demokratie und diktatur im bombenhagel

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Der Luftkrieg gehörte für weite Teile der deutschen Zivilbevölkerung zur zentralen Erfahrung des Zweiten Weltkrieges: Sirenengeheul, Nächte in Kellern, zerstörte Wohnungen, tote Angehörige, Seuchengefahr, Hunger, Evakuierungen. Das waren jedoch
keine spezifisch deutschen Erfahrungen: Obwohl in England die Verluste im Vergleich zu Deutschland erheblich geringer waren,
bedeutete der Luftkrieg eine tiefe Zäsur. Dr. Dietmar Süß vom Institut für Zeitgeschichte beleuchtet in seiner vergleichenden
Forschung die sozial- und alltagsgeschichtlichen Dimensionen des Luftkrieges in beiden Ländern.
FRANK ZIMMER
demokratie und diktatur im bombenhagel
enn der Krieg der Vater aller Dinge ist, dann sind Gesellschaft und Politik der Gegenwart Kinder des Zweiten
W
Weltkrieges. Seine unmittelbaren Folgen – die Teilung Deutschlands und Europas – scheinen äußerlich zwar
überwunden. Aber als furchtbarer Prototyp des totalen Krieges prägt der Kampf gegen Hitler-Deutschland bis heute
das kollektive Gedächtnis aller daran beteiligten Nationen. Nicht nur die millionenfache Anzahl der Opfer macht den
Krieg zu einem singulären Ereignis des 20. Jahrhunderts. Auch die Radikalität, mit der er bis in die Zivilgesellschaft
hineingetragen wurde, schuf eine neue Dimension der Gewalt. Sichtbarster Ausdruck dieser Radikalität war der Luftkrieg, der allein in Deutschland zwischen 400.000 und 570.000 Menschen das Leben kostete. Noch im Ersten Weltkrieg hatten sich die Kampfhandlungen weitgehend auf das herkömmliche militärische Operationsgebiet beschränkt.
Aber spätestens seit 1940 fand der Krieg überall statt und verschonte niemanden: Weder Zivilisten noch Soldaten,
Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter. Militär- und regionalhistorisch ist der Luftkrieg in den vergangenen Jahrzehnten ausführlich erforscht worden. In der jüngsten Vergangenheit hat Jörg Friedrichs umstrittener Bestseller Der
Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945 das Thema auf die Tagesordnung der Feuilletons und Fernseh-Talkshows gebracht, und erst kürzlich legte die ARD mit einer mehrteiligen Dokumentation nach.
Jenseits medialer Aufgeregtheit arbeitet Dr. Dietmar Süß derzeit an einer Forschungsarbeit, die das Leben im Luftkrieg – so der Arbeitstitel – in seinem umfassenden gesellschaftshistorischen Kontext untersucht. Dabei wird er durch
den Bayerischen Habilitationsförderpreis unterstützt. Dietmar Süß beschränkt sich in seiner Studie nicht auf die
deutsche ‚Heimatfront’ und sieht den Bombenkrieg nicht allein als mononationales Phänomen. Denn auch wenn die
Reichsbevölkerung unter dem Bombardement von rund 1,3 Millionen Tonnen Sprengstoff die höchsten Opferzahlen
zu beklagen hatte: Die Erfahrung des Luftkrieges teilte sie mit Polen, den Völkern der damaligen Sowjetunion,
Japanern, Italienern, Franzosen und vor allem mit den Briten. In Großbritannien kostete der Bombenkrieg gegen die
Industrie- und Küstenstädte etwa 60.000 Menschen das Leben, rund 86.000 wurden verletzt, vier Millionen mussten
evakuiert werden.
