Bernhard Perchinig Vier Vignetten Statement zum Forum „Integration im Raum“ Wien, 17.12.2010 Intro Leo Baumfeld hat den gestrigen Nachmittag mit der Hoffnung eröffnet, dass bei dieser Veranstaltung zwei Welten – die der Raumplaner und die der Integrations“aktivisten“ – zueinander finden sollten. Dies ist ein interessantes Bild für eine Veranstaltung, die sich mit „Integration“ befasst. Denn damit –das zeigten alle Referate – befasst sie sich offenbar automatisch und schwerpunktmäßig mit Migration und ihren Konsequenzen – Integration reimt sich heute ja nur mehr auf Migration. Und Migration handelt vom Fortgehen, vielleicht auch vom Ankommen, selten vom aufeinander zugehen. Natürlich gehen auch MigrantInnen auf andere Menschen zu, doch diese sitzen zumeist: Der Grenzpolizist in seiner Glaskabine, der AMS - Beamte am Schreibtisch, und der Wohnungsmakler vor seinem Computer. Und es ist gar kein so gutes Zeichen, wenn diese Sesshaften auf die MigrantInnen zugehen – wenn das passiert, ist es meist früher morgen, und es handelt sich um die polizeiliche Abholung zur Abschiebung. Sesshaftigkeit und Migration, das ist offenbar kein einfaches Verhältnis. Dies war auch in der intensiven Diskussion des gestrigen Tages spürbar. Mir ist es unmöglich, auf alle Aspekte, die gestern angesprochen wurden, einzugehen. Ich werde mich daher auf vier Themen konzentrieren und diese kurz essayistisch in Form von „Vignetten“ anreißen, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und wissenschaftliche Fußnoten. Das Wort Vignette bezeichnet ursprünglich eine Kennzeichnung der Rebsorte am Rand eines Weinbergs, beziehungsweise das Etikett einer Weinflasche. Inzwischen wird das Wort meist 1 synonym für Aufkleber gebraucht – also ein Bild, das kleben bleibt, oder aber auch als Zeichen für die legitime Zugehörigkeit und Nutzung, etwa die Autobahnvignette, die sie ja alle kennen. Die Vignette ist eine stimmige Metapher für die Zuwanderung – die Bilder über MigrantInnen bleiben lange an ihnen kleben, und das Recht dazuzugehören, wird oft genug bestritten. Da es sich bei Vignetten um Bilder handelt, bekommen Sie zum Text Hintergrundbilder zu sehen, denn auch um Hintergründe geht es ja bei MigrantInnen sehr oft. Die erste Vignette beschäftigt sich mit dem Dableiben. Vom Dableiben (Bild Kopftuchfrauen in der Kirche, Werner Berg) Wie gesagt: Migration wird meist aus der Perspektive des Weggehens analysiert. Das zeigt sich auch in der Literatur: Seitdem Ernest George Ravenstein 1885 seine „Laws of Migration“ im „Journal of the Royal Statistical Society“ veröffentlicht hat, fragen sich unzählige Forscher danach, warum Menschen aufstehen und aus ihrem Land/ihrer Stadt/ihrem Ort weggehen. Kaum Arbeiten gibt es zur Frage, warum Menschen in dem Land bleiben, wo sie geboren wurden – immerhin 97% der Weltbevölkerung verhalten sich so, nur 3% sind internationale MigrantInnen. Offenbar ist Sesshaftigkeit in unserer Wahrnehmung die selbstverständliche Norm und Migration die Abweichung, und über Selbstverständlichkeiten wird nur wenig geforscht. Insbesondere die Sozialwissenschaften lassen hier aus. Als mehr oder minder regelmäßig ökonomische Analysen lesender Nicht-Ökonom fällt mir schon länger auf, dass die Ökonomie oft die spannenderen Fragen stellt als die Soziologie – eine der besten Untersuchungen zum Phänomen der Diskriminierung untersucht z.B. die Rekrutierungsmuster internationaler Fussballklubs, und auch bei unserem Thema ist es so. Zur Frage „Why do people stay?