gut oder böse: zwei ansichten zur menschlichen natur im alten china

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Vorlesungsüberblick und Tischvorlage: 21. Januar 2010
GUT ODER BÖSE: ZWEI ANSICHTEN
ZUR MENSCHLICHEN NATUR IM ALTEN CHINA
A. Zusammenfassender Überblick
Ob und allenfalls bis zu welchem Grad man der sogenannten “menschlichen Natur” (xìng 性)
die Eigenschaften “gut” (shàn 善) oder “böse” (bù shàn 不善 oder è 惡) zuschreiben könne,
bildet eine intensiv diskutierte Frage unter Denkern aller Zeiten und in allen Kulturen. In China
ist diese Debatte erstmals in der Periode der Streitenden Reiche (ca. 450 bis 221 v. Chr.) in Texten fassbar. Zwei extreme Positionen werden mit den Namen Menzius (Junker Mèng, ca. 372
bis 289 v. Chr) und Junker Xún (um 300 v. Chr geboren, um 230 v. Chr. gestorben) in Verbindungen gebracht. So wie die Tradition es uns vermittelt, soll Junker Mèng die Ansicht vertreten
haben, der Mensch sei grundsätzlich gut, Junker Xún die, dass er grundsätzlich schlecht sei.
Was die Tradition sagt – und aus welchen Gründen sie das sagen will – ist eine Sache; was die
Quellen wirklich sagen, häufig eine andere. Das Gleiche gilt prinzipiell für Übersetzungen: sie
sind Abbild einer persönlichen oder zeitgebundenen Interpretation. Wenn man Weisheit im
Osten sucht, sucht man entsprechende Texte und geht entsprechend an sie heran; wenn man das
Fehlen von Weisheit nachweisen will, geraten Auswahl und Behandlung ganz anders. Das gilt
natürlich bei allem Bemühen um eine objektive Sicht auch für den jetzigen Vortrag. Was suche
ich also? Ich suche nach dem Boden, auf dem die verschiedenen Positionen zur Frage der
menschlichen Natur in der altchinesischen Diskussion entstehen konnten. Mich interessiert zum
einen die Frage, warum so scheinbar diametral entgegengesetzte Meinungen geäussert werden
können, zum anderen die nach den Vorstellungen oder Bildern, die den eingenommenen Positionen gemeinsam gewesen sein müssen, da die Denker damals alle die gleiche Sprache und den
gleichen Wortschatz verwendet haben.
So gilt es also in einem ersten Abschnitt zu fragen, was das Wort xìng 性 zur damaligen Zeit für
eine Bedeutung hatte. Ohne Klärung dieses fundamentalen Begriffs kann das Thema “gut” oder
“böse” nicht behandelt werden. Was wurde mit xìng bezeichnet, welche Vorstellung verband
sich mit diesem Wort? Durch den Vergleich mit der Verwendung des Wortes im Bereich der
unbelebten Dinge (z. B. Wasser) kann gezeigt werden, dass es nicht die natürliche Ausstattung
als abgeschlossene Gesamtheit der vorgegebenen Möglichkeiten bezeichnet. In diesem Sinne
fliesst Wasser, fliegt ein Vogel, steht der Mensch aufrecht – kann aber weder fliessen, fliegen
oder unter Wasser atmen. xìng bezeichnet innerhalb der natürlichen Ausstattung spezifische
Erscheinungsformen bzw. bevorzugte Zustände. So ist Wasser normalerweise klar (was mit xìng
bezeichnet wird); unter bestimmten Umständen ist Wasser aber trüb, was von der natürlichen
Ausstattung zugelassen, aber nicht bevorzugt wird. xìng bezeichnet also gewissermassen den
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ROBERT H. GASSMANN, ZUSAMMENFASSUNG UND TISCHVORLAGE 21.01.2010
“Auslieferungszustand” des Menschen bei Geburt, aber auch von Lebewesen wie Pferde oder
Hunde, von Gegenständen wie Steine und Bambus oder von Elementen wie Wasser.
