BDEW Bundesverband der Energie- und BDEW-Hintergrundinformationen Stromaustausch Deutschlands mit dem Ausland Hintergrundinformationen zu den physikalischen Lastflüssen Deutschlands mit dem Ausland im europäischen Kontext Berlin, 14. Januar 2014 Wasserwirtschaft e.V. Reinhardtstraße 32 10117 Berlin Nach ersten Berechnungen des BDEW sind im Jahr 2013 rd. 33 Mrd. kWh Strom mehr ins Ausland geflossen als Deutschland aus dem Ausland bezogen hat. Das entspricht rd. 5 Prozent der deutschen Brutto-Stromerzeugung. Im Jahr 2012 betrug der Saldo noch 23,1 Mrd. kWh. Insgesamt flossen 2013 knapp 72 Mrd. kWh Strom ins Ausland, knapp 39 Mrd. kWh wurden aus dem Ausland bezogen. Betrachtet werden dabei und im Folgenden nur die physikalischen Lastflüsse. Die Erfassung der bilanziellen grenzüberschreitenden Stromhandelsgeschäfte ist aufgrund der speziellen Eigenschaften des Produkts Strom nur schwer und stark eingeschränkt möglich. 1. Allgemeine Vorbemerkungen Stromaustausch innerhalb Europas gab es im europäischen Verbundsystem schon immer. Hatte dieser vor der Liberalisierung der Strommärkte hauptsächlich eine ausgleichende Funktion zur Gewährleistung der Systemstabilität, haben sich die Stromaustäusche innerhalb Europas im Zuge der Liberalisierung der Strommärkte und der Weiterentwicklung des europäischen Binnenmarkts deutlich erhöht. Vor allem die Einführung des zentraleuropäischen Market Couplings (CWE), aber auch die zunehmende Vielfalt handelbarer Stromprodukte hat den grenzüberschreitenden Stromhandel befördert. Gerade weil die hohen Netto-Stromflüsse Deutschlands in das Ausland vor dem Hintergrund des aktuellen Erzeugungsmixes in der Öffentlichkeit debattiert werden, ist es notwendig, die Ursachen, Wirkmechanismen und die Funktion grenzüberschreitender Stromflüsse genauer zu beleuchten und im europäischen Rahmen einzuordnen, zumal die zunehmende Vernetzung und Integration der nationalen Strommärkte zukünftig weiter voranschreiten wird. 2. Aktuelle Situation Preissituation Die derzeitige Situation mit hohen Lastflüssen von Deutschland in das Ausland ist hauptsächlich bedingt durch das im europäischen Vergleich niedrige Preisniveau am deutschen Großhandelsmarkt. So lagen 2012 der Preis am deutsch-österreichischen Spotmarkt (Preiszone D/AT) im Durchschnitt um 5-8 Euro/MWh niedriger als in Frankreich, den Niederlanden oder der Schweiz, zu denen jeweils gut ausgebaute Grenzkuppelstellen bestehen. Da die Preise am deutschen Großhandelsmarkt 2013 nochmals deutlich gesunken sind, dürfte sich diese Preisdifferenz 2013 vermutlich weiter erhöht haben und damit ein Grund für erhöhte Lastflüsse aus Deutschland in das Ausland sein. Teilweise deutlich niedrigere durchschnittliche Marktpreise als in der Preiszone D/AT gab es in Skandinavien und den östlichen Nachbarstaaten. Deren Einfluss auf die Strommärkte in Zentraleuropa ist allerdings aufgrund weniger ausgeprägter Handelsmöglichkeiten sowie geografischer Begrenzungen (begrenzte Kuppelkapazitäten nach Skandinavien) schwächer. Seite 2 von 9 Für das relativ niedrige Preisniveau in Deutschland gibt es derzeit folgende Gründe: a) Erzeugungsstruktur konventioneller Kraftwerke: Der Anteil der Stromerzeugung aus Kraftwerken mit relativ niedrigen Grenzkosten (überwiegend Kernkraftwerke und BraunkohlenKraftwerke, z. T. auch Steinkohle) ist in Deutschland verglichen mit anderen europäischen Ländern relativ hoch. Lediglich Frankreich und Tschechien haben eine ähnlich günstige Erzeugungsstruktur bei konventionellen Kraftwerken und weisen daher ebenfalls hohe Stromflüsse in das Ausland auf. b) Erneuerbare Energien: Zusätzlich entfalten die hohen