Ein oder zwei Dinge, die Sie über Faschismus wissen sollten. Die

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Ein oder zwei Dinge, die Sie über Faschismus wissen sollten.
Die Elemente einer längst überfälligen neuen materialistischen Faschismustheorie in
antifaschistischer Absicht liegen längst vor.
In der Linken und auch in der Antifa fällt Faschismustheorie vor allem durch ihre
Abwesenheit auf.
Wann haben Sie das letzte Mal etwas über Faschismustheorie gelesen oder eine Veranstaltung
zu diesem Thema besucht? Selbst wenn Sie sich zufällig als Antifa verstehen oder einmal
verstanden haben, sind Sie möglicherweise noch nie mit Faschismustheorie in Berührung
gekommen. Denn erstaunlicherweise führt die Faschismustheorie sogar in der AntifaBewegung, wo doch ein akutes Interesse an theoretischer Feindaufklärung bestehen müsste,
ein Schattendasein wie in der restlichen Linken auch.
Viele Linke kleben allem, was „rechts“ ist, nur zu eilfertig das Faschismus-Etikett auf. Diese
seit den 1920-er Jahren beliebte Methode hat zu einer beispiellosen Ausweitung und
Abstumpfung des Faschismusbegriffs geführt und eine Menge zweifelhafter
Begriffsbildungen wie Sozial-, Hitler-, National-, Monarcho-, Klerikal-, Austro- oder
Islamofaschismus hervorgebracht.
Wird in der Linken echte Faschismustheorie betrieben, so wird der Faschismus meist als
Ausdruck oder Symptom von etwas Anderem erklärt. Diesem Anderen, nicht mehr dem
konkreten Denken, Sprechen und Handeln der Faschisten gilt dann oft das eigentliche
Interesse. So gibt es immer noch viele orthodox-marxistische Linke, für die Faschisten kaum
mehr als eine Agentur „der Herrschenden“, eine Söldnertruppe des Kapitals darstellen. Die
zeitweilige Massenanziehungskraft des Faschismus lässt sich mit dieser Deutung allerdings
genauso wenig begreifen wie seine ungeheuren Verbrechen. Andere marxistische Linke
halten den Faschismus für eine reaktionäre Revolte des Kleinbürgertums bzw. der
„Mittelschichten“, wobei diese Kategorie meistens höchst unscharf bleibt und sehr
verschiedenartige soziale Gruppen umfasst. Bis heute ist aber zu beobachten, dass der
Faschismus eben an keine bestimmte Klasse oder Gruppe gebunden ist, sondern schichten-,
geschlechter- und generationsübergreifend Anklang finden kann.
Zahlreichen marxistischen Interpretationen ist gemeinsam, dass sie den Faschismus als Modus
kapitalistischer Vergesellschaftung bzw. kapitalistischer Herrschaft in Zeiten einer
existenziellen Krise ansehen – Faschismus als Krisenlösungsoption monopolkapitalistischer
Gesellschaften. Manche schreiben die faschistische Tendenz gleich in die Grundlagen des
Kapitalismus hinein und sprechen vom Faschismus als der „negativen Selbstaufhebung des
Kapitalverhältnisses“ oder der „destruktiven Tendenz des automatischen Subjekts (Kapital)
in seinem Prozessieren“.1 Problematisch hierbei ist, dass Faschismen nicht nur in
hochindustrialisierten Gesellschaften wie Deutschland, sondern auch in Agrarländern wie
Rumänien hochkamen, und dass monopolkapitalistische Gesellschaften ganz unterschiedliche
Wege der Krisenlösung einschlugen und keineswegs zwangsläufig faschistisch wurden. Die
Erklärung des Faschismus mit dem Monopolkapitalismus bleibt immer schwach und
unzureichend, so dass sie sich alsbald verlagert auf ideologische, mentale und historische
Besonderheiten der jeweiligen faschistischen Gesellschaft, vor allem Nazideutschlands.
In der Linken prominent vertreten sind auch psychologisierende Theorie-Varianten. Ihnen gilt
der Faschismus letztlich als Ausdruck einer missglückten Persönlichkeitsbildung unter den
Bedingungen kapitalistisch-staatlich-ideologischer Herrschaft, oder auch als Ausdruck eines
bestimmten Männlichkeitstyps: „Der soldatische Mann ist der politische Faschist.“ 2 Das
1
Belege?
So Klaus Theweleit, der Autor der berühmten “Männerphantasien” in einem FAZ-Artikel vom 25. April 2008
(„Der belgische Hitler-Sohn und der deutsche Überleib“).
2
1
Problem bei solchen Theorien ist nicht, dass sie nichts Erhellendes über Faschisten
mitzuteilen hätten, sondern dass sie gleichzeitig zu allgemein und zu speziell sind: Einerseits
zu allgemein, weil die geistig-seelischen Verformungen, um die es in den
psychologisierenden Faschismustheorien geht, sich zum Teil seit Jahrhunderten und quer
durch das politische Spektrum auffinden lassen und damit weder der historisch eng
eingrenzbare Entstehungsraum der Faschismen noch ihre spezifische Erscheinungsform
erklärt werden kann. Zu speziell andererseits, weil der psychologische Ansatz zwar
Aufschluss über die Persönlichkeitsstrukturen einzelner Faschisten geben kann, nicht aber
über den sozialen Charakter des Faschismus als Ideologie und Massenbewegung, der sich
unzweifelhaft Menschen ganz unterschiedlicher seelischer Verfassung angeschlossen haben.
Es gibt noch eine weiterführende Variante der linken Faschismustheorie. Mit den
klassentheoretisch und funktionalistisch argumentierenden wie mit den psychologisierenden
Ansätzen teilt sie zwar den Mangel an Interesse für die faschistische Ideologie und die
faschistischen Akteure „an sich“ sowie den Hang, den Faschismus allzu direkt aus dem
Kapitalismus abzuleiten. Als Ausgangspunkt weiterer Überlegungen eignet sie sich aber, weil
sie evident ist. Diese Variante geht ungefähr so:
Faschisten treiben Stimmungen und Ideologie-Elemente auf die Spitze, die in der
kapitalistischen Gesellschaft ohnehin weit verbreitet sind und in ihr sowie durch sie ständig
reproduziert werden. In Krisensituationen können faschistische Bewegungen massenhaft
Zulauf erhalten. Gleichzeitig steigt dann die Neigung der Führungsgruppen in Wirtschaft,
Bürokratie, Repressionsapparaten, religiösen Institutionen und Militär, mit den Faschisten
zum eigenen Privilegien- und Machterhalt ein Bündnis zu schließen.
Unklar bleibt jedoch, ab wann die in kapitalistischen Gesellschaften massenhaft vorhandenen
Ideologien menschlicher Ungleichwertigkeit wie Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus
usw. einen Faschismus ausmachen. Was unterscheidet normale Nationalisten und Rassisten
von Faschisten? Ist es einfach nur die unterschiedliche Intensität, mit der die Ideologien der
Ungleichwertigkeit und entsprechende Herrschaftsprogramme verfolgt werden? Oder gibt es
eine spezifische ideologische Grundstruktur, einen gemeinsamen inneren Sinnzusammenhang,
der trotz aller national-kulturellen Unterschiede zwischen einzelnen Faschismen DEN
Faschismus bestimmbar macht? Dieser mutmaßliche Wesenskern des Faschismus wird auch
„faschistisches Minimum“ genannt.
Faschismus ist nicht in erster Linie eine Herrschaftsform oder ein bestimmter politischer Stil,
sondern eine Ideologie.
Im Alltagsgebrauch des Faschismusbegriffs lassen sich drei Bedeutungsebenen unterscheiden:
Erstens Faschismus als Herrschaftsform und Regimetyp, zweitens Faschismus als bestimmter
politischer Stil bzw. Praxisform, drittens Faschismus als Ideologie. Alle drei Weisen, den
Begriff zu gebrauchen, sind berechtigt, denn selbstverständlich haben die Faschisten neben
Ideologie auch einen charakteristischen Typ der Diktatur und einen terroristischen Politikstil
samt immer wiederkehrenden Formen ästhetischer Selbstinszenierung hervorgebracht.