“ gibt es einige papers. Der Kürze halber beschränke ich mich hier auf die Arbeit von Peter Fischer, Thomas Straubhaar und anderen, die den Untertitel „Insider Advanatges and Immobility“ trägt und theoretisch klassischen marktökonomischen Argumenten folgt. Ihre zentrale Aussage lautet: „Our empirical investigation of mobility between Swedish labour markets identifies immobility as a strong and persistent behavioural strategy for the large majority of people. The estimation results support our argument that insider advantages and duration effects of 2 staying are crucial in gaining a better understanding of the immobility phenomenon. We suggest that people stay because in time they have accumulated so many location-specific insider advantages that would be sunk in the case of migration that moving would decrease their individual utility even if wage levels differ substantially between regions.“ (Fischer et al 2000, S. 32) Immobilität, so die Autoren weiter, ist die ideale Strategie der persönlichen Nutzenmaximierung und der Produktion von „insider advantage intensive knowledge“, also Wissensbeständen, die vor anderen abgeschottet werden und dazu dienen, die eigene Position zu stärken und sich unersetzbar zu machen. Dabei kann es sich um exakt abgezirkelte Ausbildungsvorschriften, Aufnahme- und Zugehörigkeitsrituale oder auch Dialekte handeln, die in der Betriebskommunikation verwendet werden – in der Beilage der „Presse“, dem „Spektrum“ fand sich vor drei Wochen die Schilderung eines Falls, in dem ein ins Tiroler Unterland zugezogener, in Tirol geboren und in Wien aufgewachsener Manager bis zum Nervenzusammenbruch gemobbt wurde, indem in seiner Abteilung nur Unterländer Dialekt gesprochen wurde, dessen er nicht mächtig war. Nicht immer verbindet die deutsche Sprache. Diese Dynamik der Insidervorteile wird umso bedeutender, je stärker der Arbeitsmarkt und der Wohlfahrtsstaat nicht als Markt, sondern als positionales Gut verstanden werden. Ein positionales Gut ist charakterisiert durch seinen vorderen Rang in einer Qualitätsskala, wenn diese Rangeigenschaft (und nicht etwa die Qualität des Gebotenen als solche) besonders nachfragewirksam ist. Ein solches Gut kann nicht ohne weiteres durch ein anderes ersetzt oder mengenmäßig ausgeweitet werden. Genau diese Wahrnehmung kennzeichnet die Arbeitsmigrationspolitik Österreichs von den 1960ern Jahren bis zum EU-Beitritt 1995. Der Arbeitsmarkt funktionierte nicht als „Markt“, sondern als System des Aufeinandertreffens einer über Zunftregeln weitgehend geregelten Nachfrage und einem über die duale Ausbildung und andere Zugangshürden weitgehend geregeltem Angebot. Ausländische Arbeitnehmer bekamen nur nach Quoten- oder Ersatzkraftverfahren Zugang. Auch der Wohlfahrtsstaat, insbesondere die erwerbsbezogenen Systeme der sozialen Sicherheit, waren ihnen zu einem guten Teil verschlossen. Die „Sesshaften“ bekamen hingegen das Versprechen, in einem der besten Wohlfahrtsstaaten der Welt zu leben. Der Zugang zu den gut bezahlten und sicheren Jobs, aber auch zu Sozialwohnungen – oder am Land den Umwidmungen von landwirtschaftlichem Grund in Bauland - lief meist über Parteipatronage – je nach Farbe des Landeshauptmannes rot oder 3 schwarz. Die Zugehörigkeit zum jeweiligen „Lager“ – ein in der Literatur bis in die 1990er Jahre gängiger Terminus – war durch eine Reihe kultureller Marker ersichtlich: Wer auf dem Auto einen Kleber der „Bundesländer-Versicherung“ hatte, war deutlich als ÖVPSympathisant markiert, ein Kleber der Wiener Städtischen stand für Zugehörigkeit zum sozialdemokratischen Lager. Jeder gelernte Österreicher wusste, wo er mit „Grüß Gott“ oder „Guten Tag“ grüßen musste, wollte er sein Ziel erreichen. Diese quasi-ethnische Struktur der Teilung der Bevölkerung in zwei politisch und lebensstilbezogen getrennte Lager dominierte die Lebenswelt in Österreich bis in die 1990er Jahre und löste sich erst in den letzten Jahrzehnten auf. Restebestände davon gibt es noch zuhauf. Kulturelle Marker sind als äußere Zeichen von Zugehörigkeit Signale für Vertrauenswürdigkeit. James S. Coleman (1991) hat gezeigt, dass Vertrauen unter