Einspeisungen aus Erneuerbaren Energien – die mit Grenzkosten von Null in den Markt bieten – eine stark preismindernde Wirkung in der deutsch-österreichischen Preiszone (Merit-Order-Effekt). c) CO2-Handel: Die derzeit niedrigen CO2-Preise gelten zwar in ganz Europa, sie mindern allerdings den dadurch entstehenden Wettbewerbsnachteil der Stromerzeugung aus Braunkohle. Braunkohle-Kraftwerke haben dadurch keinen expliziten Wettbewerbsvorteil, sondern der durch die Bepreisung von CO2 bestehende Wettbewerbsnachteil ist derzeit gering. Die Wirkung im europäischen Kontext ist unterschiedlich: Gegenüber Ländern, deren Stromproduktion auf Steinkohle- oder Gaskraftwerken basiert (bspw. Niederlande oder Großbritannien), wird der Wettbewerbsvorteil der Stromproduktion aus Braunkohle vergrößert und gegenüber Ländern, deren Stromproduktion auf Erzeugungsarten mit niedrigen variablen Kosten basiert – wie beispielweise Kernenergie oder Wasserkraft in Frankreich oder der Schweiz, wird der Kostennachteil der Braunkohle gemindert. Damit steigt die relative Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Stromproduktion im Vergleich zu anderen Ländern. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass auch bei deutlich höheren CO2-Preisen BraunkohleKraftwerke immer noch einen deutlichen Kostenvorteil gegenüber Steinkohle- oder Gaskraftwerken aufweisen und somit der Effekt der CO2-Preise auf die Struktur der europäischen Stromflüsse im Vergleich zu den beiden erstgenannten nachrangig zu betrachten ist. d) Effizienzverbesserungen: 2013 produzierten die Braunkohlekraftwerke rund ein Prozent mehr Strom. Wegen der Inbetriebnahme neuer, effizienterer Braunkohlekraftwerke und der gleichzeitigen Stilllegung älterer Anlagen mit geringerem Wirkungsgrad musste dafür aber rund zwei Prozent weniger Braunkohle verfeuert werden. Damit ergab sich auch ein geringerer Bedarf an CO2-Zertifikaten. Mengenbetrachtung Die Zunahme des Stromflusses in das Ausland resultiert nicht aus einer gesteigerten Stromproduktion, sondern hauptsächlich aus einem Rückgang des Stromverbrauchs in Deutschland. Während die Stromproduktion nach ersten Schätzungen 2013 leicht rückläufig war, ist der Stromverbrauch um über 10 Mrd. kWh zurückgegangen. Das entspricht in etwa der Zunahme des Netto-Stromflusses in das Ausland, d. h. der Rückgang der deutschen Stromnachfrage wurde seitens der Stromerzeugung durch Lastflüsse in das Ausland ausgeglichen. Allerdings gab es strukturelle Verschiebungen innerhalb der Stromerzeugung. Während die Stromerzeugung aus Braunkohle und Kernenergie relativ unverändert zum Vorjahr blieb, ist die Stromerzeugung aus Gaskraftwerken aufgrund der ungünstigen Marktbedingungen deutSeite 3 von 9 lich zurückgegangen und gleichzeitig die Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien ausbaubedingt und aus Steinkohle-Kraftwerken aus marktlichen Gründen angestiegen. 3. Kopplung der nationalen Strommärkte (Market Coupling) Die Kopplung der nationalen Strommärkte – insbesondere die Einführung des CWE-Market Couplings zwischen Deutschland/Österreich, Frankreich und den Benelux-Staaten – hat die Möglichkeiten für den grenzüberschreitenden Stromhandel deutlich verbessert und sind ein weiterer Schritt hin zum EU-Binnenmarkt im Energiebereich. Für das Jahr 2014 ist eine weitere Kopplung des CWE-Gebiets, Skandinaviens und Großbritanniens vorgesehen. Preismechanismus: Das CWE-Market Coupling sorgt im Spotmarkt durch seinen Marktmechanismus für eine maximal mögliche Preisangleichung zwischen den nationalen Strommärkten. Dabei bieten im ersten Schritt Stromanbieter und Stromnachfrager in ihren nationalen Strommarkt