Linke Faschismustheorie konzentrierte sich zumeist auf den Faschismus als Herrschafts- bzw.
Vergesellschaftungstyp. Angesichts der ungeheuren Verbrechen des Faschismus an der Macht
ist diese Fokussierung auch verständlich. Sie hilft jedoch kaum im Hinblick auf die
überwiegende Mehrzahl der faschistischen Bewegungen, auch der heutigen, denen der Griff
nach der Macht nicht gelang oder gelingt. Die Fokussierung auf den Faschismus als Regime
ist sogar hinsichtlich der faschistischen Regime selbst trügerisch. Denn die faschistische Art
zu herrschen ist das Ergebnis des Versuchs, ein bestimmtes Programm unter gegebenen
Umständen zu verwirklichen, und dieses Herrschaftsprogramm folgte ideologischen
Vorgaben. So waren die italienischen und deutschen Faschisten beispielsweise schon immer
eingefleischte Imperialisten gewesen, die dann nach der Machtübertragung daran gingen, ihre
2
Eroberungspläne in die Tat umzusetzen. Die zynische und brutale Gewalt der SA und der
italienischen squadren vor 1933 bzw. 1922 entsprach ebenso wie die faschistische Ästhetik
der ideologischen und mentalen Verfassung der Faschisten. Der politische Stil der Faschisten
ergibt sich also wie die wesentlichen Bestandteile ihrer Herrschaftspraxis aus der
faschistischen Ideologie.
Auf der Suche nach dem „faschistischen Minimum“ können drei Gelehrte helfen: Zeev
Sternhell aus Israel, George L. Mosse aus den USA und Roger Griffin aus England. Es zeigt
die faschismustheoretische Schwäche der deutschen Linken, dass die Bücher dieser Drei nicht
sehr bekannt sind. Sternhells früher Aufsatz „Faschistische Ideologie“ zum Beispiel wurde
2002 zwar vom Berliner „Verbrecher-Verlag“ in Deutsch herausgebracht, aber anscheinend
nicht viel gelesen. Mosse ist historisch interessierten Antinationalist/innen eventuell als
Chronist der völkischen Ideologie, jedoch kaum als innovativer Faschismustheoretiker
bekannt.3 Auch Griffin, der immerhin gerühmt wurde, einen „neuen Konsens“ in der seit jeher
überaus kontroversen faschismustheoretischen Debatte erzielt zu haben4, wird in Deutschland
erst langsam bekannter.
Sternhell, Mosse und Griffin sind die Hauptvertreter des „generischen“ (allgemeinen) und
Ideologie-zentrierten („ideozentrischen“) Ansatzes. Zur Beschreibung und Erklärung des
Faschismus halten sie sich an die Aussagen und Texte der Faschisten. Sie nehmen diese
wortwörtlich ernst und tun sie weder als bloße Demagogie ab, noch halten sie sie für das
Gestammel von Wahnsinnigen, das die zugrunde liegenden psychischen Motive nur
verschlüsselt offenbart. So gesehen erscheint der Faschismus als die nach Liberalismus,
Konservatismus und Sozialismus zuletzt entstandene der großen politischen Ideologien, die
auf die existenziellen Krisen des modernen Kapitalismus reagierten.
Ein deutscher Gelehrter, der in der Linken weithin als Unperson gilt, hat den Faschismus auf
ähnliche Weise wie Sternhell, Mosse und Griffin untersucht: Ernst Nolte. Nolte kam im Alter
zum rechten Geschichtsrelativierer herunter, doch sein Buch: „Der Faschismus in seiner
Epoche“ von 1963 gehört zum Besten, was je zum Thema geschrieben wurde.
Die Elemente des faschistischen Minimums
Nach jahrzehntelangen wissenschaftlichen Debatten lässt sich ein Satz von Merkmalen
festhalten, der die Faschismen zureichend beschreibt, ohne sie jedoch zu erklären. Auf der
ideologischen Ebene ist das wichtigste Element eine von Faschismus zu Faschismus je
unterschiedliche Kombination von radikalen Ideologien der menschlichen Ungleichwertigkeit
wie Nationalismus, Rassismus, Sexismus und Antisemitismus, die zugleich immer Aussagen
über die angestrebte, strikt hierarchische faschistische Gemeinschaft und ihre Feinde
enthalten. Hinzu kommt die Feindschaft sowohl gegen Parlamentarismus und Liberalismus
als auch gegen alle Emanzipationsbewegungen wie die der Linken, der Arbeiter, der Frauen
oder der Homosexuellen, des Weiteren der revolutionäre Anspruch, eine ganz neue Welt mit
neuen Menschen zu errichten sowie der Militarismus gepaart mit der Verherrlichung von
Jugend, Stärke, Gewalt, Krieg und Tod. Auf der Ebene der Erscheinungsformen sind die
Faschismen durch den quasi militärischen Aufbau ihrer Organisation samt der Orientierung
auf einen Führer, das Streben nach einer einzigen Einheitspartei, die „Liebe zu Heldentum
und Gewalt“ 5 und den daraus resultierenden terroristischen Politikstil mit paramilitärischen
3
George L. Mosse,: „The Crisis of German Ideology“, Erstauflage New York 1964. (Das Buch wurde in
Deutschland, warum auch immer, unter dem Titel “Die Völkische Revolution” veröffentlicht.); „Towards a
General Theory of Fascism“, Einleitung des von Mosse herausgegebenen Sammelbands: “International Fascism.
New Thoughts and new Approaches.”, London 1979 (S. 1-44).
4
Roger Griffin: The Nature of Fascism. London u.a. 1993
5
Sternhell, „Faschistische Ideologie“, S. 24.
3
Verbänden sowie den exzessiven Einsatz von Uniformen, Fahnen, Massenaufmärschen und
anderen Elementen einer Ästhetik der Gewalt gekennzeichnet.
So, wie sie hier gegeben wurden, stehen diese Elemente noch blutleer und unverbunden
nebeneinander. Es bringt auch wenig, diese Merkmale als Schablone zu benutzen und sie an
eine konkrete Bewegung bzw. Ideologie anzuhalten, um herauszufinden, ob diese Faschismus
genannt werden darf oder nicht. Faschismen ändern sich in der Zeit. Rechte Bewegungen
können sich zu einem Faschismus radikalisieren; Faschismen können sich aber auch
entradikalisieren und zu gewissermaßen „normalen“ rechten Bewegungen zurückbilden. Dem
sozialen Inhalt (andere würden sagen: der sozialen Funktion) und damit dem Wesen des
Faschismus kommt nur auf die Spur, wer sich die Faschismen von der geschichtlichen
Entstehung her denkt.
Der soziale Inhalt des Faschismus
Die Entstehungssituation des Faschismus ist recht genau eingrenzbar: Europa am Ende des
19. Jahrhunderts. Damals formierten sich die Keimzellen der faschistischen Parteien und
Bewegungen. Gruppierungen wie die Action Francaise, die Associazone Nazionalista
Italiana sowie Teile der völkischen Bewegung in Deutschland und Österreich lassen sich
insofern als protofaschistisch6 bezeichnen, als sie die wesentlichen faschistischen Ideologeme
ausformulierten, auch wenn die Blütezeit der Faschismen und die volle Herausbildung ihres
Stils erst nach dem I. Weltkrieg folgten.
Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich in einigen Ländern Europas die kapitalistische
Industriegesellschaft voll entwickelt. Deren unschöne Seiten wurden quer durch alle
weltanschaulichen Spektren registriert und nicht zuletzt von den Linken (Sozialist/innen,
Kommunist/innen, Anarchist/innen) angeprangert. Im Zentrum der nun entstehenden
faschistischen Kapitalismuskritik standen neben der klassenmäßigen Spaltung und teilweisen
Verelendung der von den Faschisten heiß geliebten Nation auch die unübersehbar gewordene
Umweltzerstörung und Phänomene der Unzufriedenheit mit den kapitalistischen
Verhältnissen, die in der linken Tradition meist unter dem schillernden Begriff der
„Entfremdung“ verhandelt wurden. Die chaotische, oft genug katastrophale Krisenhaftigkeit
des Kapitalismus, welche auch ein Grundmotiv linker Kapitalismuskritik darstellte, wurde
von den Faschisten auf eigene Art und Weise problematisiert. Für die von den Faschisten als
negativ empfundenen Aspekte der kapitalistischen Gesellschaft machten sie vorwiegend die
Verkörperungen der abstrakten Seite der kapitalistischen Ökonomie verantwortlich:
Geldmacht, Börsen, Banken, Spekulation, Zins. Die Faschisten störten sich auch ganz
allgemein an gewissen gleichmacherischen Tendenzen des Kapitalismus, wie sie politisch im
Liberalismus und im Parlamentarismus zum Ausdruck kamen. Während die Linken die
negativen Tendenzen der gesellschaftlichen Entwicklung durch die Ausweitung von Teilhabe
und Mitbestimmung für alle überwinden wollten, formulierten die Faschisten eine genau
entgegengesetzte Alternative. Die Radikalisierung von Herrschaft und ein militaristisches
Ideal sollten die kaputten Verhältnisse heil machen.