Genau hier setzt die Forschung von Dietmar Süß an: Sowohl für die deutsche als auch für die britische Gesellschaft
bildeten die Luftangriffe „den Prüfstein ihrer Überlebens- und Problemlösungsfähigkeit“, so seine These. Der Vergleich zwischen der totalitären Kriegsgesellschaft des ‚Dritten Reiches’ mit dem demokratischen Gefüge des Vereinigten Königreichs bildet den Kern der Arbeit. Bei aller Unterschiedlichkeit der Systeme gibt es eine zentrale Gemeinsamkeit der Luftkriegserfahrung. In Deutschland wie in Großbritannien bestimmt das gemeinschaftliche Erleben
und Erleiden der Bombennächte das Bild des Krieges – in der zeitgenössischen Propaganda ebenso wie in der Erinnerung nach 1945. Während Deutschland allerdings im Krieg und unter den Bomben zusammenbrach und die vom
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Regime beschworene ‚Volksgemeinschaft’ nur als Zweckbündnis der noch einmal Davongekommenen bestand,
bedeutete der people's war zumindest in der öffentlichen Erinnerungskultur die Geburtsstunde des britischen Wohlfahrtsstaates und die Überwindung der Klassengesellschaft unter Führung der Labour-Party. Die britische Geschichtsforschung ist auf diesem Gebiet schon ein wenig weiter gekommen. Zwar stand auch hier zunächst der militärgeschichtliche Aspekt im Vordergrund. So regten der Stolz über die gewonnene Schlacht gegen Nazi-Deutschland und der ‚Blut, Schweiß und Tränen’-Mythos zu zahlreichen einschlägigen Studien an. In den vergangenen Jahren
hat hier aber eine deutliche Akzentverlagerung stattgefunden. Die Geschichte der Propaganda, der Evakuierungen
und der Massenmobilisierungen ist mittlerweile ebenso akribrisch untersucht worden wie der Einfluss des Luftkrieges
auf das öffentliche Bewusstsein und seine gesellschaftspolitischen Nachwirkungen. Das gängige Deutungsmuster
vom Krieg als Wegbereiter sozialen Wandels geriet dabei zunehmend in die Kritik.
Die vergleichende Studie von Dietmar Süß konzentriert sich auf zwei große Themenkomplexe. Zunächst geht es um
die institutionellen Krisenbewältigungsmechanismen beider Systeme, ihre Steuerungs-, Anpassungs- und
Organisationsfähigkeit. Wie reagierten parlamentarische Demokratie und totalitäre Diktatur auf die neuartige Bedrohung aus der Luft? Wer fand Schutz, für wen wurde in besonderer Weise gesorgt, wer fiel durch das Raster der
staatlichen Sicherungs- und Fürsorgepolitik? Inwieweit gab es administrative Kompetenzverschiebungen zwischen
Zentralverwaltung und Regionalbehörden, Zivil- und Militärorganisation, Partei- und Staatsapparat?
VERSCHMELZUNG VON FRONT UND HEIMAT
Zur politikgeschichtlichen Betrachtung kommt die Analyse der Luftkriegserfahrung als gesellschaftliches
Massenphänomen. Die Verschmelzung von Front und Heimat prägte die propagandistisch aufgeladene ‚Volksgemeinschaft’ im Reich ebenso wie den britischen people's war. Dietmar Süß will wissen: Woraus speisten und wie
unterschieden sich die nationalen Mythen beider Länder? Die spätere wissenschaftliche und publizistische Reflexion
des Themas steht bei ihm nicht im Vordergrund. Entscheidend ist vielmehr die innere Stabilität der Heimatfront:
Welche Rolle spielte der Luftkrieg für die Integrationsfähigkeit beider Staatsordnungen und wie prägten die Bombardements die Stimmung und das Alltagsleben der Zivilbevölkerung? Die mehrdimensionale Fragestellung nach
Politik und Gesellschaft, Staat, Krieg und Massenpsychologie ist eine besondere Herausforderung. Dietmar Süß verknüpft politische Sozial-, Alltags- und Kulturgeschichte. Mit seiner system- und länderübergreifenden Perspektive
betritt der junge Historiker methodisches Neuland und geht noch einen Schritt weiter: Letztendlich geht es um die
Frage, wie demokratische und diktatorische Regimes den Luftkrieg dazu nutzen, ‚systemloyale Gefolgsleute’ einzuschwören, auf Linie zu halten und einkalkulierte Opfer gesellschaftlich zu verteilen. Der Bombenkrieg wird damit
gleichsam zur „Sonde des Gesellschaftsvergleichs“, die über Stabilität und Anfälligkeit politischer Systeme Auskunft
gibt, so Dietmar Süß.