und es wird ein vorläufiger Marktpreis festgestellt. Im zweiten Schritt wird dann in einem schrittweisen Prozess die Stromnachfrage in höherpreisigen Marktgebieten durch das Stromangebot aus niedrigerpreisigen Marktgebieten bedient. Dieser Prozess wird solange durchgeführt, bis eine optimale Ausnutzung der Grenzkuppelkapazitäten und eine maximale Preisangleichung zwischen den einzelnen Marktgebieten erreicht wird. Nach diesem schrittweisen Prozess bilden sich dann in den einzelnen Marktgebieten die tatsächlichen Marktpreise. In vielen Stunden des Jahres herrscht infolge der Preisangleichung inzwischen Preisgleichheit zwischen einzelnen Marktgebieten oder sogar im gesamten CWE-Gebiet. Da Deutschland innerhalb des CWE-Gebiets im Durchschnitt niedrigere Preise hat, wird derzeit innerhalb des Marktmechanismus tendenziell deutsches Stromangebot zur Deckung ausländischer Nachfrage herangezogen, d. h. die Preisangleichung aus der Preiszone D/AT erfolgt von unten, die Angleichung bspw. in den Niederlanden von oben. Wichtig dabei ist: 1.) Deutsche Stromanbieter bieten am Spotmarkt lediglich in die deutsch-österreichische Preiszone. Ob und in welchem Umfang ihr Angebot dazu dient, ausländische Nachfrage zu bedienen, ist dem Anbieter nicht bekannt und für ihn auch nicht nachvollziehbar. 2.) Aus einer gesamteuropäischen Perspektive führt das Market Coupling zu positiven Wohlfahrtseffekten, da die optimale Ausnutzung der Grenzkuppelstellen zu einem optimalen Marktergebnis führt. Einerseits werden die günstigsten Erzeugungsoptionen genutzt, andererseits profitieren die Konsumenten in höherpreisigen Marktgebieten von günstigeren Marktpreisen im Vergleich zur Situation ohne grenzüberschreitenden Handel. ACER beziffert die positiven Wohlfahrtseffekte allein des grenzüberschreitenden Stromhandels von Deutschland mit Frankreich, den Niederlanden, Dänemark und Schweden auf über 300 Mio. Euro im Jahr 2011. Für alle von untersuchten Grenzkuppelstellen innerhalb Europas sind es sogar rund 2 Mrd. Euro. Seite 4 von 9 4. Lastfluss-Schwankungen, Knappheitssituationen und Versorgungssicherheit Die grenzüberschreitenden Lastflüsse unterliegen häufig saisonalen, untertägigen oder situativ bedingten Schwankungen. Nur an wenigen Grenzkuppelstellen ist ein einförmiger, stabiler Lastfluss beobachtbar. Vor allem in Extremsituationen wie beispielsweise Situationen mit sehr hoher Stromnachfrage oder bei überdurchschnittlich hohen Einspeisungen aus Wind und Photovoltaik bei gleichzeitig niedriger Stromnachfrage kann die Struktur der grenzüberschreitenden Lastflüsse deutlich vom Normalzustand abweichen. Saisonale Schwankungen: Die Lastflüsse zwischen einzelnen Ländern und die Lastflusssalden einzelner Länder können saisonal stark schwanken. So befindet sich Deutschland derzeit zwar überwiegend in einer Exportsituation, allerdings ist der Lastflusssaldo in den Wintermonaten deutlich höher als in den Sommermonaten. Dies liegt unter anderem daran, dass die Jahresrevisionen der konventionellen Kraftwerke üblicherweise im Sommerhalbjahr durchgeführt werden, um im Winterhalbjahr mit witterungsbedingt höherer Stromnachfrage nötigenfalls die maximale Erzeugungskapazität zur Verfügung zu haben. Da es aber auch im Winterhalbjahr lastschwache Stunden gibt, stehen zu diesen Stunden freie Kapazitäten für die Stromproduktion zur Verfügung. Die Alpenländer Österreich und Schweiz weisen genau das umgekehrte Muster auf. Sie beziehen eher Strom in den Wintermonaten und sind während der Schneeschmelze im Frühjahr und Frühsommer stärker Stromlieferanten für die benachbarten Staaten. Frankreich, Tschechien und Italien hingegen