Das Ende des 19. Jahrhunderts war zudem die Hoch-Zeit des Imperialismus. Die mächtigsten
Länder der Welt befanden sich in einem gnadenlosen Konkurrenzkampf. Überall bestand
Angst vor einer Explosion der imperialistischen Gegensätze. Während linke, liberale und
pazifistische Kräfte gegen den Militarismus kämpften, wollten Andere – unter ihnen die
frühen Faschisten – den imperialistischen Herausforderungen ganz im Gegenteil mittels einer
Durchmilitarisierung und Durchorganisierung aller gesellschaftlichen Bereiche begegnen.
Solche Kräfte gewannen besonders dann an Boden, wenn das nationalistische Lager eines
Landes eine Niederlage oder eine Demütigung erlitten hatte. Genau dies war in Frankreich
6
Nach dem Begriff von Ernst Nolte.
4
nach dem verlorenen Krieg gegen Deutschland 1870/71, in Italien wegen Fehlschlägen bei der
Kolonialpolitik in Afrika und in Deutschland aufgrund des Zurückbleibens gegenüber den
großen Kolonialmächten England und Frankreich der Fall.
Zu allem anderen war das Ende des 19. Jahrhunderts die Zeit des großen Aufschwungs der
Emanzipationsbewegungen der Arbeiter/innen und der Frauen. Auch in den Kolonien und
Halbkolonien gerieten die Menschen zunehmend in Bewegung. Kommunismus und
Anarchismus hatten eine Utopie vom Ende jeder Herrschaft und Ausbeutung und vom guten
Leben für alle formuliert. Während die meisten Menschen jahrtausendelang in Armut und
Mühsal gelebt hatten, damit sich einige Wenige geistigen und übergeordneten Tätigkeiten
widmen konnten, wurde es nun im Industriezeitalter zum ersten Mal möglich, dass alle
Menschen an allen Bereichen und Ressourcen der Gesellschaft teilhaben und herrlich und in
Freuden leben. Diejenigen aber, die an der Herrschaft hingen, mussten sich genau jetzt aufs
Schärfste bedroht fühlen. Ein Aspekt des Faschismus wäre somit der des
Verzweiflungskampfes, des terroristischen Aufbäumens radikalisierter Herrschaftlichkeit
gegen eine Entwicklung, die zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte den materiellen
Daseinsgrund von Herrschaft an sich – den Mangel an Produktivkraft – zunichte gemacht
hat.7
Wird der Faschismus als Versuch einer Antwort auf drei historische Herausforderungen –
Industriekapitalismus, Imperialismus, Emanzipationsbewegungen – und die von ihnen
erzeugten Krisen aufgefasst, so ist dreierlei zu beachten: Erstens die Prämisse dieser Antwort,
zweitens der Standpunkt, von dem aus sie erdacht und gegeben wird, und drittens, dass sie
eine ganzheitliche, in sich sinnvolle Antwort sein will. Die allgemeine Prämisse
faschistischen Ideologisierens bestimmt sich leicht: Es ist die Überzeugung von der naturoder gottgegebenen Ungleichheit und Ungleichwertigkeit der Menschen, welche die
Faschisten mit der gesamten politischen Rechten teilen. Spezifisch faschistisch ist der selbst
gewählte Standpunkt der Faschisten – der des kriegerischen Helden- und Herrenkollektivs,
des kämpfenden Männerbunds, der immer und überall ein zentrales Merkmal faschistischer
Ideologie und Praxis darstellt. Daher ist der Name „Faschismus“, also Bundismus, den sich
die Kampfbünde (fasci di combattimento) Mussolinis gaben, wirklich überaus zutreffend.
Der innere, ganzheitliche Sinnzusammenhang der Elemente des faschistischen Minimums
lässt sich am besten nachvollziehen, wenn wir vom faschistischen Imperialismus und
Militarismus ausgehen. Alle Faschismen verfolgen das Ziel, die von ihnen erträumte
Gemeinschaft in der internationalen Wirtschafts- und Machtkonkurrenz möglichst stark, ja
unbesiegbar zu machen und ein großes Reich zu erhalten oder zu erobern. Die Ideologien der
Ungleichwertigkeit markieren dabei die zu unterwerfenden Gruppen und die äußeren Feinde.
Das Streben nach größtmöglicher äußerer Machtentfaltung verlangt die Umformung der
Gesellschaft in einen militärischen Kampfapparat unter eindeutiger elitär-diktatorischer
Spitze. Dieser Gesellschaftsentwurf bringt es mit sich, jedes Einzelinteresse dem
imperialistisch-faschistischen
Kollektivinteresse
unterzuordnen,
Meinungsfreiheit,
Meinungsstreit, Klassenkampf und Emanzipationsbewegungen auszuschalten und alle durch
die Ungleichwertigkeitsideologien als feindlich, störend, bedrohlich und parasitär markierten
Gruppen entweder zu unterwerfen und einzugliedern oder zu vertreiben bzw. zu vernichten.
Gleichzeitig entspricht der faschistische Militarismus und Heroismus bestens den
Anforderungen eines imperialistischen Programms an die Mentalität derer, die es kämpfend
verwirklichen sollen.
7
So Nolte, „Der Faschismus in seiner Epoche“, S. 507: „Der NS war der Todeskampf der souveränen,
kriegerischen, in sich antagonistischen Gruppe. – Er war praktischer und gewalttätiger Widerstand gegen die
Transzendenz.“ Ebd., 504/05: „Er [der Faschismus – M.W.] kann nur als der Ausdruck einer Partikularität
verstanden werden, die sich als solche für gefährdet hält und deshalb unter Abstreifung ihrer geschichtlichen
Eigenart mit stärkster Betonung die naturhaft-urtümlichen Züge ihrer Existenz hervorkehrt und für immer zu
sichern versucht.“ (Hervorhebung im Original.)
5
Militarismus und Heroismus sind geradezu die faschistische Antwort auf die als eng,
langweilig und herausforderungslos empfundene Lebenswirklichkeit der kapitalistischen
Industriegesellschaft. Das Gefühl einer kämpfenden Gemeinschaft soll die Entfremdung
aufheben.
Die militärische Notwendigkeit erzwingt auch tatsächliche Sozialreformen – um die
Unterprivilegierten in die kämpfende Gemeinschaft einzugliedern und weil
Verelendungsprozesse die Bereitstellung tauglichen Arbeiter- und Soldatenmaterials
gefährden. Gleichzeitig soll der Erfolg des äußeren Kampfes auch den Klassengegensatz
auflösen, indem sich die kämpfende Gemeinschaft zum Herrenvolk über die Unterworfenen
aufschwingt. Der faschistische Imperialismus ist also immer Sozialimperialismus. Der äußere
Gegner der Faschisten kann mit dem inneren – den Emanzipationsbewegungen – und auch
mit der faschistischen Kapitalismuskritik verklammert werden. Die Zauberformeln hierzu
heißen Verschwörungstheorien und Antisemitismus.
Soldatische Männer im Sinne Theweleits und autoritäre Charaktere im Sinne Adornos sind
normale Produkte ideologischer Subjektkonstitution unter herrschaftlichen Verhältnissen.
