Anomie und Jugendliteratur

Werbung
Contents
Soziologische Züge in Wolfgang Herrndorfs Comig-of-Age-Roman Tschick .................... 2
Robert K. Merton: Sozialstruktur und Anomie ..................................................................... 2
Wolfgang Herrndorf: Rückblick auf Tschick .......................................................................... 4
Anomische Züge in Wolfgang Herrndorfs Tschick ............................................................... 5
Inklusion und Exklusion ........................................................................................................ 12
..................................................................................................................................................... 14
Literaturverweis ...................................................................................................................... 14
Abbildungsverzeichnis ............................................................................................................ 14
Elisa Kretschmer
Anomie und Jugendliteratur
Mai 30, 2016
Soziologische Züge in Wolfgang Herrndorfs Comig-of-AgeRoman Tschick
In der Gesellschaft kommt es häufig zu Ungleichheiten. Durch Ungleichheiten ergeben sich
wiederum Verhaltensformen, die von der erwarteten oder gesetzten Norm abweichen. Darunter gibt
es zum einen abgeschwächte Formen, die niemandem schaden, aber auch drastische Formen, die
sich jeder Norm und Richtlinie entziehen. Dadurch entsteht Chaos und Unordnung in der
Gesellschaft. Zu den drastischen Äußerungen des Verhaltens fallen zum Beispiel illegale Aktivitäten
oder rebellische Aktionen, die sich gegen die vorhandene Sozialstruktur auflehnen. Mit solchen
Verhaltensweisen, die in den Bereich der Anomie ausarten können, beschäftigt sich der Soziologe
Robert King Merton in seinem Aufsatz Sozialstruktur und Anomie.[1] Das Thema lässt sich in der
Gesellschaft oft erkennen. Besonders bei Jugendlichen kommt es häufig zu abweichenden
Verhaltensweisen, die mitunter ausarten und gruppenbedingt sind. Die Verhaltensweisen von
Jugendlichen sind dabei aber nicht immer nur sozialstrukturbedingt, sondern werden zudem durch
„gemeinsame Situationen gegenseitig verstärkt“ (RM, S. 305). Einfluss haben somit auch andere
Jugendliche.
Dieser Beitrag soll Bezugnahme zu einem literarischen Werk nehmen, welches die Ausprägung
abweichenden Verhaltens zeigt – denn besonders in der Literatur werden gesellschaftliche
Phänomene verarbeitet. Wegen der auffälligen Anzahl abweichenden Verhaltens bei Jugendlichen,
wird hier der Bereich der Jugendliteratur in den Fokus genommen. Der Gegenstand ist dabei der
Coming-of-age-Roman Tschick von Wolfgang Herrndorf.[2] Es soll untersucht werden, inwieweit sich
das Phänomen der Anomie in diesem literarischen Beispiel wiederfinden lässt. Im Folgenden wird
zunächst eine kurze zusammenfassende Beschreibung der beiden Gegenstände geliefert. An erster
Stelle steht dabei die Zusammenfassung des Aufsatzes von Robert K. Merton, welche von der
Romanhandlung von Tschick gefolgt wird. Nach einer Gegenüberstellung der beiden Schriftwerke,
werden beide Textgegenstände zusammengeführt. Es wird analysiert, wie Mertons Aufsatz auf den
literarischen Text anwendbar ist und wie der Roman mit dem Thema der Anomie umgeht und als
Anschauungsbeispiel gesehen werden kann.
Robert K. Merton: Sozialstruktur und Anomie
Mertons Aufsatz Sozialstruktur und Anomie wurde erstmals 1938 innerhalb des Werks
Kriminalsoziologie veröffentlicht. Der Aufsatz beschäftigt sich mit verschiedenen Verhaltensformen
der Gesellschaft (vgl. RM, Vorbemerkung). Dabei kommt es nicht nur zu normkonformen, sondern
auch von der Norm abweichendem Verhalten. Das abweichende Verhalten steht im behandelten
Aufsatz zentral. Die Grundaussage Mertons ist, dass beide Extreme der Verhaltensweisen
sozialstrukturbedingt sind. Abweichendes Verhalten ist genauso Produkt der Sozialstruktur, wie
konformes Verhalten.
Obwohl der Gesellschaft freie Entfaltungsmöglichkeit zugesprochen wird, kann von keiner richtigen
Freiheit gesprochen werden. Durch bestehende Sozialstrukturen werden beispielsweise
ungleichmäßige Aufstiegschancen gegeben, sodass der Mensch zu neuen Handlungen greifen muss
um seine Ziele zu erreichen (vgl. RM, S. 284). Die Frage besteht darin, wie sich die soziale und
kulturelle Struktur auf die Gesellschaft auswirkt und somit das abweichende Verhalten – als
abweichende Reaktion auf die Struktur – hervorruft (vgl. RM, S. 284). Dabei arbeiten die Kultur- und
Sozialstruktur gegeneinander. In verschiedenen Strukturen kommt es zu unterschiedlicher
Häufigkeit abweichenden Verhaltens, welches sich auch in unterschiedlicher Form zeigt. Merton
versucht die sozialen und kulturellen Ursachen zu untersuchen (vgl. RM, S. 285).
Elisa Kretschmer
Anomie und Jugendliteratur
Mai 30, 2016
In der Gesellschaft besteht ein kulturelles Wertmuster. Die kulturelle und soziale Struktur setzt sich
aus zwei Komponenten zusammen: Zum einen gibt es kulturell vorgegebene Ziele, Absichten oder
Interessen, die es zu verfolgen gilt. Auf der anderen Seite wird bestimmt, wie diese Ziele erreicht
werden können. Der Weg zu den Zielen ist sozial strukturiert und wird wertebedingt reguliert
und/oder kontrolliert (vgl. RM, S. 286). Das geschieht zum Beispiel durch regulative Normen, wie
durch Sitten oder Institutionen – also institutionalisierte Normen. Verhaltensweisen werden dabei
in verschiedenen Abstufungsformen bewertet. So legen sich Hinweise für ein normkonformes
Verhalten in Formen wie „Vorschriften, Empfehlungen, Duldungen“ oder ähnlichem dar (RM, S.
287). Positive oder negative Konnotationen schwingen in deren Bedeutung mit. Daraus ergibt sich,
dass kulturelle Ziele und Normen nicht fest miteinander verbunden sind, sondern abhängig von der
Art der verschieden konnotierten Abstufungsform verhandelt werden müssen. Infolge dessen gibt es
unterschiedliche Typen der Gesellschaft, die different mit den beiden Komponenten umgehen. So
steht für manche eher das Ziel im Vordergrund, während der Weg dorthin auf der Strecke bleibt.
Dies zeigt sich im Beispiel der nicht immer vorhandenen Aufstiegschancen. Wirtschaftlicher Erfolg
kann als kulturelles Ziel beschrieben werden, welches jedoch nicht jeder gleichbedingt erreichen
kann. Dadurch kann eine Abweichung im normkonformen Verhalten entstehen. Grund ist die
kulturelle Erfolgsstruktur, die nicht mit der Sozialstruktur zusammen funktioniert (vgl. RM, S. 302).