der Bedingung unvollständiger Information einen Handlungsvorsprung ermöglicht, allerdings auch einem Gefangenendilemma ähnelt – erweist sich eine Person, der Vertrauen geschenkt wird, als vertrauenswürdig, gibt es für den Vertrauen Schenkenden einen Gewinn, umgekehrt einen herben Verlust. Es ist also durchaus vorteilhaft, wenn es äußere Zeichen gibt, die relativ konsistent Zugehörigkeit und damit erhöhte Vertrauenswürdigkeit signalisieren. Signale der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft, ethnischen sind in Gruppe, diesem Sinn einer Partei, Hilfsmittel aber bei auch der zu Vergabe einer von Vertrauensvorschüssen. Vertrauen ist die „innere Währung“ von Gemeinschaften und kann als solche eine wichtige Ressource bei der Interessensdurchsetzung sein. Für die „Österreicher“ war unausgesprochen klar, dass man, um dazuzugehören, bei einer der beiden großen Parteien dabei sein musste – der Interessensausgleich der Sozialpartner sicherte ein gewisses Maß gegenseitigen Verständnisses und eine akzeptable Aufteilung des wirtschaftlichen Kuchens, solange man zu einem der großen Lager gehörte. Ausländische Arbeitnehmer saßen per definitionem dabei am Katzentisch und bekamen die Brosamen. Nachdem sie auch kein Wahlrecht hatten, besaßen sie auch im politischen Spiel keine brauchbaren Karten. Die mit der Globalisierung einhergehende Öffnung der Märkte haben die wirtschaftlichen Grundbedingung für einen nationalstaatlichen Wohlfahrtsstaat, die geschlossene „Volkswirtschaft“ als Kreislauf von Produktion und Konsum, zerstört. War in der fordistischen Phase Immobilität eine sinnvolle Strategie zur Verbesserung der eigenen 4 Position, so ist es heute Mobilität. Die „Zurückgebliebenen“, die Sesshaften, sind nicht mehr automatisch auf der Gewinnerseite, und sie verdächtigen die „Mobilen“, nun zu den Gewinnern – wenn nicht des Marktes, sondern des Wohlfahrtsstaates geworden zu sein, während man selbst unbeachtet bliebe. Arbeitsmarktkontrolle und Wohlfahrtsstaat haben lange dafür gesorgt, dass es als selbstverständlich galt, als Staatsbürger Vorrechte zu haben. Vorrechte, die auf langer Ansässigkeit oder Abstammung beruhen, sind mit der Idee einer offenen Gesellschaft nicht mehr vereinbar. Das Dableiben wird also unbequemer und schwieriger, die „Sesshaften“ und die neu Dazugekommenen müssen sich ihre Positionen aushandeln und bekommen diese nicht mehr automatisch zugewiesen. Wenn wir über „Integration“ sprechen, führen wir oft eine codierte Debatte über gesellschaftliche Positionen und Zugang zu Macht und Ressourcen. Der Begriff „Integration“ ist hier kaum hilfreich, schwebt er doch in der Illusion eines machtfreien Raums der Begegnung auf Augenhöhe und mit Respekt. Wir müssen nicht über Integration sprechen, wenn es um Macht- und Positionskonflikte geht. Beide in allen Gesellschaften Realität, man muss sich für sie nicht schämen und kann ruhig offen über sie reden. Positionskonflikte sind notwendigerweise mit Desillusionierungen verbunden. In diesem Fall die Desillusionierung der Etablierten, dass es je wieder so wird, wie es war, aber auch der Zugewanderten, dass sich nichts ändern müsse. Wir haben diese Desillusionierung lange Zeit hinausgeschoben – der Staat in seinem Glauben, kein Einwanderungsland zu sein, und viele MigrationsaktivistInnen und Zugewanderte in der Übernahme dieses Glaubens in der Form, dass Migration keinen Einfluss auf den Wert des mitgebrachten sozialen und kulturellen Kapitals und von dessen Realisierungschancen habe, und das Alltagsleben so weitergehen könne wie bisher. Mit anderen Worten: Die biografische Bedeutung von Migration als herausforderndes „Life-Event“ wurde von staatlicher Politik wie vielfach auch von der Migrationsszene nicht ausreichend wahrgenommen. Damit gab es eine verborgene Interessensidentität im Beharren