weisen saisonal relativ stabile Lastflüsse auf. Frankreich und Tschechien liefern relativ gleichmäßig Mengen in das Ausland, Italien bezieht relativ gleichmäßig Strom aus dem Ausland. Auch das Seekabel zwischen Norwegen und den Niederlanden ist unterjährig gleichmäßig von Norwegen nach den Niederlanden ausgelastet, gleiches gilt für den Lastfluss von den Niederlanden nach Großbritannien. Lediglich in Extremsituationen sind Veränderungen sichtbar, wie beispielsweise während der Kälteperiode im Februar 2012 als Frankreich aufgrund seines hohen Anteils an Stromheizungen kurzfristig Netto-Bezieher von Strom wurde. Untertägige Schwankungen: Auch untertägig sind nachfragebedingt Schwankungen der Lastflüsse beobachtbar. Deutschland hat vor allem in den lastschwachen Zeiten nachts hohe Lastflüsse in das Ausland, zu den Spitzenlastzeiten am Abend gehen diese jedoch stark zurück oder Deutschland wird sogar zum Netto-Bezieher von Strom. Gegenüber früher hat sich die untertägige Lastflussstruktur vor allem im Sommer stark gewandelt. Während früher Deutschland in den Sommermonaten tagsüber zu den laststarken Zeiten regelmäßig NettoImporteur von Strom war, ist dies überwiegend nur noch in den frühen Morgen- und Abendstunden der Fall. Tagsüber während der Phase hoher Solareinspeisungen erzielt Deutschland inzwischen einen deutlichen Lastflussüberschuss gegenüber dem Ausland. Diese strukturelle Veränderung der untertägigen Lastflüsse bedingt durch substanzielle Einspeisungen aus Photovoltaik, aber genauso auch in windstarken Zeiten, ist u. a. ein Grund für den Anstieg des Lastflusssaldos gegenüber dem Ausland. Besonders deutlich wird das im grenzüberschreitenden Stromfluss mit Österreich und der Schweiz. Während in den Wintermonaten Deutschland untertägig überwiegend in einer Exportsituation ist, ist dies in den Sommermonaten überwiegend nur in den Mittagsstunden aufgrund der hohen Photovoltaik-Dichte in Süddeutschland der Fall, während Deutschland in den Morgen- und Abendstunden aus der Seite 5 von 9 Alpenregion Strom bezieht. Durchgängig hohe Lastflüsse in die Schweiz in den Wintermonaten sind aber nicht durch Knappheiten in der Schweiz bedingt, sondern fließen mittelbar weiter nach Italien, dass fast durchgängig einen Teil seiner Nachfrage durch Strombezüge aus dem Ausland deckt. Knappheitssituationen und Versorgungssicherheit: Wie schon beschrieben, unterliegen grenzüberschreitende Lastflüsse stark der saisonalen und untertägigen Angebots- und Nachfragesituation. Deutschland hat nicht grundsätzlich einen Lastfluss-Überschuss gegenüber dem Ausland, sondern ist in vielen Stunden des Jahres auch Netto-Bezieher von Strom. So war Deutschland auf die physikalischen Lastflüsse bezogen im Jahr 2012 in knapp ein Drittel aller Stunden Netto-Bezieher von Strom. Dies bedeutet nicht, dass in diesen Stunden die Versorgungssicherheit gefährdet war, sondern in der ersten Annäherung nur, dass es in diesen Stunden im Rahmen des europäischen Binnenmarktes günstigere Erzeugungsoptionen im Ausland gab, die entsprechend im Markt waren und auch die deutsche Nachfrage teilweise bedient haben. Um Knappheitssituationen zu identifizieren, in denen nahezu der gesamte verfügbare Kraftwerkspark für die Deckung des Strombedarfs eingesetzt werden muss, ist der Strompreis am Spotmarkt ein guter Indikator. Außerordentlich hohe Spotpreise in einzelnen Stunden bedeuten, dass hier Kraftwerke mit hohen Einsatzkosten für die Bedarfsdeckung herangezogen werden mussten. Dass Deutschland im Vergleich zu seinen europäischen Nachbarstaaten relativ günstige Preise am Großhandelsmarkt aufweist, bedeutet nicht, dass das