Kulturelle Werte führen also zu einem Erfolgsstreben, was aber mitunter durch die Sozialstruktur
beschränkt wird. Entgegen der nicht gegebenen freien Entfaltung entwickeln sich hieraus neue,
abweichende Verhaltensweisen (vgl. RM, S. 297). Durch die Diskrepanz zwischen Ziel und
tatsächlich vorhandenen Chancen entsteht Druck, der das Anomische als sozialen Prozess erklärt
(vgl. RM, 306). Abweichungen können auch als Gruppenerfolg verstanden werden, die sich auf das
soziale System auswirken können und/oder sollen. Zur Folge kann eine Schwächung der Legitimität
bestimmter institutioneller Normen sein, die im dynamischen, sozialkulturellen Prozess Innovationen
begünstigen können (vgl. RM, S. 307). Ebenso kann das Ungleichgewicht der Komplexe auch auf der
anderen Seite liegen. Dabei wird eher der Weg anstelle des Ziels fokussiert. Im letzteren Fall
handelt es sich um eine neophobische Gesellschaft, die sich eher auf alte und bewährte Traditionen
beruft (vgl. RM, S. 288). Zudem gibt es den Mittelweg, der sowohl Endprodukt und Prozess in
Betracht zieht – hierbei handelt es sich um Gesellschaften, die sowohl als integriert und als stabil
bezeichnet werden können.
Mertons Hypothese besagt, dass abweichende Verhaltensformen für den größer werdenden Spalt
zwischen Ziel und Weg verantwortlich sind (vgl. RM, S. 289). Abweichendes Verhalten kommt
beispielsweise zum Vorschein, wenn man zu sehr auf das Ziel fokussiert ist. Das Erstreben steht
dabei im Mittelpunkt, während mit einem geringen Grad an Kontrolle versucht wird, effiziente und
technisch wirksame Mittel einzusetzen. Somit kann die Weise, ein Ziel zu erreichen, anomische Züge
annehmen (vgl. RM, S. 290). Anomie definiert sich hierbei als Zustand fehlender oder schwacher
sozialer Normen. Die soziale Ordnung wird dadurch gestört (vgl. RM, S. 290). Die Umwelt von
Individuen setzt sich zudem immer aus der kulturellen und sozialen Struktur zusammen, die Merton
wie folgt definiert:
Die kulturelle Struktur können wir etwa definieren als den Komplex gemeinsamer
Wertvorstellungen, die das Verhalten der Mitglieder einer gegebenen Gesellschaft oder
Gruppe regeln. Und mit sozialer Struktur ist der Komplex sozialer Beziehungen gemeint,
in die die Mitglieder der Gesellschaft oder Gruppe unterschiedlich einbezogen sind. Als
Anomie wird schließlich der Zusammenbruch der kulturellen Struktur bezeichnet […].
(RM, S. 292)
In den beiden Strukturkomplexen entsteht eine Art Spannung, aus der anomisches Verhalten
hervorgehen kann. Die Sozialstruktur kann dabei entweder hemmend oder fördernd funktionieren.
Elisa Kretschmer
Anomie und Jugendliteratur
Mai 30, 2016
Im Falle der Hinderung wird das Individuum schlecht integriert und verfällt einer möglichen
Normlosigkeit. Die Art der individuellen Anpassung an die Gesellschaft kann sich in verschiedenen
Formen zeigen. Merton führt dazu fünf unterschiedliche Typen und/oder soziologische Mechanismen
der Anpassung auf:
Konformität: Die Gesellschaft basiert auf gemeinsamen Werten, Ziele und legale Mittel
befinden sich in gleichmäßigem Interesse (vgl. RM, S. 293 ff.)
Innovation: Im Vordergrund steht eher das Ziel, welches mit wirksamen – auch illegalen –
Mitteln zu erreichen versucht wird (vgl. RM, S. 294).
Ritualismus: Statt des Ziels stehen die legalen Mittel zentral, an den Normen wird zwanghaft
festgehalten (vgl. RM, S. 308).
Rückzug: Weder Ziel noch Mittel stehen zentral. Betroffene sind meistens Außenseiterfiguren
und kein direkter Teil der Gesellschaft (gl. RM, S. 309).
Rebellion: Es wird versucht, eine neue Sozialstruktur herzustellen. Ziel sind ein Wandel der
Werte und Aufgeben vorheriger Wertvorstellungen (gl. RM, S. 310ff.)
Es ergibt sich, dass es ohne einen Wandel der Sozialstruktur zu keinem Wandel des ausgeübten
Drucks auf die Gesellschaft kommen kann (vgl. RM, S. 312). Das lässt sich auf viele gesellschaftliche
Bereiche anwenden. Im Folgenden wird zunächst der Roman Tschick zusammengefasst und im
Anschluss daraufhin analysiert.
Wolfgang Herrndorf: Rückblick auf Tschick
Wolfgang Herrndorfs Roman Tschick ist im Jahr 2010 erschienen. Es handelt sich um einen Jugendund Coming-of-age-Roman, der sich mit der Geschichte zweier Protagonisten im jugendlichen Alter
auseinandersetzt. Die Freundschaft der beiden Jungs entsteht erst während des Buches, welches die
beiden auf einer Reise begleitet. Der 14 jährige Maik stammt aus bürgerlichen und finanziell guten
Verhältnissen, während es sich bei Tschick um einen Spätaussiedler aus Russland handelt. Maik
befindet sich in seiner Klasse eher in der Außenseiterposition. Er wird weder zu dem Geburtstag des
heimlichen Schwarms Tatjana eingeladen, noch wird er von seinen Mitschülern positiv beachtet.
Tschick (Andrej Tschichatschow) stößt als Neuzugang in die Klasse. Er nimmt oftmals auffallend
betrunken am Unterricht teil. Auch er ist eine Außenseiterfigur. Mit Beginn der Sommerferien wird
zudem das negativ familiäre Umfeld von Maik deutlich. Während seine Mutter in eine Entzugsklinik
eingewiesen wird, fährt der Vater mit dessen Assistentin in den Urlaub. Maik ist somit auf sich allein
gestellt. Ohne zuvor großartig miteinander geredet zu haben, taucht Tschick mit einem gestohlenen
Lada Niva vor Maiks Haustür auf. Die beiden Jungs beschließen Tschicks Großvater in der Walachei
zu besuchen. Damit beginnt die Reise der beiden Protagonisten. Unterwegs durchlaufen sie
verschiedene Stationen, die nicht immer ungefährlich sind. Zuerst landen die Freunde in einem
kleinen Dorf bei einer Familie, die sie zum Essen einladen. Danach kommen sie zu einer Müllkippe.
Dort suchen sie einen Schlauch, um Benzin für das Auto zu stehlen. Auf der Müllkippe lernen Maik
und Tschick das Mädchen Isa kennen. Sie hilft ihnen und schließt sich den Freunden an. Die nächste
Station ist ein Stausee, an dem sich Maik und Isa näher kommen. Daraufhin besteigen die drei einen
Berg und ritzen ihre Initialen in ein Stück Holz, um ihre Freundschaft zu verewigen. An derselben
Stelle wollen sie sich in 50 Jahren wieder treffen. Danach trennen sich die Wege zwischen Isa und
den Jungs wieder. Die Freunde landen in einem Braunkohleabbaugebiet, in dem sie auf den
Bewohner Horst Fricke treffen. Der Mann erschreckt beide mit einem Luftgewehr, beginnt mit ihnen
danach aber über seine tragische Vergangenheit zu reden. Auf der Weiterfahrt entdecken sie die
Autobahn. Bei dem Versuch diese zu erreichen, passiert ein Autounfall, der Maik und Tschick einen
Krankenhausaufenthalt beschert. Eine weitere Flucht – hier aus der Klinik – endet in einem erneuten
Autounfall. Der Lada Niva fährt in einen Viehtransporter, womit die Reise ein Ende findet.