auf dem Alten und der Abwehr von Veränderung, die nun zu ent-täuschen ist: Das Leben in einer Einwanderungsgesellschaft ist für alle beteiligten spannend, aber nicht unbedingt einfach. Das Bild, das Sie hinter mir sehen, stammt von Werner Berg, er malte es 1958. Es hängt im Werner Berg Museum im Bleiburg/Pliberk, das ich gestern abend virtuell besuchte – ein Beispiel für die von Erol Yildiz gestern genannte „Sesshafte Mobilität“. Werner Berg schrieb in seinem Buch „Wahlheimat Unterkärnten“ zu diesem Bild folgenden Kommentar: 5 „Man gehe in eine der unberührten Dorfkirchen, zu Allerheiligen auf den Friedhof von Eberndorf oder an einem der bestimmten Feiertage zum Hemma- oder Liesnaberg, wo das Volk zusammenströmt und eine Fülle von Anblicken bietet, in denen man mühelos hinter Anekdote und Folklore große Form, zeitlose Begebenheit und bildträchtiges Geheimnis entdecken kann. Immer wieder fesselt mich, Sinnbild der menschlichen Urangst überhaupt, das Bild der betenden Bäurin: steil, ernst und voll Hingegebenheit. Nicht selten reiße ich die Augen auf vor Staunen, dass diese archaisch große Form und mythenhafte Versunkenheit wirklich sind, Wirklichkeit unserer Tage und nichts fern Beschworenes oder museal Konserviertes.“ Die zweite Vignette handelt von der Astrologie. Vignette 2: Astrologie (Bild Van Gogh - Sternennacht) „Welche Realitäten und Herausforderungen einer pluralistischen, von Migration geprägten Gesellschaft sind für die Raumentwicklung relevant“ lautete der Titel des Referats von Heinz Fassmann. In Abwandlung dieser Frage möchte ich einen Bild-Text-Widerspruch thematisieren, der den gestrigen Nachmittag durchzog: „Welche Daten sind zur Erklärung der gesellschaftlichen Entwicklungen in einer pluralisitschen, von Migration geprägten Gesellschaft brauchbar?“ In der Diskussion fand sich eine Vielzahl von Statements, die darauf hinwiesen, dass Migration oder die Geburt im Ausland keine Erklärung für verschiedene soziale Phänomene wäre. Die Daten und Tabellen, die die Referate begleiteten, zeigten hingegen vor allem Zahlen und Tabellen über im Ausland Geborene und den „Migrationshintergrund“ und präsentierten diese Faktoren als unabhängige, andere soziale Tatbestände erklärende Variablen. Jeder Mensch wird zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort geboren. Weder das eine noch das anderer ist von ihm beeinflussbar. Es gibt Menschen, die daran glauben, dass der Geburtszeitpunkt den Verlauf des zukünftigen Lebens deutlich beeinflusst. Sie bestimmen die Sternenkonstellation, die zu dieser Zeit gerade herrschte, und leiten daraus weitreichende Aussagen über den Charakter und die Zukunft des Einzelnen ab. Von diesen Menschen heißt es, sie glaubten an die Astrologie. Seit einiger Zeit wächst die Zahl der Publikationen, die den Eindruck erwecken, aus der Geburtsortsverteilung ließen sich entscheidende Informationen über zentrale Fragen der 6 Gesellschaft ableiten. Schlüsselwort dabei ist der „Migrationshintergrund“ – diesen hat jede Person, die selbst oder deren Eltern nicht am Wohnort geboren wurden, qua Geburt sein oder ihr Leben lang mit sich zu tragen. Die jedes Jahr dazu erscheinenden Publikationen mit ständig steigenden Zahlen erinnern an die Beobachtung von Elias Canetti über die „Lust an der springenden Zahl“ – der fast mythischen Überhöhung, die in der politischen Propaganda der Vervielfachung als Angst- oder Erfolgsmetapher zukommt. Als ich Politikwissenschaft und Soziologie zu studieren begann, war es gang und gebe, aus ein oder zwei Variablen empirisch Erklärungen über die Gesellschaft abzuleiten. Das Wahlverhalten wurde etwa mit der Klassenzugehörigkeit, die Einkommensverteilung durch den Bildungsabschluss erklärt. Gegen Ende meines Studiums häufte sich die Kritik an derart reduktionistischen Erklärungen, und heute