xìng im Zusammenhang mit dem Menschen hat wesentlich mit seiner psycho-anatomischen
Ausstattung zu tun. Deshalb müssen wir im zweiten Abschnitt uns dem Wort xīn 心 widmen,
das meist undifferenziert mit ‘Herz’, ‘Verstand’ oder ‘Herz-Verstand’ übersetzt wird. Neben
dem physischen, Blut pumpenden Organ “Herz” bezeichnet das Wort xīn zahlreiche psychische
Funktionen oder Sensibilitäten des Herzens. Diese “sieht” man nicht, aber sie manifestieren sich
als spezifische, angeborene oder erworbene Verlangen (yù 欲) bzw. Verhaltensweisen. Verlangt
es dem Fürsten eines Lehens nach Herrschaft über das ganze Reich, so äussert sich dies zum
einen in bestimmten Handlungen und Verhaltensweisen, zum anderen bilden sich zugeordnete
“Herzen”, d. h. Sinne oder Sensoren, aus, welche dieses Verlangen steuern. Diese Sensoren
“denken” (vgl. Englisch ‘minds’). Sie können selbstbestimmt agieren, aber auch vom Menschen
(vgl. Englisch ‘mastermind’) gezielt eingesetzt werden.
Von besonderer Wichtigkeit ist die Erarbeitung der Vorstellung, wie solche “Herzen” bzw.
“Sensoren” arbeiten. Hier spielt die Vorstellung der Waage eine zentrale Rolle. An einer Stelle
wird gesagt, dass es den Menschen grundsätzlich nach Ausgeglichenheit, nach Austariertheit
verlangt (píng 平). Um nicht eine falsche Vorstellung dieses Austarierens zu entwickeln, muss
die Frage des Messvorgangs genau beachtet werden: werden z. B. in einer Waagschale “lieben”,
in der anderen “hassen” einander gegenüber gestellt, oder wird – wie ich plausibel zu machen
suche – auf einer ersten Waage “lieben” gegen eine Norm des Liebens und auf einer zweiten
Waage “hassen” gegen eine Norm des Hassens abgewogen?
Diese Vorstellung bildet nun den gemeinsamen Grund der altchinesischen Denker. Ihnen
gemeinsam war auch das Bemühen herauszufinden, ob die Menschen von Geburt an sozialtauglich waren, oder ob sie in diese Richtung verändert werden mussten. Dies wird im dritten und
letzten Abschnitt behandelt. Worüber die Denker sich gestritten haben, war einerseits die Frage,
ob ein bestimmtes Verhalten oder eine spezifische Charaktereigenschaft bei Geburt schon
vorhanden war oder erst ausgebildet werden musste (war beim Menschen dieses “Herz” schon
vorhanden?), andererseits die Frage, zu welchen Einstellungen der Mensch bzw. zu welchem
Bereich seine Waagebalken spontan neigten. Je nach Antwort ergaben sich dann auch unterschiedliche Erziehungsmuster. Ihre Überlegungen und Einsichten haben sie mit Evidenz, mit
empirischen Beobachtungen hinterlegt und argumentiert. Die Frage nach “gut” oder “böse”
verliert so ihren im Abendland so verbreiteten fundamentalistischen und moralisierenden
Charakter. Die Denker des alten China haben erkannt und akzeptiert, dass Menschen ihrer
Grundausstattung nach sowohl “gut” wie “böse” sein können; gestritten haben sie sich aber über
die “Werkskonfiguration” und über die Wege zu einem funktionierenden Gemeinwesen.
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B. Die Beispiele
1. “Natur” – Zur Bedeutung eines schwierigen Begriffs
B1
B2
人
rén
Mensch
性
xìng
“Natur”
惡
è
böse
//
人
rén
Mensch
之
zhī
性
xìng
“Natur”
善
shàn
Gut
Das Wasser ist von Natur klar (水之性清). Wenn es durch Erde getrübt wird, so kann
diese Klarheit nicht in Erscheinung treten. Der Mensch ist von Natur zu langem Leben
bestimmt (人之性壽). Wenn er durch äussere Dinge getrübt wird, so kann dieses lange
Leben nicht in Erscheinung treten. (LSCQ I.2.2 本生; Wilhelm 1979:4).