Elisa Kretschmer
Anomie und Jugendliteratur
Mai 30, 2016
Auf der Polizeiwache wird Maik verhört und es kommt zu einer Gerichtsverhandlung. Maik gibt
seine Mitbeteiligung gegen den Willen seines Vaters zu und Tschick nimmt die Schuld auf sich. Maik
soll sich daraufhin als Bestrafung an gemeinnütziger Arbeit beteiligen, während Tschick in ein Heim
geschickt wird. Maik darf seinen Freund nicht besuchen und geht nach den Sommerferien wieder
zur Schule. Die Geschehnisse haben sich herumgesprochen und einige Dinge haben sich verändert.
Maiks früherer Schwarm interessiert sich plötzlich für dessen Person und er lässt seinen Jahrgang
an der Reisegeschichte teilhaben. Isa schreibt Maik eine Karte um ein Wiedersehen anzukündigen
und Maiks Vater hat die Familie verlassen. Am Ende befindet sich Maik bei seiner alkoholkranken
Mutter zu Hause, die all ihre Möbel in den hauseigenen Pool wirft. Anstelle sich ihr
entgegenzusetzen springt Maik mit seiner Mutter ebenfalls in das Wasser und die beiden tauchen
gemeinsam unter. Sie beobachten die von den Nachbarn alarmierten, ratlosen Polizisten, die sie
durch die Wasseroberfläche sehen können.
Anomische Züge in Wolfgang Herrndorfs Tschick
Im Folgenden werden Mertons Ansätze auf den Jugendroman versucht zu übertragen. Es treten
anomische Züge auf, die sich durch den Großteil des Buches ziehen. Auch die zwei Kultur- und
Sozialstrukturelemente des Ziels und deren Mittel lassen sich in dem vorliegenden Literaturbeispiel
finden. Mit der Reise, dem Hauptbestandteil des Romans, brechen die beiden Hauptfiguren aus der
bestehenden Gesellschaft und ihrem heimischen Umfeld aus. Damit findet ein sowohl örtlicher, als
auch sozialer Raumwechsel statt. Zuerst befinden sich die Figuren im schulischen Raum, in dem
beide von der Klasse gleichsam wenig akzeptiert oder beachtet werden. Obwohl beide
unterschiedliche Familiengeschichten haben, gehen sie durch äußere Umstände eine Verbindung
ein. Maik stammt aus bürgerlichen Verhältnissen, die von Wohlstand zeugen. Tschick hingegen wird
als Asi beschrieben: „Ich konnte Tschick von Anfang an nicht leiden. Keiner konnte ihn leiden.
Tschick war ein Asi, und genau so sah er auch aus.“ (TS, S. 42). Trotz der unterschiedlichen sozialen
Schichten befinden sich beide Figuren in der Außenseiterposition. Das zeigt sich im Fall von Maik
durch gängiges Desinteresse seiner Mitschüler. Es wird lediglich von einer phasenhaften Beachtung
der Figur berichtet, die sich aber nicht in positiver, sondern negativer Konnotation befindet:
Ich hatte nie einen Spitznamen. […]. Außer in der Sechsten. Da hieß ich mal kurz
Psycho. Das ist auch nicht der ganz große Bringer, wenn man Psycho heißt. Aber das
dauerte auch nicht lang, und dann hieß ich wieder Maik. Wenn man keinen Spitznamen
hat, kann das zwei Gründe haben. […]. Es kann sein, dass man langweilig ist und keine
Freunde hat. Und ich fürchte, das ist mein Problem. (TS, S. 21)
Hier lässt sich eine Selbstreflexion erkennen. Maik wird als eine Person ohne soziale Kontakte
beschrieben. In der Klasse existieren weder Freunde noch Bekanntschaften, der Figur widerfährt die
meiste Zeit keine Beachtung. Die Namensgebung spielt dabei eine wichtige Rolle. Es klingt an, dass
erst mit der Benennung durch einen Spitznamen Interesse an einer Person gezeigt wird. Wenn die
Figur also lediglich mit dem exakten Vornamen Maik bezeichnet wird, stellt ihn das als eine für
andere langweilige Person dar. Es wird ein lediglich kurzer Zeitraum in der Vergangenheit
beschrieben, in dem das Tragen eines Spitznamens zwar Beachtung einbringt, aber dennoch negativ
besetzt ist.
In Bezug auf das soziale und kontaktive Umfeld haben sowohl die Figuren Tschick als auch Maik
schwierige familiäre Verhältnisse. Trotz nach Außen präsentierten Wohlstands lassen sich in der
Familie von Maik brüchige und familiär unsichere Strukturen finden. Mit der Einweisung der Mutter
in die Entzugsklinik und dem Verschwinden des Vaters wird Maik zurückgelassen und auf sich
alleine gestellt. Die familiäre Sicherheit ist damit nicht mehr gegeben. Maik befindet sich somit in
Elisa Kretschmer
Anomie und Jugendliteratur
Mai 30, 2016
seiner Figurensituation außerhalb eines sozialen Umfelds, ohne mögliche Interaktion.
Zusammenhalt wird weder im schulischen noch familiären Raum geboten. Nach dem Auftauchen von
Tschick mit dem gestohlenen Auto, zeigt sich dieser als einzig Interesse zeigende Person. Maiks
Figur steht im Gegensatz zu Tschick zu Beginn für Unsicherheit und Legalitätstreue. Maik scheint
zunächst an keinem Diebstahl und/oder einem Ausbruch aus bestehenden Verhältnissen interessiert
zu sein:
Er grinste sein breites Russengrinsen. «Steig ein, Mann.» Aber natürlich stieg ich nicht
ein. Ich war ja nicht völlig verrückt. Ich ging nur kurz hin und setzte mich halb auf den
Beifahrersitz, weil ich nicht so auffällig in der Einfahrt rumstehen wollte. (TS, S. 82)
Das Zitat bietet einerseits die Annahme, sich nicht mit Asis abgeben zu wollen. Andererseits kann
herausgelesen werden, dass das Stehlen eines Autos gesellschaftlich als negativ und illegal
anerkannt wird. Es wäre verrückt, in ein solches Fahrzeug einzusteigen. Zuerst wird auch die
Einladung zur Fahrt um den Häuserblock ausgeschlagen. Damit wird die Illegalität der
Autobeschaffung unterstrichen. Erst nach längerer Bedenkzeit kommt eine Fahrt zustande. Tschicks
Fahrstil ist sehr souverän und bietet vermeintliche Sicherheit. Der abweichende Blick von der
Straße relativiert diese jedoch wieder (vgl. TS, S. 85). Dennoch wird im weiteren Fahrtverlauf eine
Art Verbundenheit zwischen den beiden Figuren erkennbar, die zuvor an keiner Stelle Anklang
gefunden hat:
«Du hast ja Gefühle.» […]. Und es war das erste Mal, dass ich dachte: Der ist ja wirklich
gar nicht so doof. Tschick hatte diesen Riss gesehen und sofort gemerkt, was los war.
