, informationstechnologischen, politischen und kulturellen Globalisierung gewinnt der Weltbezug der Literatur demnach eine neue Qualität. Literatur, die unter diesen Bedingungen erzeugt wird, steht primär in einem globalen, nicht in einem nationalen Bezugsfeld. Wie lässt sich der gesteigerte Weltbezug, den der Begriff der „littératuremonde“ evoziert, genauer fassen? Eine der geläufigsten Definitionen der Glo1 Das Manifest ist online abrufbar unter : http://www.lemonde.fr/livres/article/2007/03/15/desecrivains-plaident-pour-un-roman-en-francais-ouvert-sur-le-monde_883572_3260.html [12. 06. 2013]. Vgl. auch den auf das Manifest aufbauenden Sammelband von Le Bris / Rouaud 2007. – Zu den Hintergründen vgl. den Beitrag von Bernd Blaschke im vorliegenden Band. 2 Im Unterschied zur „économie mondiale“, welche rein additiv die Gesamtheit der ökonomischen Aktivitäten auf der Erde bezeichnet, versteht Braudel unter der „économie-monde“ den Welthandel im Sinne eines zusammenhängenden Systems. Vgl. dazu auch den Beitrag von Erhard Schüttpelz im vorliegenden Band. 12 Christian Moser / Linda Simonis balisierung versteht darunter nicht bloß einen Prozess der weltumspannenden Vernetzung, der Verdichtung zeitlicher und räumlicher Verhältnisse und der globalen Integration. Globalisierung beinhaltet darüber hinaus die Entstehung eines Bewusstseins globaler Interkonnektivität, welches das Handeln der Menschen begleitet und beeinflusst: „Globalization as a concept refers both to the compression of the world and the intensification of consciousness of the world as a whole.“3 Für den Bereich der Literatur bedeutet dies zum einen, dass Prozesse des literarischen Austauschs eine wahrhaft weltumspannende Dimension ausgebildet haben, die nicht mehr auf Europa hin zentriert ist. Sie bedeutet zum anderen, dass die Produktion von Texten und anderen kulturellen Artefakten sich immer vor einem Welthorizont vollzieht.4 Der Akt der kulturellen Hervorbringung impliziert ein stets mitlaufendes Bewusstsein seiner Einbindung in globale Zusammenhänge. Global dimensionierte Austauschprozesse wirken somit auf die Verfasstheit der Literatur zurück, schlagen sich in der Wahl der Sprache(n), der Themen und Genres, der formalen Struktur der Texte und der narrativen Verfahren nieder. Neben der institutionellen Globalisierung der Literatur, die sich in Gestalt neuer medialer Distributionstechnologien (Internet), der Entstehung transnationaler Verlagshäuser und globaler Vermarktungsstrategien manifestiert, ist mithin eine immanente Globalisierung der Literatur zu verzeichnen.5 Der Weltbezug, den die Literatur im Zuge der Globalisierung gewinnt, unterzieht diese folglich einer nachhaltigen Veränderung. Offenbar sind sich die Verfasser des oben genannten Manifests der Tragweite dieser Transformation jedoch nicht ganz bewusst. Sie verbinden ihre Forderung nach mehr ‚Welthaltigkeit‘ der Literatur mit einer polemischen Attacke gegen den nouveau roman und den Poststrukturalismus. Ihnen wird vorgeworfen, ein autistisches Literaturkonzept zu vertreten, das der Herstellung geschlossener fiktiver Welten das Wort redet, anstatt sich der ‚wirklichen‘ Welt in ihrer kulturellen Vielfalt zuzuwenden. Doch eine solche Kontrastierung von fiktiver und wirklicher Welt führt in die Irre. Indem Literatur fiktive Welten entwirft, verfehlt sie nicht etwa ihren Weltbezug, sie stellt ihn vielmehr allererst her. Die Bedeutung, die Literatur für Globalisierungsprozesse gewinnen kann, beruht gerade auf ihrer Fähigkeit, fiktive Welten zu produzieren. Wenn Globalisierung ein Bewusstsein von der Einheit der Welt beinhaltet, dann ist sie auf die Existenz von Bildern und Narrativen angewiesen, die diese Einheit vorstellig machen. Das Ganze der Welt ist der Wahrnehmung nicht zugänglich – es bedarf imaginärer (literarischer und künstlerischer) Weltentwürfe, um dieses zu veranschaulichen. Auch das Projekt 3 Robertson 1992, S. 8. 