Der Vergleich zwischen Deutschland und England umfasst sowohl die zentralstaatliche als auch regionale und lokale
Ebenen. Damit will Dietmar Süß die bisher meist getrennt behandelten Dimensionen von Mikro- und Makrogeschichte
des Luftkrieges zusammenführen. Die Gegenüberstellung von parlamentarischem und diktatorischem System schließlich bietet die Chance, den Kern der spezifisch nationalsozialistischen Form von Krisenmanagement, Herrschaftssicherung und gesellschaftlicher Desintegration im Krieg herauszuschälen. Dazu richtet sich der Blick zunächst auf
die unmittelbaren Folgen des Bombenkrieges, auf die Wahrnehmung der Bedrohung aus der Luft und die sich daraus
ergebenden institutionellen Reaktionen an der Heimatfront. Die hinreichend erforschten Strategien britischer und
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1 Deutsches Bombergeschwader im Anflug auf Städte und Luftwaffenstützpunkte in England 1940.
deutscher Generalstäbe, die Taktik der beiderseitigen Luftwaffenkommandos, der Verlauf der Luftschlachten und die
Geschichte von Flugzeugen und Besatzungen werden nur insoweit behandelt, als sie zum Themenverständnis
notwendig sind. Regionale Schwerpunkte der Untersuchung bilden in England neben der Metropole London die
Städte Birmingham, Liverpool, Coventry und Southhampton. In Deutschland konzentriert sich Dietmar Süß vor allem
auf Hamburg, Rostock, Köln, Essen, Mannheim und München; hinzu kommt Wien, damals bekanntlich ein Teil des
‚Großdeutschen Reiches’ und insofern ebenso Ziel der alliierten Angriffe wie die industriellen und administrativen
Zentren der heutigen Bundesrepublik.
DIE ANFÄNGE DES LUFTKRIEGES
Chronologisch schlägt die Arbeit einen weiten Bogen. Dietmar Süß setzt bereits mit dem Jahr 1918 ein, der Endphase
des Ersten Weltkrieges. Aus gutem Grund: Schon damals gehörte der Bombenkrieg zum festen Repertoire deutscher
und alliierter Strategien. Der Kampf in der Luft beschränkte sich nämlich nicht nur auf pseudo-romantische Duelle
adliger Doppeldecker-Piloten, sondern wurde bewusst ins zivile Hinterland hineingetragen – wenn auch mit technisch noch sehr beschränkten Mitteln. So operierten deutsche Luftschiffe an der Kanalküste und alliierte Flugzeugstaffeln flogen Angriffe auf grenznahe Städte wie Freiburg, Karlsruhe und Mannheim. Der unmittelbare militärische
Effekt war gering, aber die psychologische Auswirkung umso größer: Das vermeintlich sichere Hinterland war verwundbar geworden und selbst die Insellage Großbritanniens bot keinen Schutz mehr. Jede weitere Entwicklung der
Luftfahrt- und Rüstungstechnik wurde seitdem aufmerksam beobachtet – nicht nur von Politikern und Militärs, sondern
von der breiten Öffentlichkeit. Und jeder weitere Luftkrieg, gleich ob in den britischen Kolonien, im italienischen
Abessinien-Feldzug 1936 oder im Spanischen Bürgerkrieg, ließ für das eigene Land Schlimmeres befürchten. Der
Luftkrieg war 1939 darum kein neues Phänomen, sondern ein lange erwartetes Szenarium. Nicht zuletzt im Vereinigten Königreich: Die Möglichkeit einer Invasion und eines Krieges auf eigenem Hoheitsgebiet war eine neuartige,
mindestens seit den napoleonischen Kriegen nicht mehr kalkulierte Gefahr. Noch nie zuvor war England auf eigenem
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3 Zerstörungen in London nach einem deutschen Luftangriff 1941. Im Hintergrund die Kuppel der St. Paul’s Cathedral.