Ich glaube, ich kenn nicht viele Leute, die das sofort gemerkt hätten. (TS, S. 87/88)
Der Gedanke des Protagonisten kann hier als Indiz für die beginnende Freundschaft gesehen
werden. Tschick stellt ab dem Zeitpunkt das neue soziale Umfeld von Maik dar. Maik wird im Roman
erstmals von anderen Personen (positiv) beachtet und wahrgenommen. Eine wichtige Rolle spielt
zunächst ein Geburtstagsgeschenk für die heimlich geliebte Tatjana, mit dem es ohne Einladung zu
einem Auftauchen bei deren Feier kommt. Das zeugt von gestärktem Mut, der sich auf der
Handlungsebene bei der Übergabe des Geschenks zeigt. Fernab von Einsamkeit und in Interaktion
mit einem Freund, scheint es einfacher für Maik zu sein, sich in das gewohnt negativ soziale Umfeld
zu integrieren. Das dafür indizienhafte Geschenkt äußert sich in der Geschichte als eine Zeichnung
von Beyoncé, die Maik aus Frust zerrissen hat. Trotz eines unauffälligen Klebens der Spuren, wird
der Riss von Tschick bemerkt, der somit Verständnis für Maiks Gefühlsleben zeigt. Durch das
Zusammensein wird trotz anfänglicher Ungewissheit das Gefühl von Sicherheit und Erleichterung
expliziert:
Der Lada schmierte mit sechzig um die nächste Kurve, und meine Fäuste hämmerten auf
das Armaturenbrett. «Gib Gas!», rief ich. «Mach ich doch.» «Gib mehr Gas!», rief ich
und sah meinen Fäusten beim Hämmern zu. Erleichterung ist gar kein Ausdruck. (TS, S.
94)
In dem Zitat wird deutlich, dass die Fahrt mit dem gestohlenen Auto zunehmend besser und weniger
straffällig konnotiert wird. Vermutlich ist es dem Protagonisten dadurch möglich, aufgestaute Last
aus dem Elternhaus und dem schulischen Raum abzuwerfen beziehungsweise hinter sich zu lassen.
Die anfängliche, mögliche Gefahr, die aus der illegalen Handlung resultieren könnte, wird dem nicht
Elisa Kretschmer
Anomie und Jugendliteratur
Mai 30, 2016
mehr vorangestellt.
Im weiteren Verlauf des Romans beginnt die Dokumentation der Reise, die im Mittelpunkt der
Handlung steht. Es kommt zu einer wiederholten und längeren Fahrt mit dem Lada Niva. Tschick
schlägt vor, seinen Großvater in der Walachei zu besuchen, von deren Nicht-Existenz Maik
überzeugt ist (vgl. TS, S. 97). Nach längerer Argumentation und Diskussion beginnt sich daraufhin
auch der Protagonist über die mögliche Existenz der Walachei „Gedanken zu machen“ (TS, S. 100).
Mit der Walachei ist ein gesetztes Ziel gegeben, welches mit der Reise verfolgt werden soll. Die
Mittel zu diesem Ziel werden dabei als weniger wichtig angesehen. Das äußert sich beispielsweise
darin, dass keine Landkarten eingesetzt werden. Die Reise beginnt trotz unbekanntem Weg. Das hat
Folgen für die mögliche Stellung des Ziels: Die Nennung eines nicht existierenden Orts erscheint
eher so, als würde es nur als möglicher Grund für den Aufbruch dienen. Damit wird die
Notwendigkeit des Aufbruchs unterstrichen. Durch das Fehlen der Landkarten und den
Wegkenntnissen verdeutlicht sich auch auf Figurenebene ein geringeres Interesse am anvisierten
Ort anzugelangen. Obwohl das Ziel somit auf objektiver Ebene gegeben ist, scheint es auf
subjektiver Ebene weniger zentral zu stehen. Die Reise markiert einen Ausbruch aus der
Gesellschaft und der jeweiligen Figurensituation. Die bestehenden sozialen Verhältnisse fallen
zurück und geraten sowohl für die Figuren als auch für den Leser in den Hintergrund. Es beginnt
eine Suche nach einem besseren Lebensgefühl. Die beiden Hauptfiguren bieten die Annahme, ein
solches Lebensgefühl in einer orientierungslosen Reise zu zweit zu finden. Das Individuum steht
dabei im Gegensatz zu der Gesellschaft. Durch die Abgrenzung der Umgebung und der gewollten
Flucht, wird dem Umfeld mit einem Ausbruch entgegengewirkt.
Das gesetzte Reiseziel ist relativ. Primär geht es um die Frage nach der Lebenserfüllung und/oder
dem Lebenssinn. Diese wird im vorliegenden Gegenstand in Form einer Reise gefunden und erfolgt
somit über die Wege zum gesetzten Ziel der Walachei. Wie bei Mertons Ansatz werden hier die
Mittel in den Fokus gestellt. Trotzdem lässt sich die Form der Anpassung nicht als dem Ritualismus
zugehörig verstehen. Es wird weder an gesetzten Normen festgehalten, noch wird sich an
traditionellen Handlungen entlanggehangelt. Eher ist es eine Art Mischung der Anpassungsform des
Rückzugs und der Rebellion (vgl. RM, S. 309ff.). Die Figuren befinden sich in Außenseiterpositionen
und ziehen sich aus der Gesellschaft zurück, wobei vorherige sozialkonforme Wertvorstellungen
aufgeben werden. Somit sind die Figuren nicht mehr direkter Teil der bestehenden Gesellschaft –
und waren es durch Uneingebundenheit auch vorher nicht. Es wird versucht, eine eigene
Sozialstruktur aufzubauen, die zu dem Zeitpunkt nur der Freundschaft von Tschick und Maik
obliegt.
Die Reise bekommt somit den Funktionalitätsaspekt der Sinnsuche. Dabei unterliegt sie einer
Reflexionsphase der Bedürfnisse von Außenseiterfiguren. Maik und Tschick verdeutlichen die
Bedürfnisse nach Geborgenheit und Zusammengehörigkeit, wobei Vergangenes zurückgelassen und
nur in der Gegenwart gelebt wird. Zukunft spielt keine Rolle. Das Konzept der Reise ist das größere
Ziel als der angepeilte Ort. Schlussfolgernd ist das soziale Ziel die Sinnsuche. Diese wird hierbei
eher implizit verhandelt. Explizit steht im Mittelpunkt die Fahrt, die keinen direkten Weg zum
örtlichen Ziel darstellen kann – weil die Walachei als bestimmter Ort nicht existiert. Die
Sinnkonstitution ist das unbewusst verfolgte Telos, wobei auch diese kein greifbares Ziel darstellt.
Der Weg zur Selbstfindung befindet sich nur im eigentlichen Konzept der Reise. Zudem werden noch
weitere Konzepte verhandelt: So steht zum Beispiel das Nebeneinanderherfahren zentral wichtig.
Durch die Autofahrt zu zweit wird eine Art Gefährtenkonzept verdeutlicht. Die beiden Figuren
begeben sich nicht alleine und isoliert auf den Weg, sondern fahren als Einheit um sich gegenseitig
stützen zu können. Dieser Zusammenhalt ist besonders wichtig, wenn dazu noch das ebenfalls
verhandelte Wildniskonzept hinzugezogen wird: Des Öfteren treten Gefahren auf oder es kommt zu
Unfällen. Dabei sind die beiden Figuren aufeinander angewiesen. Auch wenn es zwischendurch
Elisa Kretschmer
Anomie und Jugendliteratur
Mai 30, 2016
kleinere Konflikte gibt, stehen das Zusammensein und der Zusammenhalt im Mittelpunkt. Der Weg,
den Maik und Tschick beschreiten, ist dabei herausfordernd, aber zu meistern. Diese Aufmachung
lässt sich auch auf die Gesellschaft übertragen – es wird ein Appell suggeriert, dass man eher zu
zweit als alleine vorankommen und glücklich sein kann.