4 Zum Folgenden vgl. Moser 2013. 5 Pizer 2000, S. 213. Einleitung: Das globale Imaginäre 13 einer littérature-monde kann somit, nimmt man die in diesem Begriff postulierte Verknüpfung von ‚littérature‘ und ‚monde‘ ernst, auf die literarische, fiktionale Dimension der Texte letztlich nicht verzichten. Im Gegenteil, ihr wichtiges kulturkritisches Anliegen, überkommene hegemoniale Differenzen wie die zwischen ‚littérature française‘ und ‚littérature francophone‘ zu überwinden, steht nicht in Opposition zu den Mitteln der literarischen Fiktion, sondern lässt sich vielmehr gerade im Rekurs auf letztere artikulieren und ins Werk zu setzen. Wir schlagen – in Analogie zu den Begriffen des ‚politischen Imaginären‘ und des ‚kulturellen Imaginären‘ – das Konzept des ‚globalen Imaginären‘ vor, um diese wichtige Funktion von Literatur und Kunst für Globalisierungsprozesse zu erfassen.6 Verweist das politische Imaginäre auf den durch die soziale Einbildungskraft produzierten Vorrat an Bildern, Zeremonien und Narrativen, mit deren Hilfe eine Gesellschaft sich eine Vorstellung ihrer Einheit vorspiegelt,7 so bezeichnet das globale Imaginäre den Vorrat an Bildern, Narrativen, Tropen und Figuren, die den Menschen eine Vorstellung von der (geographischen, politischen, kulturellen, ökonomischen etc.) Einheit der Welt vermitteln. Das globale Imaginäre stellt bestimmte Tropen und Figuren des Globalen (etwa: die GlobusFigur) bereit,8 aber auch narrative Muster, Formen, Themen und Motive, mit deren Hilfe sich fiktionale Welten konstruieren lassen. Der Weltbezug der Literatur besitzt folglich einen dezidiert konstruktiven und performativen Charakter : Literatur setzt sich nicht bloß mit einer gegebenen Welt auseinander, sie ist darüber hinaus an der Herstellung von Welt(en) beteiligt. Insofern der Begriff der Welt auf eine geographische, kulturelle, politische und ökonomische Totalität verweist, die aufgrund ihrer gesteigerten Komplexität der Anschaulichkeit entbehrt, ist er auf die Darstellungs- und Konstruktionsarbeit der Literatur (und anderer künstlerischer Medien) angewiesen, um überhaupt vorstellbar zu sein. Indem die Literatur fiktive Welten entwirft, wirkt sie maßgeblich an der Konzeption von Globalität in den verschiedensten diskursiven Bereichen mit. Literarischer Weltbezug und literarische Welterzeugung stehen in einer engen Wechselbeziehung. Der Weltbezug der Literatur ist mithin nicht bloß ein Effekt der Globalisierung, er ist vielmehr ein Medium der globalen Integration, der den Globalisierungsprozess aktiv befördert. Und dies gilt nicht allein für die gegenwärtige 6 Zum Konzept des politischen Imaginären vgl. Hebekus / Matala de Mazza 2003; zum Begriff des kulturellen Imaginären s. Fluck 1997. Vgl. auch das von Annette Simonis und Carsten Rohde organisierte interdisziplinäre Colloquium zum Thema „Das kulturelle Imaginäre“ (Münster, 15.–17. März 2013). Die Auswirkungen der Globalisierung auf das kulturelle Imaginäre untersucht Moraru 2011. 7 Hebekus / Matala de Mazza 2003, S. 10 und 15. 8 Vgl. dazu die Beiträge von Christian Moser, Robert Stockhammer und Angela Oster im vorliegenden Band. 14 Christian Moser / Linda Simonis Phase der Globalisierung. Das globale Imaginäre hat – wie die Globalisierung selbst – eine lange Geschichte. So unterscheidet Peter Sloterdijk drei Großphasen der Globalisierung – die metaphysische Globalisierung (Antike, Mittelalter), die terrestrische Globalisierung, die er auf den Zeitraum zwischen 1492 und 1945 datiert, und die (unsere Gegenwart prägende) elektronische Globalisierung.9 Erhard Schüttpelz zufolge hat die Geschichte der Menschheit, aus der Perspektive der „longue durée“ betrachtet, eine größere Zahl von „Globalisierungsschüben“ aufzuweisen, deren erster in der von Afrika ausgehenden Ausbreitung des Menschengeschlechts über den Globus zu sehen ist.10 Jeder dieser Globalisierungsschübe hat dem globalen