Von tiefgreifenden sozialen Krisen, imperialistischer Konkurrenz und welthistorischen
Emanzipations- und Angleichungsprozessen im Innersten erschüttert, verunsichert und aufs
Höchste mobilisiert, radikalisieren solche Subjekte verschiedene herrschaftliche Ideologeme
bis zu einem extremen Punkt, an dem die revolutionäre Vision einer neugeborenen
herrschaftlichen Welt entsteht – der Faschismus.
Dabei leiden die Faschismen an einem grundlegenden Widerspruch: Wäre die Überlegenheit
des kriegerischen Herrenkollektivs tatsächlich natur- oder gottgegeben, dann wäre der Kampf
gegen die Feinde sehr leicht. Die ganze faschistische Anstrengung zur Unterwerfung wird ja
überhaupt nur nötig, weil die Herrschaftsverhältnisse weder durch die Natur noch durch eine
göttliche Weltordnung zwingend, eindeutig und ewiglich festgelegt, sondern im Gegenteil
immer umkämpft und brüchig sind. Nur dies schafft den Emanzipationsbewegungen ihren
historischen Spielraum. Vielleicht ist es dieser Widerspruch im Fundament der Ideologie, der
zu einem kollektiven psychischen Zwang führt, das offenkundig Falsche mit umso größerer
Gewalt beweisen zu wollen, und damit zum typisch faschistischen Überschießen in äußerste
Destruktivität und Grausamkeit.
Klassentheoretische Erklärungsversuche des Faschismus verfehlen den Kern des Problems
Vor allem von marxistischer Seite hat es viele Versuche gegeben, den Faschismus
klassentheoretisch zu deuten. Derartigen Interpretationen geht es stets darum, welchen
Klasseninteressen der Faschismus dient und welche Klassen bzw. Gruppen besonders anfällig
für ihn sind.
Die historische Komplizenschaft zwischen den Faschisten und wichtigen Teilen der sozialen
Führungsgruppen – Großkapitalisten und Großgrundbesitzer, Adel, Hochbürokratie,
Militärführung und hoher Klerus – in Italien, Deutschland und anderen Ländern ist
offenkundig. Daher wurden diese sogenannten Eliten häufig verdächtigt, die eigentlichen
Nutznießer und sogar Auftraggeber des Faschismus zu sein. In vielen europäischen
Gesellschaften aber bekämpften die konservativen Führungsgruppen die Faschisten erbittert
und akzeptierten sie erst unter äußerem Druck notgedrungen als Koalitionspartner (so in
Ungarn und Rumänien) oder sie bemühten sich um ihre Einbindung, Zähmung und
allmähliche Neutralisierung (so in Portugal und Spanien).
In jedem Fall wurden Faschisten für die herrschenden Kreise immer nur in dem Maße als
Bündnispartner interessant, wie die traditionellen rechten Parteien abwirtschafteten und die
Faschisten aus eigener Kraft Massenanhang gewannen. Und auch ohne nennenswerte
Unterstützung durch Teile der sozialen Führungsgruppen existieren die Faschismen bis heute
als Bewegungen, versuchen zu expandieren und sind in vielen Ländern Europas in der Lage,
6
unter manchen Bevölkerungsgruppen und in manchen Regionen Angst und Schrecken zu
verbreiten. Die besonders von traditionellen Linken immer wieder strapazierte Frage danach,
worin heute das Herrschaftsinteresse welcher Fraktion des Kapitals und des Staatsapparats an
den Faschisten besteht, lenkt eher davon ab, die aktuellen Dynamiken und
Gefährdungspotenziale faschistischer Bewegungen zu untersuchen und zu verstehen.
Eines bleibt von diesen Überlegungen jedoch unbenommen: Immer und in jedem Falle wird
eine faschistische Option den Führungsgruppen einer herrschaftlichen Gesellschaft näher
liegen als eine prinzipiell anti-herrschaftliche, etwa kommunistische oder anarchistische
Option. Wenn Führungsgruppen ihre Machtpositionen und Privilegien gefährdet sehen,
werden sie tausendmal lieber Koalitionen mit Faschisten eingehen, als sozialen Bewegungen
Zugeständnisse zu machen.
Der Faschismus ist häufig und beileibe nicht nur von Marxist/innen als Bewegung der
Mittelschichten bzw. des Kleinbürgertums gedeutet worden. Dieses Theorem taucht auch
heute noch in linken Debatten auf. Nun umfasst die „Klasse“ des Kleinbürgertums höchst
verschiedenartige Gruppen mit völlig divergenten Interessenlagen und im Grunde alle, die
den Hauptklassen Bourgeoisie und Proletariat nicht recht zuzuordnen sind: Bauern,
Handwerker, Selbständige, gewisse Teile der Angestellten, freie Berufe, Kleinunternehmer,
viele Staatsdiener/innen, Akademiker/innen usw. Unscharf bleibt die Abgrenzung nach oben,
zur Kapitalistenklasse, wie nach unten, zu den Angestellten und Arbeiter/innen. So kommt es,
dass sich in allen Industriegesellschaften eine zahlenmäßige Mehrheit der Bevölkerung den
Mittelschichten zurechnen lässt. Bewegungen wie die Faschismen, deren
sozialimperialistisches und verschoben antikapitalistisches Programm allen großen Gruppen
der nationalen Gesellschaft ein Angebot macht, bilden von der Tendenz her die klassen- und
schichtenmäßige Zusammensetzung der Nation und damit auch die zahlenmäßige Größe der
Mittelschichten ab. Daher der „Mittelstandsbauch“, wie der statistische Überhang des
Kleinbürgertums in den faschistischen Massenparteien Italiens und Deutschland so schön
genannt wird.
Das Theorem vom Faschismus als Mittelstandsbewegung hat seine empirische Stütze auch
darin, dass es dem Nazifaschismus nicht gelungen ist, das sozialistische, kommunistische und
gewerkschaftliche Milieu der großstädtischen Industriearbeiter/innenschaft vollständig zu
integrieren. Andererseits haben es faschistische Bewegungen zu allen Zeiten und in vielen
Ländern, auch in Deutschland, immer wieder geschafft, große Mengen von Arbeiter/innen zu
gewinnen. Die historisch-soziologischen Befunde zum Massenanhang der Faschisten führen
letztlich zu nicht mehr als der Binsenweisheit, dass gefestigte weltanschauliche Milieus mit
eigener Infrastruktur und hoher Bindekraft wie die Arbeiter/innenbewegung oder auch der
gleichfalls relativ nazi-resistente, klassenmäßig heterogene politische Katholizismus der
Faschisierung einige Zeit widerstehen können.
Es gibt noch eine Version, wonach sich die Faschismen vorwiegend aus dem Milieu der
Deklassierten bzw. dem „Lumpenproletariat“ oder dem Gangstertum rekrutieren und dessen
kriminelle Neigungen und Interessen vertreten. Eine ähnliche Denkfigur liegt auch dem
immer noch lebendigen Klischee vom besoffenen, arbeitslosen, „asozialen“, gewalttätigen
Neonazi-Skin zugrunde. Die Deutung des Faschismus als krimineller Bande von „Lumpen“
wurde von Konservativen ebenso wie von Marxisten vorgebracht. Wer sie vertritt, enthebt
sich der Notwendigkeit, weiter über die Inhalte der faschistischen Ideologie nachzudenken.
Der Preis dieser Bequemlichkeit ist, niemals verstehen zu können, aus welchen Gründen sich
unter bestimmten Umständen eben nicht nur Deklassierte und Kriminelle, sondern
Angehörige aller sozialen Gruppen in Massen den Faschismen anschließen.
Alle Theorien, die den Faschismus aus der sozialökonomischen Interessenlage und der
Mentalität bestimmter Klassen und Gruppen ableiten wollen, taugen also nicht viel. Es gibt
aber einen Berufsstand, dessen Neigung zum Faschismus historisch-empirisch feststeht, weil
seine Mitglieder in den Reihen der Faschisten deutlich überrepräsentiert sind und in der
7
Geschichte faschistischer Bewegungen herausragende Rollen gespielt haben. Bis zum
heutigen Tag weisen Umfragen und Studien in diesem Berufsstand eine erhöhte Neigung zu
faschistoiden Haltungen auf. Es handelt sich um die staatlichen Gewaltspezialisten:
Berufssoldaten, vor allem Offiziere, und Polizisten. Diese Waffenträger können sich in
faschistischen Staaten in der Tat über eine enorme Erhöhung ihres Ansehens und ihrer
Karrierechancen freuen. Wichtiger scheint noch, dass in den bewaffneten Organen sozusagen
berufsbedingt sehr häufig jene Mentalität des kämpfenden Männerbunds anzutreffen ist, die
vorhin als Grundlage faschistischen Ideologisierens und faschistischen Selbstgefühls
gekennzeichnet wurde.