wird es kein ernst zu nehmender Soziologe mehr wagen, komplexe Sachverhalte auf die Kombination von ein oder zwei Variablen zurückzuführen. Bei vielen Migrationsforschern ist offenbar im Gegensatz dazu die Rückkehr zur methodischen Simplizität der 1970er Jahre angesagt: Der Geburtsort und der Migrationshintergrund werden zu erklärenden Faktoren für Phänomene, die die Soziologie sonst multifaktoriell erklärt. Während sonst versucht wird, die Kategorienbreite möglichst schmal zu halten, um zu relevanten Aussagen zu kommen, umfasst der Begriff Migrationshintergrund Menschen, deren Eltern in den 1940er als „Optanten“ aus Südtirol kamen gleichermaßen wie kürzlich nach Österreich geflohene Menschen aus Tschetschenien. Trotz der frappanten Unterschiede der Lebenszusammenhänge unterstellt der Begriff eine Gemeinsamkeit, die soziale Sachverhalte mit zu erklären vermag – eine derartige Ignoranz methodologischer Mindeststandards in Bezug auf Trennschärfe und Kategorienbreite kenne ich aus keinem anderen Forschungsfeld. Zugespitzt möchte ich nach dem gestrigen Nachmittag die These wagen, dass es kaum Datensätze gibt, die weniger über die Gesellschaft aussagen, als nach Herkunftsland oder Migrationshintergrund aufgeschlüsselte Tabellen zu Arbeitslosigkeit, Wohnversorgung und anderen sozialen Fragen. Wäre es nicht klüger, sich empirisch zu fragen, welche Rolle Geburt im Ausland oder Abstammung von im Ausland geborenen Eltern tatsächlich in Kombination mit unterschiedlichen anderen Variablen zur Erklärung von Arbeitslosigkeit, Bildungsbeteiligung etc. spielt und welchen Anteil an Erklärung die Variable „Geburtsland“ überhaupt liefert, als 7 ihre Erklärungskraft vorauszusetzen? Wo sind die Untersuchungen, die am Stand der Soziologie, etwa im Bereich der Milieustudien, anschließen, anstatt den dem räumlichen Zufall der Geburt zu huldigen? Brauchen wir nicht endlich methodologische Qualitätsstandards auch im Bereich der Migrationsforschung und warum schweigen die wissenschaftlichen Gesellschaften, die Universitäten und Akademien dazu? Ich habe in den Sternen der Migrationsastrologie keine Antwort auf diese Fragen gefunden. Van Gogh malte dieses Bild 1889, als er Patient der Nervenheilanstalt Saint-Paul-deMausole war. Er malte das Bild zwischen zwei Anfällen. Es wird oft als Symbol für den Selbstzweifel und die Verzweiflung Van Goghs in dieser Lebensphase gedeutet. Die dritte Vignette handelt von den Integrationsmaschinen. Vignette 3: Integrationsmaschinen: Bild: Weltmaschine, Frank Gsellmann 1981 Diese Entwicklung von der Migrationsforschung zur Migrationsastrologie gebiert auch ein Verständnis von Integration als Anpassung an den Durchschnitt, wie es etwa im Integrationsindikatorenbericht der Integrationsplattform des Innenministeriums sichtbar ist: Hier werden die Medianwerte der Bevölkerung in den verschiedenen Bereichen des sozialen Lebens zum Maßstab für Integration oder Abweichung – wer diese erreicht hat, gilt als integriert, wer darunter bleibt, als problematisch. Ein Überschreiten der Medianwerte wird nicht thematisiert. Die dahinter stehende Vorstellung ist die einer Gesellschaft ohne Ränder nach oben und unten, in der die Abweichung vom Durchschnitt als Desintegration gilt. Abgesehen davon, dass ein derart statisches Bild nichts über soziale Mobilitätsprozesse aussagt, beschwört es die Gesellschaft der fordistischen Massenproduktion der 1970er Jahr, die mit der heutigen Lebensrealität nur wenig zu tun hat. Mit diesem Bild „Integrationsmaschinen“. verbundenen Von der sind die gestern Integrationsmaschine häufig angesprochenen Arbeitsmarkt, der Integrationsmaschine Regionalpolitik und der Integrationsmaschine Schule war die Rede, meist im Zusammenhang mit dem Reden über ihr Versagen. 