Imaginären eine spezifische Erbschaft von Tropen und Figuren, Formen und Narrativen hinterlassen. Ihnen korrelierend finden sich in der Literaturgeschichte immer wieder historische Phasen und Bewegungen, aber auch Gattungen und Darstellungsformen, die sich in besonderer Weise der Herstellung eines totalisierenden Weltbezugs verschrieben haben: vom weltumspannenden Anspruch des antiken Epos bis zu den Universalisierungstendenzen des modernen enzyklopädischen Romans, vom barocken Welttheater bis hin zur Programmatik der romantischen Universalpoesie, von den mythischen Kosmogonien bis hin zu den Entgrenzungsszenarien der postkolonialen Literatur. Die verschiedenen Weltbegriffe und Weltmodelle, die dabei entwickelt werden, bedürfen einer eingehenden systematischen wie auch historischen Analyse. Sie müssen im Zusammenhang mit den ökonomischen, sozialen und kulturellen Globalisierungsprozessen gesehen werden, an denen sie jeweils partizipieren. Das Ziel des vorliegenden Bandes besteht darin, die Bestandteile des globalen Imaginären sowie die verschiedenen Modi der literarischen Weltdarstellung und Weltherstellung in ihrer historischen Bandbreite zu untersuchen. Spezifisch literarische Formen des Weltbezugs sollen dabei mit der Konstruktion globaler Zusammenhänge in anderen künstlerischen Medien korreliert werden. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Wechselwirkungen, die zwischen literarisch-künstlerischen Weltkonstruktionen und den sozialen, ökonomischen und politischen Globalisierungsprozessen existieren. Wenn dabei ein gewisser Schwerpunkt auf die Literatur des 19. bis 21. Jahrhunderts gelegt wird, so erklärt sich das aus der Tatsache, dass sich an ihr besonders gut beobachten lässt, wie die vielschichtigen Prozesse der ökonomischen, politischen, sozialen und medialen Globalisierung auf die Literatur zurückwirken und ihre inhaltliche und strukturelle Verfasstheit beeinflussen. Literatur ist das Bewusstsein des globalen Zusammenhangs eingeschrieben, 9 Sloterdijk 2005. 10 Schüttpelz 2009; vgl. auch seinen Beitrag im vorliegenden Band. Einleitung: Das globale Imaginäre 15 dem sie jeweils angehört; sie ist ein Reflexionsmedium der Globalisierung.11 Die Reflexion kann implizit erfolgen und die Form einer Anpassung an die Bedingungen des literarischen Weltmarkts annehmen: In diesem Fall ist sie von vorneherein auf globale Verständlichkeit hin angelegt und besitzt eine eingebaute „translatability“, die eine möglichst weite Verbreitung ermöglichen soll.12 Sie kann aber auch explizit sein und sich kritisch oder affirmativ mit den Folgen der Globalisierung auseinandersetzen. Das geschieht zum einen auf der inhaltlichen Ebene. Literatur erschließt sich neue Themen, die im Zuge der Globalisierung virulent werden: die Probleme der Migration, der Ökologie und der globalen Klimaveränderung, der Ökonomie und der globalen Finanzkrise, des globalen Terrors und des Konflikts der Kulturen, der Konstitution individueller und kultureller Identitäten. Doch mit dem Aufgreifen neuer Inhalte ist es nicht getan; sie stellen die Textproduzenten zugleich vor die Herausforderung, innovative Formen und literarische Techniken zu entwickeln, um die mit den Themen verbundene Ganzheit und Vielheit des Globalen zur Darstellung zu bringen. Die Literatur entwickelt eine Poetik des Globalen.13 Sie kann dabei auf etablierte Formen zurückgreifen, die seit jeher der Darstellung von Totalität verpflichtet sind, etwa auf Epos und Roman. Sie kann aber auch neue Formen ausprägen, die häufig aus der hybriden Verquickung von Gattungskonventionen entstehen: Mischformen aus Reisebericht und Roman, aus fremdkultureller Beschreibung und Selbstdarstellung (Autoethnographie), aus Lyrik und Ethnographie (Ethnopoesie), interaktive Formen wie das Blog. Ähnliches gilt für die narrativen Verfahren, die in den Texten zur Anwendung gelangen. Auf der einen Seite werden zyklische und