水
shuǐ
Wasser
B3
之
zhī
之
zhī
性
xìng
“Natur”
清
qīng
klar
//
人
rén
Mensch
之
zhī
性
壽
xìng
shòu
“Natur” langlebig
Junker Gào sagte: “Jemanden sich der natürlichen Anfangskonfiguration gemäss verhalten lassen, ist etwas, das dem Kanalisieren von Wasser gleicht. Wenn man ihm einen
Auslass auf der östlichen Seite lässt, dann fliesst es ostwärts; wenn man ihm einen Auslass auf der westlichen Seite lässt, dann fliesst es westwärts. So wie der Anfangskonfiguration des Menschen das Unterscheiden von sozial tauglichem und untauglichem
Verhalten abgeht, so geht dem [Naturzustand] des Wassers das Unterscheiden von Ostund Westwärtsgehen ab.” Junker Mèng sagte: “Dem Wasser geht das Unterscheiden von
Ost- oder Westwärtsgehen wirklich ab, aber geht ihm das Unterscheiden von Aufwärtsoder Abwärtsgehen ab? So wie der Mensch von der natürlichen Anfangskonfiguration
her sozial tauglich ist, so wendet sich das Wasser dem Unten zu. So wie es unter den
Menschen nicht einen gibt, der [im Naturzustand] sozial untaugliches Verhalten an den
Tag legt, so gibt es unter den Gewässern nicht eines, welches [im Naturzustand] ein
Nichtabwärtsfliessen an den Tag legt. Jetzt aber zu diesem “werten” Wasser: Klatscht
jemand darauf und macht es hochspringen, kann es dazu gebracht werden, über die
Stirne hinauszugehen, pumpt jemand es und setzt es in Bewegung, kann es dazu gebracht werden, auf einem Hügel zu verweilen. Sollte das aber etwa das normale Verhalten von Wasser sein? Die situative Beeinflussung durch diese Handlungen ist es
doch, die es so tun bzw. sein lassen. Dass Menschen zulassen, dass sie dazu gebracht
werden, sozial untauglich sich Verhaltende zu werden, ist deswegen, weil [ihr] Naturzustand doch analog ist zu eben diesem (zweiten Naturzustand des Wassers).” (Mèng
6A.2; Lao 21984, Bd. II, S. 223)
2. Das Herz – Zur Psychoanatomie eines zentralen Organs
B4
Ohren verlangt es von ihrer natürlichen Einstellung her nach Stimmen und Geräuschen.
[…] Augen verlangen von ihrer natürlichen Einstellung aus nach Farben. […] Diejenigen,
denen es nach etwas verlangt, sind Ohren, Augen, Nase und Mund. (LSCQ 5/4.1;
Knoblock/Riegel: 142–143)
4
ROBERT H. GASSMANN, ZUSAMMENFASSUNG UND TISCHVORLAGE 21.01.2010
B5
Die Sinnesorgane Ohr oder Auge denken nicht und werden von den Dingen getäuscht.
Kommt ein Sinnesorgan mit einem Phänomen in Berührung, so holt es dieses nur heran.
Die [zugeordneten] “Herzen” (xīn 心) hingegen, diese denken. Da sie denken, begreifen
sie etwas. Denken sie nicht, sind die Phänomene etwas Unbegreifbares. (Mèng 6A.15;
Lau 21984, 2:239)
B6
Schläft ein Herzsensor (xīn 心), träumt er; ist er entspannt, agiert er aus sich selbst heraus; wird er für etwas eingesetzt wird, plant er. Also ist ein Sensor eine Anlage, die unablässig aktiv ist. (Xún 21.5d; Knoblock 1994, 3:104, 21.5d)
B7
Die Sensoren (xīn 心) sind zwar Fürsten (jūn 君) über den physischen Körper, aber [nur]
Vorsteher (zhǔ 主) über die intuitiven und rationalen Fähigkeiten. Die Sensoren erlassen
Befehle, aber unter den [untergeordneten Anlagen] gibt es nicht einen, von dem sie
Befehle empfangen. Sie sind die Instanz, von der Verbieten oder Veranlassen,
Ausscheiden oder Auswählen, in Bewegung Setzen oder Anhalten ausgehen. Darum lässt
der Mund zu, dass er gewaltsam dazu gebracht wird, zu schweigen oder zu reden, und der
Körper lässt zu, dass er gewaltsam dazu gebracht wird, sich zu beugen oder zu strecken.