Auch der Nationalsozialismus ist ein Faschismus.
Aus den Faschismen sticht der NS durch seine biologistische Rassenideologie und seinen
Antisemitismus hervor. Verbrechen wie den industriellem Massenmord und
Ausrottungsversuch an Juden, sogenannten „Zigeunern“ und „Erbkranken“ sowie den
rassistisch-antisemitischen Vernichtungskrieg gegen Polen und die Sowjetunion hat kein
anderer Faschismus verübt. Einige Theoretiker/innen, so Hannah Arendt und Sternhell, sowie
viele Antideutsche wollen den deutschen Extrem- und Sonderfall des Faschismus daher nicht
Faschismus nennen.
In der Tat können sich einzelne Faschismen so erheblich voneinander unterscheiden, dass ihre
Wesensähnlichkeit verschleiert wird. Das Verhältnis zwischen Allgemeinem und Besonderem
der Faschismen lässt sich nicht besser als mit folgendem Satz George L. Mosses bestimmen:
„Jedes Land entwickelte den Faschismus, der seinem spezifischen Nationalismus gerecht
wurde.“8 Das Besondere des NS folgt aus den Besonderheiten der ihm zugrunde liegenden
Form des deutschen Nationalismus und der seinerzeit vorherrschenden deutschen Mentalität.
Darüber hinaus scheint der NS bestimmte ideologische und terroristische Tendenzen entfaltet
zu haben, die als Entwicklungspotenzial jedem Faschismus innewohnen. Der Nazifaschismus
wäre demzufolge voll entwickelter „Radikalfaschismus“9, dessen Analyse auch etwas über
Entwicklungspotenziale der nicht so weit gereiften Faschismen aussagen kann.
Zunächst ein Blick auf den Italofaschismus, der immer als Paradebeispiel dient, wenn es
darum geht, den angeblichen kategorialen Unterschied zwischen NS und Faschismus zu
belegen. Der italienische Faschismus sei prinzipiell nicht eliminatorisch und antisemitisch
gewesen und hätte Antisemitismus und Rassenideologie erst ab 1938 aus machttaktischen
Gründen adaptiert, heißt es oft. Übersehen wird dabei nicht nur, dass mit den „heidnischen
Imperialisten“10 von Anfang eine rassistische und antisemitische Gruppierung an der
heterogenen faschistischen Partei beteiligt war, sondern auch die strukturelle Nähe zwischen
dem Antisemitismus und bestimmten Inhalten des frühen Italofaschismus wie der Agitation
gegen die sogenannte „Plutokratie“ und dem sozialimperialistischen Theorem vom
angeblichen Antagonismus zwischen "proletarischen" und "plutokratischen" Nationen.
Die militarisierte jugendliche Elite des Italofaschismus, die Schwarzhemden, brachte
antisemitische, rassistische, eliminatorische und faschistisch-antikapitalistisch-revolutionäre
Tendenzen in der Spätphase des Mussolini-Regimes von 1943-45 zur vollen mörderischen
Entfaltung. Auch die kroatischen Ustaschas, ungarischen Pfeilkreuzler und rumänischen
„Legionäre“ waren kaum weniger rassistisch, antisemitisch und auf Ausrottung aus als die
deutschen Faschisten. Dass diese Banden nicht so viel Verheerung anrichteten wie die Nazis,
folgt nicht aus qualitativen ideologischen Unterschieden, sondern liegt daran, dass es sich um
vergleichsweise kleine Faschismen handelte, denen die militärischen, technischen,
wirtschaftlichen
und
politischen
Machtmittel
der
Nazis
fehlten.
Extreme
8
S. Mosse, “Die Völkische Revolution”, S. V/VI.
Der Begriff stammt von Ernst Nolte.
10
Beleg?
9
8
Ungleichheitsideologien – bis hin zum Vernichtungswillen gegenüber bestimmten Gruppen –
sind jedem Faschismus eigen. Der Nazifaschismus stellt eine aus spezifisch deutschen
Gründen zu erklärende Steigerung dieses Moments dar.
Auch nach 1945 und keineswegs nur in Europa lehrt die ganze Geschichte der Faschismen,
wie mühelos sie Antisemitismus und Rassismus übernehmen und einbauen können, wenn sie
diese Ideologien nicht gleich von sich aus entwickeln. Hatte bis in die zweite Hälfte der 30-er
Jahre der Italofaschismus internationale Vorbildfunktion, so ist diese Rolle seitdem und bis
heute konkurrenzlos an den Nazifaschismus übergegangen. Als in sich geschlossenste,
konsequenteste und radikalste Form des Faschismus übt er eine geradezu magische
Anziehung auf alle faschisierten Gemüter aus und hat mittlerweile wohl überall in der Welt
Fans und Nachahmer/innen gefunden.
Nicht jeder Faschismus ist von Beginn an antisemitisch, dass aber überhaupt bestimmte
Gruppen – etwa Freimaurer oder eine ominöse „Plutokratie“ - zur Zielscheibe des
faschistischen Hasses gegen bestimmte Aspekte des Kapitalismus werden müssen, ergibt sich
aus dem Wesen der Faschismen. Es ist faschistische Prämisse, dass die natur- oder
gottgegebene Ungleichheit der Menschen die Einen zur Herrschaft und die Anderen zur
Unterwerfung bestimmt. Diese Vorstellung regiert so uneingeschränkt das Bewusstsein der
Faschisten, dass sie abstrakte, unpersönliche Herrschaft nicht zu denken vermögen. Daher
muss in ihren Augen jede Herrschaft personaler Natur sein, auch die für sie undurchschaubare
kapitalistische Herrschaft. Diese wird den Faschisten dann eben zur quasi magischen,
geheimnisvollen Herrschaft einer Gruppe, welche die dazu erforderlichen Eigenschaften und
Fähigkeiten besitzen muss. An diesem Denkschema liegt es, dass der Antisemitismus in allen
faschistischen Ideologien angelegt und jederzeit mühelos in sie einzubauen ist.
Der Faschismus ist weder eine Negation des Kapitalismus noch bleibt er in dessen Rahmen.
Jahrzehntelang ist heftig über die Frage gestritten worden, ob der Faschismus an der Macht
letztlich auf die Errichtung einer nicht mehr kapitalistischen Gesellschaft hinausläuft. Die
Debatte bezog sich dabei zumeist auf Nazideutschland als am weitesten faschisierte
Gesellschaft. Manche Theoretiker/innen sind der Ansicht, dass sich ein siegreicher
Faschismus zu einer rassistisch-aristokratischen neuen Sklavenhalterordnung entwickeln
würde. Für Andere tendiert der Faschismus zur völligen Auflösung jeglicher festen
gesellschaftlichen Struktur und aller Formen von Rechts- und Staatsordnung zugunsten der
Terrorherrschaft und Katastrophenpolitik konkurrierender Banden und Cliquen, die nur noch
durch ein ideologisch motiviertes Vernichtungs- bzw. Mordprojekt zusammengehalten
werden.
Sofern unter Kapitalismus nur eine Gesellschaftsordnung mit einem Markt, freien
Privateigentümern und Tauschakten, Rechtsform des Verkehrs der Subjekte samt Ausbeutung
unter der Hülle des freien Vertrags verstanden wird, war die NS-Kriegswirtschaft mit ihrer
zentralen Lenkung und der sich immer weiter ausbreitenden Sklav/innenarbeit keine
kapitalistische Wirtschaftsordnung mehr. Eine zentrale, auf Zustimmung und Zwang
beruhende Wirtschaftslenkung hat es in den beiden Weltkriegen jedoch allgemein und auch in
den westlichen kapitalistisch-demokratischen Gesellschaften gegeben. Nach Beendigung des
kriegsbedingten Ausnahmezustands wurden die Marktverhältnisse dort zumindest teilweise
wieder restauriert. Elemente zentraler Planung, Absprache und Koordination haben in der
Epoche des monopolistischen bzw. oligopolistischen Kapitalismus, also auch heute, generell
erheblich an Bedeutung gewonnen. Die vermeintlich nichtkapitalistischen Merkmale des NSSystems spiegeln also bis zu einem gewissen Grade allgemeinkapitalistische Tendenzen
wieder.