Detailliert beschriebene Landschaftsideale und romantische Darstellungen der Wälder mit Seen und
Sternen am Himmel symbolisieren eine traumhafte Gegend. Die Realität der Orientierungslosigkeit
und Gefahren, oder die Tatsache, keine Nahrung zur Verfügung zu haben, wird in den Hintergrund
gestellt. Zentral gesetzt ist die Verbundenheit, die als gemeinsames Gut verstanden wird: „Wir
flüsterten, obwohl es eigentlich keinen Grund gab zum Flüstern.“ (TS, S. 101). Das Flüstern weist
hier auf ein Zusammenhaltsgefühl hin, was nur die beiden Akteure empfinden können. Andere
Figuren haben keinen relevanten Wert und werden aus der Zweisamkeit ausgeschlossen. Durch die
fokussierte Verbundenheit wird die Surrealität eines glücklichen, problemlosen Lebens erzeugt. Die
Motivationsstruktur der Reise bildet sich aber dennoch aus realitätsnahen Faktoren heraus.
Ausgebrochen aus der Gesellschaft und/oder der Figurensituation spannt sich der Bogen über die
Orientierungslosigkeit und die dadurch entstehende Freiheit bis hin zu – wenn auch überspitzten –
Konfliktsituationen. Dadurch wird die Weiterreise vorangetrieben und nicht auf einen Ort fixiert. Die
Reise deckt verschiedene Stationen ab, die sowohl negativ als auch positiv erscheinen. Jede Station
beschreibt einen Höhepunkt, sodass die Form der Reise einem schematischen Vorgehen obliegt. Die
Strategie der Abgrenzung findet sich nicht nur am Beginn der Fahrt wieder, sondern tritt auch
innerhalb der einzelnen Stationen durch weniger langes Rasten an einem bestimmten Ort zum
Vorschein. Außerdem wird dabei erneut die Tatsache der Suche nach dem Sinn erkennbar – nur in
Bewegung kann die Suche nach der Selbstfindung verfolgt werden und erfolgreich sein, da sie etwas
prozesshaftes ist.
In dem Coming-of-age-/beziehungsweise Bildungsroman zeigt sich genretypisch auch ein
Entwicklungsprozess der zentralen Figuren. Der Entwicklungsprozess ist besonders bei dem
Protagonisten Maik zu erkennen. Maik wird in eine neue Umgebung eingegliedert und durchläuft
einen persönlichen Werdegang. Die Wahrnehmung der Figur verändert sich dabei zunehmend. Im
Verlauf des Werks scheint Maik sich selbst weniger als die langweilige Person zu sehen, für die ihn
das vorherige soziale/schulische Umfeld gehalten hat:
Zu diesem Zeitpunkt fühlten wir uns schon wieder wahnsinnig sicher, und ich schlug
Tschick vor, wenn wir uns mal mit Decknamen anreden müssten, dann wäre er Graf
Lada und ich Graf Koks. (TS, S. 124/125)
In dem Zitat wird deutlich, dass das Gefühl der Sicherheit zunimmt. Außerdem werden im
angeführten Textausschnitt Decknamen thematisiert. Die Namensgebung spielt hier erneut eine
wichtige Rolle. Die Verwendung von Decknamen steht hierbei für Spannung und Erleben. Trotz
anfänglicher Unsicherheit bezüglich verbrecherischen und/oder von der Norm abweichenden
Verhaltens wird das Gefühl der Selbstkontrolle verstärkt beschrieben. Mit Tschick als Indikator- und
Führerfigur beginnt sich Maik zunehmend weniger gesellschaftskonform zu verhalten. Im Rückzug
wird dafür ein besser und sicherer wirkendes Lebensgefühl präsentiert. Auch wenn die Figuren mit
dem Autoklau gegen staatliche Vorschriften verstoßen, wird als Folge der illegalen Tat zunehmende
Selbstsicherheit und Glück suggeriert. Die Selbstvergabe von Decknamen kann zudem implizit als
Selbstwerterfolg verstanden werden – denn wie bereits erwähnt, scheint die Bedeutung von Namen
und Titeln eine wichtige Rolle in dem Werk einzunehmen.
Mit den Gefahren und Erlebnissen der verschiedenen Stationen geht eine zunehmende Stärkung des
Zusammenhaltsgefühls der Figuren einher. Dabei werden weitere illegale Aktionen geplant. So soll
Elisa Kretschmer
Anomie und Jugendliteratur
Mai 30, 2016
beispielsweise Benzin mittels eines Schlauchs in den Wagen gepumpt und somit ebenfalls gestohlen
werden. Der Schlauch wird letztendlich bei der Station der Müllkippe gefunden. Dort kommt eine
weitere, für das Werk wichtige Figur hinzu. Es handelt sich um das Mädchen Isa, die zu Beginn als
eher abstoßend empfunden beschrieben wird. Das zeigt sich nicht nur durch den an ihr haftenden
Gestank der Müllkippe, sondern auch in folgenden Verhaltensweisen:
«Jetzt singt sie auch noch kacke», sagte Tschick, und ich sagte nichts, denn im Ernst
sang sie nicht kacke. Sie sang Survivor von Beyoncé. Ihre Aussprache war absurd. […].
Aber sie sang wahnsinnig schön. (TS, S. 157)
Das Zitat verdeutlicht die Diskrepanz zwischen den Figuren Tschick und Maik. Während Tschick die
Anwesenheit von Isa als permanent negativ empfindet, wandelt sich die Meinung von Maik. Es wird
erstmals eine eigene Meinung der Figur deutlich. Zudem erfolgt durch die Thematisierung von
Beyoncé in der Textstelle ein Verweis auf die anfangs thematisierte Figur von Tatjana. Tatjana spielt
zu Beginn eine zentrale Rolle im Leben des Protagonisten, die bis zum hier dargelegten Standpunkt
der Geschichte abgenommen hat. Während Isa und Maik sich im Folgeverlauf näher kommen, wird
Tatjana als Element der Geschichte zunehmend in den Hintergrund versetzt. Das unterstreicht
ebenfalls das Durchlaufen eines Entwicklungsprozesses. Zudem reflektiert Maiks Figur über dessen
momentanes, nicht gesellschaftskonformes Verhalten:
Aber, ehrlich gesagt, ich bekam ein bisschen Angst im Dunkeln. Warum, wusste ich auch
nicht. Angst vor herumlaufenden Verbrechern konnte es ja schlecht sein. Die einzigen
Verbrecher, die in diesem Wald rumliefen, waren garantiert wir. Aber vielleicht war es
das, was mich beunruhigte. Dass mir das auf einmal klar wurde. (TS, S. 159)
Der Protagonist bezeichnet sich in diesem Abschnitt als Verbrecher. Das illegale Verhalten wird
bewusst erlebt und hat durch die persönliche Veränderung der Figur eine beunruhigende Funktion.