Territorium angegriffen worden, sieht man von den Einfällen der
Wikinger und der Landung Wilhelm des Eroberers 1066 ab. Und so
fühlte sich das Empire durch keinen Gegner so in seiner Existenz bedroht wie durch die deutschen Bomberverbände. Die Royal Navy, seit
dem Sieg über die Spanische Armada der Stolz der Nation und ihr unüberwindlicher Schutzschild, bot keine Gewähr
mehr für Britanniens Sicherheit. Das weltweite Aufrüsten der Luftkriegsstreitkräfte bewegte aber auch die deutsche
Öffentlichkeit – und wurde vom Nationalsozialismus virtuos instrumentalisiert. So gehörte der Aufbau der Luftwaffe
unter Führung des ehemaligen Fliegerhelden Hermann Göring zu den Vorzugsprojekten der NS-Diktatur. „Der Nationalsozialismus ist eine Kriegsideologie“, betont Dietmar Süß, „geboren im Krieg, durch den Krieg groß geworden
und mit dem Krieg als sozialutilitaristischer und rassistischer Zukunftsvision“.
VERSACHLICHUNG EMOTIONAL GEFÜHRTER DEBATTEN
Für den Vergleich zwischen Großbritannien und Deutschland lassen sich stichhaltige Gründe ins Feld führen. Das
Wichtigste dürfte sein, die politisch und emotional gefärbte Debatte um die deutsche Opfer-Rolle im Zweiten Weltkrieg zu versachlichen. Denn auch wenn die Zahl der deutschen Opfer die der britischen bei weitem überwiegt: Die
Probleme, vor die der Bombenkrieg beide Gesellschaften stellte, waren über einen langen Zeitraum hinweg die
gleichen. Eindeutig verschob sich das Gewicht erst in der Endphase des Krieges zuungunsten Deutschlands. Die
Bombenangriffe der Alliierten nahmen an Zahl und Intensität zu, während die Offensivkraft und auch die Luftabwehr
der Deutschen mehr und mehr erlahmten. Allerdings forderten selbst dann noch die so genannten V1 und V2-Vergeltungswaffen aus deutscher Raketenproduktion rund 9000 Tote.
Dietmar Süß' Forschungsprojekt ist zunächst auf drei Jahre angelegt. Die Unterstützung durch den Bayerischen
Habilitationsförderpreis ermöglicht dem jungen Historiker intensive Archivstudien, nicht zuletzt in britischen Kommunalarchiven und im Mass Observation Archive in Brighton (University of Sussex). Die Studie Leben im Luftkrieg
dürfte nicht die einzige Veröffentlichung zum Thema Bombenkrieg an der LMU und am Institut für Zeitgeschichte
bleiben, wo Dietmar Süß seit kurzem forscht. Derzeit entstehen dort mehrere Arbeiten, unter anderem über die Ermordung alliierter Bomber-Piloten und den Luftkrieg in Frankreich.
Dr. Dietmar Süß ist Lehrbeauftragter an der LMU und Wissenschaftlicher Mitarbeiter
am Institut für Zeitgeschichte. 2000 erhielt er den Nachwuchsförderpreis des
Arbeitskreises für Kritische Industrie- und Unternehmensgeschichte, 2002 folgte der
Leibniz-Nachwuchsförderpreis der Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm
Leibniz. Im Jahr 2003 erhielt er den Bayerischen Habilitationsförderpreis.
[email protected]
http://www.ifz-muenchen.de/mitarbeiter/dietmar_suess.html
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