Individualentwicklung und Sozialerziehung Gabriele Faust 1. Zusammenhang von individueller und sozialer Entwicklung Die entwicklungspsychologische Forschung der letzten Jahrzehnte belegt erstaunlich umfangreiche und differenzierte Kompetenzen der Kinder. Insbesondere das Bild des Säuglings hat sich radikal verändert (Pauen & Rauh, 2008). Schon das Neugeborene kommuniziert aktiv mit seiner Umwelt und ahmt Bewegungen und Gesten nach. Von Anfang an sind Kinder für soziale Objekte besonders ansprechbar, z.B. Gesicht, Stimme, Sprache und Mimik, insbesondere der Mutter. Nach der "sozialen Geburt", einem Einschnitt im Alter von ca. 2 bis 3 Monaten, verfeinert sich die Kommunikation mit der Bezugsperson, und rhythmische Muster des Austauschs bilden sich heraus. Säuglinge reagieren auf Lebewesen und materielle Objekte unterschiedlich, d.h., wahrscheinlich erfolgt der Wissensaufbau domänenspezifisch für die soziale und die physikalische Welt. Ab ca. neun Monaten kann ein Objekt als Gegenstand gemeinsamer Aufmerksamkeit in die Kommunikation einbezogen werden. Dies gilt als Vorläufer oder Anfang der "Theory of Mind", also der Fähigkeit, sich selbst und anderen mentale Zustände wie Wünsche, Absichten und Ziele zuzuschreiben (Sodian, 2002, 456ff.). Gegen Ende des ersten Lebensjahrs verstehen Kinder die Zeigegeste und weisen selbst auf etwas hin. Zur Erklärung wird angenommen, dass der Interaktionspartner in Analogie zum eigenen Selbst "simuliert" wird, als "mir ähnlich" (Pauen & Rauh, 2008, 112). Die Fähigkeit, in aufeinander abgestimmter Interaktion mit anderen Menschen komplexe Inhalte weiterzugeben und zu lernen, ist für Tomasello auf den Menschen beschränkt und grundlegender Mechanismus der kulturellen Evolution (Tomasello, 2002). In der Interaktion entwickelt sich also beides, sowohl das Erkennen des anderen als auch von sich selbst. 2. Individuelle und soziale Entwicklung im Grundschulalter Zur individuellen und sozialen Entwicklung liegen unterschiedliche Theorieansätze vor. In seiner kognitiv-strukturgenetischen Entwicklungstheorie fasst Kegan (1986) die IchEntwicklung als eine Konstruktion des Individuums im Rahmen „haltender Kulturen“ zwischen den Polen Autonomie und Bindung. Von der Geburt bis ins Erwachsenenalter entwickelt sich das Selbst in einer Abfolge von Krisen, in denen jeweils eine neue Form des Subjekt-Objekt-Gleichgewichts gefunden wird. Das Subjekt-Objekt-Gleichgewicht des Grundschulalters („souveränes Selbst“) löst die Ich-Entwicklung im Vorschulalter ab („impulsives Selbst“). Die Veränderung ist nicht nur durch größere Autonomie und stärkere Impulskontrolle gekennzeichnet. Das Grundschulkind entwickelt ein Rollenverständnis, indem es als „Kind“ den Erwachsenen in der Familie gegenüber tritt. Innere und äußere Welt gewinnen an Beständigkeit und können zur Grundlage des eigenen Urteils werden. Das „souveräne Selbst“ findet seine Grenze darin, dass der andere in seiner inneren Welt noch nicht voll erkannt wird und die Beziehungen zu anderen auf der Basis äußerlich beurteilter Zwecke und Bedürfnisse geregelt werden („Wie du mir, so ich dir“, Gleichheitsgrundsatz der Kindheit). Die Konzepte von Einfühlung, Gewissen und Schuld bleiben der folgenden IchEntwicklung, dem „zwischenmenschlichen Selbst“, das erneut stärker am Pol der Bindung angesiedelt ist, vorbehalten (zu moralischen Entwicklungstheorien vgl. den Beitrag von Mauermann). 