Wie auch in den westlichen Kriegswirtschaften blieben grundlegende Strukturen und
Mechanismen kapitalistischen Wirtschaftens auch im NS-System in Kraft. Preis- und
9
Profitbildung kamen nur eben nicht mehr über den Markt zustande, sondern durch direkte
Absprache zwischen den Chefs der Kapitale einer- und der nazifaschistischen Apparate
andererseits. Kapitalkonzentration und Profitabilität zugunsten der größten Monopolgruppen
stiegen gewaltig an. Die obersten Schichten der Kapitalistenklasse, der Nazi-Partei, der SS
sowie teilweise auch der Wehrmacht und der Bürokratie verschmolzen personell und
mentalitätsmäßig immer mehr. All diese Anzeichen sprechen dafür, das NS-System als
Sonderfall einer kapitalistischen Gesellschaft anzusehen.
Andererseits wissen wir, was die Nazi-Führungsgruppen, insbesondere die im Nazireich
immer mächtiger werdende SS-Führung, den Bevölkerungen Osteuropas zugedacht hatten,
und es gibt keinen Grund zu glauben, dass diese Planungen bei Gelegenheit nicht in die Tat
umgesetzt worden wären. Das vorherrschende Strukturmerkmal des angedachten deutschen
Kolonialreichs im Osten war nicht kapitalistisch, sondern rassenaristokratisch und
sklavenhalterisch.
Alle Interpretationsversuche haben den Mangel, dass die empirische Basis im Grunde
lediglich aus zwölf chaotischen Jahren des Ausnahmezustands besteht, die von den
Erfordernissen der Machtgewinnung, des provisorischen Staats- und Gesellschaftsumbaus,
hektischer Rüstung und schließlich von Krieg und Katastrophe geprägt waren. Dabei verbot
gerade der Imperialismus des Nazifaschismus, also die Priorität von Kriegsvorbereitung und
Kriegsführung, einschneidende Experimente mit der kapitalistischen Eigentumsordnung.
Vielmehr bediente sich die Naziführung der übernommenen Klassen- und
Verwaltungsstrukturen, um in möglichst kurzer Zeit maximale Ergebnisse zu erzielen.
Gleichzeitig war der Imperialismus neben dem Antimarxismus einer der wichtigsten
gemeinsamen Nenner von Naziführung und traditionellen „Eliten“. Die in jedem Faschismus
enthaltenen kapitalismuskritischen und sozialreformerischen Tendenzen wie der
Nationalsyndikalismus im frühen Italofaschismus oder der nationalrevolutionäre StrasserFlügel der NSDAP entfalteten insgesamt wenig Wirkung.
Wir können – zum Glück – nicht wissen, welche Gesellschaftsordnung ein siegreicher
Faschismus hervorbringen würde und ob es so etwas wie eine stabile faschistische Ordnung
überhaupt geben kann. Die historische Erfahrung liefert nur vorläufige und zweideutige
Befunde. Um das Verhältnis von Kapitalismus und Faschismus bestimmen zu können, muss
einmal mehr auf die faschistische Ideologie geschaut werden, und zwar auf die faschistische
Kapitalismuskritik. Diese ist zutiefst widersprüchlich. Die Faschisten hassen alles, was am
Kapitalismus gleichmacherisch ist bzw. Elemente formaler Freiheit und Gleichheit
repräsentiert – das bürgerliche Recht, den bürgerlichen Staat und sein Konzept der
Staatsbürgerschaft, die Freiheit der Konkurrenz usw. – was aber im Kapitalismus wesentlich
Ungleichheit her- und darstellt und (Klassen-) Herrschaft bedingt, das finden die Faschisten
sehr gut und erhaltenswert: das Privateigentum. Wollte jemand das faschistische Verhältnis zu
kapitalistischer Herrschaft in einem Satz zusammenfassen, so könnte der lauten: Die
Faschisten rebellieren im Sinne gruppenspezifischer bzw. durch die Zugehörigkeit zu einer
Gruppe vermittelter Herrschaft gegen die abstrakt-unpersönliche, systemische Dimension der
Herrschaft im Kapitalismus. Die wichtigsten Kategorien gruppenspezifischer Herrschaft im
Kapitalismus sind race, class und gender.
Die abstrakte, unpersönliche Dimension kapitalistischer Herrschaft ist immer eng verwoben
mit der gruppenspezifischen und den entsprechenden Ungleichheitsideologien wie
Nationalismus, Rassismus, Klassismus und Sexismus. Dennoch transformiert der
Kapitalismus historisch die Strukturen gruppenspezifischer Herrschaft. So setzt sich das Spiel
der Konkurrenz oft über jeglichen wirklichen oder vermeintlichen qualitativen Unterschied
zwischen Personen und Gruppen hinweg. Ebenso betreffen die oft genug katastrophalen
Auswirkungen der chaotischen ökonomischen Prozesse mitunter auch die Angehörigen der
privilegierten und sich überlegen fühlenden Gruppen.
10
Im Kapitalismus existiert neben der ökonomischen auch eine rechtlich-politische
Gleichmacherei: Es werden – in der langfristigen historischen Tendenz – sämtliche
Erdenbürger/innen als formal gleiche und freie Rechtssubjekte gesetzt, die über ihr Eigentum
– meistens ist das nur ihre Arbeitskraft – mittels freier Verträge verfügen, also kaufen und
verkaufen, sprich kapitalistisch wirtschaften können. Dies geht mit der Unterwerfung der
Individuen unter einen staatlichen Souverän einher, der sich immer das letzte Wort über
Leben und Tod seiner Untertanen vorbehält.
Gegen diese abstrakt-formale Gleichheit der Staatsbürger/innen bzw. Rechtssubjekte und
gegen eine Organisationsform der Staatsmacht, die Ausgleich zwischen konkurrierenden
Interessengruppen statt andauernder Herrschaft einer Person oder Gruppe vorsieht, setzen die
Faschismen die Bevorrechtigung bzw. Entrechtung der Individuen aufgrund ihrer
Gruppenzugehörigkeit und eine dem Anspruch nach totale Herrschaft, die keinerlei rechtliche
Vermittlung oder Beschränkung mehr kennt.
Was die Faschismen am Kapitalismus zu kritisieren haben, sind genau diejenigen Tendenzen,
die den Glauben an die ewige, wesensmäßige, natur- oder gottgegebene Ungleichheit der
Menschen ins Wanken bringen. Das Privateigentum aber, das im Kapitalismus ungleich
verteilt ist und Ungleichheit wesentlich herstellt, finden die Faschismen sehr gut und wollen
es auf jeden Fall erhalten und verteidigen. Das Privateigentum Einzelner, etwa das jüdischer
oder politisch nicht konformer Industrieller, ist im faschistischen Staat stets angreifbar,
während das Prinzip des Privateigentums an Produktionsmitteln aufrecht erhalten wird.
Die Faschismen rebellieren gegen einen ganzen welthistorischen Prozess, der mit dem
Aufstieg des Bürgertums begann und in seiner langfristigen Tendenz sämtliche hergebrachten
personalen und gruppenspezifischen Herrschaftsverhältnisse transformiert sowie auch die
territorialen und wirtschaftlichen Grenzen zugunsten einer immer allseitigeren Verbundenheit
der Menschheit niederreißt. Die Faschismen bekämpfen also bestimmte Aspekte und
Entwicklungstendenzen des Kapitalismus, weil sie diese als Bedrohung von
Herrschaftlichkeit
empfinden.