enzyklopädische Schreibweisen reaktiviert, die sich an der Globus-Figur orientieren. Auf der anderen Seite versucht man, der Netzwerk-Struktur des Globalen durch Techniken episodischen und seriellen Erzählens oder durch hypertextuelle Verfahren Rechnung zu tragen.14 Beides lässt sich miteinander kombinieren, wie sich am Beispiel von David Mitchells Roman Ghostwritten (1999) zeigen lässt:15 Mitchell vollzieht darin eine narrative Umrundung der Erde, wobei die an unterschiedlichen Schauplätzen spielenden Episoden durch kontingente Umstände miteinander verlinkt sind. Das globale Imaginäre, die immanente Globalisierung der Literatur und die 11 Mit der Literatur als Reflexionsmedium der Globalisierung beschäftigt sich das DFG-Graduiertenkolleg Funktionen des Literarischen in Prozessen der Globalisierung an der LudwigMaximilians-Universität München. Es sieht in der Literatur „ein noch wenig konsultiertes Archiv für die Reflexion von Globalisierungsprozessen“. Vgl. http://www.grk-globalisierung.uni-muenchen.de/programm/forschung/index.html [10. 02. 2014]. 12 Apter 2001, S. 1 f. 13 Reichardt 2008, S. 27. 14 Zum episodischen Erzählen vgl. den Beitrag von Claudia Schmitt im vorliegenden Band. 15 Vgl. dazu den Beitrag von Nina Peter im vorliegenden Band. 16 Christian Moser / Linda Simonis sich daraus entwickelnde Poetik des Globalen sind bislang nur in Ansätzen erforscht. Hier zeichnet sich ein neues wichtiges Arbeitsfeld der Komparatistik ab. Der vorliegende Band, der die Beiträge der vom 15. bis 18. Juni 2011 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn veranstalteten XV. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft versammelt, will dazu Anreize bieten. Er versucht die Vielschichtigkeit der oben skizzierten Problematik der „Figuren des Globalen“ in zehn thematischen Schwerpunkten zu erschließen. Die Beiträge des ersten Themenkomplexes „Figuren des Globalen, Narrative der Totalisierung“ widmen sich der Analyse von Konzepten, Bildern und Topoi, die das Ganze der Welt, die Einheit oder Totalität des Globalen, zu erfassen versuchen. In diesem Kontext stehen einerseits begriffsgeschichtliche und -systematische Untersuchungen, die erörtern, welche (unterschiedlichen) Bedeutungsaspekte sich mit den genannten Termen verbinden und welche semantischen Verschiebungen und Veränderungen sie im Zuge ihrer jüngeren Entwicklung durchlaufen. Eine der wichtigsten Denkfiguren, unter denen man in der Neuzeit und Moderne das Globale und damit die Einheit von Welt zu begreifen versucht, ist die geometrische Figur der Kugel (als Weltkugel), die von Galilei bis Sloterdijk die neuzeitliche Rede über den Weltzusammenhang bestimmt.16 Die Plausibilität und der kommunikative Erfolg dieser Figur verdanken sich unterdessen weniger deren (für die natürliche Wahrnehmung gar nicht überprüfbaren) mimetischen Angemessenheit als vielmehr einer bildlichen Suggestivkraft, die nicht zuletzt an die seit der Antike mit dem Emblem der Kugel verbundenen Attribute des Umfassenden und Vollkommenen anknüpft. Zu den Grundkonzepten, die das Globale zu denken bzw. zu vergegenwärtigen versuchen, gehört überdies das Konzept der Totalität, das in der philosophischen Tradition gleichfalls mit den Vorstellungen des Umfassenden und Vollkommenen aufs engste verknüpft ist. Obgleich dieser Begriff im Laufe seiner Geschichte zu wiederholtem Male in seiner aporetischen Disposition entlarvt, problematisiert und mit dem Verdacht des Totalitären belegt wurde, ist er gleichwohl ein für eine Ästhetik des Globalen unverzichtbarer Begriff. Selbst seinen Gegenbegriffen – denen des Unvollständigen, des Bruchstückhaften, des Fragments –, auf die das Konzept der Totalität unweigerlich verwiesen ist, scheint noch ein unterschwelliges Begehren nach dem Erfassen des Ganzen und der Erfahrung der Fülle anzuhaften. Die totalisierende Komponente des Denkens und Redens über das Globale weist gleichsam von