1 Eine Theorie der Entwicklung des sozialen Verstehens hat Selman (1984) vorgelegt. Das rudimentäre Einfühlungsvermögen der frühen Kindheit wird von einer einfachen Perspektivenübernahme abgelöst. Eine wechselseitige interpersonale Perspektivenübernahme und die Rekonstruktion einer Situation aus einer übergeordneten Sicht gelingen im Allgemeinen noch nicht. Youniss (1994) sieht auf der Grundlage seiner „starken“ und „sozialen“ konstruktivistischen Position den Erwerb von Wissen und Können in der Interaktion der Gleichaltrigen verankert. Diese symmetrischen Beziehungen unterscheiden sich grundlegend von der autoritätsgeprägten Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern. Begriffe und Vorgehensweisen bedürfen der freiwilligen Bestätigung der anderen in der Interaktion, weshalb Youniss auch von der „Co-Konstruktion von Bedeutungen“ spricht. Besonders günstige Bedingungen dafür bieten Beziehungen zwischen Partnern, die sich respektieren, mögen und miteinander kooperieren, also z.B. Freundschaften. In seiner psychosozialen Entwicklungstheorie geht Erikson von einer Abfolge von Krisen aus, die im Lebenszyklus zu bewältigen sind. Die dominierende Krise des Grundschulalters lässt sich als „Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl“ beschreiben. Das Kind ist daran interessiert, etwas mit anderen zu machen und es gut zu tun (Erikson 1966). Ein Gefühl für Arbeitsteilung und gerechte Chancen entwickelt sich. Es ist Aufgabe der Umwelt, vornehmlich der Familie und der Schule, dazu beizutragen, dass diese Krise altersadäquat bewältigt werden kann. Andere Theorien setzen bei der sozialen Informationsverarbeitung an. Soziale Reize werden zunächst wahrgenommen und interpretiert. Daraufhin folgt die Abklärung der eigenen Ziele und die Suche nach passenden Reaktionsmöglichkeiten. Schließlich erfolgt die Auswahl einer Handlungsalternative und deren Umsetzung (Crick & Dodge, 1994). Dieser Zyklus läuft weitgehend automatisiert auf der Grundlage der bisherigen, zu "Skripts" verdichteten Erfahrungen ab. Bedeutsam ist der Nachweis, dass sich aggressive Kinder von sozial kompetenteren in allen Stadien der Informationsverarbeitung unterscheiden. Sie nehmen aggressionsbezogene Reize stärker wahr, schreiben anderen eher feindselige Absichten zu und entwickeln weniger Handlungsalternativen, was schließlich einer aggressiven Reaktion den Weg bahnt. Mehrere erprobte Interventionsprogramme, die sich im Sinne einer universellen Prävention an die gesamte Schulklasse richten, versuchen diesen Teufelskreis aufzubrechen (z.B. Petermann u.a., 2006 und 2007). Da sich antisoziale Verhaltensweisen früh stabilisieren, haben frühe Interventionen bessere Erfolgsaussichten. Eng mit dem Verständnis sozialer Situationen und Beziehungen verknüpft sind Fortschritte im Wissen über und in der Regulation von Emotionen (Janke & Hasselhorn, 2008). Ärger, Trauer, Überraschung, Stolz, Scham und Schuld und deren Anlässe werden zunehmend besser verstanden. Ein Alterstrend zeigt sich auch im Umgang mit mehrdeutigen Situationen und ambivalenten Gefühlen. Schon 6-Jährige wissen, dass Emotionen verborgen werden können und der gezeigte Ausdruck nicht mit dem tatsächlichen Gefühl übereinstimmen muss. Während der Grundschulzeit entwickeln sich das Wissen über die Gründe dieses Verhaltens und die Nutzungsmöglichkeiten in Interaktionen. Diese sich ausdifferenzierenden Fähigkeiten tragen dazu bei, dass sich das Selbstkonzept (vgl. dazu den Beitrag von Martschinke) und die Beziehungen zu anderen stabilisieren. 3. Soziale Beziehungen und Sozialerziehung in der Grundschule Die Beziehungen von Grundschulkindern zu Gleichaltrigen wurden in Befragungs- und Beobachtungsstudien untersucht. Sie zeigen, dass die soziale Welt insbesondere in der Schule hohe Anforderungen an die Kinder stellt, z.B. was ihre Selbstbehauptung und soziale Integration und die Konfliktregelung ohne Erwachsene angeht. 