Preisniveau dauerhaft niedrig ist. So lag der Spotpreis in der Preiszone D/AT in 240 Stunden des Jahres 2012 oberhalb von 70 €/MWh (Durchschnitt 2012: 42,60 €/MWh), in 60 Stunden lag er sogar oberhalb von 100 €/MWh, der Spitzenwert lag bei 210 €/MWh. In diesen Stunden waren die Preise an anderen europäischen Spotmärkten allerdings genauso hoch oder teilweise deutlich höher, d. h. es bestand nicht nur in Deutschland eine Knappheitssituation, sondern auch in den umliegenden Nachbarstaaten. Ob Deutschland in diesen von Knappheit geprägten Stunden Netto-Bezieher von Strom ist oder mit seinen Erzeugungskapazitäten dazu beiträgt, eine hohe Stromnachfrage in den Nachbarstaaten teilweise mitzubedienen ist situativ unterschiedlich. In 172 Stunden mit Preisen oberhalb 70 €/MWh im Jahr 2012 hatte Deutschland einen positiven Lastflusssaldo gegenüber dem Ausland, in 68 Stunden war Deutschland Netto-Bezieher von Strom. Diese Zahlen verdeutlichen die Funktion des europäischen Verbundsystems und zeigen auf, dass eine nationale Betrachtungsweise der Versorgungssicherheit nur begrenzt aussagefähig ist. Natürlich wird in Knappheitssituationen allein aufgrund begrenzter Grenzkuppelkapazitäten der überwiegende Teil der nationalen Stromnachfrage von eigenen Kraftwerken bedient. Dennoch hat der Stromaustausch mit dem Ausland eine wichtige Funktion, um zusätzliche Knappheiten in einzelnen Ländern abzufedern, wobei ein Land in manchen Situationen eigene Kapazitäten anderen Ländern zur Verfügung stellt und in anderen Situationen ausländische Kapazitäten beansprucht. Die hohe Vernetzung der einzelnen Stromsysteme in Europa führt auch hier durch seine Ausgleichsfunktion zu einem Mehrwert für alle Beteiligten. Seite 6 von 9 5. Struktur der Lastflüsse in Europa Im nationalen Kontext gibt es die Erzeugungs- und Verbrauchsstruktur betreffend stark unterschiedliche Regionen. Beispielsweise für Deutschland Lastzentren im Ruhrgebiet und RheinMain-Gebiet, konventionelle Erzeugungsschwerpunkte im Ruhrgebiet, am Niederrhein und in der Lausitz, teilweise lastferne Erzeugung aus Kernenergie oder hohe Installationsdichten für Wind an der Küste und Photovoltaik in Süddeutschland bei gleichzeitig lokal geringer Lastdichte. Innerhalb Europas verhält es sich ähnlich. So gibt es Länder, die eher Strom an andere Länder liefern und Länder, die stärker auf Bezugsmengen aus dem Ausland angewiesen sind, je nach Struktur der nationalen Erzeugungs- und Verbrauchstypologie. Gerade deshalb sollte die nationale Betrachtung der Stromsysteme und -märkte stärker um die europäische Sichtweise erweitert werden. Hinzu kommt, dass an einzelnen Grenzkuppelstellen die lokalen Erzeugungs- und Netzstrukturen bzw. der Schaltzustand nachgelagerter Netzteile den Lastfluss und die Fließrichtung bestimmen können unabhängig von der Gesamtsituation der jeweiligen Länder. Im Folgenden werden einige europäische Länder anhand typischer Charakteristika die bilateralen Lastflüsse betreffend grob kategorisiert und beschrieben: Typische „Exportländer“ (physikalischer Lastfluss ins Ausland) Frankreich: Dauerhaft hohe1 Lastflüsse in alle benachbarten Länder, lediglich in Extremsituationen Lastflüsse in Gegenrichtung, bspw. Kälteperiode im Februar 2012. Deutschland: Im Saldo hohe Lastflüsse in das Ausland und Transitland, Abflüsse überwiegend in die Niederlande, aber auch nach Polen und situativ in die Schweiz und nach Österreich. Strombezüge überwiegend aus Frankreich, Tschechien und Skandinavien. Insgesamt sind die Lastflüsse aber saisonal unterschiedlich. Aus Frankreich erfolgen höhere Bezüge in den Sommermonaten, gegenüber Österreich und der Schweiz