Trotzdem werden im Roman weitere Formen dieses Handelns verfolgt. Das Glück des
Zusammenhalts und der Wert der Freundschaft sind dem sozial korrekten Verhalten überlegen. Es
wird noch immer das positive Lebensgefühl angestrebt, welches hier scheinbar nur durch das
Entgegensetzen der Sozialstruktur erreichbar ist. In dem Punkt bedient sich der Roman also der
technisch-effizientesten Mittel das Ziel zu erreichen – auch wenn das Telos der Selbstfindung
unbewusst erfolgt. Anzumerken ist, dass es sich bei dem hier verfolgten Ziel um kein kulturell
vorgegebenes handelt, sondern eher um eine subjektiv gestaltete Idealvorstellung von Freundschaft
und Leben. Die Unsicherheit bezüglich des nicht gesellschaftskonformen Verhaltens zeigt sich dabei
nur in kurzen Abschnitten der Selbstreflexion und wird im Folgeverlauf vom gegenwärtigen
Glücksgefühl marginalisiert. Emotion und Identität spielen dabei eine entscheidende Rolle. Der
Identitäts- und Zusammenhaltsaspekt bekommt dabei oberste Priorität. Zentral steht nur noch die
freundschaftliche Verbindung. In diese Freundschaft gliedert sich Isa mit ein. Dies zeigt sich
besonders prägnant an folgender Stelle:
«Wie wärs, wenn wir uns einfach in fünfzig Jahren wiedertreffen? Genau hier, in fünfzig
Jahren. Am 17. Juli, um fünf Uhr nachmittags, 2060.» […] Wir standen um diese
Schnitzerei herum und schworen […]. (TS, S. 175-176)
Maik schlägt vor, die Namen der drei Freunde in ein Stück Holz zu ritzen, um somit die
Freundschaft zu besiegeln. Dadurch entsteht ein Ort, der scheinbar nur ihnen gehört und mit ihren
Elisa Kretschmer
Anomie und Jugendliteratur
Mai 30, 2016
Erinnerungen verbunden ist. In fünfzig Jahren soll ein Treffen an selber Stelle stattfinden, um der
Freundschaft treu zu bleiben. Bemerkenswert ist, dass sich Tschick und Maik zwar mittlerweile
einige Zeit kennen, Isa jedoch neu dazugekommen ist. Das Gefühl der Verbundenheit und des
Zusammenhalts ist an dieser Stelle trotzdem auch zu dritt enorm groß und intensiv. Zudem ist dies
der nahezu einzige Punkt, an dem auf die Zukunft verwiesen wird. Die Zukunft liegt dabei aber nicht
mit dem Fokus auf der Rückkehr oder der Wiedereingliederung in die Alltagswelt, sondern auf dem
genau derzeitigen Moment, der für immer anhalten und auch in fünfzig Jahren noch genauso
intensiv sein soll.
Durch das Einritzen der Namen beziehungsweise der Anfangsbuchstaben werden Identitäten
erzeugt. Zentral steht nicht der Titel, sondern das Potential, sich einen Namen erlauben zu dürfen.
Das Gefühl einer solchen Verbundenheit soll festgehalten werden. Durch die Aufzeichnung der
Namen im Dreierkomplex wird zudem die Zusammengehörigkeit der Namen unterstrichen. In Form
von sichtbar hinterlassender Spuren gewinnen alle Akteure an Identität. Die Gravur des Holzstücks
dient somit der Stärkung der Dreierkonstellation. Hier öffnet sich außerdem ein Konnex zum
beschriebenen Raum: Die Verweiskette zum Gipfel des Intensitätsgefühls der Freundschaft zeigt
sich in übersymbolischer Form auch auf räumlicher Ebene. Die Besiegelung der Freundschaft stellt
einen Höhepunkt der beteiligten Akteure dar und findet bei einer Bergwanderung statt. In der
räumlichen Konzeption spiegelt sich dabei der Höhepunkt ebenfalls wider, da die Aktion auf dem
höchsten Punkt des Berges stattfindet. Die identitätsstiftende Handlung ist zudem
erinnerungshervorrufend. Wenn sich die Figuren in fünfzig Jahren erneut an diesem Ort treffen,
wird der Erinnerungsfaktor an das derzeitige bestehende Lebensgefühl zentral gesetzt. Dadurch
wird ein Schema der Ritualisierung erzeugt. Das Einschnitzen der Buchstaben ritualisiert den Status
der Freundschaft. In der nun entstanden Sozialstruktur der drei Figuren kann sich an dieser Stelle
ein erneuter Verweis auf den Ritualismus Mertons erkennen lassen (vgl. RM, S. 308): Statt des Ziels
stehen die Mittel zentral und der Moment ist das, was zählt. Es wird an traditionellen Normen – die
sich hier im Treffen auf dem Gipfel und der Dreiernamensbenennung zeigen – zwanghaft versucht
festzuhalten, um den Moment langanhaltend und unendlich erscheinen zu lassen.
Im Folgeverlauf des Romans lässt sich ein unerwarteter Bruch erkennen. Isa verlässt die Gruppe.
Das Gefühl des Zusammenhalts geht dadurch aber nicht verloren. Trotzdem ist das Zerbrechen der
Dreieinigkeit als Ankündigung auf ein vorzeitiges Beenden der Reise zu verstehen. Die Fahrt oder
Flucht nähert sich dem Ende. Tschick verletzt sich bei einem Unfall und ist nicht mehr fahrtüchtig.
Maik und Tschick bekommen Hilfe von einer vorbeifahrenden Sprachtherapeutin, die beide Freunde
in ein nahegelegenes Krankenhaus fährt. Die Figuren müssen sich zwangsläufig in eine neue, soziale
Umgebung eingliedern. Weder Maik noch Tschick scheint dies zu gelingen. Die Fahrt soll fortgeführt
werden und wird prioritär gesetzt. Es folgt ein erneuter Ausbruch aus der Gesellschaft. Nach einer
Flucht aus dem Krankenhaus geht die Fahrt weiter. An dieser Schnittstelle verändert sich die
Rollenkonzeption: durch Tschicks eingeschränkte Bewegungsmöglichkeit übernimmt Maik dessen
Funktion als Fahrer- und somit Führerfigur. In der neuen Position wird die bereits anfangs
postulierte Unsicherheit Maiks wiederholt deutlich:
«Ich muss dir ein Geheimnis verraten», sagte ich. «Ich bin der größte Feigling unter der
Sonne. Der größte Langweiler und der größte Feigling, und jetzt können wir zu Fuß
weiter. Auf einem Feldweg würd ichs versuchen, vielleicht. Aber nicht auf der
Autobahn.» (TS, S. 212)
Das aufgezwungene Funktionsmuster scheint hier nicht mit der Figur von Maik korrelieren zu
können. Erneut wird die Position des Langweilers markiert, so wie sie durch das schulische Umfeld
geprägt wurde. Tschick obliegt zum wiederholten Mal der positive Zuspruch und der mentale
Elisa Kretschmer
Anomie und Jugendliteratur
Mai 30, 2016
Aufbau von Maiks figuralem Selbstbewusstsein. Tschick ist dabei zwar nicht mehr die führende
Instanz des Autos, kann aber als Antriebsfigur für den weiteren Prozess von Maik verstanden
werden. Der Versuch der Funktionsübernahme als Fahrer geschieht noch einmal. Tschick dient hier
wie zu Beginn als Auslöser für Maiks nicht gesellschaftskonformes Verhalten. Nur durch
Zusammenhalt sozialer Kontakte scheint es möglich, aus einer bestehenden, vom sozialen Umfeld
geprägten Identität auszubrechen und eine neue individuelle Identität zu bilden. Die
Führungsübernahme von Maik funktioniert jedoch nicht: im weiteren Verlauf endet die Fahrt in
einem Unfall, mit dem die Reise ihr Ende findet.