Haus aus eine Nähe zu bestimmten politischen Semantiken auf, denen es um die Erfassung, Kontrolle oder Beherrschung des globalen Territoriums vom Blickpunkt eines privile16 Die Anfänge des Globus-Denkens liegen in der griechischen Antike. Zur langen Geschichte der Globus-Vorstellungen und -imaginationen vgl. Cosgrove 2001. Einleitung: Das globale Imaginäre 17 gierten Beobachterstandpunkts aus zu tun ist. Zu diesem politischem Diskursfeld des Globalen gehört insbesondere der Begriff des Planetarischen, der in der Weimarer Republik von Ernst Jünger und Carl Schmitt vorgeschlagen wurde und der in der neueren postkolonialen Literaturwissenschaft einen bemerkenswerten Nachhall gefunden hat. Das Denken des Globalen bringt indes nicht nur eine spezifische Topik und Rhetorik hervor; es evoziert nicht zuletzt auch Projekte des grand récit, d. h. Versuche, eine welthistorische Vision des Globalen narrativ zu entfalten und Geschichten über den Gang der Welt im Ganzen zu erzählen. Ein zweiter Themenschwerpunkt des vorliegenden Bandes gilt der Diskussion über das Konzept Weltliteratur, das in aktuellen literaturwissenschaftlichen Debatten eine bemerkenswerte Konjunktur verzeichnet und eine Reihe von interessanten Wiederaufnahmen und Rekonzeptualisierungen erfahren hat. Neben dem klassischen Erklärungsansatz von Weltliteratur bzw. Weltgesellschaft über ein Paradigma neuzeitlicher Differenzierung ist hier als mögliche Alternative das Konzept einer in der longue durée sich entfaltenden Weltliteratur in Betracht zu ziehen, deren Anfänge dementsprechend in die frühen Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens zurückreichen. Ergänzend zu dieser genealogischen Perspektive wirft das Konzept Weltliteratur überdies die Frage nach dem Fortleben und der Transformation weltliterarischer Mythen und Narrative in der gegenwärtigen Populärkultur (Pop Songs, Hip Hop) und in den neuen Medien der digitalen Kommunikation (Computer- und Videospiele, Internet) auf. Neben diesen Neuerungen und Reakzentuierungen, die der aktuelle Diskurs über Weltliteratur in den Blick rückt, sind jedoch auch Momente von Kontinuität des alten und der neuen Weltliteraturkonzepte zu bemerken, wie z. B. die ausgeprägte räumliche Dimension, die die Goethesche Rede über Weltliteratur und andere globale Phänomene mit den gegenwärtigen Debatten verbindet. Die Raumdimension, die (zumindest in den meisten Ansätzen) dem Weltliteraturkonzept inhärent zu sein scheint, verweist zugleich darauf, dass letzterem stets auch eine (latente) politische bzw. geopolitische Problematik innewohnt. Ob diese im Rahmen der völkerrechtlichen bzw. philosophischen Tradition eines transnationalen ‚Nomos‘ oder mit Luhmann im Rahmen eines Konzepts von Weltgesellschaft als Medium globaler Kommunikation (oder eines noch anderen Ansatzes) zu erörtern sei, muss letztlich der Entscheidung der jeweiligen Weltliteraturforscher(innen) überlassen bleiben. Schon hier wird deutlich, dass der Weltliteraturdiskurs in besonderer Weise disponiert ist, die in literaturwissenschaftlichen Kontexten auch sonst geläufige Pluralität methodischer Zugänge und Standpunkte widerzuspiegeln. In dem Maße, in dem die literarische Rede über die Welt und die transnationalen Verflechtungen ihrer Teile eine eigene Topik des Globalen erzeugt, bringt sie auch spezifische Schreibweisen hervor, die im dritten thematischen Teil des vorliegenden Bandes unter dem Stichwort „Poetiken des Globalen“ 18 Christian Moser / Linda Simonis erörtert werden. Jene neuen Poetiken können dabei ebenso auf traditionelle Schreibweisen und Stilvorlagen wie z. B. die der hymnischen Poesie und des märchenhaften oder biographischen Erzählens zurückgreifen wie auch neue, experimentelle Schreibformen erproben. Ein besonderer Stellenwert kommt dabei spielerischen und reflexiven Techniken zu, die die Formen der Schrift thematisieren und zum Medium einer trans- bzw. metasprachlichen