fällt Deutschland in den Sommermonaten in eine Importsituation. Gegenüber den Niederlanden und Luxemburg sind die Lastflüsse unterjährig relativ stabil. Zudem sind die Lastflüsse situativ je nach Höhe der Einspeisungen aus Wind und Sonne in ihrer Höhe und geografisch stark unterschiedlich. Tschechien: Dauerhaft hohe Lastflüsse nach Deutschland, Österreich und der Slowakei, dauerhaft hohe Bezüge aus Polen. Im Saldo dauerhaft hoher Stromfluss in das Ausland ohne erkennbares saisonales Muster. Situative „Exportländer“/saisonal schwankend Schweiz: Die Schweiz hat eher eine Lieferposition gegenüber dem Ausland, allerdings ist der Lastflusssaldo saisonal stark schwankend. Im Winter eher Strombezug aus dem Ausland, im Sommer deutliche Liefermengen in das Ausland. Die Schweiz mit seiner geografischen Lage 1 „Hoher Lastfluss“ bezieht sich im Folgenden nicht auf die Absoluthöhe des Lastflusses sondern steht in Relation zu den verfügbaren Kuppelkapazitäten eines Landes. „Hoher Lastfluss“ bedeutet also hohe Auslastung der Grenzkuppelstellen mit einer überwiegenden gleichartigen Fließrichtung. Seite 7 von 9 zwischen Deutschland, Frankreich und Italien ist ein typisches Transitland für Strom und neben der direkten französisch-italienischen Grenze die zweite Hauptachse für Stromlieferungen aus Zentraleuropa nach Italien. Daher ist auch der Lastflusssaldo im Vergleich zur Absoluthöhe der Lastflüsse eher gering. Polen: Polen ist überwiegend Netto-Lieferant in das Ausland, allerdings deutlich stärker in den Wintermonaten und mit kurzzeitigem Nettobezug aus dem Ausland in den Sommermonaten. Auch die Fließrichtungen sind relativ stabil von Schweden und Deutschland nach Polen und von Polen vor allem nach Tschechien und in die Slowakei. Situative „Importländer“/saisonal schwankend Österreich: Österreich ist in den Wintermonaten eher Bezieher von Strom und in den Sommermonaten eher Lieferant mit der Einschränkung dass im Sommer an sonnenreichen Tagen starke Stromflüsse von Deutschland nach Österreich generiert werden, die aber teilweise über Slowenien und über die Schweiz nach Italien abfließen. Aber auch untertägig sind deutliche Schwankungen die Höhe und Fließrichtung betreffend erkennbar. Eine Besonderheit Österreichs ist, dass trotz des hohen Strombedarfs von Italien über die österreichischitalienische Grenze nur moderate Lastflüsse gehen. Dies liegt daran, dass hier nur geringe Grenzkuppelkapazitäten bestehen. Daher fließen diese Stromflüsse von Österreich über die Schweiz und über Slowenien nach Italien. Dänemark: Dänemark ist eher Netto-Bezieher von Strom aber mit saisonal starken Unterschieden. Aufgrund der hohen Nutzung von KWK-Strom – vor allem aus Steinkohle, aber auch Erdgas – produziert Dänemark vor allem im Winter Stromüberschüsse, die ins Ausland abgegeben werden. Dennoch ist auch im Winter die Fließrichtung zwischen Dänemark und den verbundenen Nachbarstaaten Norwegen, Schweden und Deutschland nicht unidirektional, sondern kann kurzfristig wechseln. In den Sommermonaten bei wenig Wärmebedarf aus KWK-Anlagen wird Dänemark dann je nach Windsituation Netto-Bezieher von Strom aus dem Ausland. Typische „Importländer“ (physikalischer Lastfluss aus dem Ausland) Niederlande: Die Niederlande erhalten konstant hohe Lastflüsse aus Deutschland sowie über ein Seekabel aus Norwegen. Gleichzeitig fließen konstant hohe Mengen aus den Niederlanden über ein Seekabel nach Großbritannien sowie nach Belgien ab. Insgesamt aber ist der Bezug aus Deutschland und Norwegen höher, als der Abfluss nach Großbritannien und Belgien. Vereinfacht kann man sagen, dass gut die Hälfte des Strombezugs aus