Die Sensoren hingegen erlauben [einer ihm untergeordneten Anlage] nicht, dass sie
gewaltsam dazu gebracht wird, Eindrücke zu ändern. Wenn sie etwas für richtig halten,
dann akzeptieren sie es; wenn sie etwas für falsch hält, dann weisen sie es zurück. Aus
dem Grunde heisst es: Die Sensoren bestimmen die Haltung. Wenn sie eine Wahl
getroffen haben, dann gibt es bei ihnen kein Zurückhalten, und das Gewählte muss sich
selbst in Erscheinung bringen. (Xún 21.6a; Knoblock 1994, 3:105, 21.6a)
B8
Der Wén-König machte Beobachtungen an [König] Zhòu aus der Dynastie der Yīn. Also
machte er sich zum Vorsteher (zhǔ 主) über seine Sensoren (xīn 心) und war darauf
bedacht, sie in Ordnung zu halten. Deswegen war er fähig, […] persönlich beim Führen
nicht fehlzugehen. Dies ist der Grund, weshalb er an die Stelle des Königs [Zhòu] der Yīn
trat und die Neun Besitztümer in Empfang nahm. (Xún 21.2; Knoblock 1994, 3:101, 21.2)
B9
Wenn die [zuständigen] Sensoren (xīn 心) nicht darauf gelenkt werden, dann sieht das
Auge weder Weiss noch Schwarz, auch wenn [diese Farben] sich direkt vor ihm befinden,
und das Ohr hört weder Donner noch Trommel, auch wenn [diese Töne] sich direkt an
seiner Seite befinden. Um wieviel mehr gilt das [Nichtsehen bzw. Nichthören] für denjenigen, der [die Sensoren] lenkt?! (Xún 21.1, Knoblock 1994, 3:100, 21.1)
B 10 Süss, bitter, salzig, fade, scharf, sauer sowie seltsame Geschmäcke werden mit dem Mund
[graduell] differenziert. […] Überzeugendes oder täuschendes Benehmen, Sichfreuen
oder Wütendsein, Traurigsein oder Fröhlichsein, Lieben oder Hassen – [diese] Verlangen
werden durch entsprechende Sensoren (xīn 心) differenziert. Sensoren lassen eine Überprüfung des Erkennens entstehen. Wenn der [entsprechende] Sensor das Erkennen
überprüft, dann ist das Erkennen von Stimmen über das Ohr zulässig, dann ist das
Erkennen von Formen über das Auge zulässig. […] Würden die Fünf Sinnesorgane ihre
Kategorien registrieren, sie aber nicht erkennen, würden die Sensoren sie überprüfen, es
aber an einer Meinung fehlen lassen, dann würde kein Mensch das nicht leidenschaftlich
‘Nicht-Wissen’ nennen. Diese sind die Instanzen, denen man folgt und die man einsetzt,
um Dinge als gleich oder ungleich zu erfassen. (Xún 22.2d–e; Knoblock 1994, 3:129–
130, 22.2d–e)
GUT ODER BÖSE: ZWEI ANSICHTEN ZUR MENSCHLICHEN NATUR IM ALTEN CHINA
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B 11 Trinken, Essen, Mannsein und Weibsein – in diesen [Verhaltensmuster] sind bedeutende
Verlangen der Menschen bewahrt. Sterben, Untergehen, Armsein und Bitternis erfahren –
in diesen sind bedeutende Abneigungen der Menschen bewahrt. Nun: Verlangen und
Abgeneigtsein sind die grossen Anzeichen des Charakters (欲惡者心之大端也). Die
Menschen sind solche, die ihre “Herzen” (xīn 心) verbergen und nicht zulassen, dass sie
ausgelotet oder gemessen werden. (Lǐ Jì 9.23; Legge: 1:380; 20)
•
•
•
•
•
chì zǐ zhī xīn 赤子之心 ‘Charakter eines Säuglings’ (Mèng 4B.12);
qín shòu zhī xīn 禽獸之心 ‘Charakter eines wilden Tiers’ (Lǐ Jì 1.6);
xiào zǐ zhī xīn 孝子之心 ‘Charakter eines pietätvollen Sohnes’ (Mèng 5A.1);
fù mǔ zhī xīn 父母之心 ‘Charakter von Vater und Mutter’ (Mèng 3B.3);
jūn xīn 君心 ‘Charakter eines Fürsten’ (Mèng 4A.20) usw.