8 Maschinen produzieren vorgegebene und standardisierte Güter oder helfen bei der Durchführung konkret definierter Arbeiten. Abgesehen von der Universalmaschine Computer sind sie monofunktional, oder zumindest nur für eine bestimmte Bandbreite von Anwendungen geeignet. Aus Science-Ficition und Horrorfilmen kennen wir zwar die Bilder autonom gewordener und durchdrehender Maschinenwesen, im Alltag wird die Maschine jedoch vom Menschen kontrolliert. Das Maschinenbild suggeriert einen vorgegebenen, standardisierten Integrationsprozess unter der Kontrolle der Mehrheitsgesellschaft. So wird Integration auch organisiert: Nach entsprechenden Sprachkursen und –prüfungen bekommt man den amtlichen Stempel „integriert“. Ganz am Ende mit der Integration ist man dann aber offenbar doch nicht, denn nach weiteren Jahren und einem Test zur Staatsbürgerkunde und zu regionalen Spezifika, etwa der Rezeptur des Kärntner Most oder der Exponante des Oberösterreichischen Landesmuseums, kann man den Höhepunkt der Integration, die Einbürgerung, erklimmen. Dann hat die Integration ein Ende. Nicht integrierte Staatsbürger gibt es in diesem Verständnis offenbar nicht. Ob es nicht integrierte Unionsbürger gibt, ist unklar – man kann von ihnen keinen Deutschkursbesuch verlangen, und sie haben fast die gleichen Rechte wie Inländer, aber der amtliche Integrationsstempel fehlt ihnen. Schon daraus wird sichtbar, dass ein Integrationsbegriff, der unausgesprochen von gesellschaftlicher Homogenität ausgeht, obsolet ist. Gerade die Migration aus der EU nimmt zu und wird weiter zunehmen, und diese ist oft keine Einwanderung, sondern ein Leben in transnationalen Haushalten mit häufigem Ortswechseln. Allein aufgrund der europarechtlichen Regeln werden wir uns darauf vorbereiten müssen, dass es weniger Niederlassung und mehr beständige Vielfalt als heute geben wird. Steve Vertovec hat dazu das Schlagwort der „Superdiversity“ geprägt. Damit meint er Gesellschaften, die nicht nur durch eine Migration aus ein oder zwei Herkunftsregionen geprägt werden, sondern die sich mit einer sowohl herkunftsbezogen-, wie sozioökonomisch zunehmend diversifizierten Zuwanderung konfrontiert sehen, die noch dazu auch unterschiedliche Niederlassungsprozesse durchlaufen. Die im Moment auf diese Entwicklung antwortende Strategie ist, so scheint mir, die Superintegration. So wie im Film „Supersize me“ der Protagonist durch einseitige Ernährung 9 bei MacDonalds buchstäblich aus dem Leim geht, sollte die „Superintergration“ in die die Zeit zurückführen, als alle die gleiche Sprache sprachen, sich ähnlich kleideten und es noch weder Kebab noch Pizza gab. Der österreichische Integrationsfonds liefert in seiner Zeitschrift „integration im fokus“ eine wunderbare Illustration dazu: Die Zeichentrickheldin „Integratia“ ist blond und baluäugig und trägt einen Minirock im Stil der 1970er. Im Gegensatz zu diesen Wunsch (oder Angst?)bildern möchte ich vorschlagen, Integration vor allem am Grad der Verwirklichungschancen des Einzelnen und der Möglichkeiten zur Teilhabe zu bestimmen, nicht aber die Vorstellung zum Maßstab für Integration zu machenm dass jeder und jede real in allen gesellschaftlichen Subsystemen ständig und gleichmäßig teilnimmt. Gebürtige Österreicher nehmen vielfach am Arbeitsmarkt und an den Gütermärkten, sind aber nicht politikinteressiert und nehmen daher auch nicht am politischen Leben teil – sind sie deshalb etwa nicht integriert? Niemand käme auf die Idee, einer gebürtigen österreichischen Hausfrau mangelnde Integration vorzuwerfen, weil sie nicht arbeitet – bei den Integrationsindikatoren des Innenministeriums ist dies sehr wohl ein Kriterium für Nichtintegration. Die Absolutheitsorientierung des heutigen Integrationsbegriffs steht in deutlichem Gegensatz zur sowohl MigrantInnen wie Eingeborene betreffenden Realität der fragmentierten Integration, der unterschiedlich