Universalpoesie erheben. Das Projekt der literarischen Beschreibung und Erzeugung von Welt wirft darüber hinaus die Frage auf, welche Gattungen und Textsorten geeignet sind, eine solche poiesis des Globalen zu leisten. Diesem Gesichtspunkt der „Weltgenres“ widmet sich der vierte Themenbereich des Bandes. Als aussichtsreiche Kandidaten für den Status des ‚Weltgenres’ fallen hier zunächst die großen Gattungen des Epos und des Dramas in den Blick, die – etwa in Gestalt der Danteschen Commedia und des barocken Welttheaters – die Totalität der Welt bzw. des Kosmos nicht nur darzustellen beanspruchen, sondern auch die jene universale Ganzheit strukturierenden Leitunterscheidungen von Heil und Verdammnis, Recht und Unrecht, ‚Heiden‘ und Christen geltend machen. Neben den literarischen Großformen bieten sich indessen auch kleinere Genres wie Lyrik und Lied als Mittel poetischer Weltformung und Träger eines globalen, transnationalen Dichtungskonzepts an. Auch performative Kunstformen wie Feier und Tanz können eine einheitsstiftende, totalisierende Valenz gewinnen, wenn sie, als Äußerungsweisen der öffentlich-politischen Sphäre, die Einheit und den Zusammenhalt der gesellschaftlichen Welt des Staates bzw. der Republik inszenieren. Ein weiterer Themenkomplex, dem der fünfte Teilbereich des Bandes gilt, ergibt sich aus der Beobachtung, dass literarische Beschreibungen und Konstruktionen von Welt immer auch Fiktionen, d. h. vorgestellte oder imaginäre Entwürfe von Welt sind. Insofern bewegen sich literarische Weltbeschreibungen stets in einem Spannungsfeld zwischen der referentiellen Bezugnahme auf die wahrnehmbare, gegebene Welt und der imaginativen (Re-)Inventio von Bildern der globalen bzw. globalisierten Welt im Medium der Literatur. Die in dieser Sektion untersuchten literarischen und philosophischen Texte entwickeln unterschiedliche Weisen, mit jenem Spannungsverhältnis umzugehen. So begreift etwa Hannah Arendt fiktionale Literatur per se als exemplarische Äußerungsform von Welt, wobei sie Welt als umfassende Sphäre des Geschichtlichen, als transnationalen Raum politischen Handelns definiert. Andere Autoren, wie etwa Marcel Proust und Jorge Luis Borges, erarbeiten je eigene Paradigmen der fiktionalen Modellierung von Welt, die sich in je unterschiedlichen Erzählstilen und Poetiken manifestieren. Mitunter fungiert die literarische Darstellung alltäglicher Lebenswelt als ein Mikrokosmos, in dem die Welt im Großen, die Zusammenhänge des Globalen, auf subtile Weise erfahrbar werden. In anderen Einleitung: Das globale Imaginäre 19 Fällen sind es hingegen archaisch anmutende mythische Elemente, wie etwa Rekurse auf Genesis-Mythen und Kosmogonien, in denen das Postulat eines gesteigerten Weltbezugs bzw. Weltgehalts zum Ausdruck kommt. Das Projekt, Welt im Modus der Fiktion zu entwerfen und zu beschreiben, impliziert zudem die Aufgabe, deren Zusammenhänge literarisch darzustellen und zu entfalten. Diesem Aspekt gilt die sechste thematische Sektion des Bandes, „Literarische Repräsentationen von Globalität und Globalisierung“. Eine Herausforderung für die literarische Darstellung von Globalität scheint dabei insbesondere darin zu liegen, den übergreifenden Nexus des Ganzen, das einheitsstiftende Band des Globalen durch die Erfahrung bzw. literarische Nachzeichnung des Partikularen hindurch aufscheinen zu lassen. Wie die Beiträge der Sektion zeigen, erproben die literarischen Texte dabei Konzepte, die es erlauben, die Opposita des Partikularen und des Ganzen als in sich widersprüchliche Einheit zusammenzudenken, wie z. B. die Figur der Dialektik, das Bild des Mosaiks oder das Modell des Netzwerks. Die Wahrnehmung von Welt und die Erzeugung des Globalen sind an Medien gebunden. Diese mediale Verfasstheit bzw. Vermitteltheit der Erfahrung von Globalität und Globalisierungsprozessen wird, wie die Beiträge des siebten Themenschwerpunkts unseres Bandes