Selbstverständlich
sind
sie
deswegen
allen
Emanzipationsbewegungen, deren Forderungen noch über die bürgerliche abstrakt-formale
Freiheit und Gleichheit hinausgehen, umso mehr feind. Konservative und faschistische
Gegner jeder Emanzipation sahen immer klar die historische und innere Verwandtschaft
zwischen der bürgerlichen Liberalität und dem linksradikalen Streben nach vollständiger
Befreiung. Faschistische und kommunistische Kapitalismuskritik verhalten sich
spiegelverkehrt: Die faschistische Rebellion richtet sich gegen Aspekte des Kapitalismus,
wegen derer die kommunistische Kapitalismuskritik einmal des Lobes voll für die
revolutionäre Rolle der Bourgeoisie war.
Die ideologische Widersprüchlichkeit der faschistischen Kapitalismuskritik – Respekt vor
dem Privateigentum einerseits, Hass auf Rechtsform und freie Konkurrenz andererseits - muss
sich in die gesellschaftliche Wirklichkeit eines faschistischen Systems übertragen. Die
Existenz einer Masse von Privateigentümern und eines wie auch immer regulierten Marktes
verträgt sich auf lange Sicht schlecht mit einer aristokratischen Sklavenhalterordnung. Mit der
Terrorherrschaft raubender Banden, in der nicht nur Markt und Recht, sondern auch moderne
Staatlichkeit als solche durch direkte Gewalt ersetzt sind, ist sie von vornherein unvereinbar.
Werden kapitalistische Grundformen wie Privateigentum, Markt und Geld auf großer Skala
beibehalten, so ziehen sie einen ganzen Rattenschwanz sozialökonomischer Prozesse nach
sich, die langfristig auf die Totalisierung kapitalistischer Verkehrsformen drängen.
Marktverkehr und Rechtsform im Inneren der angestrebten faschistischen Gemeinschaft, also
nur unter Volks- und Glaubensgenoss/innen, Sklaverei und Raub für die als minderwertig und
feindlich eingestuften Bevölkerungsteile – dies könnte die wiewohl immer problematische
und prekäre Existenzform eines stabilisierten und siegreichen Faschismus an der Macht sein.
Aus den inneren Widersprüchen einer solchen Gesellschaft und aus den ideologischen und
mentalen Triebkräften der Faschisten selbst ergäbe sich sowohl die Möglichkeit, dass sich
11
eine faschisierte Gesellschaft hin zu einem „normalen“ autoritär-kapitalistischen Modell
entradikalisiert, als auch die Möglichkeit, dass die immanente Destruktivität und
Aggressivität des Faschismus zu einem mörderischen und letztlich selbstmörderischen
Katastrophenszenario führt.
Die Epoche des Faschismus ist leider noch lange nicht vorbei.
Der Faschismus wurde oben skizziert als eine radikale herrschaftliche Reaktion auf drei große
historische
Krisen
oder
Herausforderungen:
Verwerfungen
des
modernen
Industriekapitalismus,
imperialistische
Mächtekonkurrenz,
Aufstieg
der
Emanzipationsbewegungen. Trotz aller historischen Veränderungen besteht die
Grundkonstellation, welcher der Faschismus seine Entstehung verdankt, bis heute weiter: Den
modernen Kapitalismus gibt es noch, die internationale Sphäre der Wirtschaftsstandorte und
Staaten ist weiterhin von Konflikten und Konkurrenz geprägt, und auch
Emanzipationsbewegungen sind nach wie vor aktiv11.
Dass die Möglichkeitsbedingungen des Faschismus weiterhin gegeben sind, bedarf eigentlich
keiner weiteren Diskussion, wo doch nahezu weltweit faschistische Bewegungen agieren. Aus
antifaschistischer Perspektive besonders interessant ist aber die Frage, ob und unter welchen
Bedingungen Faschismen noch einmal die Bedeutung erlangen könnten, die sie in der Zeit
zwischen den beiden Weltkriegen hatten.12 Wie oben dargelegt, waren Imperialismus und
Militarismus die wesentlichen Geburtshelfer des Faschismus. In Italien, Deutschland und
Frankreich entstanden die Vorformen der Faschismen als radikale Antworten auf
Herausforderungen, die sich aus der Stellung der drei Nationen in der internationalen
Mächtekonkurrenz ergaben. Die italienischen Misserfolge in der Kolonialpolitik, das deutschimperialistische Streben nach einem „Platz an der Sonne“ und die französische Demütigung
durch die Niederlage gegen den Hauptkonkurrenten Deutschland im 1870-er Krieg wirkten
wie Katalysatoren auf die Entstehung der Protofaschismen.
Die klassische Periode des Faschismus brach dann nach dem Ersten Weltkrieg herein. Dabei
erhielten die Faschismen besonders in denjenigen Ländern Auftrieb, die als Verlierer aus der
Katastrophe hervorgingen – Deutschland und Ungarn -, sowie in solchen Ländern, deren
Nationalisten sich um die Früchte des Sieges gebracht glaubten – Italien und Rumänien. Auch
in England – um nur eins von vielen möglichen Beispielen zu nennen – war das Streben nach
dem Erhalt des niedergehenden Imperiums ein wesentliches Antriebsmoment des
vergleichsweise spät entstandenen Faschismus der British Union of Fascists (BUF) unter
Oswald Mosley.
Sollen also die Erfolgsbedingungen aktueller und zukünftiger Faschismen eingeschätzt
werden, so müssen die Veränderungen im Gefüge der internationalen Herrschaft in den Fokus
rücken. Nur wenn es zu einer neuen imperialistischen Blockkonfrontation wie vor und nach
dem Ersten Weltkrieg kommt, werden die faschistischen Vorschläge zur Durchmilitarisierung
der Gesellschaft, zu sozialimperialistischen Kriegen und zum Heldentod fürs Vaterland
genügend scheinbare Plausibilität und Attraktivität erhalten, um faschistischen Bewegungen
zum Massendurchbruch und vielleicht auch zum Griff nach der Staatsmacht zu verhelfen.
11
In orthodoxen linken Debatten taucht manchmal der Gedanke auf, dass „die Herrschenden“ derzeit keinen
Faschismus nötig hätten, weil die politische Linke ihre Herrschaftspositionen nicht mehr akut gefährdet. Diese
Annahme resultiert aus der typischen Selbstbezogenheit der traditionellen marxistischen Linken und ist eine
Täuschung. Wenn es keine starke marxistische Linke gibt, dann nehmen sich die Faschisten die Frauen- und
Homosexuellenemanzipation, den Liberalismus und Parlamentarismus oder etwas anderes vor.
12
Die Horrorvision eines umfassenden Einsatzes moderner Technik und Wissenschaft zur Verewigung von
Herrschaft, wie sie in den Dystopien von „Schöne neue Welt“ bis „Matrix“ inszeniert wird, hat mit faschistischer
Ideologie meistens wenig zu tun. Deswegen ist die Frage, wie moderne Technologien Herrschaft perfektionieren
(und verändern) könnten, jedoch nicht weniger wichtig.
12
Wie wahrscheinlich ist eine neoimperialistische Konstellation? Die Weltlage erlaubt keine
Prognose. Es gibt natürlich noch die alten Mechanismen von Abschreckungspolitik,
Wettrüsten, Stellvertreter- und Wirtschaftskriegen, Protektionismus und Geheimdiplomatie,
das oft genug rabiate Gezerre um Einflusszonen, Absatzmärkte und Rohstoffquellen. Es gibt
Gründe anzunehmen, dass neoimperialistische Tendenzen infolge des Aufstiegs neuer Mächte
wie China und zunehmender Ressourcenknappheit zunehmen werden. Dennoch bestehen
auch gegenläufige Dynamiken. Im Großen und Ganzen verfolgen die wichtigsten
kapitalistischen Mächte bisher noch eine Politik des prekären Arrangements untereinander,
um ein Mindestmaß an herrschaftlicher Ordnung weltweit aufrechtzuerhalten. Die ungeheure,
noch nie da gewesene gegenseitige wirtschaftliche, kulturelle und kommunikationsmäßige
Verflechtung der großen Nationalökonomien macht eine neue imperialistische
Blockkonfrontation schwer oder doch zumindest nur sehr langfristig denkbar.