intensiven Teilhabe an verschiedenen Subsystemen. Hinter mir sehen Sie ein Bild der Weltmaschine des Franz Gsellmann. Der im Jahre 1910 geborene Südoststeirer Franz Gsellmann arbeitet 23 Jahre lang an seinem Lebenswerk, das er kurz vor seinem Tod im Jahre 1981 vollendete. Die Weltmaschine ist ein komplexes Zusammenspiel von unzähligen verschiedenen Bauteilen, die Franz Gsellmann bei diversen Flohmärkten und Schrottplätzen zusammentrug. Sie erzeugt nichts, ihr einziges Produkt ist ihr Funktionieren. Wenn sie läuft, blinkten viele Lämpchen und der von ihr erzeugte Lärm übertönt jede Unterhaltung. In der Kunstgeschichte wird die Weltmaschine des Frank Gsellmann oft mit den Maschinenskulpturen von Jean Tinguely verglichen. Während Gsellmann als tief religiöser Mensch an den Auftrag Gottes glaubte, seine Weltmaschine zu bauen und diese nahezu mystisch überhöhte – anlässlich der Fertigstellung gab es einen großen Gedenkgottesdienst – sind Tinguely´s Arbeiten von Leichtigkeit, Ironie und Eleganz geprägt. Ich habe lange überlegt, ein Bild einer Maschinenskulptur Tiguely´s als Hintergrund dieser Vignette zu wählen, mich aber dann doch für Gsellmann entschieden – Leichtigkeit, Ironie und Eleganz sind nicht die typischen Charakteristika des heutigen Integrationsdiskurses. Die vierte Vignette handelt von der Sichtbarkeit. 10 Vignette 4: Sichtbarkeit Bild: Yenidze Tabakfabrik, Dresden Ein wiederkehrender Begriff des gestrigen Nachmittags war die Sichtbarkeit im öffentlichen Raum – sowohl im architektonischen Sinn wie im Sinn der Sichtbarkeit von Menschen, denen man, um den ehemaligen oberösterreichischen Landeshauptmann zu zitieren, „ihre Herkunft ansieht“. Auch in Alltagsgesprächen ist dies ein Thema – es ist common sense, dass die Zuwanderung in den letzten Jahren „sichtbarer wurde“. Erlauben Sie mir einen kurzen Schwenk zur Siedlungssoziologie. Peter Atteslander und Bernd Hamm haben bereits 1974 in ihrem Buch „Materialen zur Siedlungssoziologie“ darauf hingewiesen, dass Raumaneignung zentral für die Analyse des Mensch-Raum- Beziehungssystem ist und Aneignungs- und Partizipationschancen in drei Subsystemen zentral für die Analyse seien. Raum bestehe aus drei Subsystemen, a.) dem morphologische Subsystem im Sinn des physischen Raums b) dem institutionellen Subsystem im Sinn der sozialen Institutionen, der Verhaltensmuster, Werthierarchien und sozialen Normen, sowie der die Region prägenden Machtstruktur c) dem semiotischen Subsystem, den sozialpsychologischen Perzeptions- und Kognitionsprozesse, die den Raum für die Nutzer definieren. Die Analyse dieses Systems konzentriert sich auf die gesellschaftlich ausgebildete Symbolik des Ortes sowie den um den Ort zentrierten öffentlichen Diskurs. Jeder Raum wird gesellschaftlich codiert, ihm wird ein bestimmtes Verhaltensrepertoire als akzeptabel zugeteilt, umgekehrt nutzen gesellschaftliche Diskriminierungsprozesse bestimmter sozialer Gruppen den Umweg der Stigmatisierung der ihnen zugeschriebenen Räume zu „Ghettos“ oder „no-go-areas“. Erst ein derart erweitertes Raumverständnis, das in Raum mehr sieht als ein reines Gefäß, erlaubt es, die Frage nach dem Verhältnis von sozialem Wandel und Stadt- und Regionalentwicklung in einen weiteren Kontext zu stellen und den Fokus auf das raumbezogene Handeln der sozialen Akteure zu lenken. Die Fragestellung verschiebt sich somit von der Analyse der Zuordnung sozialer Gruppen zu räumlichen Einheiten zur 11 Untersuchung des Raums als sozialer Ressource und der Aneignungsformen des Raums in Auseinandersetzungen um gesellschaftliche Analyse-, Benennungs- und Organisationsmacht. Norbert Elias und John L. Scotson haben in ihrer klassischen Studie „Etablierte und Außenseiter“ gezeigt, wie in einer derartigen Figuration das „Wir-Bild der eigenen Gruppe (von den) mächtigeren