2 Petillon (1993) ließ Schulanfänger ihre Erfahrungen von Freude, Angst, Trauer und Wut erzählen. Er fand heraus, dass die Beziehungen zu den Mitschülern für die Kinder von überwältigender Bedeutung sind. Vergleichweise wenige Erlebnisse bezogen sich auf die Lehrer/-innen oder die Schule allgemein. Je länger die Kinder in der Schule waren, desto mehr verfestigten sich die Rollen. Außenseiter hatten kaum mehr eine Chance, aus dieser Position herauszukommen. Soziales Anerkanntsein und schulische Leistungsfähigkeit sowie Konformität korrelieren, besonders unter Mädchen. Obwohl die Rollen verteilt sind, vermindern sich die Konflikte nicht. Die Lehrkräfte wissen kaum etwas über die Sozialbeziehungen in ihrer Klasse, z.B. über die Rangplätze einzelner Kinder und soziale Hierarchien. Nur besonders auffällige, insbesondere aufgabenrelevante Ereignisse werden von ihnen wahrgenommen (vgl. Beitrag von Petillon). Krappmann und Oswald (1995) beobachteten über 100 Kinder aus ersten, vierten und sechsten Klassen während des Unterrichts, in den Pausen und in weiteren schulischen Situationen. Dabei zeigte sich, dass Aushandlungen des Helfens und Streitens von besonderer Bedeutung sind. Benötigte Hilfe verletzt die Gleichheitsbeziehung der Kinderwelt. Deshalb kann Hilfe-Geben und Hilfe-Annehmen problematisch sein. Freundschaften bieten besondere Lernchancen für Helfen und Kooperation, weil in diesen auf Dauer angelegten Beziehungen das gegenseitige Vertrauen Reziprozität ermöglicht (z.B. dass auch der Freund bei Konflikten helfen könnte). In Auseinandersetzungen werden fortwährend der Umgang mit Regeln, geeignete Strafen und die Wahrung des eigenen Gesichts erprobt. Unauffällige Kinder mit niedrigem Sozialstatus und Kinder mit ruppigem Verhalten – meistens Jungen – sind die Außenseiter, denen die fruchtbare Teilnahme an den Interaktionen der Gleichaltrigen weitgehend verschlossen ist. In Ergänzung zu den qualitativen Studien fehlen bislang weitgehend quantitative Untersuchungen möglichst längsschnittlicher Art zur Verzahnung von sozialem und inhaltlichem Lernen. Vom Projekt KEIMSplus, das die sprachbezogenen Entwicklungsbedingungen sozialer und schulfachlicher Kompetenzen in Klassen mit unterschiedlich hohen Anteilen von Schülern mit Migrationshintergrund untersucht, sind zukünftig dazu Befunde zu erwarten (Lindner-Müller, John, Lauterbach & Arnold eingereicht). Die Förderung der sozialen Entwicklung und die Sozialerziehung sind in den Bildungsplänen der Grundschule als Ziele verankert (vgl. auch dazu den Beitrag von Petillon). Auf der Basis der dargestellten Theorien bedeutet dies für die Lehrkräfte, Raum für die sozialen Beziehungen zu geben und diese zu beobachten, Freundschaften zu fördern und Außenseiter diskret zu unterstützen; ferner z.B. durch Partner- und Gruppenarbeiten und Rollenspiele Gelegenheit zu Kontakt und Kooperation im Lernen zu schaffen, mit den Kindern Regeln aufzustellen und Konflikte zu bearbeiten sowie die unterschiedlichen Erfahrungen der in der Klasse zusammenkommenden Kinder deutlich werden zu lassen und fürs Lernen zu nutzen (Faust-Siehl & Speck-Hamdan, 1998). Programme mit Bausteinen zur Förderung prosozialen Verhaltens versprechen weitere soziale, emotionale und moralische Lernangebote (z.B. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2002; Jefferys-Duden, 2002). 