Wo auch immer die Entwicklung hingehen mag: Je konkurrenz- und gewaltförmiger,
militarisierter, imperialistischer das Gefüge der internationalen Herrschaft werden wird, desto
größer sind die Chancen der Faschismen. Gesellschaften, in denen ein Gefühl der
internationalen Marginalisierung, der kollektiven Demütigung, der äußeren Bedrohung durch
mächtige Feinde und der inneren Bedrohung durch Dekadenz weit verbreitet ist, werden
besonders empfänglich für faschistische Vorschläge und Versprechungen sein.
Auf viele islamisch geprägte Gesellschaften treffen die genannten Merkmale zu. Die
Führungsgruppen der islamisch geprägten Gesellschaften lebten jahrhundertelang in dem
Glauben, sie würden die höchstentwickelte, ewig siegreiche und gottgewollte Form der
Zivilisation repräsentieren. Der europäische Kolonialismus und der gewaltsame Anschluss
vieler dieser Gesellschaften an den Weltmarkt erzeugte tatsächlich eine ungeheure kollektive
Frustration. Bis heute sind viele islamisch geprägte Gesellschaften sozial extrem polarisiert,
weltwirtschaftlich marginalisiert, und vom Lebensstandard und Bildungsgrad her weit
abgeschlagen.
Die
islamistischen
Bewegungen
lassen
sich
vielfach
als
Modernisierungsreaktionen deuten, welche die Gesellschaft nach innen integrieren und nach
außen stark machen wollen.13 Insofern sind sie ihrem sozialen Inhalt nach mit den Faschismen
verwandt.
Gibt es nun einen „Islamofaschismus“? Ist der Islamismus faschistisch im Sinne des hier
entwickelten Faschismusbegriffs? Welche islamistische Gruppierung die Kriterien des
faschistischen Minimums im Einzelnen erfüllt, mögen Spezialist/innen klären. Dass aber
prinzipiell auch eine Religion zum Ausgangspunkt von Faschismus werden kann, scheint
durchaus möglich, obwohl die europäischen Faschismen die Nation und den Nationalismus
und nicht etwa Religionen als Grundlage hatten. Schon bei oberflächlicher Betrachtung
offenbaren verschiedene islamistische Gruppierungen hinsichtlich des politischen Stils und
der Ideologie frappierende Ähnlichkeiten mit den Faschismen.14
Ebenso armselig, wie die Möglichkeit eines genuin islamischen Faschismus ungeprüft weit
von sich zu weisen, wäre es jedoch, das gesamte islamistische Spektrum oder gar den Islam
„an sich“ als faschistisch zu denunzieren. Derartige Pauschalisierungen wiederholen nur den
alt-linken Fehler, allem, was auch nur ansatzweise konservativ, rechts oder nationalistisch ist,
das Faschismus-Etikett aufzukleben. Tatsächlich ist das Spektrum des politisierten Islam, von
13
Über die nationalistisch-sozialistischen Ideologien des Nasserismus und des Baathismus ließe sich Ähnliches
sagen.
14
Die Chancen des Faschismus in islamisch geprägten Gesellschaften werden von unübersehbar vielen Faktoren
beeinflusst. Einer davon ist der Verlauf und der Ausgang der arabischen Revolutionen, die im Jahre 2011
begonnen haben. Wenn diese Bewegungen versanden oder konterrevolutionär unterdrückt werden, dann steigen
die Erfolgsaussichten faschistischer oder faschistoider Kräfte. Auch in Deutschland, Italien und Ungarn
bereiteten gescheiterte Revolutionen den Nährboden des Faschismus.
13
alltäglichen und individuellen religiösen Praxen ganz zu schweigen, ähnlich stark
ausdifferenziert wie das nationalistische Spektrum in Europa am Ende des 19. Jahrhunderts.
Indes sind auch die USA und Europa (mit Russland sowie Ost- und Südosteuropa)
perspektivisch vom Faschismus bedroht, obwohl eigentliche Faschisten in vielen dieser
Gesellschaften bisher eine Randerscheinung darstellen. Die USA und verschiedene
europäische Nationen haben lange Zeit eine führende Rolle in der Welt gespielt. Sie werden
diese Rolle in naher Zukunft an asiatische Mächte wie China abgeben oder sie zumindest
teilen müssen. Das wird die Eigenliebe der jeweiligen Nationalismen schwer kränken. Viele
der vormals mehrheitlich „weißen“ Gesellschaften sehen sich einem gewaltigen
demografischen Wandel gegenüber. Diesen Wandel aufzuhalten und die Immigration armer
Menschen abzuwehren, ist schon heute ein erstrangiges rechtes Mobilisierungsthema in vielen
Ländern. Bei einer entsprechenden krisenhaften Entwicklung der Weltwirtschaft und der
internationalen Beziehungen zu einem Neoimperialismus wird das Gefühl innerer und äußerer
Bedrohungen für ein gewaltiges faschistisches Potenzial in den Gesellschaften Europas und
der USA sorgen.15
Die rechtspopulistischen, rassistischen Bewegungen und Parteien, die in vielen Ländern
Europas an Stärke gewonnen haben, sind selbst noch nicht faschistisch, insofern sie
größtenteils im Rahmen der herrschenden Ordnung operieren und keine revolutionäre
Umwälzung anstreben. Sie verschieben jedoch gesellschaftliche Diskursachsen und eröffnen
Spielräume für echte Faschismen, die in ihrem Kielwasser hochkommen könnten. Die
Interaktion zwischen Islamismus auf der einen und antimuslimischen rassistischen
Formationen in Europa auf der anderen Seite hat das Potenzial, die Faschisierung auf beiden
Seiten voranzutreiben.
Die vorangegangenen Überlegungen beziehen sich alle auf den gewissermaßen „objektiven
Faktor“ einer möglichen Faschisierung. Zuletzt noch ein Wort zum „subjektiven Faktor“. Wie
chancenreich die aktuellen Faschismen werden könnten, hängt auch davon ab, wie gut sie sich
den veränderten internationalen Bedingungen anpassen können. Beharren sie auf den
veralteten imperialen Visionen der Zwischenkriegszeit, zum Beispiel auf den Träumen von
einem „Großdeutschland“ oder „Großungarn“, so werden sie auf immerdar ewig gestrige
Sekten bleiben. Wollen sie auf die Bedingungen einer globalisierten Welt eine angemessene
neoimperialistische Antwort geben, so kann sich nach einem Wort von Ernst Nolte die
„Wiedergeburt des Faschismus“ einzig „auf der neuartigen und weiteren Ebene eines
Kontinental- und Rassenfaschismus“ vollziehen. Gewisse Konzepte der „Neuen Rechten“ von
„Paneuropa“ oder Eurasien16 könnten das leisten, ebenso wie eine faschistische Version der
islamischen Gemeinschaft der Gläubigen (umma) oder des Traums von einem neuen Kalifat.
Auch ein Faschismus, der sich auf eine Gesellschaft bezieht, die wie die US-amerikanische
schon von sich aus groß und mächtig genug ist, um als Weltmacht aufzutreten, ist ideologisch
zukunftsfähig.
Vielerorts steht bislang der fest eingewurzelte Partikularismus der heutigen Faschisten ihrer
ideologischen und organisatorischen Modernisierung im Wege. Traditionelle regionale,
nationale, religiöse und konfessionelle Animositäten behindern sie. Dies ändert jedoch nichts
daran, dass faschistische Gruppierungen in vielen Ländern ihre Hasspropaganda verbreiten
und zahllose Verbrechen begehen.
15
In den kleinen Ländern Ost- und Südosteuropas sind teilweise hervorragende Bedingungen für die
Faschisierung gegeben. Sie sind international und im europäischen Rahmen marginalisiert. Oft bestehen
ethnisch-nationale Konfliktlinien und Mentalitäten weiter, die schon die Faschismen der Zwischenkriegszeit
befeuerten. Das autoritäre Regime in Russland hat gesellschaftliche Strukturen und ein Klima geschaffen, die
faschistischen Stimmungen und Bewegungen Vorschub leisten. Die Wiedererlangung imperialer Größe und die
Abwehr wirklicher oder vermeintlicher äußerer Bedrohungen sind wichtige Themen des russischen politischen
Diskurses.
16
Gemeint ist die Vorstellung eines gesamteuropäischen Imperiums mit Einbezug Russlands.
14
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