Deutschland und Norwegen in den Niederlanden verbraucht wird und knapp die Hälfte mittelbar nach Großbritannien und Belgien weiterfließt. Dies liegt u. a. an der hohen Ausstattung der Niederlande mit Gaskraftwerken, die eine relativ teure Erzeugungsoption darstellen, sodass der Strombezug aus dem Ausland – soweit möglich – günstiger für die niederländischen Stromnachfrager ist. Belgien: Belgien hat überwiegend Strombezüge aus Frankreich und den Niederlanden und ist mehr oder weniger dauerhaft Netto-Bezieher von Strom. Es gibt aber auch hier untertägig und saisonal Situationen, in den Belgien Stromlieferant gegenüber dem Ausland wird. Seite 8 von 9 Italien: Italien ist wohl das typischste Stromimportland in Europa. Aufgrund seiner Erzeugungsstruktur mit großen Kapazitäten an Gas- und Ölkraftwerken mit hohen Gestehungskosten, ist es für Italien meistens vorteilhaft, günstigeren Strom aus dem Ausland hinzuzukaufen, soweit dies die Grenzkuppelstellen zulassen. Daher sind auch stabil hohe Lastflüsse aus Frankreich, der Schweiz und Slowenien sowie via Seekabel aus Griechenland normal. Dabei wirkt die Position Italiens auch stark auf die Lastflusssituation in Mitteleuropa, so z. B. Lastflüsse aus Deutschland und Polen, die auf verschiedenen Wegen östlich an den Alpen vorbei oder durch die Alpenregion hindurch Richtung Italien fließen. Großbritannien: Aufgrund seiner Insellage hat Großbritannien eine mehr oder weniger autarke Stromversorgung. Dennoch gibt es Seekabel nach den Niederlanden und nach Frankreich sowie nach Irland und Nordirland. Diese Grenzkuppelkapazitäten sind im Vergleich zum Lastbedarf Großbritanniens zwar begrenzt, aber dennoch dauerhaft hoch in mehr oder weniger unidirektionaler Fließrichtung ausgelastet. So besteht ein nahezu konstanter Zufluss aus Frankreich und den Niederlanden und ein mehr oder weniger konstanter Abfluss auf deutlich niedrigerem Niveau nach Nordirland, wobei die Zuflüsse den Abfluss deutlich übersteigen. Damit ist Großbritannien dauerhaft Netto-Bezieher von Strom, in Relation zum Gesamtverbrauch sind die Mengen aufgrund der begrenzten Kuppelkapazitäten aber moderat. Grund für die derzeit konstanten Lastflüsse nach Großbritannien ist u. a. die hohe Ausstattung mit Gaskraftwerken als relativ teure Erzeugungsoption. 6. Ausblick Die weiter voranschreitende Entwicklung des EU-Binnenmarkts und die damit einhergehende weitere Integration der europäischen Strommärkte legen nahe, dass der innereuropäische Stromhandel und damit die grenzüberschreitenden Lastflüsse in Europa sich weiter intensivieren werden. Die politischen Bemühungen auf nationaler und europäischer Ebene dazu gehen unvermindert weiter, nicht nur die Entwicklung des EU-Binnenmarkts betreffend sondern auch in anderen für die Energiewirtschaft relevanten Bereichen. Dabei ist der weitere Ausbau der Stromnetze in Europa und insbesondere der Ausbau der innereuropäischen Grenzkuppelstellen ein zentrales Thema und wird im Ten Year Network Development Plan (TYNDP) durch die EU aktiv vorangetrieben. Und auch der weitere Ausbau der Erneuerbaren Energien in ganz Europa stellt neue Herausforderungen an die zukünftige Stromversorgung. Gerade der Ausbau dargebotsabhängiger Erneuerbarer Energien an günstigen Erzeugungsstandorten, wie beispielsweise Windanlagen an Land und auf dem Meer an windstarken Küstenstandorten oder Solarparks im sonnenreicheren Süden Europas erhöht die Anforderungen an die Ausgleichsfunktion des europäischen Verbundnetzes und damit auch grenzüberschreitende Stromflüsse. Ansprechpartner: BDEW Pressestelle Frank Brachvogel Tel. 030 / 300 199 - 1160 [email protected] Seite 9 von 9