4. Ausblick: Erziehungsaufgaben in der heutigen Grundschule Mit der Sozialisation der Kinder, insbesondere der geringeren Kinderzahl in der Familie, verändern sich die Bedingungen und Aufgaben der Grundschule (Fölling-Albers, 2001). Häufig sind die außerfamiliären Betreuungs- und Bildungsinstitutionen bevorzugt die Orte, an 3 denen sich die Kinder treffen. Deshalb sind sie für die Kinder gerade als soziale Situationen von Interesse. Die Lernchancen der Kinderwelt sind elementar für die Entwicklung des Selbst, des sozialen und emotionalen Verstehens und – aufgrund der Co-Konstruktion – auch für den Wissensaufbau. Die multikriteriale Ausrichtung der Grundschule erfordert es daher, die sozialen Ziele gleichberechtigt zu berücksichtigen. Literatur Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2002) (Hrsg.): Achtsamkeit und Anerkennung. Materialien zur Förderung des Sozialverhaltens in der Grundschule. Köln. – Crick, N. R. & Dodge, K. A. (1994): A review and reformulation of social informationprocessing mechanisms in children's social adjustment. In: Psychological Bulletin, 115, 74101. – Erikson, E. H. (1966): Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze. Frankfurt a.M. – Faust-Siehl, G. & Speck-Hamdan, A. (1998): Sich in anderen sehen: Fremd- und Selbstwahrnehmung im Grundschulalter. In: Kahlert, J. (Hrsg.): Wissenserwerb in der Grundschule. Perspektiven erfahren, vergleichen, gestalten. Perspektive Schulpädagogik. Bad Heilbrunn, 111–126. – Fölling-Albers, M.: Veränderte Kindheit – revisited. Konzepte und Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Kindheitsforschung der vergangenen 20 Jahre. In: Fölling-Albers u.a. (Hrsg.): Jahrbuch Grundschule III: Fragen der Praxis – Befunde der Forschung. Seelze 2001, 10–51. – Janke, B. & Hasselhorn, M. (2008): Frühes Schulalter. In: Hasselhorn, M. & Silbereisen, R. K. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie des Säuglings- und Kindesalters. Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich C, Serie V, Band 4. Göttingen, 240–296. – Jefferys-Duden, K. (2002): Das Streitschlichter-Programm. Weinheim. – Kegan, R. (1986): Die Entwicklungsstufen des Selbst. Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben. München. – Krappmann, L. & Oswald, H. (1995): Alltag der Schulkinder. Beobachtungen und Analysen von Interaktionen und Sozialbeziehungen. Reihe Kindheiten, Bd. 5. Weinheim, München. – Lindner-Müller, C., John, C., Lauterbach, O. & Arnold, K.-H. (eingereicht). Soziale Kompetenz und schulische Leistung in den ersten Grundschuljahren. Eingereicht in Zeitschrift für Grundschulforschung. Pauen, S. & Rauh, H. (2008): Frühe Kindheit: Das Säuglingsalter. In: Hasselhorn, M. & Silbereisen, R. K. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie des Säuglings- und Kindesalters. Enzyklopädie der Psychologie, Themenbereich C, Serie V, Band 4. Göttingen, 67–126. – Petermann, F., Natzke, H., Gerken, N. & Walter, H.-J. (2006): Verhaltenstraining für Schulanfänger – ein Programm zur Förderung sozialer und emotionaler Kompetenzen. Göttingen. – Petermann, F., Koglin, U., Natzke, H. & Mareés, N. von (2007): Verhaltenstraining in der Grundschule. Ein Präventionsprogramm zur Förderung emotionaler und sozialer Kompetenzen. Göttingen. – Petillon, H. (1993): Das Sozialleben des Schulanfängers. Die Schule aus der Sicht des Kindes. Weinheim. – Selman, R. L. (1984): Die Entwicklung des sozialen Verstehens. Entwicklungspsychologie und klinische Untersuchungen. Beiträge zur Soziogenese der Handlungsfähigkeit. Frankfurt a.M. – Sodian, B. (2002): Entwicklung begrifflichen Wissens. In: Oerter, R. & Montada, L. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. 5., vollständig überarbeitete Auflage, Weinheim u.a.O., 443–468. – Tomasello, M. (2002): Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Frankfurt a.M. – Youniss, J. (1994): Soziale Konstruktion und psychische Entwicklung. Frankfurt a.M. Faust, Gabriele, Dr., Professorin für Grundschulpädagogik und –didaktik an der Universität Bamberg 4