zeigen, auch in der Literatur vielfach reflektiert. Sie wird, wie die Romane Jules Vernes illustrieren, zum einen dort beobachtbar, wo (herkömmliche) Medien, in Anbetracht der neuen raumzeitlichen Anforderungen, an eine Grenze oder einen Extrempunkt stoßen, an denen sie scheitern oder kollabieren. Der konstitutive mediale Bezug äußert sich zum anderen indes auch auf der Ebene der ästhetischen Darstellung des Globalen, nämlich in dem Maße, in dem Literatur auf andere, insbesondere visuelle Medien zurückgreift, um Vorstellungen und Modelle von Welt zu entwerfen. Die hybride Verbindung von Bild und Text sowie die Hervorkehrung von Bildlichkeit innerhalb der sprachlichen Darstellung oder der Schrift bezeichnen dabei bevorzugte Verfahrensweisen, durch die die Texte Phänomene des Globalen zu evozieren suchen. Hier geht es unterdessen weniger um die bloße Suggestion von unmittelbarer Evidenz; vielmehr wird das Bild bzw. das Visuelle oft selbst thematisiert und als Mittel der Wahrnehmung und Erzeugung von Globalität ausgestellt. Unter den topischen Figuren aus dem Arsenal der Darstellungsweisen des Globalen verdient das Modell der Karte besondere Aufmerksamkeit. Diese Leitfunktion der Kartographie in der Konzeptualisierung, Aufzeichnung und ästhetischen Repräsentation des Weltganzen zu erforschen, ist Anliegen des achten Teilbereichs des Bandes („Geographie – Kartographie – Geopoetik“). Diente die Karte seit dem Altertum zunächst als Hilfsmittel der Erkundung und Erfassung spezifischer geographischer Räume, lädt sie überdies schon bald dazu ein, die gesamte, bekannte wie unbekannte Welt in diesem Modus sichtbar zu 20 Christian Moser / Linda Simonis machen. Die Karte wird so zum Stimulans und Vehikel des Entwurfs eines imaginierten Raums,17 eines globalen Imaginären, das sich in den technischen und ästhetischen Darstellungspraktiken von Landkarten und Weltkugeln und den an diese anschließenden philosophischen, geologischen und astronomischen Texten ebenso manifestiert wie in kartographisch inspirierten künstlerischen Artefakten und Filmen der Gegenwart. Die neunte Sektion des Bandes („Weltwissen, Weltdiskurse, globale Zirkulation“) trägt dem Sachverhalt Rechnung, dass der Prozess der Globalisierung einerseits auf kommunikativer, medialer, ökonomischer und verkehrstechnischer Ebene neue Formen des globalen Austauschs und der weltweiten Kommunikation hervorbringt, andererseits – nicht zuletzt in der Literatur und Kunst – eine Reflexion auf diese Vorgänge hervortreibt. Die Wahrnehmung oder Vorstellung von Globalität impliziert mit anderen Worten auch das Projekt eines Wissens von der Welt, das, teils im Rekurs auf alteuropäische Modelle und historische Erfahrungen, teils im Erproben neuer epistemischer Muster und Artikulationsformen zu konstruieren und zu entfalten, aufzuzeichnen und zu archivieren ist. Der zehnte und letzte Schwerpunktbereich des Bandes („Verhandlungen kultureller Differenz im Spannungsfeld von Globalität und Lokalität“) gilt der Beobachtung, dass sich Globalität und Globalisierung nicht in Entwürfen von Einheit und Ganzheit, in Prozessen der Verbindung und weltweiten Vernetzung erschöpfen. Das Konzept des Globalen führt vielmehr auf seiner Kehrseite immer auch Momente der Differenz mit sich. Dies gilt bereits für ältere, historische Globalisierungsphasen und Globalitätskonzepte von der Antike bis zur Frühen Neuzeit. Der Versuch, das Ganze der Welt zu erkennen und zu erschließen, setzt zugleich eine verstärkte Aufmerksamkeit und Reflexion auf regionale und kulturelle Unterschiede in Gang, die sich begriffsgeschichtlich im Aufkommen oppositiver Begriffspaare wie Griechen / Barbaren, Christen / Heiden, Okzident / Orient etc. niederschlagen. Im Blick auf jüngere, aktuelle Globalisierungsprozesse haben soziologische Studien gezeigt, dass die Entstehung eines weltumspannenden kommunikativen Netzwerks und, damit verbunden, die Genese eines umfassenden Zusammenhangs des Sozialen im Modus einer ‚Weltgesellschaft‘ soziale Exklusionsmechanismen wie regionale Differenzen nicht aufhebt oder abmildert, sondern vielmehr zum Teil sogar verstärkt.18 Von daher besteht gerade in der Gegenwart ein verstärkter Bedarf des Nachdenkens und Verhandelns über solche Spannungen und Differenzen, ein Bedarf, für den nicht zuletzt Literatur, Kunst und kulturelle Medien geeignete Darstellungs- und Reflexionsmittel bereitstellen. 