B 12 Generell ist das, wofür man [die Weisen] wertschätzt, die Fähigkeit, die [naturgegebene]
Anfangskonfiguration (xìng 性) zu verwandeln und menschengemachte Konfigurationen
(wèi 偽) zu etablieren. Sind menschengemachte Konfigurationen etabliert, bringen sie
ritenkonforme und korrekte Verhaltensweisen hervor. (Xún 23.4a; Knoblock 1994, 3:157,
23.4a)
B 13 Ein [Minister] hatte einen ungezogenen Hund. Beschimpfte ihn jemand, so biss er
unweigerlich diese Person. Bei den Gefolgsleuten [des Ministers] gab es einen, der darum
bat, den Hund beschimpfen zu dürfen. Er fixierte ihn durchdringend und schimpfte, aber
der Hund bewegte sich nicht. Abermals beschimpfte er ihn, aber beim Hund war fortan
der Sinn (xīn 心), Leute zu beissen, verschwunden. (ZGC 374/182/28; Crump 403:476)
B 14 Bambus schwimmt von Natur aus (xìng 性). Man zerstückelt es, um daraus Schreibplättchen zu machen. Wenn man diese zu einem Bündel schnürt und ins Wasser wirft, so
gehen sie unter, weil der Bambus seine Struktur verloren hat. […]. (HNZ 11; Le Blanc /
Mathieu 478)
B 15 Die Neugeborenen [verschiedener Völker] haben bei Geburt alle dieselbe Stimme. Sind
sie erwachsen geworden, können sie sich nicht verständigen, weil Erziehung und Sitten
verschieden waren. Zieht ein dreimonatiges Kind in ein anderes Land, ist es nicht fähig,
seine früheren Sitten zu erkennen. Daraus folgt, dass Kleider, Riten und Sitten nicht
Dinge aus der Anfangsausstattung (xìng 性) der Menschen sind, sondern Dinge, die von
Aussen bekommen werden. (HNZ 11; Le Blanc / Mathieu 478)
B 16 Junker Mèng sagte: “Fisch ist etwas, wonach es mir verlangt. Bärentatze ist auch etwas,
wonach es mir verlangt. Dürfen die zwei Dinge nicht gemeinsam bekommen werden, so
bin ich derjenige, der auf den Fisch verzichtet und die Bärentatzen wählt. Leben ist noch
etwas, das ich begehre. Und korrektes Verhalten ist auch etwas, das ich begehre. Dürfen
die zwei Dinge nicht gemeinsam bekommen werden, so bin ich derjenige, der auf das
Leben verzichtet und das korrekte Verhalten wählt. Das Leben ist zwar sehr wohl auch
etwas, das ich begehre, – und doch gibt es bei den Dingen, die ich begehre, etwas
Bestimmtes, das ich noch mehr begehre als das Leben. Also bin ich einer, der nichts
Unziemliches tut, um es zu erlangen. Der Tod ist zwar sehr wohl auch etwas, das ich
hasse, – und doch gibt es bei den Dingen, die ich hasse, etwas Bestimmtes, das ich noch
mehr hasse als den Tod. […] Angenommen, nichts von dem, was Menschen hassen, wäre
mehr zu hassen als der Akt des Sterbens, was wäre dann der Grund dafür, dass nicht alle
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Handlungen praktiziert werden, mit denen gegebenenfalls dem Übel ausgewichen werden
dürfte? Da man von dem auszugehen hat, sind folglich die Menschen solche, die […]
Handlungsmöglichkeiten haben, die nicht benutzt werden. […] Nicht nur die, welche
tüchtig sind, haben diesen Charakter (xīn 心). Alle Menschen haben ihn. Aber diejenigen,
die tüchtig sind, sind fähig, (dessen) Verlust zu verhindern – so einfach ist das. (Mèng
6A.10; Lau 21984, 2:233–235)
B 17 Flüsse und Gewässer begehren, klar zu sein, aber Sand und Steine verunreinigen sie.