Auf formaler Ebene wird die Romanhandlung vom Aufenthalt auf dem Polizeirevier, dem
Gerichtssaal und der Rückkehr umrahmt. Zu Beginn des Buches erfährt der Leser einen Einblick in
Maiks Figur, der sich während der Polizeibefragung nach wie vor als Feigling empfindet. Tschick
wird dabei als eine Art Vorbild deutlich, ohne selbst anwesend sein zu müssen. Maik scheint in
diesem Punkt ohne die Anwesenheit einer Führerfigur wie Tschick und dessen motivierenden
Zusprüche – also ohne gewollte soziale Interaktion – Schwäche aufzuweisen. Das soziale Umfeld
ändert sich und besteht hier zunächst wieder im familiären Raum. Die Vaterfigur fordert eine
Unschuldsbeteuerung von Maik. Damit versucht die Familie die anführende Position Tschicks für
sich zu nutzen. Der Protagonist widersetzt sich dem und lässt den Wandel zur gewohnten Struktur
nicht zu. Daran erkennt man die Stärke, die trotz gelegentlicher Tiefpunkte auf der Reise gewonnen
wurde und dass diese sich gefestigt hat. Ins Zentrum rücken eigene Entscheidungswilligkeit und
Selbstkontrolle. Ohne Maiks Wissen nimmt Tschick die Verantwortung auf sich – die Figur hat so
auch in abwesender Form die eigentlich familiäre Funktion, die Schutz und Zuversicht bieten soll,
inne. Veränderte Verhältnisse zeigen sich auch im schulischen Umfeld. Das wird an folgender Stelle
deutlich:
Ich versuchte gerade, mich wenigstens ein bisschen für die Geschäfte dieses Bismarck
zu interessieren, als ich von Hans einen Zettel auf den Oberschenkel gelegt kriegte. Ich
hielt ihn eine Weile in der Faust, weil Wagenbach in meine Richtung schaute, und als ich
dann draufguckte, um festzustellen, an wen ich ihn weitergeben musste, stand Maik auf
dem Zettel. Ich konnte mich nicht erinnern, in den letzten Jahren mal einen Zettel
gekriegt zu haben. (TS, S. 238)
In dem Zitat wird beschrieben, wie Maik einen von Tatjana stammenden Zettel zugeschoben
bekommt. Sie fragt, was passiert sei. Maik befindet sich hier nicht mehr in der Außenseiterposition,
in der er vorher war. Die Flucht in ein Abenteuer und das Ausreizen von Grenzen führt vielmehr zu
einer Integration in die Klasse – noch dazu von der Person, von der es sich Maik vor der Reise
erhofft hat. Die Aktion der beiden Jungs hat sich herumgesprochen und rückt Maik aus der Position
des Langweilers heraus. Der Protagonist hat an Lebenserfahrung gewonnen, die vor der
Bekanntschaft mit Tschick nicht zu vernehmen ist. Das Ausbrechen aus dem sozialen Umfeld mit der
Reise hat zur Folge, dass die Gesellschaftsstruktur nach der Wiederkehr verändert ist. Die zuvor
negativen zwischenmenschlichen Verhältnisse haben sich zum Positiven verändert. Abgesehen
davon kann auch die Figur Maiks zu Beginn und zum Ende different gesehen werden. Auch wenn
Maik in der Textstelle als positiv überrascht erscheint, bleiben Tschick und auch Isa nicht vergessen.
Die beiden Figuren stehen zum Ende der Geschichte weiterhin zentral im sozialen Umfeld des
Protagonisten, womit dem Ziel der Selbstfindung näher gekommen wird.
Das von der Norm abweichende Verhalten zieht sich, wenn auch in abgeschwächter Form, weiterhin
innerhalb des familiären Umfelds durch. Auch dort lassen sich nach der Reise Veränderungen
erkennen. Der Vater hat die Familie endgültig verlassen und Maik lebt von dem Zeitpunkt an mit der
Mutter zusammen. Die zuvor eher negativ beschriebenen Verhältnisse haben sich durch den
Elisa Kretschmer
Anomie und Jugendliteratur
Mai 30, 2016
Weggang des Vaters und der Weiterentwicklung von Maik positiv verändert. Die Mutter wirft bei
einem ihrer Anfälle alle Möbelstücke in den hauseigenen Pool. Maik widersetzt sich dem nicht. Im
Gegenteil – mit der Mutterfigur wird trotz oder eher wegen ihres abnormalen Verhaltens mitgefühlt.
Der Protagonist taucht mit der Mutterfigur unter und schließt sich deren Agieren an:
[…] und ich weiß noch genau, was ich dachte, als ich da unten die Luft anhielt und
hochschaute. Ich dachte nämlich, dass sie mich jetzt wahrscheinlich wieder Psycho
nennen würden. Und dass es mir egal war. Ich dachte, dass es schlimmeres gab als eine
Alkoholikerin als Mutter. Ich dachte daran, dass es jetzt nicht mehr lange dauern würde,
bis ich Tschick in seinem Heim besuchen konnte, und ich dachte an Isas Brief […]. (TS,
S. 253)
Hier kommt es zur Reflexion der Ferienereignisse. Die Zeit wird als der „beste[n] Sommer“
überhaupt beschrieben (TS, S. 254). Die Flucht des Protagonisten hat es ihm ermöglicht, sich dem
zu Beginn stehenden Umfelds anzupassen beziehungsweise sich mit ihm zu arrangieren. Maik
scheint mit dem zufrieden, was er hat und wer er ist. Auf der Reise zur Selbstentwicklung kommt es
zum Gewinn und der Stärkung von Selbstwert und Selbstsicherheit. Es ist nicht mehr nötig,
gekränkt auf möglich abwertende Kommentare – wie Psycho – reagieren zu müssen. Somit hat sich
der Protagonist emotional weiterentwickelt und findet sich im zuvor negativ beschriebenen sozialen
Umfeld positiv zurecht. Der Roman vermittelt, dass die Figur nur durch den kurzzeitigen Ausbruch
aus der Sozialstruktur in diese Position eintreten konnte. Dadurch entstehen Zufriedenheit und
Akzeptanz von unabdingbaren und nicht beeinflussbaren Gegebenheiten, zum Beispiel der
Alkoholkrankheit der Mutter. Im letzten Abschnitt des Buches findet sich ein direkter Hinweis auf
ein weiteres nichtnormkonformes Verhalten, trotzdem kann es positiv gewertet werden:
[…] und all das dachte ich, während wir da die Luft anhielten und durch das silberne
Schillern und die Blasen hindurch nach oben guckten, wo sich zwei Uniformen ratlos
über die Wasserfläche beugten und in einer stummen, fernen Sprache miteinander
redeten, in einer anderen Welt – und ich freute mich wahnsinnig. Weil, man kann zwar
nicht ewig die Luft anhalten. Aber doch ziemlich lange. (TS, S. 234)
In diesem Textausschnitt wird die Zufriedenheit des Protagonisten noch einmal besonders deutlich.
Zwei Polizisten beugen sich über das Wasser, deren Anwesenheit aus dem nicht alltäglichen
Verhalten von Mutter und Sohn resultiert – dennoch lassen sich Beide nicht davon stören. Hier
erkennt man den deutlichen Wandel von Maiks Figur seit Beginn der Geschichte. Während der
Protagonist anfangs unsicher und ohne Aufsehen zu erzeugen gelebt hat, weist er zum Ende des
Romans ein von der Norm abweichendes Verhalten auf, zeigt aber so Zufrieden- und
Selbstsicherheit.