Etablierten von der Minorität der Besten, das Sie-Bild der verachteten Außenseiter von der Minorität der Schlechtesten“ abgeleitet wird. Dieser Vorgang wird von ihnen als „als eine universale Regelmäßigkeit von Etablierten-Außenseiter-Beziehungen“ verstanden: „Die etablierte Gruppe schrieb ihren Mitgliedern überlegene menschliche Eigenschaften zu und schloss alle Mitglieder der anderen Gruppe vom außerberuflichen Verkehr mit ihren eigenen Kreisen aus. Das Tabu gegen einen solchen Verkehr wurde mit Mitteln der sozialen Kontrolle wie Lobklatsch über diejenigen, die sich durch das Bekenntnis zu den gemeinsamen Regeln als zugehörig erwiesen, und Schimpfklatsch über wirkliche oder vermeintliche Tabubrecher gesichert“ (Elias/Scotson 1993: 9). Von dieser Folie aus betrachtet, sind wir Zeugen einer Gewichtsverschiebung zwischen Etablierten und Außenseitern – es ist nicht mehr selbstverständlich, dass Raum nur mehrheitsgesellschaftlich kodiert wird, die Forderung nach Sichtbarkeit wird nicht mehr kategorisch zurückgewiesen. Eine symbolische Neukodierung bedeutet aber auch sichtbaren Machtverlust für vormals Etablierte, und lässt entsprechende Abwehr erwarten. Die Kunst einer raumbezogenen Integrationspolitik ist es, diesen Machtverlust mit Qualitätsgewinn zu verbinden: Zuwanderung ist heute für viele eine Chiffre für Verlust der gewohnten Umgebung und symbolischen Ordnung – dies wird vorerst als Verlust von Lebensqualität gedeutet. Eine Aufwertung des Viertels in ökonomischer, sozialer und infrastruktureller Hinsicht kann diesen Zusammenhang auflösen und Zuwanderung mit Lebensqualität wieder verbinden. Offen bleibt jedoch noch die Neuverhandlung der symbolischen Ordnung als Anerkennung von Vielfalt – dies ist ein Verhandlungsprozess vor Ort, der gestaltet werden kann, und bei dem es Konflikte geben wird. Hier geht es nicht darum, Konflikte zu vermeiden, sondern sie zu bearbeiten und einen neuen Gesellschaftsvertrag vor Ort zu gestalten, der auch symbolisch den geänderten Verhältnissen Platz gibt. 12 „Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Schutzmauern und die anderen Windmühlen“. Mit diesem chinesischen Sprichwort beschrieb gestern Günter Scheer zwei konträre Haltungen im Integrationsdiskurs. Keine Windmühle, sondern eine „Orientalische Tabak- und Zigarettenfabrik“ lies Hugo Zietz 1907 bauen. Er benannte sie nach dem damals dem osmanischen Reich zugehörigen, im heutigen Nordgriechenland liegenden, Tabakanbaugebiet „Yenidze“, von wo er den Großteil des von ihm verarbeiteten Tabaks importierte. Sein Anspruch, zur Spitze der deutschen Zigarettenproduzenten zu gehören, sollte auch in der Architektur Ausdruck finden. Sein Architekten, Martin Hammitzsch, entwarf den Bau daher in Anlehnung an die Form einer Moschee. Der Entwurf stieß auf massivem Widerstand, die öffentliche Diskussion um die „Tabakmoschee“ erfüllte jedoch den intendierte Werbezweck. Martin Hammitzsch – der später in der NSDAP Karriere machte und die Schwester Adolf Hitlers heiratete - wurde aufgrund des Entwurfs aus der reichsdeutschen Architektenkammer ausgeschlossen. Heute gilt die Zigarettenfabrik „Yenidze“ als das originellste Wahrzeichen Dresdens. Nach einem Umbau beherbergt sie Büros und Wohnungen. Der Raum unter der Kuppel, der ursprünglich zum Trocknen von Tabak diente, wird heute für Konzerte, Lesungen und Diskussionen genutzt. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. Literatur Fischer, Peter A.; Holm, Einar; Malmberg, Gunnar, Straubhaar, Thomas (2000): Why do people stay? Insider Advantages and Immobility. HWWA Discussion Paper 12, Hamburg (Hamburgisches Weltwirtschaftsarchiv). Coleman, James Samuel (1991): Grundlagen der Sozialtheorie. Band 1, München (Beck) Elias, Norbert; Scotson, John L. 1993 (1965): Etablierte und Außenseiter. Frankfurt/Main (suhrkamp). 13