Menschen begehren, ausgeglichen (píng 平) zu sein, aber Gelüste und Verlangen schaden
ihnen. (HNZ 11; Le Blanc / Mathieu 479)
B 18 Alle Menschen haben einen [angeborenen] Sinn (xīn 心 ) für das Fürrichtig- und
Fürfalschhalten. […] [Dieser Sinn] ist derjenige für weises Verhalten. Humanes,
korrektes, ritenkonformes und weises Verhalten sind nicht Verhaltensweisen, die von
Aussen her in uns eingeflösst sind, sondern Verhaltensweisen, die wir grundsätzlich
entwickeln. (Mèng 6A.06; Lau 21984, 2:229)
B 19 Als Spiel ist das yì-Brettspiel unbedeutend. Aber wenn man nicht die Sinne (xīn 心) darauf konzentriert und aufmerksam ist, begreift man es nicht. Lassen wir einen
Meisterspieler zwei Personen das yì-Brettspiel beibringen. Der eine konzentriert die Sinne
und richtet seinen Willen (zhì 志) darauf. […] Der andere hört dem Meisterspieler zwar
zu, aber ein einziger Sinn ist der Meinung, dass es Wild- und Schneegänse geben werde,
die in Kürze eintreffen würden. Er stellt sich vor, wie er nach Bogen und Pfeilschnur
greift und auf sie schiesst. Obwohl der Lehrer ihnen gleichzeitig Unterricht erteilt hat,
erreicht er nicht, sie gleich (gut) zu machen. (Mèng 11.9/ 6A.9; Lau 21984, 2:233)
3. “Gut” oder “Böse”
B 20 Junker Mèng sagte: “Menschen sind von der natürlichen Anfangskonfiguration her sozial
tauglich.” Ich sage: “Dem ist nicht so. […] Menschen sind von der Anfangskonfiguration
her sozial untauglich.” (Xún 23.3a; Knoblock 1994, 3:155, 23.3a)
B 21 Junker Meng sagte: “Alle Menschen haben einen Sinn (xīn 心), der nicht hartherzig ist
gegenüber anderen Menschen. […] weil alle Menschen, wenn sie plötzlich ein Kleinkind
sehen, wie es in einen Brunnen zu fallen droht, ein Gefühl (xīn 心) von Aufgewühltsein
und Betroffenheit, von Mitgefühl und Mitleid an den Tag legen. [Diese Gefühle] sind
nicht das Instrument, mit dem sie Kontakt aufnehmen zu den Eltern des Kleinkindes. Es
ist nicht das Instrument, mit dem sie Lob von Gruppierungen der Gemeinde, von älteren
oder jüngeren Freunden heischen. Sie sind nicht Personen, die das tun, weil sie das
Schreien des Kindes verabscheuen. Betrachtet man es von dieser Warte aus, dann ist
jemand nicht ein Mensch, wenn er den Sinn für Mitgefühl und Mitleid verschwinden
lässt. […].” (Mèng 3.6/2A.6; Lau 21984, 1:67)
B 22 ‘Hingezogensein zum Vorteil und Verlangen nach Gewinn’ – diese sind beim Menschen
[vorgegebene] Herzeinstellungen und die natürliche Anfangskonfiguration (xìng 性 ).
Nehmen wir folgendes an: Da haben wir einen jüngeren und einen älteren Brüder, die zu
Vermögen kommen und es teilen wollen. Entweder sie geben den [vorgegebenen] Herzeinstellungen und der natürlichen Anfangskonfiguration nach und fühlen sich hingezogen
zum Vorteil und verspüren den Drang nach Gewinn. Verhält es sich so, werden die
GUT ODER BÖSE: ZWEI ANSICHTEN ZUR MENSCHLICHEN NATUR IM ALTEN CHINA
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Brüder sich doch gegenseitig zur Seite drücken und berauben. Oder sie wandeln [ihren
Charakter gemäss] den Mustern ritenkonformen und korrekten Verhaltens. Verhält es sich
so, werden sie den Persönlichkeiten des Fürstentums doch den Vortritt lassen. (Xún 23.2a;
Knoblock 1994, 3:154, 23.1a)
B 23 Dass der Mensch das Verlangen hat, zu einer sozial-tauglichen Person zu werden, ist,
weil er von der natürlichen Anfangskonfiguration (xìng 性 ) her untauglich ist. Nun:
Dünne wünschen, dicker zu sein; Hässliche wünschen, schöner zu sein; Engstirnige
wünschen, weitherziger zu sein; Arme wünschen, reicher zu sein und Gemeine wünschen,
angesehener zu sein. Falls man etwas als fehlend betrachtet, wird das Zutreffende bestimmt ausserhalb gesucht werden. Also: Als Reicher wünscht man nicht Vermögen und
als Angesehener wünscht man nicht Einfluss. (Xún 23.2b; Knoblock 1994, 3:154–155,