Inklusion und Exklusion
Die Analyse ergibt, dass das Konzept der Reise einen besonderen Wert für den Entwicklungsprozess
des Protagonisten darstellt. Nur durch den zurückgelegten Weg außerhalb der gewohnten
Umgebung und Gesellschaft entsteht ein neues und besseres Lebensgefühl. Daran ist das von der
Norm abweichende Verhalten gekoppelt. Zunächst zeigt es sich beim Stehlen des Autos. Ein
weiterer Aspekt, der sich der Illegalität bedient, wäre beispielsweise das Stehlen des Benzins.
Insgesamt stellt die Reise eine Abweichung des alltäglich-gewohnten Verhaltens dar. Beide
Hauptfiguren brechen aus der Gesellschaft und der figural bestehenden Sozialstruktur aus. Auf dem
Elisa Kretschmer
Anomie und Jugendliteratur
Mai 30, 2016
Weg wird eine neue Umgebung geschaffen, die personell nur aus beiden Jungen und der
dazukommenden Isa besteht. Sobald andere Gesellschaften dazukommen, folgt ein erneuter
Ausbruch aus deren Welt. Somit können die beiden Figuren zu Beginn als Außenseiterpersonen im
Rückzug gelesen werden, während sich die Fahrt dementgegen als ein rebellischer Akt verstehen
lässt. Mit Merton kann man sagen, dass eine neue Sozialstruktur herzustellen versucht wird. Das
unbewusst verfolgte Ziel ist dabei, die Werte zu wandeln, um eine bessere Integration in die
Gesellschaft zu erlangen. Die vorangestellten normkonformen Wertvorstellungen werden durch den
Ausbruch aufgegeben und neu formuliert. Letztendlich kommt es zu einem Wandel, der sich bis zur
Rückkehr in die Heimat durchzieht. Somit hat sich besonders Maik mit Hilfe der sozialen
Anpassungsform der Rebellion in das bestehende soziale Umfeld von Familie und Schule
eingegliedert.
Zu Beginn sind weder Maik noch Tschick innerhalb des schulischen Umfelds integriert. Maik wird
zudem ein wenig ausgeprägtes Selbstwertgefühl bescheinigt. Vor dem Aufbruch der Reise bedient
sich Maik der Anpassungsform des Rückzugs. Das findet sich auch in der familiären Struktur wieder:
Die Mutter ist Alkoholikerin, die in eine Entzugsklinik ausweicht. Nach Merton gelten unter
anderem Alkoholiker als von der Gesellschaft ausgeschlossene Personen (vgl. RM, S. 309). Die
Mutterfigur versucht sich dementsprechend ebenfalls mit der sozialen Anpassungsform des
Rückzugs aus der Gesellschaft zu stehlen. Ähnlich ist es bei der Vaterfigur. Der Vater zieht sich mit
der Assistentin aus der familiären Situation zurück und verlässt am Ende die Familie. Mit der Reise
exkludieren sich die beiden Hauptfiguren Maik und Tschick aus dem bestehenden, negativen
sozialen Schema. Das eigens erstellte folgende Schaubild soll die Phasen der Inklusion und
Exklusion noch einmal bildlich verdeutlichen:
Abbildung 1: Phasen der Inklusion und
Exklusion.
Nachdem die Exkludiertheit der Gesellschaft durch den Unfall ein Ende findet, kommt es
zwangsläufig zu einer erneuten Inklusion in die normkonforme Gesellschaft. Diese ist in Abbildung 1
als Inklusion II markiert. Die Figuren obliegen somit einem gezwungenen Rücktritt in die soziale
Umgebung des Anfangsortes. Dabei ist es besonders Maik, für dessen Figur eine veränderte
gesellschaftliche Wiedereingliederung stattfindet. Die Inklusion II zeigt sich sowohl im schulischen,
als auch im familiären Raum. Tschick befindet sich zunächst in einem Heim und kann erst danach in
die von Beginn an gewohnte Umgebung zurückkehren.
Durch das Konzept der Reise und der damit verbundenen Weiterentwicklung des Selbstbildes kehrt
Maik in den Raum von Inklusion I zurück. Mit und nach der Exkludiertheit wird versucht, der
sozialen Ursprungssituation eine sinnhafte Wertigkeit zu verleihen. Wie in Abbildung 1 zu sehen,
wird mit der Inklusion II der Sinn konstituiert, der in Inklusionsphase I noch nicht vorhanden ist.
Der Sinn ist dabei in der Veränderung von Maiks Wesen und Wahrnehmung zu erkennen. Das äußert
sich in Form von Selbstkontrolle und Selbstvertrauen. Maik hat durch die – wenn auch illegale Reise
– an Selbstwert gewonnen und kann sich nun in dem zuvor bestehenden sozialen Umfeld positiv
zurechtfinden und seinen Platz einnehmen. Die Sinnsuche hat dadurch einen erfolgreichen
Elisa Kretschmer
Anomie und Jugendliteratur
Mai 30, 2016
Integrationsprozess und die Akzeptanz gegebener Situationen ergeben. Tschick stellt dabei eine
besondere Indikatorfigur dar – denn wie bereits Merton in seinem Aufsatz geschrieben hat, wird
abweichendes Verhalten besonders bei Jugendlichen durch ähnliche Situationen anderer
Jugendlicher verstärkt (vgl. RM, S. 305). Bei Tschick und Maik kann man dieses Phänomen ebenso
erkennen. Beide befinden sich zu Beginn in ähnliche Position als Außenseiter. Tschick ist letztlich
die Instanz, die aus Position und/oder Inklusion I ausbrechen möchte und Maik mit sich zieht.
Es lässt sich schließen, dass sich der Inklusionsraum durch die Exkludiertheit verändert hat. Für die
Figur von Maik stellt die Veränderung zuvörderst einen Neuanfang in Schule und Familie dar. Das
von der Norm abweichende Verhalten ist in dem literarischen Beispiel von Wolfgang Herrndorfs
Tschick dabei von zentraler Bedeutung. Erst durch die Aufgabe bestehender Wertvorstellungen ist
es Maik und Tschick möglich, sich der Gesellschaft sozial anzupassen und sich in diese zu
integrieren. Das abweichende Verhalten stellt hierbei eine Form der Selbstverwirklichung dar.
Durch das Handeln von Maiks Figur erfährt die soziale Struktur einen Wandel und ist am Ende für
alle Beteiligten zum Positiven verändert. Zeitgenössische Literatur – insbesondere Jugendliteratur –
verarbeitet implizit mehrere soziale Prozesse, die Merton bereits 1938 in seinem Aufsatz
beschrieben hat.
Literaturverweis
[1] Merton, Robert K.: Sozialstruktur und Anomie. In: Fritz Sack/Rene König (Hrsg.):
Kriminalsoziologie, Frankfurt: Akademische Verlagsgesellschaft 1968, Vorbemerkung. Im Folgenden
wird für den Rückgriff auf den Text das Sigle „RM“ angegeben.
[2] Herrndorf, Wolfgang: Tschick. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuchverlag 2012. Im
Folgenden wird für den Rückgriff auf den Text das Sigle „TS“ angegeben.
Abbildungsverzeichnis
Die Abbildung des Lada Nivas in Abbildung 1 wurde aus folgender Quelle entnommen:
http://www.the-blueprints.com/blueprints-depot/cars/lada/lada-niva-1700.gif.
Herunterladen