17 Vgl. Dünne 2011 sowie Lestringant 2012. 18 Vgl. Stichweh 2001, S. 31 – 47 Einleitung: Das globale Imaginäre 21 Die Tagung „Figuren des Globalen“ und der vorliegende Sammelband wären kaum zustande gekommen ohne die Unterstützung mehrerer Institutionen, die das Projekt gefördert haben. Unser Dank gilt zunächst der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die die Tagung durch einen großzügigen Zuschuss unterstützt hat. Darüber hinaus danken wir der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft (DGAVL), die den kommunikativen Rahmen der Tagung bereitgestellt und aus deren Mitgliederkreis zahlreiche Beiträge hervorgegangen sind, sowie der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, die die Veranstaltung finanziell und organisatorisch unterstützt und zudem einen Druckkostenzuschuss gewährt hat. Dank gebührt schließlich Daniel Bleeser, Dr. Susanne Elpers, Stefanie Seidel, Ramona Schermer und Daniel Warwel für die tatkräftige Hilfe bei der Redaktion der Beiträge und der Erstellung der Druckvorlage. Literaturverzeichnis Apter, Emily : „On Translation in a Global Market“, in: Public Culture 2001/13, S. 1 – 12. Cosgrove, Denis: Apollo’s Eye. A Cartographic Genealogy of the Earth in the Western Imagination. Baltimore / London 2001. Dünne, Jörg: Die kartografische Imagination – Erinnern, Erzählen und Fingieren in der Frühen Neuzeit. München 2011. Fluck, Winfried: Das kulturelle Imaginäre. Eine Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans 1790 – 1900. Frankfurt a. M. 1997. Hebekus, Uwe / Matala de Mazza, Ethel: „Zwischen Verkörperung und Ereignis. Zum Andauern der Romantik im Denken des Politischen“, in: Hebekus, Uwe / Matala de Mazza, Ethel / Koschorke, Albrecht (Hg.): Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik. München 2003, S. 7 – 19. Le Bris, Michel / Rouaud, Jean (Hg.): Pour une littérature-monde. Paris 2007. Lestringant, Frank: Die Erfindung des Raums. Kartographie, Fiktion und Alterität in der Literatur der Renaissance. Hg. v. Jörg Dünne. Bielefeld 2012. Moraru, Christian: Cosmodernism. American Narrative, Late Globalization, and the New Cultural Imginary. Ann Arbor 2011. Moser, Christian: „Globalisierung und Komparatistik“, in: Zymner, Rüdiger / Hölter, Achim (Hg.): Handbuch Komparatistik. Stuttgart / Weimar 2013, S. 161 – 164. Pizer, John: „Goethe’s ‚World Literature‘ Paradigm and Contemporary Cultural Globalization“, in: Comparative Literature 2000/52, S. 213 – 227. Reichardt, Ulfried: „Globalisierung, Mondialisierungen und die Poetik des Globalen“, in: Reichardt, Ulfried (Hg.): Die Vermessung des Globalen. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. Heidelberg 2008, S. 1 – 47. Robertson, Roland: Globalization. Social Theory and Global Culture. London / Thousand Oaks / New Delhi 1992. Schüttpelz, Erhard: „Weltliteratur in der Perspektive einer Longue Durée I: Die fünf 22 Christian Moser / Linda Simonis Zeitschichten der Globalisierung“, in: Ezli, Özkan / Kimmich, Dorothee / Werberger, Annette (Hg.): Wider den Kulturenzwang. Migration, Kulturalisierung und Weltliteratur. Bielefeld 2009, S. 339 – 360. Sloterdijk, Peter : Der Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung. Frankfurt a. M. 2005. Stichweh, Rudolf: Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen. Frankfurt a. M. 2001 [2000]. Internetquellen http://www.grk-globalisierung.uni-muenchen.de/programm/forschung/index.html [10. 02. 2014]