23.2b)
B 24 Unter den Menschen von Sòng gab es einen, der, weil er besorgt war über das
Nichtgrösserwerden seiner Getreidesetzlinge, an diesen zerrte. Spitze um Spitze tat er
dies und kehrte nach Hause zurück. Er bemerkte zu seinen Leuten: ‘Der heutige Tag hat
mich krank gemacht. Ich habe den Setzlingen geholfen, grösser zu werden.’ Seine Söhne
begaben sich eilends dorthin, um sich das zu besehen. Die Setzlinge aber waren schon
verdorrt. Der Leute im Reich, die den Setzlingen nicht dabei helfen, grösser zu werden,
werden immer weniger. Dass sie aus den Setzlingen dennoch etwas Nutzloses machen
und sie abwerten, ist aber, weil sie die Setzlinge nicht jäten. Solche hingegen, die ihnen
helfen grösser zu werden, zerren an den Setzlingen. Das aber bringt nicht nur den Nutzen
zum Verschwinden, sondern schadet den Setzlingen auch noch. (Mèng 3.2/2A.2, Lau
2
1984, 1:57–59)
B 25 Altes, krummes Holz muss fortschreitend durch Anbinden an eine Richtform und durch
Zurechtbiegen mit Dampf behandelt werden. Erst wenn das geschehen ist, dann ist es
gerade. […] Nun, die natürliche Anfangskonfiguration (xìng 性) der Menschen ist sozial
untauglich. Sie muss fortschreitend durch Lehrer und Vorbilder behandelt werden. […]
Erst wenn das geschieht, sind die Menschen geordnet. Nun, wenn den Menschen Lehrer
und Vorbilder fehlen, dann sind sie einseitig, gefährlich und in der Folge nicht gerade
gerichtet […]. Deswegen etablierten die weisen Könige zu ihren Gunsten ritenkonformes
und korrektes Verhalten und richteten Gesetze und Masse ein. Die weisen Könige waren
solche, die so die Herzenseinstellungen und die natürliche Anfangskonfiguration der
Menschen zurechtbogen […]. Wenn man findet, es sei so gewesen, dann wird die soziale
Untauglichkeit der natürlichen Anfangskonfiguration der Menschen evident. Die guten
Neigungen in ihnen sind wegen menschengemachten Konfigurationen. (Xún 23.1b;
Knoblock 1994, 3:151, 23.1b)
Robert H. Gassmann, Oktober 2009
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ROBERT H. GASSMANN, ZUSAMMENFASSUNG UND TISCHVORLAGE 21.01.2010
Liste der Kürzel und gängigen Übersetzungen
HNZ
•
—
Huáinán Zǐ 淮南子
Huainan zi, texte traduit, présenté et annoté sous la direction de Charles Le Blanc et de
Rémi Mathieu (2003).
Lǐ Jì
—
Lǐ Jì 禮記
• Legge, James: Li Chi, Book of Rites, 2 Bde, New York, 21967
LSCQ —
Lǚ Shì Chūn Qiū 呂氏春秋
• Richard Wilhelm, Frühling und Herbst des Lü Bu We (1928)
• The Annals of Lü Buwei. A complete translation and study by John Knoblock and
Jeffrey Riegel (2000).
Mèng —
Mèng Zǐ 孟子
• Legge, James: The Chinese Classics, vol. 2, The Works of Mencius, Hong Kong, 21960.
• Mencius. Transl. by Lau, D.C. (Liu Dianjue 劉殿爵). 2 vols. Hong Kong: The Chinese
University Press, 21984 (Chinese Classics – Chinese-English Series).
• Wilhelm, Richard: Mong Dsi (Mong Ko). Jena: Eugen Diederichs Verlag, 1916.
Xún
—
Xún Zǐ 荀子
• Knoblock, John: Xunzi. A Translation and Study of the Complete Works. 3 Bde.
Stanford: Stanford University Press, 1988 (Bd. 1), 1990 (Bd. 2), 1994 (Bd. 3).
ZGC
—
Zhàn Guó Cè 戰國策
• J.I. Crump, Chan-Kuo Ts’e (1970)
• J.I. Crump, Legends of the Warring States. (1998)
Einige Philosophiegeschichten in deutscher Sprache
•
•
•
•
•
Wolfgang Bauer (Hans van Ess): Geschichte der chinesischen Philosophie:
Konfuzianismus, Daoismus, Buddhismus; Beck C. H., 2006.
Ralf Moritz: Die Philosophie im alten China; Deutscher Verlag der Wissenschaften,
1990.
Lutz Geldsetzer und Han-ding Hong: Chinesische Philosophie: Eine Einführung;
Reclam, 2008.
Lutz Geldsetzer und Han-ding Hong: Grundlagen der chinesischen Philosophie;
Reclam 1998.
Shaoping Gan: Die chinesische Philosophie. Die wichtigsten Philosophen, Werke,
Schulen und Begriffe; Primus Verlag, 1997.
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